Der Geschmack von Freiheit - Ladina Bordoli - E-Book
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Der Geschmack von Freiheit E-Book

Ladina Bordoli

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Beschreibung

Die Erfindung der Milchschokolade

Vevey am Genfersee, 1861. Es ist bald zehn Jahre her, seit Fanny Caillers Vater gestorben ist: der berühmte Chocolatier François Cailler. Ihre Mutter und ihre Brüder haben das Familienunternehmen übernommen. Obwohl sich Fanny ebenfalls sehr für die Herstellung von Schokolade interessiert, darf sie nur in der Verpackungsabteilung arbeiten. Als die Dreiundzwanzigjährige den attraktiven Kerzenfabrikanten Daniel Peter kennenlernt, verliebt sie sich sofort und heiratet ihn. Er teilt ihre Leidenschaft für Schokolade. Und so beschließen Fanny und Daniel, ein eigenes Unternehmen zu gründen: Denn die beiden haben eine Idee für eine Zutat, die die Welt der Schokolade für immer verändern soll.

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Seitenzahl: 449

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Buch

Louise musterte ihre Tochter, die ihr in der Kutsche gegenübersaß. Fanny hielt den Blick aus dem Fenster gerichtet und signalisierte damit klar, dass sie keine Unterhaltung wünschte. Sie trug eines ihrer Sonntagskleider, ein Kostüm aus dunkel schimmerndem auberginefarbenem Stoff, das vorne mit Knöpfen und am Hals mit einer Schleife versehen war. Dazu trug sie über ihren geflochtenen Haaren einen neckischen Hut mit einer großen Feder. Damit sie an diesem Dezemberabend nicht fror, hatte sie sich einen Mantelumhang aus dunkler Wolle um die Schultern gelegt und ihre Hände in einen Fellmuff gesteckt, genau wie Louise.

»Wir haben nie darüber gesprochen, Fanny, aber …« Louise legte eine Pause ein, um die Aufmerksamkeit ihrer Tochter zu erlangen. Betont langsam drehte diese den Kopf und sah sie an. Vorsichtig fuhr Louise fort: »Du bist dir schon bewusst, dass diese Einladung auch noch einen tieferen Sinn hat, nicht wahr?«

Fanny starrte sie nun sichtlich verärgert an. »Maman, versuchst du mir etwa zu sagen, dass Daniel Peter mich heiraten will und ich – ohne es zu wissen – schon zugesagt habe?«

Die Autorin

Ladina Bordoli wurde 1984 in der Schweiz geboren. Sie ist eine ausgebildete Fachfrau für Unternehmensführung, Miteigentümerin einer eigenen Werbetechnik-Firma und arbeitet als Geschäftsführerin im elterlichen Bauunternehmen. Ihre Leidenschaft gilt jedoch dem Schreiben, dem sie sich überwiegend am Wochenende und an den Feiertagen widmet. Sie lebt im Prättigau, einem kleinen Tal in den Schweizer Alpen. Zuletzt bei Heyne erschienen: die dreibändige »Mandelli-Saga«.

Ladina Bordoli

Der Geschmack von Freiheit

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 12/2024

Copyright © 2024 by Ladina Bordoli

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Katja Bendels

Umschlaggestaltung: bürosüd, München,

unter Verwendung von © mauritius images (Valery Bareta / Alamy Stock Photos); Arcangel Images (Malgorzata Maj)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26613-4V001

www.heyne.de

Prenez l’or brun d’outre-mer, le cacao, mariez-le à l’or blanc de la Gruyère, le lait. Ajoutez une bonne dose d’audace et de savoir-faire de maîtres chocolatiers et vous obtiendrez la recette de Cailler.

Man nehme den Kakao, das braune Gold aus Übersee, und vermähle ihn mit der Milch, dem weißen Gold aus Gruyère. Dann füge man eine kräftige Prise Wagemut und Handwerkskunst des Meister-Chocolatiers hinzu, und man erhält das Rezept von Cailler.

Aus der Firmenchronik zum 200-jährigen Jubiläum von Cailler

Prolog

Corsier-sur-Vevey, Mai 1854

Fanny-Louise Cailler konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass Papa ihr keinen Gutenachtkuss mehr gab. »Schlaf gut, meine Große, und träum von der Zukunft«, hatte er stets gesagt und seine Lippen lächelnd auf ihre Stirn gelegt. Auch seine warme, dunkle Stimme fehlte ihr; so sehr sogar, dass sie sich oft umdrehte, weil sie glaubte, er habe ihren Namen gerufen. Fanny-Louise – bei niemandem hatte es so liebevoll und stolz geklungen wie bei Papa. Zwei Jahre war es nun schon her, seit er gestorben war, hier, in seinem Haus in der Rue des Moulins. Ihren fünfzehnten und sechzehnten Geburtstag hatte Fanny bereits ohne seine Umarmung und sein Lachen feiern müssen. Das tat weh. Nicht so sehr jedoch wie der heutige Tag, der soeben angebrochen war – der Jahrestag seines Todes. Der Tag, an dem Papa von ihnen gegangen war und Fanny, ihre Maman und die beiden älteren Brüder Auguste und François-Alexandre alleine zurückgelassen hatte.

In der Nacht, die dem Jahrestag seines Todes vorausging, konnte Fanny nicht schlafen. Ihr Herz schlug schmerzhaft gegen den Brustkorb, und ihre Augen wollten sich einfach nicht schließen. Tränen nässten ihre Wangen und das Kopfkissen, das Luftholen fiel ihr schwer. Sie lauschte dem gleichmäßigen Atem ihrer Mutter im Bett nebenan, um sicherzugehen, dass sie nicht aufwachte, denn Maman hatte von allen den leichtesten Schlaf. Die coucheurs, die Fabrikarbeiter, die ebenfalls in ihrem Haus übernachteten, schliefen in der Nebenkammer, die nur durch eine Tür vom Schlafzimmer der Familie getrennt war. Doch gewöhnlich interessierten sie sich nicht sonderlich für die Angelegenheiten ihrer Hausherren; zu groß war ihre tägliche Erschöpfung.

Leise kroch Fanny unter ihrer Bettdecke hervor, den Blick stets zu Maman gewandt. Deren Gesichtszüge wirkten friedlich und entspannt, wenn sie schlief. Die Kerben, die sonst ihre Stirn und die Partie zwischen den Augen zerfurchten, waren jetzt nur schattenhafte Adern auf ihrem Antlitz.

Von Auguste und François-Alexandre, den alle nur bei seinem zweiten Namen riefen, hatte Fanny keine Überraschung zu befürchten. Ihre Brüder schnarchten mit halb offenem Mund in ihren Betten, die gleich neben dem von Maman standen. Auch sie waren nach der Arbeit in den Fabriken so müde, dass sie kaum noch Zeit fanden, ihre Freunde zu treffen.

Das Geschäft mit der Schokolade lief hervorragend, und Fannys Brüder leiteten zusammen mit Maman mehrere Fabrikstandorte in Corsier und Vevey, die alle am Canal de la Monneresse lagen, genau wie ihr Zuhause. Fanny hätte gerne mitgeholfen, das Erbe ihres Vaters in die Zukunft zu führen, doch ihre Mutter behauptete, sie sei mit ihren sechzehn Jahren noch zu jung dafür.

Vorsichtig allen knarzenden Dielenbrettern ausweichend, tappte sie zur Tür der Schlafkammer. Die dicken Wollsocken, die sie zu ihrem Nachthemd trug, dämpften ihre Schritte. Obwohl es schon Mai war, konnten die Nächte hierzulande nach wie vor empfindlich kühl werden. Deshalb nahm Fanny noch ein wollenes Tuch von einem Haken neben der Tür und schlang es eng um ihren Körper. Da es schon beinahe Vollmond war, reichte das Licht im Haus aus, um bis zum Wohnzimmer zu gelangen, wo Maman die Kerzen in einem Schrank lagerte. Leise fischte Fanny eine Kerze aus der Schublade des Wohnzimmerschranks und schlich, vom Flackern des Kerzenlichts geleitet, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Im nördlichen Bereich des Wohnhauses lag die Küche – so war stets gewährleistet, dass sie etwas Kühle speichern konnte. Fannys Ziel jedoch war nicht die Kochstube oder die Latrine in der Ecke daneben, sondern das alte Schokoladenatelier ihres Vaters, das im hinteren Teil des Hauses mit Sicht auf den Canal de la Monneresse lag.

Vor der Tür zu den alten Fabrikräumlichkeiten blieb sie stehen, hob die Kerze und betrachtete das Gemälde, das ihre Großeltern väterlicherseits zeigte. Das flackernde Licht ließ die Gesichter ihrer Vorfahren lebendig wirken. Opa hatte den gleichen Namen getragen wie Papa. Von ihm hatten er und auch Fanny die markante, gerade Nase. Ob Opa wohl stolz auf seinen Sohn gewesen war, der sich nach der Ausbildung zum Kolonialwarenhändler auf eine abenteuerliche Reise nach Turin, der Wiege der modernen Schokolade, begeben und dort das Handwerk des Chocolatiers erlernt hatte? Dieser Entscheid hatte nämlich alles verändert, nicht nur das Leben seiner Familie, sondern auch das vieler Schweizer Bürger.

Mit einem leisen Seufzen senkte Fanny die Kerze, betrat den alten Fabrikraum und zog die Tür hinter sich zu. Kurz schloss sie die Augen und atmete den Duft nach Staub, Schmierfetten und gerösteten Kakaobohnen ein, der noch immer in der Luft lag, obwohl dieser Ort längst stillgelegt und durch neuere Produktionsstätten ersetzt worden war. Oder bildete sie sich das bloß ein, weil sie es sich wünschte und es sie an die sonnendurchfluteten Tage ihrer Kindheit erinnerte? An Papas raue Hand, an der sie mit weit aufgerissenen Augen staunend durch diesen Raum flaniert war? In manchen schlaflosen Nächten war Fannys Erinnerung so lebendig, dass sie sogar glaubte, den süßlichen Duft von Papas Tabakpfeife zu riechen.

Sie war unheimlich stolz auf das, was ihr Vater erreicht hatte. Wenn sie mit ihm hierhergekommen war, hatte er ihr stets von den Erlebnissen aus seiner Vergangenheit berichtet. Beeindruckt hatte sie sich jede Kleinigkeit gemerkt und ihn dennoch immer wieder gebeten, die Geschichten ein weiteres Mal zu erzählen.

François-Louis Cailler hatte zuerst ein Lebensmittelgeschäft geführt, bevor er 1819 eine eigene Schokoladenfabrik gegründet hatte. 1832 dann, sechs Jahre vor Fannys Geburt, hatte er dieses Gebäude hier gekauft. Damals war es noch eine alte Gerberei gewesen, ausgestattet mit einer Lattenschneiderei und einem Schlagbaum. Diese Geräte hatte Papa so umgebaut, dass er damit – und mithilfe des Wassers aus dem Canal de la Monneresse – Schokolade herstellen konnte. Hier im Industrieviertel En Copet waren sie bei weitem nicht die Einzigen, die mit Wasserkraft neue Waren produzierten. Zu ihren Nachbarn zählten Öl- und Getreidemühlen, Zigarren- und Kerzenfabriken, Gerbereien, Sägereibetriebe und Marmorfabriken. Auch gegenüber, im Les Bosquets, blühte der Fortschritt in Form zahlreicher Manufakturen. Papa hatte dort einige Jahre vor seinem Tod ebenfalls einen weiteren Fabrikstandort erworben.

Die Abhängigkeit vom Kanal barg jedoch auch ihre Tücken. Im Winter 1825/26 war das Wasser in La Monneresse zugefroren, sodass die Maschinen aller Produktionsstätten stillstanden. Es war das finsterste Kapitel in Papas Leben gewesen – diese Geschichte hatte er Fanny nur ein einziges Mal erzählt. Dabei waren seine Augen dunkel geworden, und seine Stimme hatte gezittert. 1826 war die Schokoladenfabrik sogar in Konkurs gegangen, und Papa hatte nicht mehr unter seinem Namen arbeiten dürfen. In jener Zeit hatte Fannys tapfere Mutter Louise die Zügel der Schokoladenfabrik in die Hand genommen, bis es Papa zwei Jahre später – nach Aufhebung des Konkurses – wieder erlaubt gewesen war, normal zu arbeiten. Fannys Maman wechselte jedoch gleichermaßen das Thema, wenn ihre Tochter etwas über die damalige Zeit erfahren wollte. Eine Frau an der Spitze eines Unternehmens? Wie musste sich das wohl angefühlt haben?

Viel mehr als Papas Berichte über die Vergangenheit der Fabrik faszinierte Fanny allerdings das »Braune Gold«, wie er den Kakao nannte. Christoph Kolumbus hatte es angeblich als erster Europäer bei einer seiner Amerikareisen entdeckt. Gemäß seiner Beschreibung hielt er die Kakaobohne, die von den Südamerikanern als Zahlungsmittel verwendet wurde, für »eine Art Mandel«. In Europa war der Kakao lange Zeit nur als heißes Getränk konsumiert worden. Besonders beim Adel war das bittere Gebräu, das durch Zugabe von Zucker und Gewürzen wie Zimt und Anis schmackhafter gemacht wurde, sehr beliebt gewesen. Die Blockschokolade, wie Fannys Papa sie hergestellt hatte, war erst deutlich später erfunden worden. Außerhalb der Schweiz nannten die Leute sie auch »Dampfschokolade«, weil sie mithilfe von Dampfmaschinen hergestellt wurde. Nur in der Schweiz, so hatte Papa gesagt, stellte man Schokolade mit Wasserkraft her.

Fanny erinnerte sich so gern an die gemeinsamen Momente mit ihm hier in seiner kleinen Fabrik in der Rue des Moulins. Wehmütig strich sie mit den Fingern über die verstaubten Maschinen und Arbeitstische, die man für die Schokoladenproduktion brauchte. Papa hatte ihr alles genau erklärt, und sie hatte den Vorgang gefühlt Hunderte Male beobachtet. Wenn man einige wichtige Details beachtete, war es gar nicht so kompliziert.

Die Dampfschiffe, die an der Place du Marché unten am Genfer See anlegten, der bei ihnen Lac Leman genannt wurde, brachten den für die Schokoladenherstellung benötigten Zucker und die vergorenen, getrockneten Bohnen, den sogenannten »Rohkakao«, aus Übersee. Zuerst musste man die Bohnen rösten, damit sie ihre Bitterkeit verloren. Wenn das geschah, erfüllten die Röstaromen jedes Mal das gesamte Haus und krochen von der Manufaktur die Treppen hinauf bis in die hintersten Ecken der Schlafkammer. Die Bohnen wurden so lange geröstet, bis sie anfingen zu knacken und sich leicht aus ihrer Schale lösen ließen. Erst wenn sie komplett von den Hülsen gereinigt waren, wurden sie in die Schokoladenmaschine gefüllt.

Fanny blieb vor dem halbrunden eisernen Kessel mit der an der Wand befestigten Keule stehen. Unter dem Kübel hatte Papa mit seinen zwei Mitarbeitern früher immer ein kräftiges Kohlefeuer entfacht. Abwechselnd rührten sie so lange mit dem Schlegel, bis die Masse flüssig und vollkommen glatt war. Man durfte nichts Körniges mehr zwischen den Fingerspitzen fühlen. Nach dem »Zartreiben«, wie ihr Vater den Vorgang immer genannt hatte, mischte man die erforderliche Menge Zucker dazu. Zum Schluss wog man die Masse in Portionen ab und drückte diese in die tafelförmigen Schokoladenformen, die man auf einem Holztisch so lange schüttelte und schlug, bis die Schokolade oben vollkommen glatt war. Diese Arbeit erforderte viel Muskelkraft, weshalb sie meistens von den Männern verrichtet wurde. Einige Frauen aus der Stadt wickelten die Schokoladentafeln dann in Stanniol und buntes Papier, um sie für den Verkauf bereitzumachen.

Das war Schokolade. Moderne Schokolade. Und Fannys Papa war der Erste gewesen, der sie in der Schweiz in dieser Form produziert und angeboten hatte. Es war eine Kostbarkeit, deren Aromen am Gaumen explodierten und auf der Zunge tanzten. Man sagte der braunen Delikatesse zudem zahlreiche gute Eigenschaften nach. Fannys Mund verzog sich zu einem Lächeln. Glücklich sollte sie machen und leidenschaftlich. Manche waren der Ansicht, dass Schokolade gleichermaßen berauschte, belebte und entspannte. Kein Wunder also, dass sie derzeit ebenso von Apotheken wie auch von Konditoreien, Likörfabrikanten und Zuckerbäckern feilgeboten wurde. Bisher waren es vor allem Frauen und Kinder, die sich der bittersüßen Versuchung hingaben; Männer bevorzugten Kaffee und Tabak. Das könnte man jedoch leicht ändern, überlegte Fanny, wenn …

… wenn man der Schokolade aufregende Gewürze beimischen könnte. Dabei dachte sie nicht an die sanfte und feminine Vanille, sondern eher an die kräftige und maskuline Chilischote. Über dem Feuer getrocknet, würde sie den Schokoladengenuss für Männer in ein Abenteuer verwandeln. Verlockend süß in den Anfängen, scharf bei längerem Kauen, ein wenig bitter im Nachgang, abgerundet durch einen Hauch von Rauchgeschmack.

Das wäre nicht nur Schokolade, sondern ein Erlebnis.

Kapitel 1

Vevey, August 1861

Zum wiederholten Mal drapierte Fanny die Falten ihres Rocks und strich sich die feuchten Handflächen an ihrem Kleid ab. Es war halb neun Uhr morgens, und normalerweise besuchte sie um diese Zeit den Sonntagsgottesdienst. Heute hatte sie jedoch etwas anderes vor.

Ein Pfiff ertönte. Weißer Dampf quoll aus dem Schlot der Lokomotive und verlor sich im blassblauen Himmel. Ächzend und schnaufend setzte sich die Eisenbahn in Bewegung und rollte aus dem Bahnhof. Fanny winkte den Leuten und besonders den Kindern am Bahnsteig, die das Ereignis mit großen Augen verfolgten.

Beiläufig erhaschte sie dabei einen kurzen Blick auf ihre Spiegelung im Zugfenster. Der Fahrtwind, der hereinwehte, löste einige hellbraune Haarsträhnen aus ihrer Flechtfrisur unter dem mit Bändern festgebundenen Hut. Das Braungrün ihrer Augen leuchtete heute heller als sonst, und die neckischen Sommersprossen auf ihrer Nase unterstrichen ihr schelmisches Lächeln, das sie ihrer besten Freundin Martine schenkte, die gegenüber Platz genommen hatte. An Martines Seite saß ihr Ehemann Guillaume Molino, dessen Familie ursprünglich aus Italien stammte und in der Nähe des Bahnhofs eine Glasfabrik betrieb.

Auch die Molinos hatten sich an diesem Sonntag herausgeputzt. Guillaume trug einen grauen Anzug mit einer Hose aus demselben Stoff, dazu eine cremefarbene Weste sowie ein weißes Hemd. Auf seinem Kopf thronte ein stattlicher schwarzer Hut. Martine hatte das dunkle Haar zum Mittelscheitel gekämmt, hochgesteckt und mit einem Hut mit Feder bedeckt, ähnlich wie Fanny. Während ihre beste Freundin jedoch ein schimmerndes Kleid in Aubergine trug, hatte sie selbst eines in Smaragdgrün gewählt. Schließlich hatte man nicht jeden Tag – ja nicht einmal jeden Sonntag – die Möglichkeit, mit einem Vergnügungszug von Vevey nach Bex und wieder zurückzufahren. Um genau zu sein, war das Fannys erste Bahnfahrt überhaupt!

»Danke, dass du mich zu dieser außergewöhnlichen Veranstaltung eingeladen hast, Guillaume!«, rief Fanny über den Lärm der ratternden Eisenbahn hinweg und schenkte ihm ein Lächeln, das er mit einem freundlichen Nicken erwiderte. »Wenn der Fortschritt endlich in Vevey Einzug hält, sollte man nicht knausrig sein«, bemerkte er, wobei sein Schnurrbart wackelte, weil er jedes Wort überdeutlich und laut aussprechen musste.

Wie recht er damit hatte! Nach einer fünfjährigen Auseinandersetzung zwischen der Bahngesellschaft, der Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und der Bevölkerung über den Standort des neuen Bahnhofs war dieser vor kurzem endlich in Betrieb genommen worden. Ab einem Franken fünfzig konnte man nun unter anderem jeweils sonntags an dieser Rundfahrt teilnehmen. Ihre Fahrkarten hatten etwas mehr gekostet als jene der dritten Klasse, die auf den Plakaten in Bahnhofsnähe publiziert waren. Wie hoch genau die Fahrtkosten zweiter Kategorie waren, wollte Guillaume Fanny allerdings nicht verraten. Ursprünglich hatte er beabsichtigt, sie in die erste Klasse einzuladen, dort war aber schon alles ausgebucht gewesen. Also entschieden sie sich für die immer noch äußerst komfortable zweite Klasse. Das war ohnehin angenehmer. Die Reisenden der ersten Klasse hielten nicht viel davon, wenn neureiche Leute wie sie ebenfalls dort auftauchten. Meist wurde man dann bloß kritisch oder im schlimmsten Fall sogar abfällig beäugt. In den Augen jener Familien, die von Geburt an zur führenden Gesellschaftsschicht gehörten, klebte an den Händen der Fabrikbesitzer noch immer der Dreck der Handwerker, die sie einst gewesen waren.

Fanny schüttelte diese Gedanken ab, seufzte zufrieden und ließ den Blick durch das Abteil gleiten. Anders als in der dritten Klasse gab es hier keine Holzbänke, sondern moosgrüne Polstersessel. Passend dazu war die untere Hälfte des Kompartiments dunkelgrün gestrichen; der obere Teil brachte durch ein sanftes Eierschalen-Weiß etwas Helligkeit in den Raum. Natürlich hatte Fanny es sich aber auch nicht nehmen lassen, einen Blick in die erste Klasse zu werfen. Das Innere der separaten Abteile war mit seinen roten Polstersesseln dem Wageninneren einer Kutsche nachempfunden und erinnerte an den behaglichen Komfort eines Salons.

Eindreiviertel Stunden würde die Reise nach Bex, das für sein Salzbergwerk bekannt war, dauern. Für einen Aufpreis von zwei Franken fünfzig durfte man sich dort am Bahnhof außerdem beim Mittagsbüfett bedienen und wurde von der Ludwigsburger Musik, einem barocken Ensemble, unterhalten. Selbstverständlich hatte Guillaume das volle Programm gebucht und die beiden Damen auch dazu eingeladen. »Lasst uns den Fortschritt feiern«, hatte er diese Entscheidung und seine großzügige Einladung begründet.

Das war wahrlich ein Grund für Ausgelassenheit, denn Vevey gab seine Wurzeln, die in der Landwirtschaft und im Weinbau lagen, nur zögerlich auf. Wenn man bedachte, dass die durch Industrie und Tourismus rasant wachsende Stadt abends nach wie vor von nur zwölf Gaslampen beleuchtet wurde, musste man sich im Vergleich mit anderen Schweizer Städten schon fast schämen. Das jedenfalls hatten Auguste und Alexandre kürzlich beim Mittagessen verlauten lassen.

Im Moment interessierte sich Fanny aber nicht für die Politik, sei es nun die mangelnde und altmodische Beleuchtung oder das nicht vorhandene Wasser- und Abwassersystem, das in ihrer Familie ebenfalls wiederholt für hitzige Diskussionen sorgte, heute wollte sie einfach leben und genießen.

»Ich vermute, dass viele interessante Leute beim Mittagessen in Bex sein werden«, bemerkte Martine und warf Fanny einen mehrdeutigen Blick zu.

»Das mag sein«, antwortete diese und sah hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft. Ihr war klar, warum das befreundete Ehepaar sie wiederholt zu ihren Sonntagsausflügen mitnahm, zumal Maman Fanny jedes Mal mit vielsagendem Blick drängte, die Einladungen anzunehmen, und die Molinos darüber hinaus mit großzügigen Geschenken aus der Schokoladenfabrik überhäufte. Fanny selbst spielte vordergründig mit, in Wahrheit jedoch genoss sie einfach die Abwechslung und Martines Gesellschaft. Sie dachte gar nicht daran, sich mit den vielen interessanten Leuten – womit ihre Freundin natürlich Herren meinte – abzugeben. Da sie aber wusste, dass sich Maman langsam sorgte, weil sich ihre Tochter auch mit dreiundzwanzig noch immer nicht fürs Heiraten interessierte, tat sie wenigstens so, als würde sie sich redlich bemühen. Nur leider war sie schwer zu beeindrucken. Ihre Leidenschaft galt nun einmal anderen Dingen. Würde Papa noch leben, würde er sie verstehen; er hatte sie immer verstanden.

Sie erreichten den Bahnhof von Bex pünktlich gemäß Fahrplan und verließen den Zug. Das Bahnhofsgebäude war jenem in Vevey sehr ähnlich, nur etwas kleiner. Hohe Bogenfenster, die in zahlreiche kleinere Fensterquadrate unterteilt waren, nahmen die Hauptfassade ein. Der Bahnsteig zu beiden Seiten war überdacht, und auf dem Bahnhofsplatz hatte man zwei Linden gepflanzt. Ein paar Kutschen suchten im Schatten der Bäume Zuflucht. Die große Uhr gleich unter dem Dach des Bahnhofsgebäudes zeigte zwischenzeitlich halb elf. Es blieb ihnen also noch ein wenig Zeit, um sich umzusehen, ehe das Mittagsbüfett eröffnet wurde.

In Erwartung der Bahnreisenden hatten einige lokale Händler und Landwirte Marktstände aufgebaut und boten ihre Waren feil. Von frischem Gemüse und Tomme de Chèvre über lebende Tiere bis zu modischen Hüten konnte man alles haben. Sehr beliebt waren nach wie vor Kerzen und Öllampen, weil viele Leute, besonders die Gaststätten und Hotels, das fahle, kalte Licht der Gaslampen und deren penetranten Geruch nicht mochten.

Endlich erreichte die Sonne ihren Zenit, und Guillaume führte seine Damen zurück zum Bahnhofsplatz, wo die Musikkapelle gerade dabei war, ihre Instrumente auszupacken. Ein würziger Duft nach warmen Speisen hing in der Luft und ließ Fanny das Wasser im Mund zusammenlaufen. Nebst einer klaren Gemüsebrühe mit Fleischklößen und Brot wurde ein papet vaudois gereicht. Fanny liebte das traditionelle Eintopfgericht der Waadtländer Küche, bei dem Lauch und Kartoffeln in Weißwein gekocht und zum Schluss mit Rahm verfeinert wurden. Dazu gab es normalerweise eine Saucisse aux Choux, eine Kohlwurst, oder eine Saucisse aux Foie, eine Leberwurst. Heute wurde beides angeboten, und Fanny entschied sich, von beidem zu kosten und dafür die Suppe fürs Erste auszulassen. Was bei der Mahlzeit natürlich auch nicht fehlen durfte, war ein Glas kühler Chardonnay. Damit die Bahnreisenden nicht in der prallen Mittagssonne essen mussten, hatte man auf der überdachten Veranda, die das Bahnhofsgebäude umgab, runde Tische mit weißen Tischdecken und Besteck bereitgestellt.

Hungrig machten sie sich über die Speisen her, die vorzüglich gekocht waren. Dabei wehten die Klänge der Ludwigsburger Musik mal melancholisch, mal fröhlich zu ihnen herüber. Guillaume musterte eine junge Frau der Musikformation mit unverhohlenem Interesse, was ihm einen bösen Blick von Martine bescherte.

Ein junger Herr etwa in Fannys Alter und eine grauhaarige Dame traten an ihren Tisch. Beide hielten dampfende Teller und ein Glas Weißwein in der Hand. Während der Herr exakt dieselbe Kombination wie Fanny gewählt hatte, bevorzugte die ältere Frau eine Suppe. Er trug einen dunkelbraunen Anzug mit gleichfarbiger Weste, ein weißes Hemd und einen Zylinder, unter dessen Krempe einige Büschel dunkelblonder Haare hervorquollen. Seine betagte Begleiterin hatte sich für ein dunkelblaues Kleid und eine weiße Haube mit dunklen Bändern entschieden.

»Daniel! Madame Clément!« Guillaume erhob sich von seinem Stuhl, nahm den Hut vom Kopf und verbeugte sich vor der älteren Dame. Ihrem Begleiter reichte er die Hand zum Gruß, zog sie aber gleich lachend wieder zurück, als ihm auffiel, dass dieser die Begrüßung gar nicht erwidern konnte, weil er ja beide Hände voll hatte.

»Wollt ihr euch zu uns setzen?«, fragte Guillaume und hielt nach zwei Stühlen Ausschau.

»Wenn es euch keine Umstände macht – gerne.« Der Fremde stellte seinen Teller und sein Weißweinglas auf den Tisch, half seiner Begleitung mit dem Suppenteller und sah sich um. »Scheint hier ordentlich voll zu sein heute.« Er entdeckte ein Ehepaar, das einen Tisch besetzte, der mit drei Stühlen bestückt war. Er ging zu ihnen und bat höflich darum, die leere Sitzgelegenheit mitnehmen zu dürfen. Zurück an ihrem Tisch bot er den Sitzplatz der älteren Dame an, die sich mit einem erschöpften Stöhnen setzte.

»Bitte nimm meinen Stuhl, Daniel«, sagte Guillaume und erhob sich. »Ich habe schon gegessen, und nach der langen Bahnfahrt kann es mir nicht schaden, ein wenig zu stehen.«

Guillaumes Freund nahm das Angebot dankend an. Er begrüßte Martine und Fanny, indem er seinen Hut lüftete und sich verbeugte, und setzte sich, um sich dem heißen Gericht zu widmen, ehe es kalt wurde.

»Seid ihr auch mit der Eisenbahn gekommen? Ich habe euch am Bahnhof in Vevey nirgends entdeckt«, sagte Guillaume. Dann fiel ihm auf, dass sein Bekannter noch aß, und er winkte lachend ab. »Lass nur, wir haben nachher noch genügend Zeit für eine Unterhaltung. Vielleicht mögt ihr die Rückreise ja in unserem Abteil antreten, sofern wir dieselbe Kategorie gelöst haben.«

Zwischen zwei Bissen erklärte der Fremde kurz: »Ja, wir waren auch mit der neuen Eisenbahn unterwegs, zweiter Klasse. Séraphine hat davon gehört und mich gebeten, sie zu begleiten. Alleine traut sie sich solche Abenteuer auf ihre alten Tage nicht mehr zu.« Er widmete sich wieder seinem Essen.

Fanny musterte ihn. Sie hatte ihn in Vevey noch nie gesehen. Das traf allerdings auf viele von Guillaumes Bekannten und Freunden zu, denn die meisten verbrachten den größten Teil ihrer Zeit in ihren Fabriken, genau wie Fannys Brüder. War der Fremde auch einer von ihnen? Einer dieser Männer, die sich und ihre Arbeit so furchtbar wichtig nahmen? Auguste und Alexandre taten stets, als trügen sie die Welt auf ihren Schultern. Wenn Fanny ihnen aber ihre Hilfe anbot, winkten sie entsetzt ab. Sie durfte sich nur darum kümmern, dass die Frauen in den »Wickelsälen« der verschiedenen Cailler-Manufakturen ihre Arbeit korrekt erledigten.

Es gab nichts Langweiligeres, als Frauen beim Verpacken von Schokolade zuzusehen. Dazu brauchte man keinerlei Fähigkeiten oder Kreativität; Fanny hatte nur die Aufgabe, vordefinierte Abläufe zu kontrollieren. Allerdings begnügte sie sich nicht damit, nur zu tun, was man ihr sagte. Aber das war eine andere Geschichte …

Guillaumes Freund tupfte sich mit einer Serviette seinen Schnurrbart und den kurzen Kinnbart ab und holte Fanny mit seiner tiefen, ruhigen Stimme zurück in die Realität. Erschrocken senkte sie den Blick. Hoffentlich hatte sie ihn nicht angestarrt, während sie in Gedanken abgeschweift war.

»Hervorragend«, lobte er das Essen und schob den leeren Teller von sich, bevor er sich seiner Begleiterin zuwandte. »Hat es dir auch geschmeckt?« Sie nickte lächelnd und fächelte sich Luft zu. Die heiße Suppe in Kombination mit der Mittagshitze schienen ihr ein wenig zuzusetzen.

»Ich glaube, wir sind uns noch nie begegnet«, sagte der Fremde nun an Fanny gerichtet. »Entschuldigen Sie, dass ich mich noch gar nicht richtig vorgestellt habe. Ich bin Daniel Peter, und das ist Madame Séraphine Clément, meine ehemalige Vorgesetzte, Mentorin und zwischenzeitlich gute Seele in allen Lebenslagen.« Er bedachte sie mit einem liebevollen Blick.

»Fanny Cailler. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwiderte Fanny höflich und neigte den Kopf zum Gruß.

»Daniel Peter betreibt zusammen mit seinem Bruder Julien eine Kerzenfabrik, die einmal Madame Clément gehört hat«, schaltete sich Guillaume nun vermittelnd ein. »Fanny Caillers Name dürfte dir bekannt sein, Daniel.«

Dieser nickte und musterte Fanny mit seinen braunen Augen, in denen ein verträumter Schatten lag, der Fannys Interesse erregte. Aber Monsieur Peter war ein Bekannter von Guillaume, und das sagte einiges. Dabei war es nicht so, dass Fanny den Ehemann ihrer besten Freundin nicht mochte, keineswegs. Doch sie empfand ihn immer als ein wenig langweilig. Abgesehen von seiner Begeisterung für den Fortschritt zeigte Guillaume nur selten so etwas wie Leidenschaft. Dieser Umstand machte ihn in Fannys Augen zwar nicht zu einem schlechten Menschen, aber ein wenig öde – was wiederum in auffallendem Gegensatz zu der Tatsache stand, dass er gerade schon wieder zu der hübschen Musikantin hinüberschielte.

»Ihre Familie hat sich für eine fortschrittliche Branche entschieden«, sagte Monsieur Peter jetzt an Fanny gewandt. »Wir dagegen werden uns wohl ein wenig umstellen müssen. Derzeit sind Kerzen noch sehr gefragt; doch wie lange noch? Der Fortschritt macht auch vor meinem Gewerbe nicht halt. Was allerdings nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese Produkte verschwinden werden. Möglicherweise bekommen sie einfach einen neuen Verwendungszweck.« Mit einem geheimnisvollen Schmunzeln trommelte er gedankenverloren mit den Fingern auf die Tischdecke, sah kurz Madame Clément an und nahm dann einen kräftigen Schluck von seinem Wein.

Fanny ging davon aus, dass er auf die immer zahlreicher werdenden Öl- und Gaslampen anspielte, die ohne Zweifel den herkömmlichen Kerzen aggressiv Konkurrenz machten. »Immerhin durften Sie etwas lernen, das kann Ihnen niemand mehr nehmen«, gab sie zu bedenken und dachte daran, dass morgen die Woche wieder anfing. Montags hatte für gewöhnlich keine der Verpackerinnen den Kopf bei der Sache, weil alle nur über irgendwelche Männerbekanntschaften und Schwärmereien tuschelten. »Und immerhin haben Sie eine eigene Fabrik, mit der Sie machen können, was Sie wollen.« Entsetzt biss sie sich auf die Lippen und warf Guillaume einen scheuen, entschuldigenden Blick zu. Sie hatte eindeutig zu viel gesagt. Madame Clément sah hoch und schien zum ersten Mal, seit sie sich gesetzt hatte, zuzuhören. Ihre Augen blitzten kurz auf, und ihre Mundwinkel zuckten, doch sie sagte nichts.

»Ah, die Eisenbahn wird angekündigt«, erklärte Guillaume sichtlich erleichtert. »Wir sollten uns zum Bahnsteig begeben, damit wir gute Plätze ergattern.« Er erhob sich. Martine verkniff sich ein Grinsen, was man am spöttischen Glitzern in ihren Augen erkannte, und schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Fanny hob zur Antwort bloß eine Augenbraue und folgte Guillaume, Monsieur Peter und Madame Clément, die in Richtung der Gleise gingen.

»Daniel ist nicht so langweilig wie die meisten anderen von Guillaumes Freunden, nicht wahr?« Martine hakte sich bei Fanny unter und lief absichtlich etwas langsamer. »Du solltest bei Gelegenheit einmal Madame Clément nach ihm fragen. Sie liebt ihn wie einen eigenen Sohn und schwärmt gerne von ihm, insbesondere seit seine eigene Mutter nicht mehr lebt. Er hat schon in ihrem Lebensmittelgeschäft gearbeitet, bevor sie ihm und seinem Bruder die Kerzenfabrik überlassen hat. Sein Vater ist Fleischer, und ich sage dir, er war gar nicht begeistert, dass seine Söhne sich über seinen Wunsch hinweggesetzt und nicht die Fleischerei übernommen haben.«

»Ich habe nie gesagt, dass Guillaumes Freunde langweilig sind.« Fanny sah ihre Freundin von der Seite her an. Diese verzog den Mund zu einem breiten Grinsen.

»Aber gedacht.«

»Erwischt.« Fanny fühlte die Hitze in ihre Wangen schießen. Nun traute sie sich nicht mehr, bei Martine nachzuhaken und ihr ein paar Informationen über Monsieur Peters Lebensgeschichte zu entlocken.

Doch ihre Neugierde war tatsächlich geweckt.

Kapitel 2

Fannys Mutter Louise-Albertine saß an ihrem Sekretär und las einen Brief ihrer Schwester, die noch immer in ihrer beider Heimatgemeinde Boudry lebte und bereits früh ihren Mann verloren hatte. Offenbar hatte Geneviève gesundheitliche und finanzielle Probleme. Louise überlegte, ob und wie sie ihr helfen könnte. Dabei schweifte ihr Blick durch das gemütliche Wohnzimmer.

Das neue Zuhause der Familie Cailler, das sie mit ihrem Sohn Alexandre, dessen Ehefrau Marie-Louise und der kleinen Elodie sowie mit Fanny bewohnte, war um einiges größer und luxuriöser als ihr altes Heim in der Rue des Moulins. Sie waren erst im Frühling hierher in die Rue du Clos gezogen. Direkt nebenan wohnte auch ihr Ältester, Auguste, mit seiner Frau Magalie und den beiden Mädchen Isabelle und Alice.

Der Umzug auf die andere Seite der Bahngleise hatte verschiedene Gründe gehabt. Zum einen war ihr Zuhause im Industrieviertel am Canal de la Monneresse zu klein geworden, um die gesamte Cailler-Schar zu beherbergen, zum anderen hatten Auguste und Alexandre vor einem Jahr im Quartier La Clergère, nahe dem Bahnhof, sowohl die Wasserrechte wie auch die Räumlichkeiten einer benachbarten Schokoladenfabrik erworben, und durch den Umzug wohnten die Caillers nun näher beim aktuellen Hauptstandort der Fabrik.

Viele Industriellenfamilien hatten ihre alten Heime gegen neuere in Bahnhofsnähe getauscht und vermieteten ihre ehemaligen Unterkünfte jetzt an die Fabrikarbeiter.

Unter den jungen Leuten kam es allerdings immer mehr in Mode, sich mit ihren Ehegatten und Kindern ein eigenes Zuhause zu suchen. Auch bei ihrer eigenen Schwiegertochter Marie glaubte Louise gelegentlich, den Wunsch danach herauszuhören. Noch war Elodie erst wenige Wochen alt, sollte sie jedoch weitere Geschwisterchen bekommen, würden sich Alexandre und seine Frau wohl ebenfalls ein eigenes Heim für ihre Familie suchen. Obwohl Louise dafür Verständnis hatte, war sie doch dankbar, als Witwe nicht alleine leben zu müssen. Auguste, Magalie und deren zwei Mädchen waren jeden Tag bei ihr, und meistens aßen sie auch alle zusammen. Louises Schwiegertöchter schätzten es sehr, dass die Großmutter ihnen mit den Kindern und dem Haushalt zur Hand ging. Und was wäre aus Fanny geworden? Es wäre ihr nicht gut bekommen, allein mit ihrer alleinstehenden Mutter in einem Haus eingesperrt zu sein. Solange es sich also so gut zusammen aushalten ließ, bevorzugte Louise das Zusammenleben nach traditionellen Mustern und den Umstand, ihren ältesten Sohn gleich nebenan zu wissen. Es brachte für alle Familienmitglieder Vorteile.

Louise liebte die Eleganz ihres neuen Zuhauses. Der Boden des Salons war mit einem karierten Teppich bedeckt, der die Schritte der Bewohner dämpfte. Mit gemusterten Stoffen bezogene Polsterstühle und Sessel mit geschwungenen Holzbeinen luden an den Abenden oder Sonntagen zum Ruhen ein. Louise liebte Blumen und alles, was mit ihnen zu tun hatte. So verwunderte es nicht weiter, dass die schweren Stoffvorhänge und die mit Spitze versehene Tischdecke ein Blumenmuster aufwiesen und immer mehrere Sträuße Schnitt- oder Trockenblumen auf den Möbeln standen. Ein Salontisch diente dazu, Gäste zum Tee oder Kaffee zu empfangen, und blieb, bis auf das obligate Blumenbouquet, leer. Andere kleine Tische im Raum nutzte Louise, um Bücher, Porträtgemälde oder Fotografien von Familienmitgliedern aufzustellen. Für warme Sonntage im Sommer hatte sie ein bequemes Sofa mit Kissen in die Ecke direkt neben dem Fenster gestellt. Der Salon war mehr als jeder andere Raum im Haus ihr persönlicher Rückzugsort. Hier schrieb sie Briefe, las, stickte oder nähte.

Das war jedoch nicht immer so gewesen. In den Jahren nach dem Tod ihres Mannes François-Louis 1852 hatte sie ihre Tage – und nicht wenige Nächte – in den Manufakturen verbracht. Trotz der Trauer, die schwer auf ihr gelastet hatte, gönnte sie sich zu dieser Zeit keine Verschnaufpause. Jemand musste schließlich die Fabriken weiterführen, und für ihre beiden Söhne war das alles Neuland gewesen. Louise hingegen hatte Ähnliches schon einmal erlebt, damals im Winter 1825/26, als der Canal de la Monneresse zugefroren war und der Konkurs ihrer Firma sie beinahe Kopf und Kragen gekostet hatte. Sie wusste also, was zu tun war, damit das Geschäft weiterlief, und hatte ihre beiden Söhne so lange unterstützt, bis diese auf eigenen Beinen standen. Seitdem widmete sie sich zusammen mit ihren Schwiegertöchtern wieder dem Haus und den Kindern, was ihr mehr Freude bereitete als das skrupellose Geschäftsleben. Sie hatte damals getan, was getan werden musste, um das Erbe und die Zukunft der Familie zu erhalten. Die Welt der Geschäfte war jedoch kein Ort für Frauen. Die Stärken des Weiblichen waren dort eher eine Schwäche; sie mussten sorgfältig verborgen und überspielt werden, um keine Angriffsfläche zu bieten. Es wäre Louise daher nie in den Sinn gekommen, ihre eigene Tochter all dem auszusetzen, auch wenn Fanny damals unbedingt hatte mithelfen wollen. Als François diese Welt verlassen hatte, war Fanny noch ein junges Mädchen gewesen, und außerdem hätten Auguste und Alexandre es niemals toleriert, die Führung der Schokoladenfabriken mit ihrer Schwester zu teilen. Zumal diese nach einer Heirat ohnehin die Erlaubnis ihres Ehemanns brauchte, um arbeiten zu dürfen.

Louise seufzte und schaute aus dem Fenster. Sie hätte sich gewünscht, dass Fanny ihr nach dem Umzug mit der Gestaltung des Salons geholfen hätte – schließlich war dies der wichtigste Raum im Haus einer Familie und allem voran das Revier der Frauen. Doch Fanny hatte sich überhaupt nicht für die Einrichtung des neuen Heims interessiert. Ihr fehlte jeglicher Sinn für Behaglichkeit. Man konnte mit ihr weder ein Stoffmuster besprechen noch die Dekoration für einen Raum auswählen. Es wäre ihr nicht einmal aufgefallen, wenn man ein Bild verkehrt herum aufgehängt oder die Blumen in ihrer Vase vor Fäulnis gestunken hätten.

Fanny war in ihren Gedanken stets weit, weit weg. Louise ahnte, woran ihre Tochter dachte, auch wenn diese sich ihr nur selten mitteilte und Louise selbst es wiederum vermied, mit ihr über das Thema zu sprechen, weil sie ihre Enttäuschung nicht ertragen hätte. Was sollte sie ihr auch sagen? Dass es erstens skandalös und zweitens zu spät war, um bei der Führung der Schokoladenfabriken mitzuwirken? Dass Fanny lieber bald den Antrag eines rechtschaffenen Mannes annehmen und sich jenen Aufgaben widmen sollte, die den Frauen besser lagen? Louise gab die Hoffnung nicht auf, dass sich der unausgesprochene Wunsch, den sie in den Augen ihrer Tochter sah, eines Tages von selbst verflüchtigen würde, wenn sie endlich Ehefrau und Mutter war. Vielleicht konnte Fanny ihrem zukünftigen Ehemann, sollte es den je geben, ja zur Hand gehen, so wie Louise es bei François getan hatte. Frauen hatten in der heutigen Zeit viele Möglichkeiten, sie mussten ihre Chancen nur nutzen, statt über ihre Begrenzungen zu trauern.

Das Geräusch der Haustür im Erdgeschoss riss Louise aus ihren Gedanken. Sie hörte Schritte auf der Treppe, und kurz darauf erschien Fanny im Türrahmen zum Salon. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und einige Locken hatten sich aus ihrer Frisur gelöst.

Louise erhob sich, ging zu ihrer Tochter hinüber und umarmte sie, wie sie es immer tat.

»Und, wie war die Eisenbahnfahrt?«, fragte sie neugierig und bedeutete Fanny, sich doch mit ihr aufs Sofa zu setzen. »Möchtest du Tee? Soll ich Chloé bitten, uns einen zu kochen?« Chloé war die Haushalthilfe der Familie Cailler, die sich zusammen mit den anderen Damen des Hauses um die Einkäufe, das Essen und die Wäsche kümmerte.

Fanny schüttelte den Kopf. »Nein danke, es war heute den ganzen Tag über so heiß, dass mir nicht nach Tee ist.« Sie setzte sich tatsächlich, was Louise freute. »Die Bahnfahrt war ein unglaubliches Abenteuer, Maman! Du solltest die Vergnügungsfahrt nach Bex unbedingt auch machen.« Ihre Augen leuchteten.

»Das klingt wunderbar. Ich bin sehr froh, dass du mit den Molinos so einen schönen Sonntag hattest.« Louise zögerte kurz und gab sich Mühe, die nächste Frage möglichst beiläufig klingen zu lassen, indem sie einige Kissen drapierte und ihren Rock glattstrich. »Habt ihr jemanden getroffen, den wir kennen?«

Fanny zuckte die Schultern und strich die Hände am Kleid ab. Sie nagte an ihrer Unterlippe und ließ den Blick durch den Raum gleiten. »Nicht direkt. Also, ich habe die beiden jedenfalls nicht gekannt. Er war ein Bekannter von Guillaume und reiste in Begleitung einer älteren Dame, einer Art Mentorin, wie ich es verstanden habe.«

»Wie hießen sie denn?« Dass man ihr aber auch jedes Wort aus der Nase ziehen musste! Louise suchte Fannys Blick, doch diese musterte zwischenzeitlich die Blumenbouquets.

»Daniel Peter und Madame Séraphine Clément. Offenbar besitzt er eine Kerzenfabrik, die früher einmal ihr gehört hat.«

Louise überlegte. »Möglicherweise sagt mir der Name etwas …« Dann fiel es ihr ein. »Monsieur Peter hat sich erst kürzlich nach einigen unserer alten Fabrikräumlichkeiten im Les Bosquets erkundigt. Offenbar haben er und sein Bruder Interesse, diese zu kaufen, da ihr jetziger Standort zu klein geworden ist. Da wir nun hierhergezogen sind und deine Brüder noch weitere neue Standorte in Betracht ziehen, versuchen Auguste und Alexandre, einige der alten Einrichtungen loszuwerden.«

Nun hatte sie Fannys volle Aufmerksamkeit. »Warum weiß ich denn nichts davon? Warum erzählt man mir solche Sachen nie?« Ein verletzter Zug huschte über ihr Gesicht.

»Fanny, Liebes. Ich weiß nicht mehr, wann und wo wir darüber geredet haben. Vielleicht warst du gerade in einer der Wickelabteilungen, oder es war an einem Sonntagmittag, als du mit den Molinos unterwegs warst?« Sie wollte Fannys Hand nehmen, doch die zog sie weg.

»Wie sieht das denn jetzt aus? Was denkt dieser Monsieur Peter jetzt wohl von mir? Ich muss auf ihn wie ein einfältiges Schaf gewirkt haben. Eine Frau, die sich nur für Gardinen und …« Ihr flackernder Blick blieb an einem der Blumensträuße hängen, »… Blumen interessiert.« Sie unterstrich die Worte mit einer energischen Handgebärde.

»Du meinst, so wie ich.« Louise spürte einen Stich in der Brust. Seufzend erhob sie sich. »Vielleicht sollte ich mich jetzt besser darum kümmern, dass mit dem Abendessen alles klappt. Ich nehme an, Magalie und Marie sind mit den Kindern beschäftigt.«

Fanny blickte sie betroffen an und sah aus, als wollte sie noch etwas sagen. Doch Louise verließ schweigend den Raum und ging nach unten in die Küche. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Chloé den Sonntagsbraten und die Kartoffeln im Griff hatte, suchte sie nach ihren beiden Schwiegertöchtern. Sie fand sie schließlich in der zweiten Etage, wo es ein weiteres Wohnzimmer gab. Dieses war voller Spielsachen und nur mit wenigen Möbeln bestückt. Das Reich der drei Enkelkinder.

»Großmutter!«, kreischten die zwei Größeren gleichzeitig, sprangen auf und rannten auf sie zu, um sie zu umarmen. Augustes Kinder, die vierjährige Isabelle und die zweijährige Alice, waren dunkelhaarig wie ihre Eltern, während Alexandres frischgeborenes Mädchen Elodie das blonde Haar und die blauen Augen von Marie geerbt hatte. Ob sie auch einmal so groß und schlank werden würde wie diese?

Louise lächelte und umarmte die Kinder der Reihe nach. Das glockenklare, sorglose Lachen ihrer Enkelinnen gab ihr Trost. Sie liebte die seidenweiche Haut ihrer Gesichter an ihrer Wange. Mit geschlossenen Augen atmete sie den unverbrauchten Duft der Kinder ein. Eine Mischung aus Schokolade – wie konnte es auch anders sein –, Schmutz und dem ganz individuellen Geruch, der jedem von ihnen eigen war.

Es dauerte ein Weilchen, bis sie ihre Röcke drapiert und sich zu den Enkelkindern auf den Boden gesetzt hatte, um mit ihnen zu spielen. Während sie abwechslungsweise die Mutter der Spielpuppen, ein aus Holz gefertigtes Tier oder sogar ein Geschwisterchen spielte, setzten sich ihre beiden Schwiegertöchter sichtlich erschöpft auf das bordeauxrote Sofa in der Ecke und unterhielten sich in gedämpftem Tonfall. Marie hatte Elodie in eine Wiege gelegt, wo sie zufrieden schlief.

Nach einer Stunde klopfte Chloé an den Rahmen der offenen Tür. »Das Abendessen ist fertig und wird gleich im Esszimmer serviert.«

»Vielen Dank, wir kommen gleich.« Louise erhob sich und schüttelte den Staub von ihrem Kleid. Dann gingen sie gemeinsam nach unten.

Das Speisezimmer war an allen Seiten, auch am Boden und der Decke, mit honigfarbenem Holz ausgekleidet. Ein elfenbeinfarbener Kachelofen spendete bei Bedarf etwas Wärme. In der Mitte des Raums befand sich auf einem dunkelroten Teppich ein langgezogener Holztisch mit gepolsterten Stühlen. Heute hatte ihn Chloé mit einem dunkelblauen Tischtuch bedeckt. Die Farbe bildete einen angenehmen Kontrast zum hellen Porzellangeschirr. Entlang der Wände standen schwere Truhen aus dunklem Holz. Darin lagerte Louise die Tischwäsche, das Geschirr sowie einige andere Utensilien, die je nach Gelegenheit aufgetischt wurden. In einem Wandschrank mit Glasvitrine stellte sie zudem ihr wertvollstes Porzellanservice zur Schau. Es wurde nur selten und zu besonderen Anlässen hervorgeholt; zu groß war die Gefahr, dass es zu Bruch ging. Zwei Fenster ließen um die Mittagszeit etwas Sonnenlicht ins Speisezimmer, doch jetzt erhellten Kerzen an rustikalen Kronleuchtern aus geflochtenen Hirschgeweihen den Raum.

Fanny gesellte sich als Letzte zu ihnen – sie trug immer noch ihr smaragdgrünes Sonntagskleid. Während des Essens gab sie sich entgegen Louises Befürchtung sehr gesellig. Sie berichtete allen Anwesenden von ihrer Bahnfahrt, der Ludwigsburger Musik und sogar dem papet vaudois. Gelegentlich schaute sie Louise länger an als nötig, und die sah im Blick ihrer Tochter Bedauern aufflackern.

»Maman hat erzählt, dass die Gebrüder Peter einen unserer ehemaligen Fabrikstandorte im Les Bosquets erwerben wollen?«, erkundigte sich Fanny schließlich, als kurz Schweigen herrschte. »Ich habe Daniel Peter und Madame Clément in Bex getroffen, er hat jedoch trotz der Bekanntgabe meines Namens nichts dergleichen erwähnt. Ich hoffe, er denkt nun nicht, dass ich schlecht informiert und desinteressiert bin. Das wäre mir nicht recht.«

Alexandre tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Es spricht sogar für seine Professionalität, dass er nichts gesagt hat. Bisher haben wir uns erst einmal getroffen, und er hat sich bloß nach der Möglichkeit, das Gebäude zu kaufen, erkundigt. Wir haben ihm bislang weder ein Angebot unterbreitet noch weitere Verhandlungen geführt. Es ist im Moment auch kein zusätzlicher Termin geplant. Schauen wir, ob er sich nach Rücksprache mit Julien nochmals meldet. Ich gehe davon aus, dass sie auch noch andere Lokalitäten prüfen. Wie er mir erklärt hat, läuft das Geschäft mit den Kerzen trotz allem ziemlich gut, weshalb sie eine größere Produktionsstätte benötigen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, schaltete sich nun Auguste ein und nahm einen Schluck Wein. »Obwohl ich grundsätzlich für die Erneuerung des Beleuchtungssystems durch Gaslampen bin, wie sie Henri Nestlé derzeit für die Stadt liefert und unterhält, ist es unvorstellbar, ein gemütliches Hotelzimmer oder gar Privathaushalte mit diesen stinkenden Laternen zu beleuchten. Kerzen sind zudem preisgünstig und einfach zu handhaben. Trotzdem setze ich mich weiterhin dafür ein, dass Vevey, gleich anderen fortschrittlichen Städten der Schweiz, ein Gaswerk erhält, das ein komplettes Beleuchtungssystem mittels Leitungen am Laufen hält. Der Aufwand, der derzeit für Pflege und Unterhalt der Gaslampen für die öffentliche Beleuchtung aufgewendet wird, ist unermesslich.«

»Wie kommt es, dass wir noch nie von den Gebrüdern Peter und ihrer Kerzenfabrik gehört haben?«, wollte Fanny wissen, »Wir kaufen doch auch oft Kerzen ein.«

Auguste lachte geradeheraus. »Schwesterchen, du verbringst zu viel Zeit in der Fabrik, sonst wüsstest du, dass es in der Stadt zahlreiche Kerzenhersteller gibt. Daniel Peter hat das Rad nicht neu erfunden. Im Gegensatz zu uns.«

Louise beobachtete, wie sich ein verärgerter Zug um Fannys Mund legte. »Du meintest wohl, im Gegensatz zu Papa. Ihr habt nämlich gar nichts erfunden.«

Alexandre und Auguste tauschten einen belustigten Blick, und Letzterer fragte spöttisch: »Du etwa, Schwesterchen?«

Fanny errötete, senkte den Blick und erhob sich dann. Mit zornig funkelnden Augen starrte sie jetzt ihre beiden Brüder an. »Vielleicht. Vielleicht habe ich das. Und wenn nicht, werde ich es noch, verlasst euch darauf!«

Mit wütenden Schritten polterte sie aus dem Esszimmer und die Treppe hinauf in die zweite Etage, wo sich ihr Schlafzimmer befand.

Kapitel 3

Zwei Monate später saß Daniel am Schreibtisch in seinem Büro. Doch statt sich auf die Bestellungen zu konzentrieren, wie er es eigentlich tun sollte, schweifte sein Blick an diesem trüben Oktobermorgen immer wieder zum Fenster. Sein Arbeitsbereich befand sich, wie der Rest der mittlerweile in die Jahre gekommenen Fabrikräumlichkeiten, im Erdgeschoss. Manchmal kam es ihm vor, als säße er direkt auf der Straße. Der Lärm vorbeirumpelnder Kutschen, das Zischen und Knallen der Peitschen auf den Rücken der Kutschpferde sowie das wütende Rufen der Fuhrleute drangen mühelos durch die dünnen Fensterscheiben herein. Passanten liefen schwatzend vorbei oder blieben sogar vor seinem Fenster stehen, um sich über die herbstliche feuchte Kälte, die sich bis in die Knochen fraß, zu beschweren.

»An Markttagen weht ein dermaßen bissiger Wind vom Lac Leman her, dass mir auf dem Markt fast die Nüsse vom Tisch gefegt werden«, beklagte sich eine Bäuerin.

»Wem sagst du das«, pflichtete ihr eine andere Frau bei. »Kaum habe ich den Hauseingang und Hinterhof meiner Herrschaften vom Schmutz des Sommers befreit, weht es die Blätter von den Bäumen an der Promenade heran.« 

Daniel nickte gedankenverloren, doch er fand, dass diese Jahreszeit auch Vorteile mit sich brachte. Der beißende Gestank, der während der Sommermonate zwischen den engen Gassen der Stadt schwelte, wurde im Herbst und Winter ein wenig erträglicher. Einzig der üble Geruch warmen Blutes hing nun in der Luft, weil an besonders kalten Tagen bereits die ersten Schweine geschlachtet wurden. Der Beginn der dunklen Monate bedeutete für Daniel jedoch auch stets eine Zunahme der Kerzenverkäufe. Was ihn erneut daran erinnerte, dass er bis Ende des Jahres eine andere Lösung für seine Fabrik gefunden haben musste. Die Räume der Manufaktur waren zugig, alt und viel zu klein, und sie ließen zu wenig Tageslicht herein. Man merkte der Raumaufteilung zudem an, dass das Gebäude ursprünglich ein Wohnhaus gewesen war, das Séraphine mit ihrem Mann in eine Kerzenfabrik umgewandelt hatte. Damals mochte es durchaus genügt haben, den heutigen modernen Ansprüchen jedoch konnte das Gebäude nicht mehr gerecht werden. Daniel wünschte sich eine große Produktionshalle, in der alle Maschinen gleichzeitig Platz fanden. Aktuell mussten sie die einzelnen Produktionslinien sowie manche Arbeitsvorgänge noch auf verschiedene Zimmer aufteilen. Sein Bruder Julien und er hatten sich einige Hallen angeschaut, waren sich allerdings noch nicht einig, welche davon für sie in Frage kam. Daniel fand das Gebäude aus dem Nachlass von François-Louis Cailler sehr spannend, zumal es in einem der bekannten Industrieviertel der Stadt mit Anschluss an La Monneresse lag und zu einem unverschämt günstigen Preis zu haben war. Zudem lagen in der Nachbarschaft weitere Manufakturen, darunter auch solche mit wichtigen Rohstoffen für die Kerzenproduktion. Julien wiederum war noch immer auf der Suche nach einer Lösung in Bahnhofsnähe. Diese Räumlichkeiten waren jedoch extrem nachgefragt, und die wenigen, die noch leer standen, waren viel zu klein und zu teuer. Zudem belieferte ihre Firma Frères Peter nur Abnehmer in Vevey und benötigte daher keinen Bahnanschluss.

»Bonjour, Daniel.« Séraphine Clément erschien im Türrahmen. Sie trug ein dunkelviolett schimmerndes, hochgeschlossenes Kleid, einen dazu passenden Hut mit hellen Bändern ums Kinn und einen Mantel.

Daniel erhob sich sofort von seinem Schreibtisch, ging auf die ältere Dame zu und verneigte sich. »Séraphine, was für eine Freude! Was verschafft mir die Ehre?«

Ein feines Lächeln umspielte kurz ihre Mundwinkel, doch dann legte sie die Stirn in Falten. »Ich habe mich gefragt, ob du mir wohl bei einer Sache behilflich sein könntest, mein Junge. Allerdings weiß ich, dass du sehr beschäftigt bist …« Sie sah sich im Raum um, als bemesse sie seine Arbeitslast anhand der vorherrschenden Unordentlichkeit.

»Für dich habe ich immer Zeit, Séraphine, was für eine Frage. Bitte, worum geht es? Möchtest du dich kurz setzen?« Er bot ihr einen Stuhl an, doch sie schüttelte den Kopf und ging im Raum auf und ab; das Rascheln ihres Kleids begleitete jeden ihrer Schritte.

»Es geht um Schokolade.« Sie blieb stehen und suchte seinen Blick. »Für mein Lebensmittelgeschäft.«

Daniel legte die Stirn in Falten und wartete, dass sie fortfuhr. Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Aufgrund ihres Alters führte sie das Geschäft nur noch in reduziertem Rahmen und öffnete nur Montag, Mittwoch und Samstag. Ebenso hatte sie ihr Angebot verringert und sich auf erlesene Produkte – wie eben Schokolade – spezialisiert. Frischprodukte gab es ohnehin auf dem Markt.

»Natürlich biete ich schon lange Schokolade an, wie du weißt, Daniel. Doch meine Kunden scheinen der Sache ein wenig überdrüssig zu werden. Mir selbst geht es ähnlich. Mittlerweile gibt es kaum noch einen Unterschied zwischen den Schokoladen, die in der Apotheke zu medizinischen Zwecken erhältlich sind, und jenen, die wir zum Genuss konsumieren.« Sie ging zum Fenster und betrachtete die Menschen auf der Straße. Daniel folgte ihr mit dem Blick. Die beiden Plaudertaschen waren zwischenzeitlich weitergezogen. »Wenn aber jemand bei Madame Clément eine Schokolade kauft, sich das auch leisten kann, dann möchte er oder sie bei Gott kein nach irischem Moos, Eisen oder Quecksilber schmeckendes Mittel gegen Halsschmerzen, Blutarmut oder Syphilis, verstehst du, Daniel? Und selbstverständlich auch nicht einfach dasselbe ohne Quecksilber.« Sie holte keuchend Luft, so sehr schien das Thema sie zu beunruhigen; was Daniel erstaunte, denn sie erwähnte den Umstand gerade zum ersten Mal.

»Ich kannte François Cailler. Er war voller Ideen und Innovation, hat ständig mit dem Geschmack seiner Schokolade experimentiert. Seit seine Jungmannschaft jedoch die Geschicke übernommen hat, ist der Geist dieser Manufaktur verloren gegangen.« Sie warf theatralisch die Hände in die Luft. »Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass sie von der Klasse zur Masse übergegangen sind. Ich aber möchte Feinkost verkaufen. Als Grundnahrungsmittel können wir auch Kartoffeln essen, wenn sie nicht gerade alle verfaulen wie 1840, aber das ist eine andere Geschichte.« 

Daniel holte Luft, um etwas Verständnisvolles oder Einfühlsames zu sagen, weil seine ältere Freundin offenbar mit dem falschen Fuß aufgestanden war, doch sie war noch nicht fertig.

»Jedenfalls dachte ich mir, wir beide, du und ich« – sie unterstrich ihre Worte, indem sie auf seine und auf ihre eigene Brust zeigte –, »wir sollten den Caillers unbedingt einen Besuch abstatten und dieses Anliegen einmal anbringen. Zwar wurde mir gesagt, dass die Gebrüder heute zufällig beide außer Haus und auf Kundenbesuch sind, aber Mademoiselle Cailler – du erinnerst dich? – sollte vor Ort sein. Ich bin sicher, sie kann uns weiterhelfen, denn mein Anliegen duldet keinen Aufschub. Zudem lege ich besonderen Wert auf die Meinung einer Dame.«

Daniel musterte seine Mentorin nachdenklich. Bisher hatte sie nicht mit einer Silbe erwähnt, dass sie mit dem Produkt der Caillers dermaßen unzufrieden war. »Wie du meinst, Séraphine«, sagte er schließlich lächelnd und trat an seinen Schreibtisch. »Gib mir ein paar Minuten Zeit, damit ich meine Unterlagen wegräumen und Julien Bescheid geben kann.« Um zu verhindern, dass einer der Angestellten während seiner Abwesenheit in seinen Geschäftspapieren herumwühlte, schloss er alle heiklen Dokumente in der Schublade seines Schreibtischs ein und ließ den Schlüssel in die Hosentasche gleiten.

Eine Viertelstunde später machten sie sich in einer Kutsche auf den Weg zum Hauptsitz der Cailler-Manufakturen in der Nähe des Bahnhofs.

»Und wenn Fanny Cailler in einer der anderen Fabriken ist?«, überlegte Daniel laut.

»Ist sie nicht, wenn die Brüder außer Haus sind. Das weiß ich von ihrer Mutter, die ich kürzlich auf dem Markt getroffen habe.« Séraphine schien die Unterhaltung für beendet zu betrachten, denn sie schaute nun höchst interessiert aus dem Fenster. Einmal mehr wunderte sich Daniel über das rätselhafte Verhalten seiner älteren Freundin. Normalerweise ließ sie ihn immer sehr offen an ihren Gedanken teilhaben, jetzt jedoch beschlich ihn das Gefühl, dass sie ihm nur die Hälfte der Geschichte erzählt hatte.

Nach kurzer Fahrt erreichten sie die Schokoladenmanufaktur. Daniel war erst einmal hier gewesen, zusammen mit seinem Bruder Julien. Damals hatten sie sich im Büro der Gebrüder Cailler über den möglichen Kauf der Fabrik im Les Bosquets unterhalten.

Man sah dem Gebäude schon von weitem an, dass es sich um eine Fabrik handeln musste. Das zweistöckige schmutzig weiße Haus mit den beiden übereinanderliegenden Fensterreihen war lang gezogen wie eine Kaserne. Die Rundbogenfenster im Erdgeschoss waren etwas höher als die darüber und in viele kleine Glasvierecke unterteilt. Grüne Klappläden umrahmten die Fenster der zweiten Etage. Der Haupteingang, vor dem ihre Kutsche nun zum Stehen kam, war deutlich an der zweiflügligen Holztür mit dem separaten Dachvorbau zu erkennen. Vor einer anderen Doppeltür warteten mehrere Fuhrwerke, die mit Holzkisten und Fässern beladen waren. Dort musste der Lieferanteneingang der Manufaktur sein. Männer in groben Stoffhosen, schmutzigen, teils zerschlissenen Hemden und ausgetretenen Schuhen machten sich daran, die Ware von den Pferdewagen zu laden und ins Gebäudeinnere zu tragen. Das einzig Saubere an ihrer Erscheinung waren die Schürzen, die sie trugen.

Daniel öffnete die Tür der Kutsche, stieg aus und bot Séraphine die Hand. Diese nahm seine Hilfe mit einem dankbaren Lächeln an, raffte die Röcke und verließ das Gefährt.

Danach überließ Daniel seiner Mentorin die Führung, weil er immer noch nicht genau wusste, wie ihr Vorhaben im Detail aussah. Erhobenen Hauptes betrat sie, dicht gefolgt von Daniel, den Schatten der Eingangshalle. Es war erst drei Uhr nachmittags, doch die Kraft des Herbstlichts hatte bereits so stark nachgelassen, dass man Kerzen und Öllampen entzündet hatte.

Lärm erfüllte das Innere der Manufaktur. Stimmen und das Geräusch von Maschinen drangen aus den nebenan gelegenen Produktionsräumen. Anders als in Daniels Fabrik kam hier jedoch noch etwas dazu: Der betörende Duft gerösteter Kakaobohnen, vermischt mit der zartbitteren Note fester Schokolade lag in der Luft. Er schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Köstlich.