Der Geschmack des Ostens - Jutta Voigt - E-Book
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Der Geschmack des Ostens E-Book

Jutta Voigt

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Beschreibung

Man ist, was man ißt.

Broiler, Letscho und Bambina: Jutta Voigt sucht nach dem Geschmack des Ostens, in dem sich Kultur und Alltag eines ganzen Landes spiegeln. Die DDR ist untergegangen und mit ihr die Durchreicheküchen der Plattenbauten, die Kübel der Kantinen und die herrschsüchtigen Kellner der HO-Gaststätten. Doch Spreewaldgurken, Hallorenkugeln und Rotkäppchensekt erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Subjektiv und voll erfrischender Ironie erinnert Jutta Voigt an Grilletta und Goldbroiler, an Westapfelsinen und Sarotti-Mohr. Als Zeitzeugin und Tischgenossin beschreibt sie das Einkaufsverhalten, herkömmliche Produkte sowie die untergegangene Restaurantkultur zwischen Kap Arkona und Suhl.

Eine Reise durch die Kulinaria der DDR: erhellend und ganz und gar nicht geschmacklos.

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Über Jutta Voigt

Jutta Voigt, geboren in Berlin, Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität, Redakteurin, Essayistin und Kolumnistin bei den Wochenzeitungen Sonntag, Freitag, Wochenpost und Zeit. 2000 Theodor-Wolff-Preis.

Bei Aufbau erschienen: »Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR«, »Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht«. Zuletzt: »Spätvorstellung. Von den Abenteuern des Älterwerdens«. Neu im Aufbau Verlag erscheinen 2016 von Jutta Voigt: »Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens« und »Verzweiflung und Verbrechen. Menschen vor Gericht«.

Informationen zum Buch

Man ist, was man ißt. Broiler, Letscho und Bambina: Jutta Voigt sucht nach dem Geschmack des Ostens, in dem sich Kultur und Alltag eines ganzen Landes spiegeln.

Die DDR ist untergegangen und mit ihr die Durchreicheküchen der Plattenbauten, die Kübel der Kantinen und die herrschsüchtigen Kellner der HO-Gaststätten. Doch Spreewald-gurken, Hallorenkugeln und Rotkäppchen-sekt erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Subjektiv und voll erfrischender Ironie erinnert Jutta Voigt an Grilletta und Goldbroiler, an Westapfelsinen und Sarotti-Mohr. Als Zeitzeugin und Tischgenossin beschreibt sie das Einkaufsverhalten, herkömmliche Produkte sowie die untergegangene Restau-rantkultur zwischen Kap Arkona und Suhl. Eine Reise durch die Kulinaria der DDR: erhellend und ganz und gar nicht geschmacklos.

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Jutta Voigt

Der Geschmack des Ostens

Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR

Inhaltsübersicht

Über Jutta Voigt

Informationen zum Buch

Newsletter

Entrée

Bockwurst, Broiler, Zukunft Die fünfziger und sechziger Jahre

Leuchtendes Rot

Der Wiederaufbau der Körper

Mehlschwitze und Aufruhr

Die Suppe des Sozialismus

Karina Vollmilch-Nuß

Koche mit Liebe, würze mit Bino!

Haben Sie Würfelzucker?

Wüster Heißhunger

Schöne Unfreundlichkeit

Alles Banane

Nimmersatt im Minirock

Die Reste von Pompeji

Schön ist es nur in der Idee

Kellnermusik

Nimm ein Ei mehr!

Operativplan Fleisch

Jägerschnitzel à la Nouvelle cuisine

Der Bürger und sein Beutel

Kleines Gedenken zwischendurch

HO-Silber und goldene Klinken

Aal oder nichts

Für die nette Bedienung

Revolutionäre Hühner

Die Klassenfeinde Obst und Gemüse

Innige Gelage

Die Verhältnisse, sie sind nicht so

Nudelsalat, Fondue, Stillstand Die siebziger und achtziger Jahre

Klassenmampf

Lebenslust und Chutney

Republikflucht in der Bratpfanne

Süßer Speck

Kaffee komplett

Luxus pur

Der Schlachtplan

Wer bekommt Gulasch mit Rotkohl?

Was haben wir flambiert!

Himmel und Erde

Pizza im Quadrat

Schafe im Haus

Lobgesang auf mein Lieblingslokal

Die Schneckensammlerin

Chinesisches Eisbein

Das Mittagessen

Klagelied über Ketchup, Kirschen, Wurst und Bier

Glückliche Reise

Brüder, zur Auster, zum Hummer

Nachschlag

Verwendete Literatur

Bildnachweis

Impressum

Mit besonderem Dank an Carmen Bärwaldt

Für Maria und Charlotte

Entrée

Die Kochtöpfe sind noch warm, die Spuren noch frisch. Zwei Jahrzehnte sind alles oder nichts im Weltenlauf, manch ein Geschmack wirkt lange nach. Wie schmeckte die DDR? Nach Gleichheit und Schnitzel mit Mischgemüse? Nach Geborgenheit zwischen Schweinefleisch und Schnaps? Nach Anpassung und Sättigungsbeilage oder nach Chateaubriand und Privilegien? Halbvoll noch sind die Teller vom Essen, das wir stehenließen, weil wir hastig vom Tisch aufstanden und hinausstürzten, die unverhoffte Freiheit zu begrüßen. Adieu, ihr Hackbraten, Würzfleische, Soljankas, ihr Eisbeine und Jungschweinrücken, ihr Jägerschnitzel und Thüringer Klöße. Mach’s gut, Kaßlerrolle, tschüs, Goldbroiler! Nimmermehr Schlangestehen, Schluß mit den Wechselbädern zwischen Verzicht und Völlerei.

Wurde jemals ein Land so komplett und freiwillig verlassen wie die DDR? Ein Untergang mit Mann und Maus und Einverständnis. Der Untergang vor dem Untergang, der Niedergang vor dem Verderben. Schnellkochtöpfe, Emaillekasserollen und Küchenmaschinen wurden auf den Müll der Geschichte geworfen, das Toastbrot aus dem Zentralinstitut für Ernährung in Potsdam-Rehbrücke ebenfalls; die Esser machten sich nicht einmal die Mühe, die Teller abzuwaschen.

In den Küchen von Pompeji hatte man die Knochen verschiedener Tiere als Reste in den Pfannen und in der Kohlenasche gefunden, an die Wand seines Hauses hatte der Gastgeber geschrieben: »Bemüh dich, keine Flecken auf unser Leinentischtuch zu machen!« So schlagen Zeugnisse vom Essen Brücken über Jahrtausende hinweg. Auf der griechischen Insel Santorin besichtigte ich die Überreste einer untergegangenen Stadt, ich sah die Milchkannen mit den Brustwarzen, aus denen man damals trank, ich sah verkohlte Reste von Mehl und gelben Erbsen in unversehrten Tontöpfen. Vor dreitausendfünfhundert Jahren hatte ein Vulkan die Insel gesprengt und im Meer versenkt. Als bleicher Bimsstein das Land bedeckte wie ein Leichentuch, waren seine Bewohner, gewarnt durch ein Erdbeben, längst über alle Berge. Sie haben den schwarzen Himmel nicht mehr gesehen, nicht das tagelange Dunkel und nicht die von der glühenden Asche verbrannten Pflanzen. Keine Toten, nur das Skelett eines Schweins hat man gefunden am alten Ort. Ich konnte die Mauern der untergegangenen Stadt Akrotiri sehen, den Verlauf der schmalen Straßen und die Plätze, auf denen sich die Bewohner am Abend trafen. Sie badeten in Kultbassins und verfügten über Aborte mit Abwasserleitungen. Doch es waren die Essensreste, die mich faszinierten auf der fremden, fernen Insel, die dreieinhalbtausend Jahre alten Gefäße mit Spuren von Gerste darin. Du bist, was du ißt, oder: Sage mir, was du ißt, und ich sage dir, wer du bist. Wer waren sie? Wer waren wir?

Im Jahr 1986 aß jeder DDR-Bürger 96 Kilo Fleisch, 43 Kilo Zucker, 15,7 Kilo Butter und 307 Eier, als Verbraucher waren wir Weltspitze. Wir waren Vielfraße. Wir aßen aus Lust und Frust, aus Begeisterung und Verzweiflung, aus Langeweile und der chronischen Angst, nicht genug zu kriegen. Reich sei nicht derjenige, der viel besitzt, reich sei derjenige, der viel begehrt, besagt eine ambivalente Sentenz – wir waren Nimmersatte. Wir wollten alles. Viel essen, viel trinken, niedrige Preise, billige Wohnungen. Immer Arbeit, aber nicht mehr als unbedingt notwendig, viel Freizeit und jederzeit Bananen, Milka-Schokolade und Jacobs Krönung. Dazu Freiheit, Gleichheit, Früchtejoghurt. Wir haben gegessen, weil es billig war und weil man sanft wurde vom vielen Essen. Wir haben mit dem Frust nach der Speckseite geworfen. Betäubung, Rückführung in den Zustand des Nuckelns an der Mutterbrust bis zum Eindösen. Wir gaben unser Geld für Lebensmittel aus, weil wir anderes nur mit viel Warten und Mühe oder gar nicht kriegten, Videos, Autos, Geschirrspüler; die Kaufkraft war immer höher als das Warenangebot. Weil wir nicht nach Mallorca konnten und nicht an den Gardasee, haben die Hungrigsten von uns an so manchem lauen Grillabend in Lauben, Datschen und auf Balkons jeder drei Bratwürste und zwei Scheiben Schweinekamm verzehrt und dazu dreihundert Gramm sowjetischen Wodka getrunken oder den polnischen mit dem Grashalm, Zubrowka, so wurden wir satt und zufrieden. Zeit zum Essen hatten wir ja, Zeitwohlstand war eine der schönsten Nebenwirkungen des Staates DDR, wir nahmen ihn mit großer Selbstverständlichkeit entgegen.

Ein ehemaliger Maurer erinnert sich begeistert an Nachtschichten, während deren er riesige Eisbeine mit Sauerkohl verzehrte, Bauarbeiterversorgung nannte sich die Völlerei. »Was haben wir für Kaßlerrollen gegessen, und was haben wir gelacht!« ist der Kernsatz ostalgischen Bedauerns eines Drehbuchautors, der nicht glücklich wurde im Westen. Neulich habe ich in einem frisch eröffneten rheinischen Lokal das erste Mal nach der Zeitenwende wieder Kaßler gegessen, es schmeckte, als sei ich zu Besuch in dem verschwundenen Land, in dem ich geboren wurde.

Die deutsche Küche der DDR war abgeschirmt gegen Einflüsse von außen, es sei denn, es handelte sich um Pilze aus Polen, eine Suppe aus Rußland oder Buletten vom Balkan, die unsere an Nahrhaftigkeit noch übertrafen. Die kalorienschwere DDR-Küche machte uns zu braven Bürgern, beschäftigt mit Ranschaffen und Verdauen. Ein voller Bauch rebelliert nicht gern – das wußten Partei und Regierung. Sie wußten auch, daß vom Essen ihre Macht abhing, Sein oder Nichtsein, satt oder weg. Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Essen, bitte sehr – es macht ihn ein Geschwätz nicht satt, das schafft kein Essen her. Die Versorgung, ihre Lücken und Mängel, ihre Engpässe und Ausfälle waren vierzig Jahre lang Dauerthema in den Sitzungen von ZK und Politbüro, wo man über Versorgungslücken beim Würfelzucker sprach wie über Weltereignisse. Da gab es die Brot-Krise und die Kaffee-Krise und die Fleisch-Krise und die Südfrüchte-Krise, die Butter-Krise und die Milch-Krise, die Fisch-Kartoffel-Kakao-und-Zwiebel-Krise. Die »planmäßige Verbesserung der Versorgung der DDR-Bevölkerung mit Speisen und Getränken« ließ sich so lange Zeit, bis die Zeit abgelaufen war. »Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben« – »Hoffentlich nicht!« schrieb jemand unter die Losung. Dieses Land ist an seinen Vorzügen zugrunde gegangen, sagt eine Freundin immer, das ist nicht von der Hand zu weisen.

»Die Erinnerung ist von einer Fleckigkeit, als sei der Film in die Entwicklerflüssigkeit nicht eingetaucht, sondern nur mit ihr besprenkelt worden«, schrieb John Updike. Marcel Proust erfuhr, wie der Geschmack jenes muschelähnlichen, ovalen Sandtörtchens, Petite Madeleine genannt, in ihm die Kindheit wiederauferstehen ließ und ein Glücksgefühl ihn durchströmte: »Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher, aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen …«

Sich an den Geschmack von gestern zu erinnern bedeutet, sich an einen Tisch zu setzen mit denen, die wir waren und nicht mehr sein wollten, ein Resteessen mit der Vergangenheit.

Der Geschmack des Ostens. Manchen von uns liegt er auf der Zunge wie angebrannter Brei, andere jagen ihm nach wie Peter Schlemihl seinem verkauften Schatten. Sie kramen in den Regalen der Discountkette Netto nach Hansa-Keks und Bambina-Schokolade, kochen Makkaroni mit gebratener Jagdwurst und Tomatensauce und mischen sich in der Kneipe ein Herrengedeck zusammen. Es ist das Aroma ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihrer besten Jahre, das sie da riechen und schmecken. Erste Küsse, Parteiverfahren, Weltfestspiele – der Osten hatte einen bitteren Beigeschmack und hinterließ doch eine Spur von Restsüße.

Mein Debüt als Essensteilnehmerin fand kurz vor Gründung der DDR statt, bis dahin war das Hungern Thema, nicht das Essen. Das erste Kuchenbrötchen meines Lebens aus dem ersten HO-Laden im Herbst 1948 gleich neben dem Haus, in dem ich wohnte, öffnete mir die Tür zum Paradies des Wohlgeschmacks. Es war mit »Auszugmehl 405, Hartweizen« aus der Sowjetunion gebacken und kostete eine Mark fünfzig. Es war weiß, weich und süß, es schmeckte nach Neuanfang und Weltfrieden. Der Laden ist schmal gewesen, dunkel und lang, er hatte vergitterte Fenster. In der Erinnerung schiebt sich über das unvergessene Kuchenbrötchen der HO dieses Ding von McDonald’s, obwohl ich das nur ein einziges Mal gegessen habe. Irgendwas ist ähnlich an den Gebäcken, vielleicht die mutterbrustähnliche Form, das leicht Unbestimmte in Geschmack und Konsistenz.

Das Kuchenbrötchen muß 1950 ähnlich populär gewesen sein wie heute der Hamburger. »Ganz Berlin lechzt nach den süßen Kuchenbrötchen der HO-Läden des Ostsektors«, schrieb im Dezember 1949 Herr F. aus Berlin-Wedding an seinen Freund in Hameln. Ein Kuchenbrötchen-Lied wurde gereimt, ein Marsch-Foxtrott zum Ruhme der HO:

Ich versprach auch Vatern, keinen Tag zu schwänzen

Nur die Arbeit, sagt er, bringt uns was ins Haus,

Denn je reicher im HO die Fenster glänzen,

Um so reicher sieht’s bei uns zu Hause aus.

Kiekt euch meine Wangen an – so frische, rote!

Jetzt kapier ich, was ich damals nicht verstand.

Merkste nun? Vom kleinen, süßen Kuchenbrote

Zogen Glück und Wohlstand übers ganze Land.

Wunderbar würde das Leben werden, süß wie ein Kuchenbrötchen. Keiner sollte mehr hungern und frieren, keiner obdachlos, keiner arbeitslos sein. Und alle sollten sich satt essen. »In Paris oder in New York gibt es heute Restaurants ›Zum Epikur‹ – gemeint ist besonders gute Küche«, bemerkte der Philosoph Ernst Bloch 1950 in seinen Leipziger Vorlesungen, »dagegen haben wir auch nichts einzuwenden; wir wollen nur, daß alle gute Küche haben.«

Keiner sollte mehr abhängig sein von den Gesetzen der Marktwirtschaft. Preiserhöhungen, Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit sollten der Vergangenheit angehören. Suppenküchen, wo den Armen das Essen aus den Abfällen der Reichen bereitet wird, sollte es niemals wieder geben. Was für ein Leben! Nach Abschaffung des Privateigentums wollte die zentral gesteuerte Planwirtschaft den Unberechenbarkeiten des Marktes zuvorkommen. Keine Krisen und allzeit stabile Preise. Die Planbarkeit gesellschaftlicher Prozesse war das Herz der kommunistischen Utopie. Dieses Herz litt an Rhythmusstörungen, von Beginn an, Insuffizienz war die Folge.

Der Staat aber hatte eine Versorgungsaufgabe zu erfüllen, die Versorgungslage stabil zu halten, Versorgungslücken zu stopfen, die Versorgung zu verbessern. Versorgen macht Sorgen. Die Sorgen und die Macht. Versorgung – der sorgenvollste Begriff der DDR und der explosivste. Am Essen wurde die Tauglichkeit der Regierenden gemessen. Der Prolet, das weiß man, wird ungemütlich, wenn sein Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht, wild wie ein Tier im Käfig wird er, wenn die Fütterung ausbleibt.

Letztendlich war es die Banane, die das Ende des »ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden« besiegelte. Warum ist die Banane krumm? Weil sie immer einen Bogen um die DDR macht. Ein vielzitiertes Bonmot. Nach einigen Umwegen ist sie nun angekommen, die krumme Banane.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, es handelte sich schließlich um einen Arbeiter-und-Bauern-Staat, in dem der Arbeiterklasse die führende Rolle angedient wurde. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse stand im Mittelpunkt. Für alles machte der Bürger den Staat verantwortlich: erfrorene Kartoffeln, vergammeltes Gemüse, kein Fleisch, keine Butter, der Kaffee schmeckt nicht. Am Ende fand er für alles, was nicht klappte, die resignierte Formel: Typisch DDR.

Die führende Klasse hatte die Verantwortung für das Gelingen des sozialistischen Experiments voll und ganz den führenden Genossen überlassen und lehnte sich entspannt zurück. »Plane mit, arbeite mit, regiere mit!« – für das allzeit bereite Volk der Sammler und Jäger bestand der höchste Genuß nicht im Mitregieren, sondern darin, eine Mangelware zu erobern. Das Jagdfieber des Volkes entfachte sich an schlichteren Dingen als an Rehen und Hirschen, man war auf der Pirsch und machte Witze: Die DDR ist eine ausgesprochene Gebirgsrepublik, sie besteht nur aus Engpässen. Das Halali anläßlich des Ergatterns einer Mangelware ist mir noch heute im Ohr, so ein Freudengeschrei kann kein Schnäppchen von Aldi auslösen, kein Sonderangebot von Minimal, kein Rabatt von Superspar. Geiz mag geil sein, glücklich macht er nicht.

In seinen luziden Erkundungen über die Ostdeutschen schreibt Wolfgang Engler von der »arbeiterlichen Gesellschaft«, in der die Arbeiter zwar nicht die politische Herrschaft ausübten, das soziale Zepter aber fest in der Hand hielten. Alles richtete sich nach ihren Vorstellungen, ihren Normen, Idealen und Konventionen: Kleidung und Konsum, Alltagssitten und Eßgewohnheiten. Dreimal in der Woche Eisbein mit Erbspüree, Sauerkraut und Kartoffeln war auch unter Intellektuellen keine Seltenheit. Das arbeiterliche Ideal strahlte auf die ganze Gesellschaft aus, die anderen sozialen Gruppen übernahmen es und formten sich innerlich und äußerlich nach dem Bild des Arbeiters, der in der Industriegesellschaft DDR körperlich schwer arbeitete und dafür zum Helden erklärt wurde. In seiner ganzen Erscheinung und in der Art, wie sie in der sozialistisch-realistischen Kunst dargestellt wurde, lag was Kraftmeierisches. Es wurde von Ingenieuren, Werkleitern, Funktionären und Universitätsprofessoren imitiert, schreibt Engler, selbst den Bierbauch trugen sie noch stolz vor sich her, schließlich hatte der hochgeehrte Bauarbeiter auch einen. So verband sich das Kraftmeierische mit dem Verfetteten.

Der gemeine Werktätige entsprach selten dem Idealbild des »Neuen Menschen«, der aus Überzeugung und Liebe zum Sozialismus die Arbeitsproduktivität steigerte. Obwohl die Fabriken erklärtermaßen ihm gehörten, VEB – volkseigene Betriebe. Vermutlich ist dem Werktätigen das Volkseigentum zu abstrakt gewesen, zu der Erkenntnis »Wir sind das Volk« ist er erst mit einiger Verspätung gelangt. So oder so – er war sein eigener Herr.

Die DDR war eine proletkultische Gesellschaft. Junge Frauen in den sechziger und siebziger Jahren schwärmten von einer bestimmten Spezies Mann: »Du weißt schon, so ein proletarischer Typ!« Gemeint war groß, kräftig, schlagfertig, ungeniert, ein Siegertyp in kariertem Hemd und Bluejeans, der mit kraftvollen weißen Zähnen in eine Bockwurst beißt. Der proletarische Typ mußte nicht unbedingt im Stahlwerk Hennigsdorf arbeiten, er konnte ruhig auch Architekt sein, war sogar besser so. Zum selten erreichten Ideal des proletarischen Typs gehörte der Mut zur eigenen Meinung. Die außerordentliche Popularität des jungen Schauspielers Manfred Krug, der in dem DEFA-Film »Spur der Steine« diesen Typ verkörperte, erklärt sich auch aus diesem Männlichkeitsideal.

Der Prototyp der arbeiterlichen Gesellschaft legte Wert auf kräftiges, kalorienreiches Essen, auf große Portionen, Bier und Schnaps, Prost Mahlzeit. An den Geschmack stellte er keine hohen Ansprüche, es mußte nichts Ausgefallenes sein, aber das Gewohnte, das hatte gefälligst dazusein. Stand die Wahl einer neuen Arbeitsstelle an, fragte der Werktätige als erstes nach der Güte der Betriebskantine. Ob dort selbst gekocht würde oder ob das Essen in Kübeln angeliefert würde. Er vergewisserte sich, daß auch in der Nachtschicht warmes Essen zur Verfügung stand. Montag Brühnudeln und Kompott – was soll das? mäkelte der Fleischfresser. Dienstag Bratwurst in Bierteig mit Mischgemüse und Salzkartoffeln – schon besser. Mittwoch Erbseneintopf mit Speck – ohne Bockwurst? Donnerstag Rindfleisch mit Senftunke und Salzkartoffeln – ist ja mal was. Freitag Milchreis mit Zucker und Zimt – da gehe ick doch gar nich erst hin. Ein Betriebsessen kostete zwischen fünfundfünfzig Pfennig und drei Mark, der eben zitierte Speiseplan stammt aus dem Berliner Glühlampenwerk im Jahr 1962.

Auch Funktionäre speisten arbeiterlich. Erich Honecker zum Beispiel. Er aß für sein Leben gern Makkaroni mit Tomatensoße, er gönnte sich aber auch öfter mal zwei Schnitzel mit Mischgemüse, Soße und Kartoffeln, das Sonntagsessen des Proleten. Der Funktionär ernährte sich wie ein Schwerstarbeiter, aus Klasseninstinkt vermutlich, schließlich war er gelernter Dachdecker. Obwohl er nun längst in anderen Sphären lebte, sich abgesetzt hatte von der Klasse, zu der er mal gehörte, pflegte er die Posen und Vorlieben der Wohnküchen-Kämpfer. Oder, was wahrscheinlicher ist, er kam nicht von ihnen los. In italienischen Filmen über die in Armut geborenen Jungs der Cosa nostra, die es als Padres zu Ruhm und Reichtum gebracht haben, rührt uns das, weil es gut gespielt ist. Doch wenn E. H. noch als Generalsekretär der SED einen Kamm in der hinteren Hosentasche trug, womit er sich zuweilen überkämmte, wie junge Männer aus proletarischem Milieu es tun, bevor sie einen Tanzsaal betreten, wirkte das eher unpassend. Fisch mochte Honecker nicht, außer mariniertem Hering nach Hausfrauenart. Und schon gar kein Wild, nichts aus dem Wald, auch keine Pilze. Rehkeule, Hirschbraten oder Wildschwein hat der passionierte Jäger niemals gegessen, vielleicht war es ihm zu bürgerlich, Rehrücken mit Preiselbeeren – das klingt nach Eßzimmer und Stoffserviette im Silberring, die Entfernung von der Wohnküche, dem Klassenzimmer der Arbeiter-und-Bauern-Macht, wäre ihm zu groß gewesen.

Am allerliebsten, so erzählt es Honeckers Koch, Herr Krause, aß »der Chef« Kaßler. In allen Varianten. Mittags warm, mit Sauerkraut, angemacht mit Speck und geriebenen Zwiebeln, dazu Salzkartoffeln. Abends kalt, als Aufschnitt. »Der Chef«, erinnert sich Krause, »aß wenig Gemüse, keinen Salat, kaum Obst, ab und an mal einen Apfel aus Werder. Das ganze schöne Obst, das in West-Berlin eingekauft wurde«, sagt Krause mit Bedauern, »Weintrauben, Bananen, Birnen, Kiwis, all die schönen Sachen wollte er nicht!«

Der Geschmack des Ostens war bestimmt von der Utopie der Gleichheit, keinem sollte es schlecht gehen, keiner durfte was Besseres sein, die Bedürfnisse der Masse zählten, nicht die des einzelnen. Es ging um das große Kollektiv der Esser, die satt werden sollten, nicht um den Geschmack von ein paar bourgeoisen Gourmets. À la maison statt Haute cuisine, deftige deutsche Hausmannskost, futtern wie bei Muttern.

Die Wandlitzer Funktionäre entfernten sich Jahrzehnt für Jahrzehnt mehr von der Utopie der Gleichheit. Feinschmecker allerdings hat es im Politbüro nur zwei gegeben, Kurt Hager und Albert Norden. Die beiden Leckermäuler fanden es bedauerlich, daß die Gerichte entsprechend den aktuellen weltpolitischen Verwicklungen nur noch unter ihren deutschen Bezeichnungen auf der Speisekarte des Wandlitzer Funktionärsklubs standen und nicht länger Cordon bleu oder Rumpsteak Strindberg heißen durften. Doch die Extrawürste aus der Funktionärsküche dürften sie darüber hinweggetröstet haben. Herr Norden mochte kein Öl, alles mußte mit Butter gebraten werden, auf keinen Fall in einer Pfanne, in der sich vorher Öl befunden hatte. Also bekam der Genosse Feinschmecker im Funktionärsklub seine eigene Pfanne. Als die asiatische Küche modern wurde, kriegte Hager seine Bambussprossen. Mielke hielt sich unbeirrbar an Hefeklöße mit Blaubeeren. Das Frühstück nahm er im Büro ein. In der Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit fand man eine Zeichnung, auf der eine Ordonnanz penibel Mielkes Frühstückstisch skizziert hatte, die Stelle, wo seine Marmelade zu stehen hatte, die Stelle für seinen Eierbecher, die für seinen Teller, sein Messer, seinen Brotkorb – ein absurdes Dokument der Ordnung des Banalen.

Während in den ersten Jahren alles, womit in Wandlitz gekocht wurde, aus DDR-Produktion oder aus den Bruderländern stammte, wurden die Zutaten mit der Zeit immer westlicher, bis sogar das Salz von drüben geholt wurde. Die Parteiführung ließ ihren Spargel lieber aus dem Westen kommen, als den zu essen, den ihr Koch frisch vom Feld geholt hatte und der viel besser schmeckte als der westliche, wie Koch Krause betont.

Du bist, was du ißt – wer waren sie, die nicht müde wurden, die Überlegenheit des Sozialismus zu verkünden, und in historisch bemerkenswerter Verachtung des eigenen nach den bunt verpackten Westsachen griffen? In dieser Hinsicht stimmten sie mit den Neigungen ihres Volkes ja durchaus überein. Jedem nach seinen Bedürfnissen? Sie verkündeten Gleichheit und deckten ihre Tische ungeniert mit dem, was ihre Bürger in Konsum und HO nicht kaufen konnten. Der Fehler war nicht, daß sie sich, anders als ihre Untertanen, alle Bedürfnisse erfüllten, das ist unter Machthabern üblich. Der Fehler war, daß sie das Märchen von der Gleichheit bis zum bitteren Ende erzählten. Die Schizophrenie des Landes DDR fand sich auf den Tellern von Wandlitz wieder, die Utopie fraß sich selber; ein Kannibalismus besonderer Art. Du bist, was du ißt – ich bin in diesem Land groß geworden, einsvierundsiebzig, dreiundsechzig Kilo schwer.

Bockwurst, Broiler, Zukunft Die fünfziger und sechziger Jahre

Leuchtendes Rot

»Hol Salz, hintenrum!« sagte meine Großmutter eines Abends nach dem Krieg und schickte mich zu Schummer, dem Lebensmittelhändler. Es war schon zwanzig nach sieben, Ladenschluß. Ich ging über den Hof und klopfte an die Hintertür. Herr Schummer holte das Gewünschte und brachte außerdem ein Weinglas mit etwas Rotem darin. »Das ist für dich«, sagte er, »das ist Marmelade«. Ich trug das Glas vorsichtig und gerade vor mir her, Marmelade, das Wort hatte ich schon mal gehört. Auf dem Heimweg hob ich das leuchtende Rot dicht vor meine Augen, die graue Straße dahinter war nun ganz in das Licht des Gelees getaucht, in seinem Schimmer sah sie rosig und warm aus. Erst zu Hause kostete ich, die Süße des Seltenen hat sich meinen Geschmacksnerven mitgeteilt wie eine geheime Botschaft über das Verhältnis von Mangel und Belohnung.

Das Glas mit der roten Marmelade war, so könnte es sein, eine Art früher Vorbereitung auf ein Leben in der Mangelgesellschaft, in der der Nachkrieg nie aufgehört hat und die immerwährende Erinnerung an die Schrecken des Krieges dazu diente, Versorgungslücken und Engpässe mehr oder weniger demütig zu ertragen. Hauptsache satt und ein Dach überm Kopf.

Die rote Marmelade und das weiße Kuchenbrötchen aus der HO hatten ein erstes Leuchten in die kulinarische Finsternis meiner Kindheit gebracht. Und die weißen Negerküsse! Meine Mutter schleppte sie in dünnen grauen Pappkartons durch den nach Friedensware lechzenden Berliner Westen und verhökerte sie für fünf Mark das Stück an betuchte Geschäftsleute: »Kosten Sie mal, schmeckt wie in Friedenszeiten!« Ein Biß, und das zarte Gebilde war nur noch ein schöner Gedanke. Daß dem Negerkuß der seinen Namen rechtfertigende Schokoladenmantel fehlte, überging sie taktvoll. Meine Mutter trug auf ihren Negerkuß-Touren einen weißen Lammfellmantel, der aus einer Plünderung stammte. Wenn sie abends zurückkehrte, bekam ich ein oder zwei weiße Küsse, die sich nicht verkaufen ließen, weil sie zerquetscht waren.

Ansonsten wurde der Hunger kurzzeitig unterbrochen durch die dünne Kürbissuppe in der Gaststätte gegenüber unserer Wohnung. Ich aß jedesmal drei Teller, für zehn Minuten war ich satt; wenn wir das Lokal verließen, fühlte ich mich so hungrig wie zuvor. Damals kannte ich die Weisheit noch nicht, die ich später in einer Zeitung aus dem Februar 1947 entdeckte:

Möglichst wenig dünne Suppe kochen

Nicht versuchen, durch Wasser das Essen zu verlängern, um den Magen zu füllen! Man verwechselt das Gefühl der Fülle mit dem der Sättigung, das belastet den Verdauungsapparat mit völlig nutzloser Arbeit, und man ist gleich wieder hungrig. Weiterer Ratschlag zur Bändigung des Hungers: Wenig trinken! Keine Flüssigkeit zu sich nehmen während der Mahlzeit, um die Verdauungssäfte nicht zu verdünnen. Ein Viertelliter Flüssigkeit am Tage genügt im allgemeinen. Alles Eßbare in Schränke wegräumen! Denn schon beim Anblick von Speisen sondern Mund, Magen und Darm Verdauungssäfte ab, die Hungergefühle hervorrufen.

Dieser Hinweis hätte mir damals nichts geholfen, weil bei uns zu Hause nichts Eßbares rumlag. Das Brot, die Marmelade, die Kartoffelschalen, die fettlos gebratenen Plinsen, die zehn Pfund Pfefferminzfondants, die meine Mutter eigentlich auf dem Schwarzen Markt verkaufen wollte – alles wurde sofort aufgegessen.

Weihnachten 1947 stand ein echter Kaninchenbraten auf dem Tisch, in wochenlangem Briefwechsel von Verwandten in Mecklenburg erbettelt. Allein der Duft machte die Hungrigen glücklich. Als es soweit war, konnte ich nichts essen, denn neben dem dürren, von Lametta glitzernden Weihnachtsbaum lag eine Puppe. Keine aus Lumpen gemachte, nein, aus Zelluloid war sie, eine richtige Puppe, die die Augen aufschlagen konnte. Die Freude machte mich stumm, der Hunger war weg. Vielleicht mochte ich das Kaninchen nicht essen, weil mein Wintermantel aus Kaninfell war, er stammte aus derselben Plünderung wie der Lammpelz meiner Mutter. Oder es war der Schlager, den ich aus dem Radio kannte: »Bei mir zu Haus auf dem Balkon, da steht ein alter Pappkarton, darinnen haust Tusnelda, unser Hühnchen, und nebenan, da wohnt der Maxe, das Kaninchen.« Man ißt doch nicht seine Untermieter. Die meisten sahen das anders.

»Was man aus einem Kaninchen alles machen kann«, ein zeitgenössischer Ratschlag.

Am Schlachttag Tiegelwurst. Blut auffangen, gut verrühren und mit eingeweichter Semmel oder mit dickem Grützbrei verarbeiten. Mit Zwiebel, Salz, Majoran und Pfeffer würzen und mit etwas Fett durchbraten. Am nächsten Tag kommt die Leber auf den Tisch. Gewaschen, in dicke Scheiben geschnitten, in Mehl gewendet, zart mit Salz und Pfeffer bestreut, in heißem Fett zusammen mit Apfel- und Zwiebelscheiben gebraten – ein ganz feiner Bissen! Hasenpfeffer wird aus Kopf, Herz, Lunge, Milz und Hals mit einer braunen, süßsauer abgeschmeckten Tunke zu Pellkartoffeln gekocht. Sülze können wir dann aus den gut gesäuberten und gründlich gewässerten Eingeweiden zusammen mit etwas Gemüse und Geleepulver bereiten. Aus den Bauchlappen machen wir mit Semmel- und Zwiebelfülle und einer würzigen Tunke Fleischröllchen. Rücken und Keulen, eingelegt in Essigwasser oder Buttermilch, sind inzwischen mürbe geworden und geben den Festtagsbraten zu Klößen und Kraut. Und mit den Hasenfettgrieben backen wir zum Schluß noch eine Linzer Torte.

Auch in meinem weiteren Leben habe ich niemals einen Kaninchenbraten angerührt. Nicht mal zu der Zeit, als der Goldbroiler berühmt geworden war, als man seinen Erfolg mit der industriellen Mast von Karnickeln wiederholen wollte und das Versuchstier öfter auf dem Speiseplan der Kantine stand, Broika – Broilerkaninchen. Vermutlich wäre ich auch mit dem Gänsebraten nicht zurechtgekommen, den es bei einer Mitschülerin jedes Jahr zu Weihnachten gegeben hat. Wochenlang vorher durfte sie nicht baden, weil in der Badewanne eine Gans saß. Die Gans wurde mit Knödeln fett gestopft, Weihnachten war sie dann reif zum Schlachten.

Du siehst ja wieder aus wie Braunbier mit Spucke, stöhnte meine Mutter in den hungrigen Jahren öfter und klatschte mir kleine Backpfeifen ins Gesicht, bevor wir irgendwo zu Besuch gingen, so sollten sich meine Wangen röten. Trocken Brot macht Wangen rot – achtzig Prozent der deutschen Kinder waren unterernährt.

Auf ihrem Gründungsparteitag 1946 erklärte die SED, daß sie die »dringlichste Gegenwartsaufgabe« darin sehe, die Lebenslage der Bevölkerung zu verbessern. Das Abendessen nach dem historischen Handschlag zwischen SPD und KPD, zwischen Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck, soll in einem der vom Krieg am wenigsten zerstörten Restaurants stattgefunden haben, im heutigen Berliner Prominententreff Borchardt, alte Pracht im Nachkriegszustand, die Speisekarte ist nicht mehr auffindbar.

Tatsächlich verbesserte sich meine Lebenslage entscheidend. In unserer Straße hatte im Juli nach dem Kaninchen-Weihnachten ein Eisladen aufgemacht. Eis – was war das? Es befand sich zwischen zwei Waffeln, an jeder Seite konnte man lecken, man mußte nur aufpassen, daß es nicht wegschmolz in der Sommerhitze. Eine Bande barfüßiger Schlüsselkinder starrte gebannt in die langsam rotierende Maschine mit der großen, gelben Masse. Die erste Eiswaffel – ein Mirakel.

Der Wiederaufbau der Körper

Die Rationen auf den Lebensmittelkarten wurden allmählich größer, sie kamen jetzt auf siebzig Prozent des vom Völkerbund angegebenen Existenzminimums. Amerikanische Care-Pakete, die vor allem in die Westsektoren gingen, und sowjetische Stalin-Pakete, die »Pajoks« für Angehörige der deutschen Intelligenz, erreichten mich nicht. Mit einer Ausnahme. Irgendwie kam ich an das Milchpulver aus den Ami-Paketen. Ich weiß noch die flaumige Süße, den Geruch nach Vanille und daß ich das Pulver im Dunkeln unverdünnt mit dem Löffel gegessen habe, es war gerade Stromsperre. Eine Kostprobe von Marshallplan und Wirtschaftswunder im Westen, wo nach der Währungsreform 1948 über Nacht volle Schaufenster die Ausgehungerten verblüfften. Die ganze »Friedensware«, alles wieder da, Rhabarber, Blumenkohl, Spinat. Leberwurst und Schweineschnitzel. Zitronen, Apfelsinen, Bananen. »Gute Ware für gutes Geld« – die D-Mark war geboren. Ich jedoch lebte da, wo bis 1954 Reparationszahlungen an die Sowjetunion geleistet wurden. Wo erst 1958 die Lebensmittelmarken abgeschafft wurden. Wo das Wirtschaftswunder auf sich warten ließ, solange die DDR bestand und lange über sie hinaus.

Der Westen war immer dabei, Goldmarie schüttelte ihre Betten, daß die Flocken stoben. Der Wohlgeruch des Wohlstands wehte vom Wedding herüber in den Prenzlauer Berg, ein betörendes Gemisch aus Apfelsinenkisten, den Sahnebonbons der Firma Storck, die man für zwei Westpfennig aus dem Automaten ziehen konnte, und dem Würstchendampf aus Imbißbuden, die mit bunten Lämpchen behängt waren.

Neulich hauchte mich der fast vergessene Atem der freien Welt unversehens auf dem U-Bahnhof Oranienburger Tor an. Das Bukett von Fa-Seife, die neben After eight lagert, breitete sich aus, die Schwere von Opium-Parfüm über der Bonbonsüße von Bubblegum, die Frische von Sunil, die über den Tabakduft von Marlboro triumphiert – zeig dich, Eden Intershop, du Gespenst des Kommunismus! Es stellte sich heraus, daß das nostalgische Aroma als chemischer Duftzusatz in den Reinigungsflocken steckte, mit denen der Bahnsteig gebohnert wurde. Berlin bleibt seinen Gerüchen treu, Berlin riecht nach gestern.

In den ersten »Freien Läden« der HO konnte man ohne Marken einkaufen. Falls man Geld hatte. Die HO war ein Schlag gegen den Schwarzen Markt und das Negerkuß-Geschäft meiner Mutter, die Friedensware war jetzt legal zu haben. Das staatliche Handels-Imperium HO sollte in den kommenden Jahren nach und nach die meisten der privaten kleinen Läden aufkaufen. Auf den Theken der Tante-Emma-Läden standen bis zum Schluß riesige Bonbongläser mit sehr roten Himbeeren und sehr grünen Maiblättern, die privaten Händler bemühten sich darum, eine bessere Verkaufskultur zu demonstrieren als die Handelsorganisation. Oder sie gaben ihre Geschäfte günstig an die HO ab, wurden zu Verkaufsstellenleitern ihres ehemaligen Ladens und führten fortan eine volkseigene Existenz, ein Leben ohne Geschäftsrisiko. Was zur Folge hatte, daß sie sich nun ebenfalls nicht mehr um Verkaufskultur kümmerten und sich wohlig dem volkseigenen Schlendrian anschlossen.

Die HO war die Pechmarie der DDR-Wirtschaft, faul und herzlos. Eine Handelskette, die sich vierzig Jahre lang als unfähig erweisen sollte, das Gemüse frisch, den Fisch genießbar und das Brot knusprig in die Läden zu bringen. HO hieß »Hamwanich-kriegen-wir-auch-nich-rein«, bedeutete leere Regale, alte Schrippen, zerbrochene Flaschen, tropfende Milchtüten, stinkende Kartoffeln, pampige Verkäuferinnen.

Chiu, Chiu, Chiu, Choo

Käse gibt’s in der HO

Vier, fünf Stunden muß man stehn

Aber Käse kriegt man keen zu sehn.

Der HO-Boogie ist eine Vorahnung des Kommenden gewesen. HO wurde gleichbedeutend mit einer langen Schlange von Versäumnissen, der Name für das große Grau der sozialistischen Mangelwirtschaft. »Grau ist’s immer, wenn ein Morgen naht«, heißt es in Brechts Aufbaulied, ein Trost, der sich bis zum Mittag verbrauchte.