Das Bauwerk der Sehnsucht - Ladina Bordoli - E-Book
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Das Bauwerk der Sehnsucht E-Book

Ladina Bordoli

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Beschreibung

Zwischen Heimweh und Sehnsucht, Fortschritt und Widerstand – der zweite Band der Familiensaga um die Mandelli-Frauen

1978. Als Rosalba beschließt, in die Schweiz auszuwandern, bricht sie ihrer Mutter Aurora das Herz. Doch die Neunzehnjährige sehnt sich nach Freiheit und Fortschritt, während in Italien die Arbeitslosigkeit regiert und das Bauunternehmen der Familie um jeden Auftrag kämpfen muss. Sie lässt sich zur Maurerin ausbilden. Nur wenige Jahre später übernimmt Rosalba das Bauunternehmen eines Cousins in den Schweizer Alpen – und lernt Remo kennen, einen Architekten, der ihre Träume versteht und ihrer Sehnsucht ein Zuhause gibt. Doch Rosalba stößt auf ungeahnten Widerstand. Einer Frau an der Spitze eines Bauunternehmens traut man nicht, ihre Firma wird boykottiert. Schon bald steht das Familienunternehmen kurz vor dem Ruin. Und Rosalba erwartet Zwillinge ...

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Seitenzahl: 428

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Das Buch

»Rosalba stieg an der nächsten Ortschaft aus und ließ sich den Weg zu einem nahe gelegenen Bauunternehmen zeigen. Dasselbe Spiel wiederholte sie an diesem Tag noch Dutzende Male. ›Mein Name ist Rosalba Mandelli, ich bin gelernte Maurerin aus der Lombardei …‹ Weiter kam sie meistens nicht, bevor man sie wieder zum Ausgang begleitete, und das mit denselben Begründungen: ›Wir haben schlechte Erfahrungen mit Ausländern gemacht.‹, ›Frauen behindern nur die Arbeit auf der Baustelle.‹, ›Lernen Sie doch erst einmal unsere Landessprache, Fräulein, bevor Sie uns mit Anfragen belästigen.‹

Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als Rosalba müde und mit hängenden Schultern aus dem Zug stieg und den Heimweg zu Antonios Haus in Angriff nahm. Lange Schatten streckten ihre Finger die Abhänge hinunter und hauchten dem Tal eisige Kälte ein.«

Die wirtschaftliche Lage in Italien der Siebzigerjahre ist schlecht. Rosalba beschließt als Maurerin in der Schweiz ihr Glück zu versuchen, um von dort aus das Bauunternehmen ihrer Familie in Italien zu unterstützen, das sie eines Tages übernehmen soll.

Doch die Vorurteile, mit denen sie in der Fremde zu kämpfen hat, lassen sie an ihrem Traum fast verzweifeln. Bis sie den Architekten Remo trifft, der bedingungslos an sie glaubt ...

Die Autorin

Ladina Bordoli wurde 1984 in der Schweiz geboren. Seit ihrer Ausbildung zur Fachfrau für Unternehmensführung arbeitet sie im elterlichen Bauunternehmen und führt eine eigene Werbetechnik-Firma. Ihre Leidenschaft gilt jedoch dem Schreiben, dem sie sich überwiegend am Wochenende und an den Feiertagen widmet. Sie lebt im Prättigau, einem kleinen Tal in den Schweizer Alpen.

Ladina Bordoli

Das Bauwerk der Sehnsucht

Roman

Band 2 der Mandelli-Saga

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 10/2021

Copyright © 2021 by Ladina Bordoli

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Katja Bendels

Umschlaggestaltung: bürosüd, München, unter Verwendung von © Trevillion Images / Joanna Czogala; Shutterstock / ZikG

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26611-0V001

www.heyne.de

Prolog

Argegno, NorditalienSeptember 1969

Die weißen Kiesel knirschten unter Rosalbas Ledersandalen, als sie sich von den Erwachsenen entfernte. Ihre Gespräche drehten sich ja doch immer nur um dieselben schnarchlangweiligen Themen – Mode, Essen, irgendwelche Gebrechen, Erwachsenenskandale und natürlich die Kinder.

Ein warmer Wind spielte mit ihrem senfgelben Kleid, als sie neben dem kleinen Tempel zum Stehen kam. Mamma hatte ihr das Kleidungsstück extra zu ihrem heutigen Geburtstag genäht, nach einem Schnittmuster von Bisnonna Camilla, wie sie sagte. Rosalba hatte ihre Urgroßmutter, die zwei Jahre nach ihrer Geburt an einem Hirnschlag gestorben war, nie kennengelernt. Ihre Mutter Aurora sprach jedoch stets sehr liebevoll von ihr.

Eine Melodie summend drehte Rosalba sich gedankenversunken einmal um die eigene Achse, sodass sich der glockenförmige Faltenrock fächerartig aufbauschte. Abgelenkt durch eine Möwe, die laut kreischend auf das Wasser hinausflog, hielt sie inne und beobachtete den Flug des Tiers. Der Comer See glitzerte im Sonnenlicht des nahen Mittags. Heute schmiegte er sich schläfrig zwischen die grün bewaldeten Bergkämme und die mit Häusern gesprenkelten Talsenken. Einige Segelboote pflügten durch das Wasser oder schaukelten nahe dem Ufer, wo sie geankert hatten. Hin und wieder drang lautes Lachen zu ihr hinauf, wenn die Bootsinsassen ins Wasser sprangen, um sich abzukühlen.

Das kuppelförmige Dach des kleinen Tempels wies exakt dasselbe Hellblau auf wie der See, wenn die Sonne ihn in ihre Strahlen hüllte. Rosalba legte den Kopf in den Nacken. Die letzten Wolken, die an hüpfende Schafe erinnerten, wurden soeben von der Breva, wie man hierzulande den milden Südwind nannte, weggefegt und machten einem makellos blauen Himmel Platz.

Ein Wäldchen aus locker angeordneten Bäumen versperrte die Sicht auf Rosalbas Zuhause, die Villa Domenica. Das sandfarbene Herrschaftshaus bestand aus zwei Haupthäusern, die leicht versetzt am Hang lagen. Die beiden Türme, die wie Fremdkörper aus den kasernenartigen Häuserblöcken hervorragten, wirkten beinahe orientalisch, und auch die unterhalb des Hauses liegende weitläufige Gartenanlage mit ihren moosüberwucherten Steinen, den knorrigen Bäumen und den verschiedenen Monumenten lenkten Rosalbas Gedanken stets in eine Welt voller Magie, Geheimnisse und Märchen.

Eine Berührung am Arm riss sie aus ihren Träumereien. Erschrocken wandte Rosalba sich um. Sie hatte die Schritte ihrer Cousine Arianna auf dem Kies gar nicht gehört.

»Los, komm schon, Geburtstagskind. Onkel Lorenzo sagt, der Grill ist fertig. Wir wollen bald essen!«, erklärte das drei Jahre jüngere Mädchen. Rosalba drehte sich um und sah zu ihrem Vater hinüber, der gerade beim Wenden einer salsiccia, einer schneckenförmigen Bratwurst, in einer grauen Rauchwolke verschwand und den unliebsamen Windwechsel mit hektischem Husten kommentierte. Mamma drückte ihm lachend einen Kuss auf die Wange, und Nonno Matteo, Rosalbas Großvater, schüttelte wie immer augenrollend den Kopf.

Rosalbas Blick wanderte weiter zu dem langen Holztisch, den Mamma und Lucilla, ihre Haushälterin, mit einem weißen Tischtuch bedeckt hatten. Bunte Servietten, farbige Glasperlen und die letzten Sommerblumen zierten den Mittagstisch. Das Summen und Schnattern der anwesenden Gäste wehte zu Rosalba herüber und entlockte ihr ein Lächeln. So viele Menschen waren gekommen, um ihren zehnten Geburtstag mit ihr zu feiern! Das bedeutete auch eine Menge Geschenke. Vorsichtig schielte sie zu dem im Schatten eines Baumes aufgebauten Gabentisch hinüber. Tatsächlich wimmelte es dort bereits von farbenfrohen Überraschungen in diversen Formen und Verpackungen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Rosalba zwei Gestalten, die sich ihnen über den Trampelpfad näherten, der durch das lichte Wäldchen zum Felsplateau mit dem Tempel führte. Sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag vor Freude. Sie rannte den beiden entgegen und kam atemlos ein paar Schritte vor ihnen zum Stehen. Der Mann trug eine ziegelrote Stoffhose und ein beigefarbenes Kurzarmhemd mit Blumendruck. Schnauzer und Kopfhaar hatten bereits einiges von ihrem ursprünglichen Schwarz eingebüßt. Neben ihm, gleich einer Fee, lief Rosalbas Patentante. Das grellgrüne Kleid mit den hellen Punkten und den Taschen auf der Vorderseite passte perfekt zu den grasgrünen Schuhen der zierlichen Frau. Ihre schokoladenbraunen Haare waren gelegentlich von weißen Strähnen durchzogen, und genau wie bei Rosalba waren auch ihre Wangen und die Nase mit Sommersprossen übersät.

»Madrina Marisa!« Sie sprang auf ihre Patentante zu und schlang die Arme um deren Körpermitte. Marisa strich ihr über den Kopf und ging dann in die Knie, um Rosalba einen Kuss auf die Wange zu drücken.

»Alles Liebe zu deinem zehnten Geburtstag, Rosalba-Schatz! Lass dich ansehen. Du bist ja schon wieder ein Stück gewachsen! Seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du außerdem noch hübscher geworden!«

Rosalba lachte und versetzte ihrer Patentante einen liebevollen Stups mit der Schulter. »Aber Madrina, das ist doch erst drei Wochen her! Weißt du nicht mehr? Mamma und ich waren bei dir zum Tee und haben deine neuen Bilder bewundert.«

Madrina Marisa verzog in gespielter Verwirrung den Mund, zwinkerte dabei aber neckisch. »Aber ja, wenn du es sagst … Trotzdem entwickelst du dich rasend schnell zu einer wunderschönen Dame!«

Rosalba liebte ihre Patentante, die überdies die beste Freundin ihrer Mutter Aurora war. Scheu warf sie einen Blick auf die Stofftasche, die Marisas Mann Alessandro in der Hand hielt.

»Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag, Rosalba!« Alessandro reichte ihr die Hand und schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Da ist, glaube ich, etwas für dich drin.« Er hob die Tasche hoch, die er bei sich trug.

»Das muss leider warten. Zuerst wird gegessen!« Mamma erschien neben ihnen, trat auf das Paar zu und umarmte die beiden. Küsschen wurden ausgetauscht, dann winkte Rosalbas Mutter die Neuankömmlinge zum Tisch. Die übrigen Gäste hatten sich bereits gesetzt. Lucilla schenkte den Erwachsenen Wein und Wasser, den Kindern Sirup ein.

Rosalba erhielt den Ehrenplatz an der Stirnseite der Geburtstagstafelrunde. Zu ihrer Linken saßen die Großeltern beider Seiten, rechts ihre Eltern, dicht gefolgt von Marisa, Alessandro und Tante Laura mit ihrem Mann Norberto und deren Tochter Arianna. Die untere Tischhälfte nahmen die Haushälterin und zwei Nachbarsfamilien ein, mit deren Kindern sich Rosalba oft nach der Schule zum Spielen traf.

Hungrig fielen alle über die salsicce, die costine, bistecche und diverse Beilagen her. Gelächter und gestenreiches Erzählen erfüllten die Lichtung rund um den Tempel.

»Sag, Aurora, wie läuft es denn mit deiner Baufirma? Bist du immer noch so kreativ?« Tante Laura beugte sich neugierig nach vorne, um ihre Schwägerin besser sehen zu können. Ihre Locken schimmerten rotbraun in der Mittagssonne.

Mamma tupfte sich den Mund mit einer gelben Serviette ab und nahm einen Schluck Wein.

»Gut! Ich kann mich nicht beklagen. Meine Gartenlandschaften sind mittlerweile sehr beliebt. Ich habe sogar einen Auftrag in Chiavenna ergattert, wer hätte das gedacht! Man merkt, dass nun die jüngere Generation nachgerückt ist. Die haben kein Problem mehr damit, dass ich als Frau eine Baufirma leite. Tatsächlich sind es gerade die Frauen, die meiner Beratung beispielsweise bei Umbauten vertrauen. Nicht zuletzt deshalb, weil ich ihnen auch eine Arbeitsausführung ohne viel Schmutz und Chaos garantieren kann. Für solche Details fehlt meinen männlichen Kollegen oft das Verständnis.« Sie lachte und strich sich eine Locke, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte, aus dem Gesicht.

»Das klingt wunderbar! Ich freue mich sehr für dich.« Tante Lauras Miene nahm einen weichen Zug an. »Meinen Freunden jedenfalls hast du mit deinen Ideen zu ihrem Garten und dem Umbau der Ferienresidenz unheimlich viel Freude bereitet. Sie fühlen sich nach wie vor wie in einem Stein gewordenen Märchen.« Lachend legte sie den Kopf in den Nacken.

Nach dem Essen räumten Mamma, Lucilla und einige der anwesenden Frauen das Geschirr ab und ersetzten es durch ein frisches Gedeck. Dann wurde das Backwerk herbeigetragen, das ihre Mutter im Schatten des angrenzenden Wäldchens gelagert hatte.

Rosalba riss entzückt die Augen auf und klatschte aufgeregt in die Hände. Ein mit Kiwi, Erdbeeren und Bananen belegter Kuchen repräsentierte ihr Heimatland Italien, ein weiteres Kunstwerk wies den Schriftzug Tanti auguri, Rosalba auf, und die dritte Torte war mit Bauwerkzeug aus Marzipan verziert.

Ihre Mutter zündete die Kerzen an, die Rosalba unter dem Applaus der Anwesenden alle in einem Zug ausblies. Danach bat Mamma kurz um die Aufmerksamkeit der Gäste und erhob sich von ihrem Stuhl. Mit einem Lächeln und glänzenden Augen wandte sie sich Rosalba zu. Ihr Blick schweifte in die Ferne und blieb an dem kleinen Tempel mit dem hellblauen Dach hängen.

»Ich weiß, ich erwähne es jedes Jahr. Nun schon das zehnte Mal in Folge.« Sie schaute kurz auf ihre Finger, die auf dem Tisch lagen, und ihre Lippen bebten leicht. »Genau hier erlebte ich vor zehn Jahren in vielerlei Hinsicht die glücklichste Zeit meines Lebens.« Sie nahm Vaters Hand und sah ihn an. »Zumal hier, an diesem Ort, auf den Tag genau ein wahres Wunder seinen Anfang nahm. Rosalba, mein wertvollster Schatz, kündigte genau hier ihre Ankunft an. Ich erinnere mich noch an jedes Detail – das Wetter, die Düfte, den Gesang der Vögel, Nonno Danieles entsetztes Gesicht, als er erkannte, was da gerade geschah …« Sie lachte. »Und dann schlüpfte mein Küken, meine weiße Rose, wunderschön von der ersten Minute an. Rosalba, wir lieben dich.«

Mamma drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. Die Geburtstagsgäste klatschten, und einige von ihnen kämpften ebenfalls mit der Rührung. Lucilla schnitt die Torten auf und verteilte die Stücke.

Papa schloss Rosalba in seine Arme. »Ich bin stolz auf dich, mein Herz.«

»Darf ich jetzt die Geschenke auspacken?«, platzte es aus Rosalba heraus. Verlegen biss sie sich auf die Lippen, als sie den tadelnden Blick ihrer Mutter auffing.

Schließlich ließ diese sich jedoch erweichen und bedeutete ihr mit einer großzügigen Geste: »Gut, aber bring sie einzeln her, öffne sie in Ruhe und con rispetto, und so, dass wir dir alle dabei zusehen können.«

»In Ordnung!« Das musste man Rosalba nicht zweimal sagen. Aufgeregt sprang sie von ihrem Stuhl und rannte zum Tisch mit den Geschenken. An ihrer Unterlippe nagend, ließ sie den Blick über die bunte Ansammlung von Präsenten schweifen. Welches sollte sie zuerst nehmen? Sie entschied sich für ein rotes mit gelben Punkten.

Es dauerte eine Stunde, bis sie alle Gaben mit der ihnen zustehenden Aufmerksamkeit geöffnet und betrachtet hatte. Während sie sich über Süßigkeiten, Spielsachen und Kleidungsstücke freute, sparte sie sich die außergewöhnlichen Geschenke bis zum Schluss auf. Dazu zählten traditionellerweise jenes von Madrina Marisa und das ihrer Eltern.

Ihre Patentante hatte ihr ein Bild für das Schlafzimmer gemalt. Darauf war eine Frau mit kastanienbraunem Haar zu sehen, die ein Märchenschloss baute. »Bin ich das, wenn ich groß bin?« Rosalba sah Madrina Marisa an. Diese verzog den Mund zu einem schelmischen Grinsen, das sich rasch über ihr gesamtes Gesicht ausbreitete. Sie sah aus, als würden selbst ihre Sommersprossen lachen.

»Aber natürlich. Du bist eine Mandelli. Das Bild trägt den Titel: Träume groß.«

Rosalba reckte das Kinn nach vorne und nickte energisch. »Ich bin wie meine Mamma. Das sagt Papa auch immer.«

»Ich weiß.« Madrina Marisa schenkte ihr ein feines Lächeln.

Schließlich holte Rosalba das Geschenk ihrer Eltern, das auch sogleich das letzte war, an den Tisch und packte es unter den neugierigen Blicken der Anwesenden aus.

Das auberginefarbene Papier raschelte unter ihren Fingern, als sie es behutsam löste und eine Holzschatulle hervorzog. Fragend schaute sie Papa und Mamma an, doch diese schmunzelten nur geheimnisvoll. Aufgeregt öffnete Rosalba die Metallscharniere und stieß augenblicklich einen entzückten Schrei aus.

»Eine Maurerkelle!« Sie hob das Werkzeug aus der Kiste und hielt es in die Sonne. Der Griff war aus hellem Holz angefertigt, und das Blatt bestand aus rostfreiem Stahl, auf dessen noch unberührter Oberfläche sich die Strahlen der Nachmittagssonne brachen.

»Da ist noch mehr drin, schau mal in dem kleinen Säckchen.« Ihre Mutter wies auf die Holzkiste. Sofort durchwühlte Rosalba den Inhalt derselben ein weiteres Mal und förderte tatsächlich ein kleines Säckchen aus schwarzem Samt zutage. Mit zittrigen Fingern öffnete sie die Schlaufen und griff hinein.

»Wie wunderschön! Das … das ist dasselbe Schmuckstück, das auch du trägst, Mamma! Das Senkblei von …« Verlegen brach sie ab. Sie wusste, dass das bei Familienzusammenkünften kein gutes Thema war. Die feucht glänzenden Augen ihrer Großeltern Armida und Daniele bestätigten ihr das.

Mamma jedoch legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm. »Das Senkblei von Onkel Tommaso, der im Herzen immer bei uns ist. Die beiden Geschenke, die Papa und ich dir gegeben haben, enthalten eine Botschaft.« Sie hielt kurz inne und schaute Rosalba tief in die Augen.

»Dieses Präsent ist das Erbe der Mandellis. Du bist nun alt genug, es anzunehmen, zumal dies seit Jahren dein innigster Wunsch ist. Durch das Senkblei geht das Erbe an dich weiter. Die Maurerkelle steht für das Talent, das dir vererbt wurde und das nun reif ist, um ausgebildet zu werden. Noch ist es bloß ein Same. Eines Tages jedoch wird daraus eine Blume erwachsen.«

Tröpfchenweise drangen die Worte in Rosalbas Bewusstsein. »Heißt das, dass ich …«

Ihre Mutter nickte und lächelte. Papa beantwortete ihre Frage mit einem Grinsen.

»Es bedeutet, dass du deine Mamma, soweit es die Schule und die körperliche Verfassung zulassen, hin und wieder auf die Baustelle begleiten darfst.«

»Juhuuu!« Rosalba sprang von ihrem Stuhl auf und stieß ihn dabei um. »Ich beginne meine Ausbildung zur muratrice! Ich habe euch ja gesagt, dass ich mir sonst nichts zum Geburtstag wünsche!« Sie drehte sich einmal im Kreis und gab einen weiteren Jubelruf von sich.

»Richtig. Das kam unmissverständlich rüber. Deinen Trotzkopf in Ehren, die Schule geht allerdings noch immer vor.« Mamma hob mahnend den Zeigefinger, und ihre Augenbrauen schoben sich, Strenge demonstrierend, zusammen.

»Jaja, ein bisschen geht sie vor, aber nicht mehr lange.«

Nonna Armida warf ihrer Mutter einen vielsagenden Blick zu, den Rosalba nicht ganz verstand. Mamma allerdings schien ihn sehr wohl zu verstehen, denn sie erklärte: »Ich weiß, du bist der Meinung, dass sie noch zu jung ist, Mamma. Aber mach dir keine Sorgen. Lorenzo und ich lassen sie keine schweren Arbeiten verrichten. Das war bei mir doch auch nicht der Fall, als ich Papa damals in den Schulferien begleiten durfte.«

Nonna Armida faltete ihre Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch, bevor sie erklärte: »Du warst damals auch schon ein paar Jahre älter, meine Liebe. Aber weit mehr Sorgen als dieser Umstand bereitet mir eigentlich die Dickköpfigkeit dieses Kindes. So etwas habe ich in unserer Familie seit Nonna Camilla nicht mehr erlebt«, erklärte sie trocken.

Als Rosalba am Ende dieses Tages in ihrem Bett lag, schlug ihr Herz immer noch hektischer als sonst. Sie dachte an die zahlreichen wunderschönen Geschenke, die sie erhalten hatte. Madrina Marisas Bild thronte bereits an der Wand neben ihrem Bett, sodass sie es jeden Abend vor dem Schlafengehen als Letztes und jeden Morgen beim Aufwachen als Erstes sehen würde.

»Mamma … bin ich dickköpfig?«, fragte sie, als ihre Mutter ihr einen Gutenachtkuss auf den Mund drückte und ihr die Haare aus der Stirn strich.

Mamma lachte leise, und ein warmes Schmunzeln erhellte ihre Gesichtszüge. »Aber nein, amore. Bisnonna Camilla war zweifellos stur. Du … bist rebellisch, mein Kind. Das ist etwas anderes.« Sie seufzte und sah Rosalba einige Sekunden schweigend an. »Ich wünsche dir, dass du eines Tages einen Menschen kennenlernen darfst, der dir so ein treuer Schicksalsgefährte sein wird, wie Papa es mir war. Jemand, der dich von ganzem Herzen liebt und unterstützt. Ungeachtet der Tatsache, dass du deinen eigenen Weg gehen wirst. Denn das wirst du.«

Neugierig setzte sich Rosalba im Bett auf. »Wie meinst du das?« Sie liebte Geschichten über die gemeinsame Vergangenheit ihrer Eltern.

»Nun … Papa lehrte mich, mein bis dahin weitgehend brachliegendes Talent zum Erblühen zu bringen. Dank seiner Hilfe konnte ich es einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und mich beweisen.« Sie hob den Blick und starrte gedankenversunken in die Ferne, bevor sie ihn wieder auf Rosalba richtete und sie liebevoll ansah. »Mein Bauchgefühl sagt mir, dass du einmal einen ähnlichen Weg einschlagen wirst. Und glaub mir, mit einem Komplizen an deiner Seite ist es bedeutend lustiger.« Mit einem verschwörerischen Lächeln erhob sie sich von der Bettkante und ging zur Tür. Kurz bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich jedoch noch einmal um.

»Träume groß, meine Rose.«

Dann verschwand sie im Flur und schloss die Schlafzimmertür hinter sich.

Kapitel 1

Argegno, Norditalien

Oktober 1978

Rosalba nahm eine Scheibe Brot, schöpfte eine Portion carpaccio di bresaola und beträufelte das Trockenfleisch mit Olivenöl und Balsamico.

Der Briefumschlag, der am Abend für sie in der Post gewesen war, lag neben ihr. Die Rückseite des Kuverts verriet, dass es sich bei dem Absender des Schreibens um Remo Albrecht handelte. Der junge Architekt, den Rosalba während ihres Praktikums in der Schweiz kennengelernt hatte, sandte ihr bereits den zweiten Brief seit ihrer Abreise vor wenigen Wochen. Natürlich hatte sie sein erstes Anschreiben umgehend beantwortet.

»Wie gefällt dir das Buch über Coco Chanel, das dir Madrina Marisa zum Geburtstag geschenkt hat?« Papa tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab und schaute Rosalba mit hochgezogenen Augenbrauen und einem interessierten Lächeln an.

Aus ihren Gedanken hochgeschreckt, starrte sie ihn einige Sekunden lang schweigend an, ehe sie sich an seine Frage zu ihrem neunzehnten Geburtstag im September erinnerte. »Sehr gut, es ist unglaublich inspirierend.« Sofort senkte sie den Blick und widmete sich erneut ihrem Essen. Sie war viel zu aufgewühlt, um sich mit ihren Eltern zu unterhalten. Immer wieder zuckten ihre Augen in Richtung der Nachricht. Gewaltsam riss sie sich los und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Während ihr Vater von irgendwelchen ärgerlichen Auseinandersetzungen mit den Behörden und gegnerischen Advokaten erzählte, schaute sie zu den nach Norden gerichteten Fenstern hinaus, durch die nun das letzte matte Tageslicht hereinfiel. Vom Tisch aus war der etwas tiefer liegende Garten, das Meisterstück ihrer Mutter Aurora, leider nicht zu sehen. Man erkannte bloß den im Abendlicht glitzernden Teppich des Sees und die Bergketten am Horizont. Rosalbas Blick glitt zurück in den Essraum.

Wie eine Kuppel spannte sich die schon etwas in die Jahre gekommene bemalte Zimmerdecke über ihren Köpfen. Die einem wolkigen Himmel bei Sonnenuntergang nachempfundene Malerei ließ zahllose Pastelltöne von Blau bis Rosa harmonisch miteinander verschmelzen. Da Papa es nicht mochte, das Abendessen im Dämmerlicht einzunehmen, war der Kronleuchter, der über dem Tisch hing, bereits angezündet worden und tauchte den Raum in goldenes Licht. Massive lackierte Holzmöbel, deren Farbtöne an flüssigen Honig und geschmolzene Schokolade erinnerten, standen im Raum verteilt. Der Esstisch, der aufgrund seiner Ausmaße eher für rauschende Bankette gedacht war, bestand ebenfalls aus dunklem Holz. Die geschwungenen Beine verliehen ihm etwas Verspieltes. Der viel zu bunte orientalische Teppich, der während Rosalbas Kindertagen den Boden bedeckt hatte, war vor einigen Jahren in ein anderes Zimmer verlegt und durch ein altrosa Exemplar ersetzt worden, das besser zur Deckenmalerei passte. Ihre Mutter hatte sich nach jahrelangen Diskussionen endlich durchgesetzt. Das wertvolle Flechtwerk schmückte nun ein Gästezimmer in einer der oberen Etagen.

Obwohl Rosalba sich redlich bemühte, alles detailliert anzusehen, bloß nicht das ..., endete ihr Blickspaziergang ausgerechnet dort. Schon wieder.

Bei dem ungeöffneten Briefumschlag.

Was er wohl geschrieben hatte?

»Hattet ihr einen guten Arbeitstag?« Papa blickte sie und Mamma der Reihe nach an und hob fragend eine Augenbraue.

»Ja«, beantwortete ihre Mutter die Frage. »Wir haben heute mit dem Bau einer Natursteinmauer rund um den Froschteich einer Familie in Castiglione begonnen. Der Anfang ist uns gelungen, wie ich finde. Allerdings sieht unser Arbeitsvorrat bis zum Jahresende noch etwas spärlich aus. Ich hatte gehofft …«

Ob er seine Reiseabsichten zwischenzeitlich durchdacht und festgelegt hatte?

»Rosalba?«

Sie fuhr erschrocken aus ihren Gedanken hoch und starrte ihren Vater an, als sehe sie ihn gerade zum ersten Mal. »Hm?«

Ein feines Schmunzeln zuckte um seine Mundwinkel und verlieh seinen Augen ein warmes Schimmern. »Ich fragte dich, ob du die Mauer beim Froschweiher geplant und kreiert hast oder ob es das Werk deiner Mutter war.«

Rosalba spürte Hitze aus dem Kragen ihrer Bluse ihren Hals hinaufwallen. »Das war meine Planung. Ich habe mich an der Optik einer Burgruine orientiert. Die Natursteinmauer ist ungleich hoch und mit Lücken versehen, so vermittelt sie den Eindruck, halb verwittert zu sein. Der Wunsch der Kundin war etwas Dekoratives, das die Frösche jedoch nicht einsperrt oder in ihrem natürlichen Dasein einschränkt. Offenbar mögen die Tiere es, im Sommer auf solchen losen Steinformationen zu sitzen und die Sonne zu genießen.«

Gottlob schwang die Tür in diesem Moment auf, und Lucilla trug die Pasta herein. Penneaglio e olio. Sofort schöpfte sich Rosalba einen Teller Teigwaren und gab vor, sich auf das Essen zu konzentrieren.

Doch als sie nach der Gabel griff, um eine Penna aufzuspießen, zuckte ihr Blick unwillkürlich ein weiteres Mal zu dem ungeöffneten Brief.

Remo besaß eine ungewöhnlich geschwungene, sinnliche Handschrift. Rosalba Mandelli … Auf dem Briefumschlag sah es aus wie der Beginn eines mittelalterlichen Gedichtes. Märchenhaft und romantisch.

Hastig widmete sich Rosalba wieder den Speisen auf ihrem Teller und aß weiter. Nach dem Hauptgang blieb sie, wie es ihr die Erziehung ihrer Eltern nahegelegt hatte, am Tisch sitzen, bis alle fertig gegessen hatten. Doch zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass ihr Vater gemächlich nach den Wassermelonenstücken griff und sich ihre Mutter einige Trauben in den Mund schob. Ein Kribbeln und Jucken zuckte durch ihre Beine, und sie spürte, dass sie anfing zu schwitzen. Warum bloß musste es an Werktagen auch noch einen Nachtisch geben?

»Na los, geh in dein Zimmer und lies den Brief. Du machst mich nervös. Mamma und ich werden uns noch etwas unterhalten, in Ruhe einige Früchte essen und den Tag ausklingen lassen.« Papa schenkte ihr ein Lächeln und wedelte mit der Hand in Richtung der Tür.

Erlöst schob Rosalba den Stuhl zurück, griff nach dem Briefumschlag und verließ eilig den Raum. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg sie die weiße Steintreppe mit dem roten Samtteppich hinauf in ihr Zimmer, wo sie die Tür hinter sich schloss und erleichtert ausatmete.

Dieser Raum war ihr Refugium, ihr Rückzugsort seit Kindertagen. Er umfasste die Ausmaße einer kleinen Wohnung und blickte hinaus auf die Zufahrt der Villa und die kleine geteerte Straße, die sich durch eine lockere Anordnung von Pinien, Korkeichen und Buchsbäumen den sanften Abhang hinunter in Richtung Argegno schlängelte. Jeden Abend tauchte die Sonne das Zimmer in goldenes Licht, ehe sie hinter dem Horizont verschwand.

War dieser lang gezogene Raum früher in Schlaf- und Spielbereich unterteilt gewesen, so füllte nun eine Sitzecke mit Salontisch die ehemalige Spielecke. Seit Rosalbas Kindheit beherrschte ihre Lieblingsfarbe ihr Reich: Ein dunkles Himbeerrot mischte sich in den schweren Vorhängen mit Goldstickereien. Sessel und Sofa waren mit einem himbeerrot-weiß gestreiften Stoff bezogen, und selbst die Bettwäsche war nach Möglichkeit in derselben Farbe gehalten. Kombiniert mit den dunkelbraunen Holzmöbeln, strahlte der Raum eine Mischung aus fruchtiger Frische und schokoladiger Behaglichkeit aus.

Ein Kamin, der sich gleich neben der Polstersitzgruppe befand, spendete Rosalba und ihren Freunden im Winter Wärme und Gemütlichkeit. Halb abgebrannte Kerzen und Kinderfotos verteilten sich über den Kaminsims. An der Wand neben dem Schlafplatz hing immer noch das Bild, das Madrina Marisa ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Träume groß, hatte sie auf dessen Rückseite geschrieben.

Rosalba warf sich auf das Bett und starrte die filigrane Schrift auf dem Briefumschlag eine geschlagene Minute lang an. Endlich öffnete sie den Brief mit zittrigen Fingern und trockenem Mund.

Liebe Rosalba,

herzlichen Dank für Deine interessante Briefantwort. Es freut mich außerordentlich, Post von Dir zu erhalten. Das Haus des Scheichs aus Dubai ist immer noch nicht fertig, hat er doch fast täglich neue Einfälle und Wünsche. Mein ehemaliger Ausbilder beschäftigt mich also weiterhin als Freiberufler, um den anspruchsvollen Stammkunden zufriedenzustellen. Zwischenzeitlich sind wir damit beschäftigt, ihm ein Wellnessgewölbe in der Optik eines Weinkellers zu erstellen. Gerade in den letzten Tagen ist mir daher bewusst geworden, wie sehr Deine italienischen Ideen an dieser Stelle fehlen. Bestimmt hättest Du als Grotto-Kennerin ein besonderes Auge für die Ästhetik eines solchen Raums. Natürlich ist mir Antonio stets eine wertvolle Stütze, doch schätze ich das Unkonventionelle an Deinen Visionen, die sich doch oft von meinen und Antonios unterschieden. Jedenfalls, wenn unser Blaublüter so weitermacht, läuft er der bekannten Lady Winchester noch den Rang ab. An Geld und Zeit mangelt es ihm jedenfalls nicht.

Bestimmt fragst Du Dich, wie es nun um meine Studienreise bestellt ist. Nun, ich habe in der Zwischenzeit tatsächlich eine Entscheidung getroffen. Ich unternehme in den Wintermonaten eine Reise nach Italien. Anfang des neuen Jahres starte ich. Es würde mich natürlich freuen, wenn wir uns im Zuge meiner Recherchen einmal sehen könnten. Gerne würde ich außerdem die Firma Deiner Mutter kennenlernen und mir einige Eurer Werke ansehen. Aus Deinen faszinierenden Erzählungen schließe ich, dass sie beeindruckend sein müssen. Sollte ein Treffen nicht möglich sein, bin ich natürlich auch nicht böse. Italien hat genug Architektonisches zu bieten, um mich zu unterhalten und zu inspirieren.

Nun wünsche ich Dir eine schöne und erfolgreiche Zeit und hoffe, bald wieder von Dir und Deinem Baualltag zu hören.

Herzliche Grüße aus dem Prättigau

Remo

Rosalba faltete den Brief zusammen und legte ihn sich auf die Brust, während sie dem Pochen ihres Herzens lauschte. Die Dämmerung drängte in ihr Zimmer und zwang sie, die Nachttischlampe anzuknipsen. Dann las sie Remos Zeilen noch mal, und danach gleich noch ein weiteres Mal, wobei sie jedes seiner Worte betrachtete wie die Noten einer fremden Melodie. Schließlich erhob sie sich und schlurfte ins Badezimmer, das an das andere Ende ihres Zimmers angrenzte.

Nachdem sich Rosalba gewaschen und das Nachthemd angezogen hatte, las sie Remos Brief ein weiteres Mal. Dann faltete sie ihn sorgfältig zusammen, legte ihn auf ihren Nachttisch und kroch ins Bett. Doch an Schlaf war nicht zu denken.

Wie sage ich es Mamma und Papa?, dachte sie, und dieser Gedanke hielt sie noch bis weit nach Mitternacht davon ab, Ruhe zu finden.

Am nächsten Morgen fühlte sich Rosalba entsprechend wie von einem Stein überrollt. Mit schweren Gliedern schlurfte sie ins Bad und betrachtete sich im ovalen Spiegel über dem Waschbecken. Mit seinem verschnörkelten Metallrahmen erinnerte er an Schneewittchens Exemplar aus dem gleichnamigen Märchen. Nur dass die in der Reflexion abgebildete Person an diesem Morgen nicht besonders hübsch anzusehen war, wie Rosalba selbst fand. Ihre rotbraunen, glatten Haare glänzten heute nicht, sondern hingen ihr ebenso müde über die Schultern, wie sie sich fühlte. Ein Hauch Violett überschattete ihre Tränensäcke. Ihre dunklen Augen starrten ihr matt und erschöpft entgegen. Seufzend spritzte Rosalba sich kaltes Wasser ins Gesicht und ging zum Schminktisch hinüber. Das weiß lackierte Holztischchen mit den geschwungenen Beinen hatte vier Schubladen und einen Spiegel mit zwei aufklappbaren Flügeln. Rosalba setzte sich auf den dazu passenden Hocker und griff nach ihren Schminkutensilien. Geübt deckte sie die Augenringe ab, tuschte die Wimpern und betonte ihre Lider sowie die vollen Lippen mit einem Hauch Farbe. Zufrieden grinste sie ihrem Spiegelbild zu.

»Schon besser«, murmelte sie, ging zurück ins Zimmer und zog sich an. Rosalba nähte ihre Arbeitskleidung, aber auch jene für die Freizeit, sofern es ihr die Zeit erlaubte, selbst, so wie es schon ihre Urgroßmutter, Bisnonna Camilla, und ihre Mutter getan hatten. Heute trug Rosalba eine schlichte dunkelgrüne Hemdbluse und dazu eine robuste, feminin geschnittene Arbeitshose. Die Haare flocht sie zu einem Zopf, der ihr bis zur Mitte des Rückens hinabreichte. Zum Schluss streifte sie sich noch das Senkblei-Amulett über, das sie wie ihre Mutter täglich trug.

Nach einem letzten Kontrollblick in den Spiegel trat sie schließlich auf den Flur hinaus und ging mit entschlossenen Schritten ins Speisezimmer, wo Lucilla ihnen wie jeden Morgen ein herrliches Frühstück aus caffè, Früchten und Brioche zubereitet hatte.

Obwohl Rosalba sich redlich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, blieb Mammas Blick länger an ihr hängen, als dies sonst der Fall war. Papa hob nur kurz den Kopf von der Tageszeitung, grüßte sie und widmete sich dann wieder dem Weltgeschehen.

Draußen herrschte graues Zwielicht, bald schon würde die Sonne aufgehen. Der Kronleuchter tauchte den Raum in goldenes Licht.

Rosalba setzte sich und goss sich einen Espresso ein. Ihr Magen grummelte, weshalb sie sich ausnahmsweise zwei Brioches gönnte.

»Geht es heute mit dem Froschteich weiter?«, fragte sie, um das Gespräch gleich vorneweg auf ein unverfängliches Terrain zu lenken.

»Ja, ich gehe davon aus, dass wir diese Arbeit gegen Abend abschließen können. Danach widmen wir uns einer Mauer der Gemeinde Cerano, die vor dem Wintereinbruch repariert werden muss. Selbst wenn es nur wenig Schnee gibt, wird die Feuchtigkeit die bröckeligen Fugen weiter ausschwemmen, und Teile der Natursteinmauer könnten herunterfallen.«

»Dann essen wir bei Nonna Armida und Nonno Daniele zu Mittag? Ich würde sie gerne wieder einmal sehen.« Rosalba nahm einen Schluck ihres Espressos und tupfte einige Krümel vom Tisch auf.

»Das ist selbstverständlich Pflicht, wenn wir quasi vor ihrer Haustür arbeiten. Alles andere hätte einen Familienskandal zur Folge. Ich nehme an, du spekulierst darauf, dass Nonna Armida dein Lieblingsessen kocht.« Ihre Mutter zwinkerte ihr schmunzelnd zu.

Rosalba grinste. »Das ist natürlich mit ein Grund, warum ich mich gerne selbst einlade. Denkst du, sie macht Spaghetti Carbonara alla bisnonna Camilla für mich?«

»Ich müsste mich stark täuschen, wenn dem nicht so wäre. Was ich gerne esse, ist seit neunzehn Jahren ohnehin nicht mehr gefragt«, erklärte ihre Mutter lächelnd.

Papa legte die Zeitung beiseite und beugte sich zum Fußboden hinunter. »Guten Morgen Belinda! Hat Lucilla dir nicht genug Futter gegeben, meine Hübsche?« Mit einem Satz sprang die Birmakatze auf seinen Schoß und schnupperte an der Brioche, die er noch nicht angerührt hatte.

»Sie ist eindeutig verfressener als ihre Vorgängerin Amira, so viel steht fest«, kommentierte Mamma die Tatsache, dass die Katzendame innerhalb weniger Sekunden die Hälfte des Gebäcks verschlungen hatte und Papa sie mit einem verträumten Lächeln gewähren ließ. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und erhob sich. »Rosalba und ich müssen aufbrechen.«

Rosalbas Vater setzte die Katze auf den Stuhl neben sich und stand auf. Mit einem Seufzen legte er die Arme um Mamma, zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann trat er zu Rosalba, nahm ihr Gesicht in die Hände und hauchte ihr einen Kuss auf die Nase.

»Habt einen schönen Tag, amori. Meiner wird bestimmt weniger befriedigend werden, wenn ich mir den Terminkalender so ansehe. Umso mehr freue ich mich jetzt schon auf unser gemeinsames Abendessen.«

Zwanzig Minuten später fuhren sie mit der Vespa des Baubetriebs in Richtung Castiglione. Rosalba saß wie immer auf dem Mitfahrersitz, und ihre Mutter lenkte das Gefährt. Die Sonne stieg soeben über den Horizont. Goldene Finger kletterten über die Berggipfel und ergossen sich über die grün bewaldeten Abhänge talwärts. Ein kühler Wind, der Vorbote des Winters, zerrte an ihren Haaren und prickelte auf der Wange. Dankbar, an eine warme Jacke gedacht zu haben, versteckte sich Rosalba hinter dem Rücken ihrer Mutter vor dem beißenden Fahrtwind. Die Laubbäume, die ihren Weg nach Castiglione säumten, präsentierten sich in imposanten Herbstgewändern. Rot, Orange und Gelb buhlten mit dem letzten Grün um die Wette. Obwohl schönes Wetter vorhergesagt war, wies der Himmel über ihnen noch ein milchiges Blau auf, das stellenweise von einigen Wolken durchzogen war.

Nach nur zehn Minuten Fahrt erreichten sie den Werkhof des Baubetriebs. Wie Rosalba auf alten Fotos von Nonno Daniele gesehen hatte, hatte sich das Bild, das sich ihnen jeden Morgen bot, seit damals kaum verändert. Noch immer befand sich im angrenzenden Gebäude eine Autowerkstatt, die genau wie der Baubetrieb ihrer Mutter mittlerweile in dritter Generation geführt wurde. Fassade und Aufmachung der Firma Mandelli hatten sich modernisiert, und mittlerweile fand es auch niemand mehr befremdlich, dass die überschaubare Bauunternehmung von zwei Frauen betrieben wurde und der Senior in Pension gegangen war. Das lag jedoch nicht daran, dass das ländliche Castiglione progressiver gewesen wäre als andere Dörfer. Die Bewohner hatten sich im Laufe der Jahre einfach an die Mandelli-Frauen und ihre Eigenwilligkeit gewöhnt.

Schweigend öffneten Rosalba und ihre Mutter die Tür zum Werkhof, luden Material auf die Ladebrücke der Piaggio und fuhren los, um die Mauer rund um den Froschteich fertigzustellen.

Eine Stunde lang arbeiteten sie schweigend nebeneinander. Plötzlich legte Mamma das Werkzeug nieder und sah Rosalba an. »Was ist los mit dir? Du bist sehr unkonzentriert. Sieh mal, die Steine passen überhaupt nicht. Und wolltest du die Mauer nicht verwittert aussehen lassen?«

Entsetzt starrte Rosalba auf die Arbeit, die sie verrichtet hatte. Ihre Mutter lag absolut richtig, das Resultat der letzten Stunde war eine vollkommene Katastrophe.

»Mamma, ich muss dir etwas sagen«, platzte es aus ihr heraus, und ihre Mutter nickte, als habe sie so etwas schon geahnt.

»Es hat mit dem Brief aus der Schweiz zu tun, nicht wahr?« Sie hob fragend eine Augenbraue.

Rosalba bejahte durch eine stumme Geste und spürte, wie ihre Wangen glühten.

»Der Brief war von Remo Albrecht, dem Schweizer architetto. Ich habe euch ja erzählt, dass er eine Studienreise nach Italien machen möchte. Nun …« Sie schluckte, ihr Mund war plötzlich staubtrocken. »Das wäre jetzt der Fall. Er möchte diesen Winter durch unser Land reisen und sich hier ein paar Bauwerke und Firmen ansehen. Natürlich hofft er, auch unsere Unternehmung und ihr Wirken näher kennenzulernen.« Sie hielt den Atem an und musterte das Gesicht ihrer Mutter.

»Verständlich. Möchtest du ihm anbieten, ein oder zwei Tage bei uns zu wohnen, wenn er in der Gegend ist?«

Rosalba atmete erleichtert aus. »Genau das wollte ich dich fragen. Denkst du, Papa hat etwas dagegen? Ich meine, alles andere wäre schlicht und ergreifend unhöflich. Wir haben ja mehr als genug Platz. Bestimmt möchte er sich außerdem den Heidegarten der Villa Domenica ansehen, von dem ich ihm schon so viel erzählt habe.«

Ihre Mutter nickte und griff wieder nach dem Steinmetzwerkzeug. »Ich frage ihn heute Abend, gehe aber davon aus, dass er zustimmt. Du weißt ja, wie großzügig er anderen Menschen gegenüber stets ist.«

Rosalba war allerdings noch nicht fertig. Sie nagte so lange an ihren Fingernägeln, bis Mamma erneut von der Arbeit aufblickte. »Was ist denn noch? Ich sehe es dir doch an?«

»Na ja, möglicherweise bleibt er länger als nur zwei Tage. Letzten Sommer in der Schweiz sagte er etwas von zwei Wochen …« Sie brach ab und sah zu Boden. Trotzdem spürte sie, wie ihre Mutter sie mit einem bohrenden Blick musterte.

»Was ist eigentlich aus dir und Luigi geworden? Ich habe ihn seit deiner Rückkehr aus der Schweiz im September nicht mehr gesehen.«

»Wir haben uns getrennt. Unsere Vorstellungen über das Leben und die Zukunft waren einfach nicht vereinbar.« Rosalba nahm einen Stein und konzentrierte sich auf die Anbringung desselben.

»Hm. Er schien mir ein anständiger Bursche zu sein. Ich mochte ihn.« Ihre Mutter wandte sich ebenfalls wieder der Arbeit zu.

Kapitel 2

Rosalba lenkte den blutroten Alfa Romeo Giulietta, eine Neuanschaffung ihres Vaters, auf den Busparkplatz in Chiavenna. Die Turmuhr der Dorfkirche schlug soeben zwölf. Es erfüllte sie mit besonderem Stolz, dass Papa ihr sein heißgeliebtes Fahrzeug an diesem Sonntag zur alleinigen Nutzung überlassen hatte. Schließlich hätte er auch darauf bestehen können, sie zu begleiten. Rosalba hatte schon geglaubt, sich verhört zu haben, als er von sich aus vorgeschlagen hatte, sie solle ihren Schweizer Gast doch mit der Giulietta abholen. Allein. Mammas Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war sie mit Papas Vorschlag allerdings nicht allzu glücklich gewesen.

Rosalba grinste.

Zu ihrem Glück wurde soeben eine Parklücke frei. Wenige Minuten später stieg sie aus dem Auto, knöpfte sich den Wintermantel zu und kontrollierte kurz ihre Frisur in der Spiegelung des Fensters. Ihr Blick glitt suchend über den Busbahnhof. Der Autobus aus der Schweiz war noch nicht da. Gut möglich, dass er mit einiger Verspätung kam, wenn man bedachte, dass in den Bergen bereits mehrere Meter Schnee lagen.

Unruhig strich Rosalba die Hände an ihrem Mantel ab und trat von einem Bein auf das andere. Wie würde es wohl sein, Remo nach knapp vier Monaten wiederzusehen? Betrachtete er seinen Besuch in Italien wirklich nüchtern als Studienreise und interessierte sich bloß für die Baukunst des Landes, oder … Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Auf jeden Fall war es nur eine Frage des Anstands gewesen, ihm ihre Gastfreundschaft anzubieten, oder? Erneut wischte Rosalba sich die feuchten Handflächen an ihrem Mantel ab.

Endlich nahm das Warten ein Ende. Ein Überlandbus näherte sich dem Parkplatz. Rosalbas Puls beschleunigte sich. Als das Fahrzeug zum Stehen kam, entdeckte sie an einer der Scheiben eine fröhlich winkende Silhouette.

Als sich die Türen des Busses öffneten, sprang Remo bereits an dritter Stelle aus dem Gefährt. Er trug dunkle Jeans, darüber einen in verschiedenen Blautönen gemusterten, eng anliegenden Strickpullover mit V-Ausschnitt und eine gefütterte Jeansjacke. Die Stoffreisetasche lässig über die Schultern geworfen und mit einem erfreuten Glitzern in den azurblauen Augen, näherte er sich Rosalba. Ein Windstoß zerzauste seine kurzen aschblonden Haare.

»Remo!« Sie trat aufgeregt auf ihn zu, zögerte dann jedoch. Von ihrem vergangenen Aufenthalt in der Schweiz wusste sie, dass die Schweizer viel reservierter waren und auf Körperkontakt unter Umständen mit Befremden reagierten. Zumal Rosalba Remo bisher nur als Auftraggeber und aus seinen Briefen kannte. War das nahe genug, um …?

»Rosalba!« Mit einem strahlenden Lächeln trat er auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Zaghaft erwiderte sie die Geste. Wärme breitete sich in ihr aus, als sie das Spiel von Remos Muskeln unter ihren Fingerspitzen spürte. Der Duft nach Olivenseife, vermischt mit dem Pfefferminz eines Kaugummis stieg ihr in die Nase. Sie schmunzelte und hätte die Wärme seiner Umarmung am liebsten weit länger genossen, als angemessen war.

»Du siehst noch genauso aus, wie ich dich in Erinnerung habe. Unglaublich, dass unser Treffen tatsächlich geklappt hat«, sagte er in überraschend gutem Italienisch, strich sich über den golden schimmernden Dreitagebart und steckte eine Hand in die Hosentasche; mit der anderen hielt er immer noch sein Gepäck. Aus seinem Mund klang Rosalbas Muttersprache ein wenig exotisch, aber gerade deshalb sehr charmant.

»Du hast geübt«, lobte Rosalba seine Italienischkenntnisse erfreut.

Er nickte und grinste. Schließlich schaute er sie fragend an. »Wohin als Nächstes? Nehmen wir die Bahn oder einen weiteren Bus?«

Rosalba schüttelte den Kopf und wies mit dem Daumen hinter sich. »Ich werde dich höchstpersönlich mit dem Augapfel meines Vaters zu uns nach Hause chauffieren. Wenn das nicht italienische Gastfreundschaft vom Feinsten ist, dann weiß ich auch nicht mehr«, scherzte sie und grinste.

Remo folgte ihrem Blick und schmunzelte. »Das ist tatsächlich eine angenehme Überraschung und ein toller Service. Den nehme ich selbstverständlich gerne an.«

Sie setzten sich in Bewegung. Rosalba ging voran und zeigte ihm den Wagen.

»Wow! Ich bin beeindruckt. Dein Vater hat einen guten Geschmack.« Neugierig umrundete Remo die Giulietta und ließ die Finger über den Lack gleiten. Immer wieder murmelte er etwas vor sich hin und nickte zustimmend.

Rosalba lenkte den Wagen vom Parkplatz und hinaus aus der Stadt. Die Straße schlängelte sich entlang des Lago di Mezzola und über die Brücke, die diesen mit dem weitaus größeren Comer See verband. Zahlreiche kleinere Ortschaften säumten nun ihren Weg, während sie sich Argegno, ihrem Ziel, näherten. Die meisten von ihnen waren ehemalige Fischerdörfchen. Selbst heute sah man in den grauen Morgenstunden oder bei Anbruch der Abenddämmerung noch zahlreiche Einheimische, die ihre Ruten nach den im Comer See beheimateten agoni und verschiedenen Forellenarten auswarfen.

»Es ist wunderschön hier«, schwärmte Remo. »Die Architektur ist tatsächlich vollkommen anders als in der Schweiz. Diese sanften Erd- und Pastelltöne der Fassaden und die vielen Natursteinmauern passen perfekt zur Umgebung. Und die Dächer sehen tatsächlich noch immer ähnlich aus wie bei den Römern!« Staunend ließ er den Blick aus dem Fenster schweifen.

»Du solltest die Gegend hier im Frühling oder im Sommer sehen, wenn grüne Baumalleen das Seeufer säumen und es von Booten auf dem lago nur so wimmelt. Dann sind die Straßen voller Leben und die Abende wieder lang und in ein herrliches goldenes Licht getaucht. Die Farben der Häuser scheinen zu dieser Zeit viel kräftiger.« Rosalba drehte den Kopf und lächelte Remo an.

»Dann werde ich wohl irgendwann noch mal in der warmen Jahreszeit herkommen müssen.«

»Das musst du unbedingt.« Sie nickte und betrachtete das eher trostlose Bild, das ihnen die winterliche Landschaft bot. Die Äste der Bäume ragten nackt und knorrig einem milchig grauen Himmel entgegen. Ein bissiger Nordwind fegte durch die Gassen der Häuser und zerrte an den Haaren der wenigen Passanten. Mit hochgezogenen Schultern eilten sie über die Straße. Die Sonne, die im Januar ohnehin nur schwach schien, verbarg sich hinter schmutzigen Wolken. Gelegentlich fiel in dieser Gegend ein Hauch Schnee, blieb jedoch selten liegen, was die vorherrschenden Farben noch trostloser erscheinen ließ.

Nach anderthalb Stunden Fahrt erreichten sie endlich Argegno. Rosalba lenkte den Wagen von der Hauptstraße weg und manövrierte ihn zielsicher durch die engen Gassen und den kurzen Abhang hinauf zur Villa Domenica, ihrem Zuhause. Vor dem schmiedeeisernen Tor hielt sie an und hupte. Kurz darauf schwang das Tor auf.

»Wahnsinn! Du hast nie erwähnt, dass du in einem Schloss wohnst!« Remo verrenkte den Kopf, als sie vor dem Haupteingang anhielten. Er stieg aus dem Auto und musterte die zwei miteinander verbundenen, versetzt am Hang stehenden Häuserblöcke aus verschiedenen Winkeln. Rosalba, die zwischenzeitlich ebenfalls ausgestiegen war, folgte Remos Blick. Auf den fremden Betrachter musste das Anwesen wahrlich beeindruckend wirken. Gigantische Bogenfenster im Erdgeschoss erlaubten den Blick in einen lichtdurchfluteten Saal, der allerdings nur für Feste und Feierlichkeiten benutzt wurde. Die hohe sandfarbene Hausfassade mit dem Efeu, das sich an ihr empor zum terrakottafarbenen Dach rankte, gab dem Gebäude den Anschein, als hätte es ein bärtiges Gesicht. Buschige Sträucher und knorrige Bäume schmiegten sich zu beiden Seiten an die Hausfassade, und vom See her drang das leise Glucksen und Rauschen der Wellen zu ihnen herauf und mischte sich mit dem Zwitschern der Vögel.

»Ich sagte doch, dass ich ein angenehmes Zuhause habe.« Rosalba grinste.

»Ah, wie ich sehe, ist unser Gast angekommen.« Ihr Vater erschien in einer cremeweißen Stoffhose, einem bordeauxroten Feinstrickpullover und einer grauen Baskenmütze auf den dunkel gelockten Haaren in der Haustür und lächelte zu ihnen herab. Gemächlichen Schrittes kam er die Treppe herunter und stellte sich Remo vor.

»Lorenzo Baroni, gerne einfach Lorenzo. Benvenuto in Italien! Es gibt weiß Gott schönere Monate als den feuchtkalten Januar für einen Besuch in dieser Gegend, aber ich hoffe, der Aufenthalt bei uns gestaltet sich trotzdem angenehm.«

»Daran habe ich keine Zweifel. Remo, freut mich.« Rosalbas Begleiter reichte ihrem Vater die Hand und schüttelte sie kräftig. In diesem Moment erschien auch ihre Mutter vor der Eingangstür. Sie trug einen Faltenrock mit Tartanmuster in Gelb, Weiß und Blau, kombiniert mit einem dunkelblauen Strickpullover mit verspieltem Rüschenkragen. Die widerspenstigen Locken hatte sie sich hochgesteckt. Stilsicher wie immer schritt sie elegant die Treppe hinunter und reichte Remo die Hand.

»So kommt doch rein, hier draußen holen wir uns noch eine Erkältung. Ich habe uns Tee, caffè und Gebäck im Kaminzimmer bereitgestellt.« Mit einer einladenden Geste in Richtung des Hauses wandte sie sich um und ging voran.

Die drei anderen folgten ihr in ein großzügiges Foyer, von dem aus rechts eine weiße Steintreppe, die mit einem roten Samtteppich bespannt war, in die oberen Etagen des Hauses hinaufführte. Mit schweren Goldrahmen versehene Gemälde zierten die Wände, und ein Kronleuchter tauchte den Raum in ein helles, warmes Licht.

Staunend blieb Remo stehen und sah sich um. Bodenlange Wandspiegel vermittelten dem Besucher den Eindruck, als würden unzählige Gänge vom Eingangsbereich abzweigen. Rosalba lächelte, als sie seine staunend aufgerissenen Augen sah.

Sie bogen in einen lang gezogenen Flur ein. Skulpturen säumten ihren Weg, und weiche Teppiche dämpften stellenweise ihre Schritte auf dem glänzenden Steinboden. Das im Süden des Hauses gelegene Kaminzimmer wurde vorwiegend in den kargen Wintermonaten oder an kühlen, vom Gewitter bringenden Nordwind heimgesuchten Sommerabenden benutzt. Seine Lage sorgte dafür, dass man auch an den düsteren Tagen noch einen matten Sonnenstrahl abbekam. Vom Fenster sah man direkt auf den sich südwärts ausdehnenden See und die braungrünen Hügelketten, die ihn umgaben. Vereinzelt blitzten die hellen Punkte von Häusern in Erd- und Pastellfarben an den Abhängen auf. Auf diese Distanz konnte man die Dörfer jedoch nur erahnen.

Passend zu seinem Verwendungszweck beherrschten herbstliche und winterliche Farben den Wohnraum. Der mannshohe Kamin in der rechten Ecke bestand aus dunkelbraunem Marmor mit Holzstruktur. Die Sessel und Sofas waren mit cremeweißen Stoffen bezogen, und Vorhänge und Teppiche wiesen verschiedene Nuancen von Altrosa auf. In Erwartung des ausländischen Gastes hatte die Haushälterin den Kamin offenbar schon angezündet. Die Flammen fraßen sich in die dürren Holzscheite, knackten und sprühten gelegentlich Funken. Wohlige Wärme breitete sich im Raum aus. Auf dem dunklen Salontisch in der Mitte der Sitzgarnitur warteten bereits Porzellantassen, zwei Kannen, eine Wasserkaraffe mit Gläsern und ein Tablett mit Cantuccini und Biscotti.

Nachdem sich alle gesetzt und Rosalbas Eltern zuerst den Gast und dann Rosalba und sich selbst bedient hatten, herrschte kurzes Schweigen. Rosalba rechnete es ihren Eltern hoch an, dass sie Remo nicht gleich mit Tausenden von Fragen löcherten, auch wenn diese ihnen zweifellos auf der Zunge brannten. Stattdessen überließen sie es ihr und ihrem Gast, die Initiative zu ergreifen.

»Euer Heim ist beeindruckend«, erklärte Remo. »Auch wenn ich bisher ja bloß einen Teil davon gesehen habe. Ist das dein Werk, Aurora? Ich meine die Restauration? Das Gebäude selbst schätze ich von der Architektur her nicht als neuzeitlich ein.« Remo wandte sich interessiert an Mamma. Diese strich sich mit einem Lächeln eine Locke aus der Stirn.

»Lorenzos Villa ist tatsächlich bereits seit Generationen im Besitz seiner Familie. Ein altehrwürdiges Bauwerk, wenn man so will. Ich habe zwar einige Innenausbauarbeiten übernommen, doch der größte Teil davon fiel nicht in meinen Tätigkeitsbereich. Mein Beitrag zu diesem Anwesen und zugleich die Krönung meiner bisherigen Arbeiten ist die Gartenlandschaft.«

»Ich werde dir morgen alles zeigen!«, platzte Rosalba aufgeregt dazwischen. »Das Amphitheater, den Tempel, den Springbrunnen und vieles mehr. Mamma hat mir alles darüber erzählt. Ich kenne ihre ersten Skizzen und sogar all die Ideen, die am Ende nicht umgesetzt wurden.«

Remo wandte sich ihr mit einem Lächeln zu. »Liebend gern. Ich platze vor Neugierde. Bisher kenne ich das Werk nur aus deinen Erzählungen, und selbst da schien es mir schon wahnsinnig imposant.«

»Was meine Frau damals erschaffen hat, ist wahrlich faszinierend, heute ebenso wie damals. Ich spreche nicht nur vom Garten, sondern auch von unserer wunderbaren Tochter.« Papa nahm Mammas Hand in seine und hauchte ihr einen Kuss darauf.

Eine leichte Röte färbte die Wangen ihrer Mutter. In diesem Moment sah sie um Jahre jünger aus, und Rosalba erkannte für einen kurzen Augenblick die jugendliche Aurora, die sie bisher nur auf Fotos gesehen hatte.

»Wenn ihr es mir erlaubt, würde ich gerne alles dokumentieren und fotografieren. Wäre das in Ordnung? Obwohl ich den Garten noch nicht besichtigt habe, glaube ich, dass einige meiner Kunden für derartige Ideen offen wären. Ich würde mich daher gerne inspirieren lassen.« Remo nahm einen Schluck von seinem Espresso.

»Aber natürlich, gern. Mach so viele Fotos und Notizen, wie du brauchst.« Mamma lächelte, und Stolz glomm in ihren dunklen Augen auf.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen wachte Rosalba schon früh auf. Gähnend reckte sie sich und setzte sich im Bett auf. Das Abendessen mit Remo und ihren Eltern war gemütlich verlaufen. Papa hatte die Unterhaltung auf sein Kerngebiet gelenkt und Remo nach dem Schweizer Justizsystem ausgefragt. Dieser wiederum interessierte sich sehr für Papas Alltag – und natürlich für dessen Vorliebe für schöne Autos.

Mit einem zufriedenen Seufzer erhob sich Rosalba und schlurfte ins Bad. Während sie sich Wasser ins Gesicht spritzte, dachte sie über den anstehenden Tag nach. Sie plante, Remo den Garten und anschließend den Baubetrieb und das Haus der Colombos in Castiglione zu zeigen, das eine so bedeutende Rolle in der Geschichte ihrer Familie gespielt hatte.

Angepasst an die winterlichen Temperaturen trug Rosalba eine hochgeschnittene, eng anliegende Stoffhose in Olivgrün und dazu einen weißen Feinstrickpullover mit grünen Stickereien, der sich ebenfalls wie eine zweite Haut an ihre muskulöse Silhouette schmiegte. Sie betupfte sich mit dem nach Rosen duftenden Parfüm, das ihr Tante Laura zum Geburtstag geschenkt hatte. Ein letzter Kontrollblick in den Spiegel ließ sie zufrieden nicken. Dezentes Make-up betonte ihre vollen Lippen und die dunklen Augen mit den langen Wimpern, und die Haare fielen ihr in einem schimmernden Vorhang über den Rücken.

Sie suchte den Ostflügel auf, in dem Remo einquartiert worden war. Seltsamerweise hatte sich in der gesamten Villa nur am anderen Ende des Gebäudes ein Zimmer für ihren Gast finden lassen. Jedenfalls hatte Lucilla dies behauptet.

Vor Remos Zimmertür blieb Rosalba stehen und zählte von zehn rückwärts, um ihren plötzlich beschleunigten Herzschlag zu beruhigen und dreimal tief durchzuatmen. Dann klopfte sie.

»Buongiorno. Bist du wach? Lust auf Frühstück?«

Noch bevor sie die Hand sinken ließ, wurde die Tür aufgerissen, und ein breit lächelnder Remo stand vollständig angezogen und frisiert im Türrahmen. Zu einer blauen, leicht verwaschenen Jeans trug er ein weißes Freizeithemd, das von der Farbe seiner Turnschuhe aufgegriffen wurde. Dazu hielt er eine braune, gefütterte Lederjacke auf dem Arm.

»Guten Morgen. Und ob ich hungrig bin!« Er schloss die Tür hinter sich und folgte ihr in den Speisesaal. Da es Montag war und nur noch zwei Gedecke auf dem Tisch standen, ging Rosalba davon aus, dass ihr Vater bereits in der Kanzlei und ihre Mutter im Baubetrieb war.

»Cappuccino oder Espresso und Brioche«, erklärte Rosalba mit einer entschuldigenden Geste. »Nicht so reichhaltig wie euer Frühstück in der Schweiz, aber für uns reicht es.«

Nach dem Essen zogen sie sich Jacken, Schals und Gummistiefel an, da die Temperatur trotz des blauen Himmels im Januar nicht über acht Grad kletterte.

Während sie gemeinsam die Treppe in den Garten hinabstiegen, kramte Remo nach seiner Leica-Fotokamera.

»Warte.« Er knipste einige Bilder aus ihrer erhöhten Position, ehe er nickte und sie weitergingen.

Die Wiese, ein braungrüner Teppich, schmatzte bei jedem ihrer Schritte.

»Letzte Woche gab es etwas Schnee«, erklärte Rosalba.