Mein Herz in tausend Farben - Ladina Bordoli - E-Book
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Mein Herz in tausend Farben E-Book

Ladina Bordoli

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Beschreibung

Nichts ist so bunt wie die Liebe

Viktorias Leben ist ein wahrgewordener Traum: Sie hat einen reichen, gut aussehenden Mann, zwei wundervolle Kinder und wohnt in einer großen Villa. Doch eines Tages wird ihr Ehemann Tobias bewusstlos aufgefunden - in einem Bordell, vollgepumpt mit Drogen. Er fällt ins Koma. Viktoria ist am Boden zerstört und muss sich noch dazu ganz anderen Herausforderungen stellen. Denn das gesamte Vermögen der Familie steckt in Tobias' Juweliergeschäft, und jetzt liegt es in ihren Händen, den tadellosen Ruf der Firma aufrechtzuerhalten und die beschämende Wahrheit vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Dann taucht plötzlich Oliver auf, Tobias' Zwillingsbruder. Der hatte den Kontakt zur Familie eigentlich abgebrochen, doch nun braucht er eine vorübergehende Bleibe. Um Viktoria zu helfen und Tobias' Abwesenheit zu vertuschen, schlüpft er öffentlich in die Rolle seines Bruders. Als Tobias dann aber aus dem Koma erwacht, ist sich Viktoria plötzlich nicht mehr sicher, welchen der beiden Männer sie nun liebt ...

Eine romantische Liebesgeschichte gespickt mit einer Prise Humor. eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.

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Seitenzahl: 359

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Weitere Titel der Autorin

Das Tal der Rosen

Über dieses Buch

Viktorias Leben ist ein wahrgewordener Traum: Sie hat einen reichen, gut aussehenden Mann, zwei wundervolle Kinder und wohnt in einer großen Villa. Doch eines Tages wird ihr Ehemann Tobias bewusstlos aufgefunden – in einem Bordell, vollgepumpt mit Drogen. Er fällt ins Koma. Viktoria ist am Boden zerstört und muss sich noch dazu ganz anderen Herausforderungen stellen. Denn das gesamte Vermögen der Familie steckt in Tobias’ Juweliergeschäft, und jetzt liegt es in ihren Händen, den tadellosen Ruf der Firma aufrechtzuerhalten und die beschämende Wahrheit vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Dann taucht plötzlich Oliver auf, Tobias’ Zwillingsbruder. Der hatte den Kontakt zur Familie eigentlich abgebrochen, doch nun braucht er eine vorübergehende Bleibe. Um Viktoria zu helfen und Tobias’ Abwesenheit zu vertuschen, schlüpft er öffentlich in die Rolle seines Bruders. Als Tobias dann aber aus dem Koma erwacht, ist sich Viktoria plötzlich nicht mehr sicher, welchen der beiden Männer sie nun liebt …

Über die Autorin

Ladina Bordoli, Jahrgang 1984, lebt in der Schweiz in einem kleinen Tal inmitten der Alpen. Seit ihrer Kindheit verfasst sie Gedichte und Kurzgeschichten. 2008 veröffentlichte sie ihr Erstlingswerk »Wild Cherry«.

Einen Großteil ihrer Inspiration bezieht sie aus dem täglichen Kontakt mit Menschen verschiedenster Kulturen. Wo gelebt, gearbeitet, geliebt und gestritten wird, entstehen Schicksale – und mit ihnen Geschichten.

LADINA BORDOLI

MEIN

Herz

IN TAUSENDFARBEN

beHEARTBEAT

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Unter Verwendung von Motiven von © Colin Anderson/getty-images und © Maryna Patzen / shutterstock.com

Sonderschrift Copyright © by vernon adams, with Reserved Font Name ›Norican‹

This Font Software is licensed under the SIL Open Font License, Version 1.1

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5143-9

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Kapitel 1

Anfang Mai 2015, MittwochViktoria

Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen und verschwand im Westen hinter den Bergwipfeln, die das Prättigau vom Rest der Welt abgrenzten. Normalerweise war Viktoria früher zu Hause. Die außergewöhnliche Situation, die seit einem Tag ihr Leben beherrschte, erforderte jedoch besonderen Einsatz.

»Danke, Sebastian.« Sie lächelte müde und stieg aus dem delfingrauen Audi Q2. Sebastian Wagner deutete eine Verbeugung an. Auch wenn sie sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befand, bestand Viktoria bei den Bediensteten auf formvollendete Höflichkeit.

Sebastian war ein Mann von dreiundsechzig Jahren, mit weißen, sorgfältig gescheitelten Haaren und treuen, wasserblauen Augen. Er stand schon seit über zehn Jahren als Butler und Chauffeur im Dienste der Zellwegers und genoss daher Viktorias vollstes Vertrauen.

Sie ließ den Blick über den penibel gepflegten Vorplatz des Hauses schweifen, während das nervöse Klick-Klack ihrer Pumps sie wie das Ticken einer Zeitbombe begleitete.

Viktoria liebte ihr überdimensionales Knusperhäuschen, wie sie es insgeheim nannte. Sie legte den Kopf in den Nacken und begutachtete das mehrgiebelige Landhaus zufrieden.

Großzügige Fensterfronten, schneeweißer Putz, gebranntes Holz. Ein Zuhause, das Luxus und Behaglichkeit auf einem geschmackvollen Niveau vereinte, wie Viktoria nicht ohne Stolz gern betonte. Schließlich war sie es gewesen, die dem Architekten ihre Wünsche bis ins kleinste Detail mitgeteilt hatte.

Seit Viktoria damals für ihren Mann Tobias in den Alpenkurort Klosters gezogen war, bewunderte sie die schneebedeckten Chalets und stilvollen Villen ausländischer Titelträger oder Wirtschaftsgrößen. Sie hatte also eine sehr präzise Vorstellung davon gehabt, wie ihr Traumhaus einst aussehen musste.

Genau so.

»Wann kommt eigentlich der Gärtner?«, fragte sie und musterte das dürftige Blumenarrangement in ihrem Garten. Normalerweise hätte sie sich über den desolaten Zustand ihrer Blumenbeete maßlos geärgert, heute fühlte sie sich jedoch einfach nur ausgelaugt.

»Ich habe ihn für Ende der Woche bestellt, Frau Zellweger. Ich nahm an, dass das in Ihrem Sinn ist.« Sebastian setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

»Wunderbar, vielen Dank«, sagte sie und legte sich die Hände an die pochenden Schläfen. Viktoria blieb abrupt stehen.

Ursula Hartmann, die Haushälterin, stand am Hauseingang. Da das nicht zu ihren normalen Aufgaben gehörte, musste etwas Unerwartetes vorgefallen sein. Viktoria strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Angst breitete sich in ihrer Magengegend aus. »Ist etwas mit den Kindern, Ursula?«, fragte sie daher alarmiert. Der heutige Tag war schon schrecklich genug gewesen, fehlte gerade noch, dass es Valentin oder Isabella schlecht ging! Seit ihr Mann gestern ins Koma gefallen war, kam es ihr vor, als hätte eines dieser schwarzen Antimaterie-Löcher im All ihr Leben verschluckt. So wie sie es gekannt hatte, existierte es jedenfalls nicht mehr. Und nur der Herr im Himmel wusste, wie lange dieser Ausnahmezustand noch andauern würde. Sofort nagte bei diesen Gedanken das schlechte Gewissen an ihr. Sollte sie ihren Mann nicht im Krankhaus besuchen? Sich nach seinem Befinden und möglichen Fortschritten erkundigen? Beim bloßen Gedanken daran zog sich ihr Herz zusammen, und das Atmen fiel ihr schwer. Das Hämmern in ihrem Kopf schwoll sofort an.

Sie war noch nicht bereit dazu. Nicht nach allem, was geschehen war. Viktoria schämte sich und fürchtete sich vor der Begegnung mit den behandelnden Ärzten. Sie kannten die Wahrheit. Die volle Wahrheit. Außerdem wäre es sicher in Tobias’ Sinn, wenn sie sich zuerst um das Geschäft kümmerte. Oder?

»Den Kindern geht es gut, sie sind in ihren Zimmern, Frau Zellweger«, beruhigte Ursula sie. Die Hausangestellte war eine Frau um die vierzig, obschon sie rund zehn Jahre älter wirkte. Sie war keine Freundin von Haarefärben oder Schminken.

In diesem Augenblick ertappte sich Viktoria dabei, wie sie ihre Haushälterin um deren Selbstbewusstsein und Freiheit beneidete.

Tobias würde es niemals dulden, dass ich mich so gehen lasse, dachte sie nicht ohne Bitterkeit. Ich darf mich in meinem eigenen Zuhause nicht einmal ungeschminkt auf die Couch setzen. Und dennoch – obwohl sie immer alles getan hatte, was er von ihr verlangte, hatte er …

Sie schüttelte diese Gedanken ab.

»Was ist es dann? Sie machen ja ein Gesicht … da beschleunigt sich mein Puls schon wieder. Das wäre nach dem heutigen Marathon im Juweliergeschäft nun wirklich nicht auch noch nötig.« Viktoria war erschöpft, und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie wollte sich etwas Bequemeres anziehen und dann das Abendessen servieren lassen. Ein Glas Wein wäre auch nicht schlecht.

»Sie haben einen … Gast.«

Die Art und Weise, wie die Hausangestellte das Wort »Gast« betonte, ließ Viktoria augenblicklich aufhorchen. Sie hatte niemanden eingeladen, und das wusste Ursula. Leute, die unaufgefordert ihr Anwesen und offenbar sogar ihren Wohnraum betraten, mussten von einer außerordentlich unerzogenen und impertinenten Art sein.

»Sie haben eine fremde Person ins Haus gelassen?«, fragte Viktoria ungehalten und trat an Ursula vorbei. Energischen Schrittes marschierte sie ins Wohnzimmer, wo sie annahm, dass die Haushälterin den Gast platziert hatte.

Bevor sie ihn sah, roch sie ihn bereits.

Er verströmte einen Duft, den Viktoria so gar nicht kannte. Tobias, ihr Mann, trug stets ein teures Eau de Toilette. Sie war synthetische Duftnoten gewohnt. Das hier … meine Güte. Staub und Sand, vermischt mit leichtem Schweißgeruch. Allerdings … als »Gestank« hätte sie es nun auch wieder nicht bezeichnet. Es war einfach … sehr ungewöhnlich. Animalisch irgendwie.

Er hörte sie und wandte sich ihr zu. Mochte sein Geruch noch einigermaßen erträglich gewesen sein, so löste sein Anblick bei ihr beinahe einen Atemstillstand aus. Sie hatte gelesen, dass Vollbärte jetzt stark in Mode waren, selbst in Hollywood. Aber das? Dieser Fremde hier sah aus wie Tom Hanks in Cast Away – Verschollen. Fehlte noch, dass er sich halb nackt mit einem Ball unterhielt, und die Szene wäre perfekt.

»Entschuldige, dass ich hier einfach so reingeplatzt bin. Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Oliver, der Bruder deines Mannes.« Er duzte sie unaufgefordert und mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er noch nie etwas von guten Umgangsformen gehört. Wahrscheinlich hielt er den Knigge für ein Kuchenrezept. Viktoria war der Ansicht, dass Verwandtschaft kein Freischein für Unhöflichkeiten war. Wenn man sich noch nie begegnet war, duzte man eine Dame nicht ohne deren Einwilligung!

Oliver erhob sich aus einem der Sessel und kam auf Viktoria zu. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück, als er ihr die Hand hinhielt. Er ließ sie langsam wieder sinken, und ein freches Grinsen zuckte um seine Mundwinkel. Er strich sich mit dem Zeigefinger über die Augenbraue, als müsste er nachdenken.

Abgesehen von den grünen Augen und den dunkelblonden Haaren konnte sie bloß eine vage Ähnlichkeit mit ihrem Mann feststellen. Das war jedoch auch kein Wunder, wenn Kopf- und Barthaare das Gesicht wie eine wild wuchernde Dornenhecke überzogen. Das belustigte Glitzern in seinem Blick hatte allerdings auch etwas … Warmherziges. Eine Form von Gelassenheit, die Viktoria an Tobias, der andauernd gestresst wirkte, nicht kannte. Sie verdrängte diese seltsame Eingebung sofort wieder.

»Äh … ja, ich weiß. Meine Kleider sehen kacke aus … Ich habe ja auch gerade eine Vierundzwanzig-Stunden-Reise hinter mir.« Er lächelte entschuldigend. Die Kleidung war ihr bisher noch nicht aufgefallen. Sein Gesicht hatte sie bereits komplett aus der Fassung gebracht. Nun ließ sie den Blick an ihm hinunterwandern. Er trug ausgebeulte Jeans und ein beiges Leinenhemd. Eine abgewetzte Lederjacke lag auf dem Sessel hinter ihm. Die ursprüngliche Farbe seiner Turnschuhe war nicht mehr erkennbar. Und er hatte Tätowierungen. Nicht einige wenige, sondern flächendeckend viele. Und dann diese Sprache? Meine Güte! »Kacke« … Ihr Sohn Valentin musste jeweils ohne Abendessen zu Bett gehen, wenn er in ihrer Gegenwart solche Unwörter benutzte.

»Das Abendbrot wird in zwanzig Minuten serviert. Ich möchte mich vorher noch gern kurz umziehen. Folgen Sie … ähm: Bitte lass dich von Ursula ins Esszimmer führen. Die Kinder und ich kommen gleich.«

Oliver hob belustigt eine Augenbraue. »Ihr habt Kinder? Selbst gezeugte?« Sein Blick strich über ihren Körper, als wollte er sie mit den Augen an Ort und Stelle ausziehen. Als begutachtete er ein Kamel auf dem Markt. Viktoria spürte, wie sie errötete. Was wollte er mit diesem abfällig verzogenen Mund und der übertrieben betonten Frage andeuten?

»Ich bin nicht so prüde, wie ich aussehe!«, gab sie beleidigt zurück und erntete ein kehliges Lachen.

»Hab ich auch nicht gesagt.« Er legte den Kopf schief, wobei er sie immer noch amüsiert und neugierig anstarrte.

»Aber wohl gedacht!«, entgegnete sie und drehte sich um. Sie musste diesen Raum schleunigst verlassen. Wie konnte es sein, dass ein dahergelaufener Wilder, den sie noch nie gesehen hatte, es fertigbrachte, sie dermaßen zu verunsichern? Sie war Viktoria Zellweger, Herrgott noch mal. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, ein großes Mädchen. Jedenfalls mochte sie ihren neuen Gast – oder wie auch immer man diese dreiste Sorte von Eindringling sonst nennen sollte – nicht. Er war ungepflegt und unverschämt. Seine Ausdrucksweise war ordinär … und dann diese Tätowierungen! Als wäre er ein Ex-Knacki oder, noch schlimmer, ein kannibalistischer Eingeborener auf einer fernöstlichen Insel. Plötzlich hielt sie inne und ließ sich entsetzt auf einen der satinbezogenen Sessel in ihrem Zimmer im ersten Stock fallen. Was, wenn er gar nicht die Wahrheit sagte? Wenn er gar nicht Tobias’ Bruder war?

Viktoria schnappte sich ihre dunkelblaue Designer-Jeans, einen blassrosa Pullover und schlüpfte in schlichte schwarze Sneakers aus feinstem Nappaleder. Wenn man bedachte, dass sie den Hippie nicht offiziell eingeladen hatte und er aussah, als hätte er die letzten beiden Wochen im Dschungelcamp verbracht, war diese Kleidung angemessen genug. Insgeheim freute sich Viktoria jedoch auch, die sonst vorherrschenden Kleidervorschriften im Hause Zellweger einmal großzügig ignorieren zu dürfen. Sogleich schämte sie sich für ihre kindische Einstellung. Sie war im Augenblick die Herrin dieses Anwesens, die Visitenkarte der Familie Zellweger und das einzige Vorbild für ihre beiden Kinder. Sie sollte sich zusammenreißen!

Erneut schweiften ihre Gedanken zu ihrem Mann. Egal, was er getan hatte … sie hatte viele Jahre ihres Lebens mit ihm geteilt, und er war der Vater ihrer Kinder. Sollte sie ihn doch besuchen? Sie schüttelte den Kopf. Ausgeschlossen. Er war in guten Händen, und sie war mit dem Juweliergeschäft bereits überfordert. Er würde sich keine emotional entgleiste, sondern eine funktionierende Ehefrau wünschen.

»Valentin! Isabella! Kommt bitte essen!«, rief sie und klatschte in die Hände, während sie nach unten ins Esszimmer ging, wo Ursula bereits den Tisch gedeckt hatte. Oliver stand am Fenster und schaute in den Garten hinaus. Er hielt ein Glas Wein in der Hand, das ihm wohl Sebastian serviert hatte. Die Bedienung der Herrschaften war sein Metier. Die Haushälterin hatte inzwischen Feierabend und war nach Hause gegangen.

»Ursula und ich haben Herrn Zellweger ein Zimmer im Westflügel zugewiesen«, informierte Sebastian sie in dezentem Tonfall. »Auch etwas Wein, Frau Zellweger?«

Sie nickte und blickte ihn dankend an. Gottlob war sie nicht allein mit Oliver im Raum. »Sagen Sie, Sebastian, nur um sicherzugehen: Hat jemand seine Identität überprüft?«, fragte sie und sprach so leise, dass ihr Gast sie nicht hören konnte.

Der Butler setzte ein stolzes Lächeln auf. »Aber natürlich, Frau Zellweger. Er ist tatsächlich der, den er vorgibt zu sein.«

»Bedauerlicherweise«, fügte Viktoria noch an und biss sich auf die Lippen, als sich Oliver umdrehte und auf sie zukam. Die langen Haare fielen ihm in feuchten Locken auf die Schultern. Er musste geduscht haben, denn er roch nach frischer Olivenseife. Oliver hatte sich eine saubere Jeans und ein schlichtes grünes T-Shirt übergestreift, das die Farbe seiner Augen aufgriff. Vermutlich ein Zufallstreffer, dachte Viktoria. Modebewusstsein konnte es wohl kaum gewesen sein.

»Danke für die Einladung. Auf die Dame des Hauses!« Er hob sein Glas, wobei sich die Muskeln an seinen Armen spannten. Auch in dieser Hinsicht erkannte Viktoria keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Gatten. Tobias hatte mittlerweile etwas schwammige Oberarme und einen leichten Bauchansatz. Trotzdem war er, seinem Alter entsprechend, immer noch ein gut aussehender Mann. Sein Bruder war vermutlich einige Jahre jünger und daher noch etwas sportlicher gebaut. Seine relative Jugend hätte zumindest das unangebrachte Verhalten teilweise entschuldigt. Wenn jemand sich allerdings wie ein Terrorist hinter einem solchen Bart versteckte, war es schwierig, eine genaue Alterseinschätzung vorzunehmen.

Oliver musste entweder des Gedankenlesens mächtig sein, oder aber ihr Blick hatte sie verraten. Peinlich war es sowieso.

»Stimmt mit meinen Armen irgendwas nicht? Du kannst dir die Tattoos gern aus der Nähe ansehen. Ich beiße nicht.«

Viktoria schüttelte den Kopf und nahm einen kräftigen Schluck Wein, um beschäftigt zu wirken. Sie spürte, wie erneut die verräterische Röte ihren Hals hinaufkroch. »Alles bestens, ich habe nichts gesagt«, meinte sie hastig. Eine Spur zu hektisch, um es gleichgültig klingen zu lassen. Wo war eigentlich die beherrschte, taffe Viktoria, die sie sonst immer war?

»Das nicht, aber das war ja bei diesem Blick auch nicht nötig.« Oliver führte sein Weinglas an die Lippen, ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen.

»Du hältst dich wohl für außergewöhnlich interessant, wie mir scheint«, antwortete sie bissig.

Er schmunzelte belustigt. Bevor er jedoch erneut etwas entgegnen konnte, erschienen die Kinder im Türrahmen und blieben erstaunt stehen.

»Das ist … euer Onkel Oliver, von dem ihr noch nie gehört habt. Er isst heute mit uns zu Abend. Wir sind gespannt, was er uns zu erzählen hat, nicht wahr?« Viktoria lächelte, stellte sich neben ihre beiden Sprösslinge und strich ihnen liebevoll über das Haar. Valentin und Isabella begrüßten ihren Onkel formell, indem sie ihm die Hand reichten und sich vorstellten. Viktoria bedeutete ihrem Gast, sich an den Tisch zu setzen. Nachdem Oliver Platz genommen hatte, setzten sich Viktoria und die Kinder ebenfalls. Einige Sekunden lang herrschte eisiges Schweigen. Olivers Blick schweifte bewundernd zu dem edlen Kronleuchter über dem Esstisch. Er enthielt sich jedoch eines Kommentars.

Endlich servierte Sebastian den Salat.

»Ich muss an dieser Stelle gleich mit der Tür ins Haus fallen«, begann Oliver und stocherte stirnrunzelnd in den Babyspinat-Blättern herum.

Viktoria straffte den Rücken und nahm vorsichtshalber einen weiteren Schluck Wein. Dies war eigentlich nicht der Moment in ihrem Leben, in dem sie noch mehr Hiobsbotschaften verkraften konnte. Allerdings war ihr schon seit Olivers Ankunft klar, dass sein Erscheinen nichts Gutes bedeuten konnte. Das Einzige, was man ihr über den verlorenen Sohn erzählt hatte, war, dass er das schwarze Schaf der Familie sei. Er sei aufgrund einer nicht näher definierten Tragödie in seiner Jugend komplett aus der Rolle gefallen. Seither lebe er als Aussteiger in Sihanoukville in Südkambodscha, wo er eine Strandbar betreibe.

Bevor Viktoria ihn, wie es die Höflichkeit geboten hätte, zum Weitersprechen auffordern konnte, fuhr er fort: »Ich habe vor, eine Weile hierzubleiben. Um nicht lange um den heißen Brei herumzureden: Ich bin pleite, weil meine Strandbar von irgendwelchen Arsch…«, und mit einem Blick auf die Kinder, »… Halunken niedergebrannt wurde, und … ich habe es mir mit den kambodschanischen Lokalbehörden verscherzt. Ich musste mehr oder weniger notfallmäßig abreisen. Der Flug hierher hat meine gesamten Ersparnisse aufgefressen. Fürs Erste wäre ich daher sehr dankbar, wenn meine Rückkehr in die Schweiz unter uns bleibt. Ich möchte nicht, dass jemand außerhalb dieser vier(…hundert) Wände davon erfährt.« Bei dem letzten Halbsatz war ein belustigtes Funkeln in seinen Blick getreten.

Viktoria verschluckte sich kurz an ihrem Salat und hustete. Sie schaute Valentin und Isabella besorgt an und begann zögerlich: »Nun, die Sache ist die: Wir haben selbst gerade ziemlich viele Probleme. Mein Mann, dein Bruder Tobias, liegt seit gestern Morgen im Krankenhaus. Im Koma. Er hat … einen Zusammenbruch erlitten. Man vermutet dahinter eine schwerwiegende und seltene Krankheit. Eine genaue Diagnose steht noch aus.« Die Zweifel in ihrer Stimme waren Oliver offenbar nicht entgangen, denn er starrte sie durchdringend an. Sie hoffte, dass er den Kindern zuliebe nicht weiter nachhakte. Sie war mit Sebastian, den sie als Einzigen in ihr Problem eingeweiht hatte, übereingekommen, den beiden die volle Wahrheit zu ersparen. Grundsätzlich sollte niemand erfahren, was wirklich geschehen war. Ihr Gatte war nämlich dabei, ihr Leben und das ihrer Kinder zu ruinieren.

»Selbstverständlich können wir das Juweliergeschäft in seiner Abwesenheit nicht schließen. Das hätte für uns alle fatale Folgen und würde unsere Existenz bedrohen. Seit gestern versuche ich nun, mir in Davos einen Überblick zu verschaffen, damit ich die Firma mithilfe der Angestellten irgendwie weiterführen kann. Das ist jedoch nicht so einfach, da ich bisher nie in die Geschäfte meines Mannes involviert war und mich vorwiegend um die Kinder und das Haus gekümmert habe.« Sie tupfte sich mit der Stoffserviette den Mund ab.

Sebastian räumte wortlos die leeren Salatteller ab.

Oliver wirkte ehrlich betroffen. Mehr aber auch nicht. Irgendetwas blitzte kurz in seinen grünen Augen auf. Ehe Viktoria sich genauer darauf konzentrieren konnte, verschwand es wieder.

»Scheiße, das wusste ich nicht. Ein Zusammenbruch? Was hat er denn gemacht?« Er strich sich durch das lange Haar, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnte.

Viktoria spürte, dass sie unsicher wurde. Sie hätte das lieber ohne die Kinder diskutiert. Wenn sie nur in einem Punkt von der Version abwich, die sie ihnen erzählt hatte, würden sie misstrauisch werden. Den achtjährigen Valentin konnte sie mit unsicher dahergestotterten Ausreden möglicherweise noch zufriedenstellen, aber Isabella … Mit ihren zwölf Jahren wäre sie durchaus in der Lage, ihre Mutter zu durchschauen. Es war Viktoria aber wichtig, dass ihre Kinder weiterhin einen normalen und sorgenfreien Alltag bestreiten konnten. »Falls es dir nichts ausmacht, können wir das gern nach dem Essen unter vier Augen besprechen. Das Thema ist schon so belastend genug, ich möchte Valentin und Isabella nicht ständig damit konfrontieren.« Sie starrte ihren Schwager so eindringlich wie möglich an und schenkte ihren Kindern ein beruhigendes Lächeln.

Er schien den Wink mit dem Zaunpfahl tatsächlich zu verstehen und nickte. »Wie du meinst, easy.«

Viktoria schüttelte unmerklich den Kopf. Gerade war sie versucht gewesen, Oliver zu mögen, da er auf die Gefühle ihrer Kinder Rücksicht genommen hatte. Nun das: Er besaß nicht nur keinen Anstand, er redete auch noch wie ein unreifer Teenager.

Sebastian brachte die Teller mit dem Hauptgang: Kalbsbraten mit Gemüse und Bratkartoffeln.

Oliver pfiff anerkennend und beugte sich, schnüffelnd wie ein Hund, über das dampfende Gericht. Valentin grinste, und Isabella kicherte leise. Drei smaragdgrüne Augenpaare tauschten belustigte Blicke aus.

»Wir schnuppern nicht an unserem Essen, wir sind keine Trüffelschweine«, gab Viktoria zu bedenken. Hatte der Kerl denn gar keine Manieren? War er nicht in demselben Haus aufgewachsen wie Tobias? Wie konnte man da alles vergessen, was einem als Kind mit auf den Weg gegeben worden war? Bestimmt machte er das absichtlich, um sie zu ärgern. Ziemlich sicher sogar. Das zumindest hätte sein offen zur Schau getragenes Grinsen und sein Zwinkern in Richtung der Kinder erklärt. Sie merkte, wie sie innerlich zu brodeln anfing. Viktoria hasste es, wenn man sie als Spaßbremse darstellte. Sie war nicht spießig, sie war bloß eine verantwortungsbewusste Mutter. Etwas, das diesem dahergelaufenen Streuner hier wie ein Alien vorkommen musste. Allerdings … die Art, wie er mit Valentin und Isabella sprach und sie zum Lachen brachte, ließ Viktoria nicht unberührt. Das warf ihre Theorie vom selbstverliebten Egozentriker über den Haufen. Tobias fühlte sich durch die Anwesenheit seiner eigenen Kinder nämlich oft gestört. Ihre Fragen und ihr Gekicher nervten ihn. Nicht so Oliver.

Während des restlichen Abendessens löcherten Valentin und Isabella ihn über Sihanoukville. Nach dem Dessert schickte Viktoria ihre zwei Sprösslinge nach oben in ihre Zimmer. »Ich bin sicher, dass ihr eure Hausaufgaben noch nicht beendet habt. Onkel Oliver ist morgen auch noch da. Und bitte denkt daran: Wir sprechen mit niemandem über seinen Besuch, auch nicht mit Oma und Opa. Das ist unser großes Geheimnis.« Sie umarmte die beiden zärtlich, strich ihnen über die braunen Wuschelköpfe und drückte ihnen einen Kuss auf die Stirn. Valentin, der offenbar von seinem Onkel sehr fasziniert war, zog eine enttäuschte Schnute und schlurfte hinter seiner Schwester her.

Oliver saß mit verschränkten Armen am Tisch und musterte Viktoria. »Ich bin ganz Ohr: Was für ein Zusammenbruch war das?« Er hob fragend die Augenbrauen.

Sie ertappte sich erneut dabei, wie ihr Blick über seine nackten Oberarme schweifte. Entsetzt kniff sie die Augen zusammen und erhob sich. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Das ist eine längere Geschichte.« An ihren Butler gewandt, meinte sie: »Sebastian, würden Sie bitte ein Feuer im Kamin anzünden und uns ein Glas Whiskey servieren? Das wäre sehr freundlich.« Sie suchte kurz den Blick ihres Schwagers, der den Whiskey mit einem knappen Nicken absegnete und ihr in den Salon folgte.

Dieser war komplett mit altem Holz ausgekleidet. Auf dem Boden lagen flauschige Schafsfelle und Teppiche, die sie von einer Reise aus dem Orient mitgebracht hatten. Lederne Ohrensessel standen in einem perfekten Winkel um einen kleinen Glastisch drapiert. Viktoria wies auf einen der beiden Sessel und bot Oliver an, sich zu setzen. Dann nahm sie selbst Platz. Nach einigen Minuten knisterte das Feuer im Kamin, und die tänzelnden Flammen warfen zuckende Muster auf die Holzdielen und -wände. Sebastian servierte ihnen den Whiskey und zog sich dann mit einer kurzen Verbeugung zurück.

Viktoria beschloss, es möglichst kurz und schmerzlos zu machen. »Tobias wurde vorige Nacht in den frühen Morgenstunden in einem Bordell aufgefunden, vollgepumpt mit Kokain. Er wurde notfallmäßig ins Krankenhaus gebracht. Vor Ort wurde behauptet, dass er dieses Etablissement des Öfteren aufgesucht habe, was ich allerdings noch nicht bereit bin zu glauben. Vermutlich hatte er eine Überdosis. Die Ärzte wissen nicht, wie lange er im Koma liegen wird und ob er überhaupt je wieder daraus aufwacht. Den Kindern und deinen Eltern habe ich gesagt, dass er bei einem Kundenessen zusammengebrochen ist und die Ärzte nicht genau wissen, woran er leidet. Wenn irgendjemand erfährt, dass sich der bekannteste und reichste Juwelier in Davos in seiner Freizeit mit Kokain und Prostituierten ablenkt, ist das unser aller Ende.« Sie hielt kurz inne, um ihre Worte in Olivers Bewusstsein vordringen zu lassen. »Ich weiß nicht, inwieweit du noch über die Geschicke des Familienunternehmens informiert bist …?«, erkundigte sie sich und musterte ihren Schwager.

Dieser zuckte mit den Schultern. »Gar nicht, ich lebe seit rund zwanzig Jahren am anderen Ende der Welt. Meine Familie und alles, was mit ihr zusammenhängt, sind bloß noch vage Erinnerungen im Nebel meines Gehirns.«

Viktoria nippte an ihrem Whiskey und fuhr fort: »Das Geschäft meines Mannes ist ein Traditionshaus, das, wie du weißt, schon seit Generationen von eurer Familie geführt wird. Es steht für Seriosität, Kompetenz und Zuverlässigkeit. Tobias’ Kundschaft besteht mittlerweile mehrheitlich aus internationaler Prominenz. Sollte einer dieser auf Geheimhaltung und Diskretion bedachten Herrschaften erfahren, dass der Juwelier seines Vertrauens Kokain schnupft und danach im Drogennebel das Bett einer Liebesdienerin teilt … wird er sich mit Fug und Recht einen anderen Schmuckhändler suchen. Mein Mann wäre für sie ein unkalkulierbares Risiko. Was, wenn er, während er dem Sittenverfall frönt, einer – möglicherweise kriminellen – Liebesdame erzählt, was Angelina Jolie gerade gekauft hat und wie viel der Schmuck wert ist?«

Oliver lehnte sich in seinem Sessel zurück, nahm einen kräftigen Schluck von seinem Drink und lachte – unpassenderweise, wie Viktoria fand. »Er frönt dem Sittenverfall«, wiederholte er spöttisch und strich sich mit belustigt blitzenden Augen über den Bart. »Herrlich. Du siehst irgendwie süß aus, wenn du einen auf Moralapostel machst.«

»Wenn es dir recht ist, lache ich später. Die Lage ist todernst. Ich vermute, dass eine Verschwörung hinter der ganzen Angelegenheit steckt. Irgendjemand hat Tobias reingelegt und will nun sein Geschäft und das Ansehen unserer Familie ruinieren!«, erwiderte sie spitz und ärgerte sich über seine unangemessene Reaktion.

»Entschuldige, Viki. Das war daneben. Was soll ich sagen: Das ist übel«, entgegnete er erschreckend teilnahmslos und machte die Situation durch diese Bemerkung keinen Deut besser.

Viki … das war unerhört. Ihr blieben bei so viel Dreistigkeit die Worte im Hals stecken.

»Na ja, bringt ja jetzt nichts, das Geschehene zu bejammern. Was gedenkst du nun zu tun?« Zum wiederholten Mal strich er sich auf diese machohafte Art durch die Haare.

Viktoria spürte, wie sie langsam die Beherrschung verlor. Dieser Typ machte sie noch komplett irre! »Das habe ich doch eben beim Abendessen erklärt! Hast du nicht zugehört? Ah, natürlich nicht, du kannst ja nichts ernst nehmen, für dich ist alles easy!« Das letzte Wort spie sie ihm förmlich entgegen und biss sich danach beschämt auf die Lippen. Dann brach sie in Tränen aus. Sie wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Es blieb ihr nicht einmal mehr Zeit, den Raum zu verlassen. Na wunderbar. Nun flennte sie hier vor diesem mittellosen Hippie wie ein kleines Mädchen los. »Entschuldige, aber … ich bin überfordert. Wenn ich zu wenig schlafe, dann bin ich immer so schrecklich traurig … dann muss ich weinen … dann ist mein Nervenkostüm so hauchdünn … dass … dass …« Der Rest, den sie noch sagen wollte, wurde von einem nervösen Schluckauf übertönt. »Auch … das … noch … das … passiert … immer …«

Oliver nahm ihr das Whiskey-Glas aus der zitternden Hand. »Ich weiß, Kleines, das passiert dir immer dann, wenn du zu wenig geschlafen hast und aufgewühlt bist. Und du hast ja im Augenblick auch ganz schön viel zu verkraften. Schon okay. Lass nur«, versuchte er, sie zu beruhigen, und strich ihr eine Träne von der Wange. Sie hätte ihm für das »Kleines« liebend gern die Augen ausgekratzt, und dass er sie im Gesicht berührte, widersprach auch jeglichen Formen bekannter Höflichkeit, aber … im Gegensatz zu dem, was Viktoria von ihrem Mann kannte, waren Olivers Worte ungewohnt einfühlsam. Tobias sagte in so einer Situation stets so etwas wie: »Himmelherrgott, Viktoria, reiß dich zusammen! Ich hasse es, wenn ich zu Hause bin und du heulst. Das stört meinen Feierabend. Nimm dir ein Glas Wein und geh ins Bett.«

»Ich schenke mir jetzt noch einen Whiskey ein und lege mich schlafen.« Viktoria schniefte und sah sich nach der Flasche um, da Sebastian nicht mehr da war.

»Das halte ich für keine gute Idee. Du musst dich morgen um das Juweliergeschäft kümmern«, mahnte Oliver.

Sie blickte ihn verdutzt an. Es kam ihr vor, als hätten sich die Rollen kurzzeitig vertauscht.

Als er ihren Blick bemerkte, verschwand der Ausdruck von Besorgnis sofort wieder von seinen Gesichtszügen, und er brummte: »Mach, was du willst, aber halte mich da raus. Ich habe schon genug eigene Probleme, wie du weißt. Gute Nacht.« Dann erhob er sich und verließ den Wohnraum.

Viktoria schaute ihrem Schwager sprachlos hinterher. Nun wusste sie definitiv nicht mehr, was sie von ihm halten sollte. Einerseits hatte sie noch nie so etwas Ungehobeltes in ihrem Haus beherbergt, andererseits … hatte sie ihre Kinder schon lange nicht mehr beim Abendessen lachen gehört.

Kapitel 2

Anfang Mai 2015, DonnerstagOliver

Als Oliver am nächsten Morgen im Esszimmer erschien, wurde er bereits von Sebastian Wagner erwartet. Dieser musste gehört haben, wie er die Treppe heruntergekommen war. Um diese Zeit – der Wanduhr im Flur zufolge war es schon kurz nach zehn Uhr – war nicht davon auszugehen, dass der Butler neben dem Frühstückstisch auf ihn gewartet hatte.

»Jetlag«, erklärte Oliver sein spätes Erscheinen. Die Wahrheit war jedoch, dass er selten früher aufstand. Seine Strandbar in Sihanoukville öffnete gar nicht vorher. Genau genommen hatte sie flexible Öffnungszeiten.

Seit Oliver mit siebzehn Jahren die Schweiz für immer verlassen hatte, hatte er auch die hier vorherrschende Lebensweise hinter sich gelassen. Er trug seither keine Armbanduhr mehr. Sein Tagesablauf richtete sich von da an nach seinem Biorhythmus und dem Stand der Sonne am Himmel.

In Kambodscha herrschten einfach andere Gesetze als in der Schweiz. Oliver hatte sie schätzen und lieben gelernt. Innerlich verfluchte er sich daher für seine eigene Dummheit. Er wollte gar nicht daran denken, dass es seine Schuld war, dass er nun hier in diesem versnobten Alpenkurort um Almosen betteln musste. Ausgerechnet bei Tobias.

Dass sein egoistischer und kaltblütiger Bruder so eine bornierte Oberschichtstussi geheiratet hatte, hätte er sich allerdings denken können. Das passte wie Arsch auf Eimer. Er hatte viel über Viktoria nachgedacht … letzte Nacht. Sie ging ihm mit ihrem perfektionistischen, sterilen Auftreten unglaublich auf die Nerven. Andererseits: Die Art und Weise, wie ihre Stupsnase zuckte, wenn sie sich ärgerte, war irgendwie süß. Er musste unmerklich schmunzeln.

»Herr Zellweger?«

Oliver fuhr aus seiner Versunkenheit hoch und starrte Sebastian erschrocken an. »Ja?«

Der Butler räusperte sich verlegen, ignorierte Olivers Unbehagen jedoch höflich. »Ich hatte Sie bereits zweimal gefragt, ob Sie gern einen Kaffee möchten.«

Oliver fühlte sich ertappt. Es war sonst nicht seine Art, in Grübeleien zu versinken. Das musste wirklich am Jetlag liegen. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin wohl noch nicht ganz wach. Gern, ja, mit Milch und Zucker. Genug Zucker, bitte.« Als Sebastian mit einer Kanne Kaffee erschien und Oliver eine Tasse des dampfenden Gebräus einschenkte, fragte er: »Kommen Viktoria und die Kinder am Mittag nach Hause?«

»Normalerweise wäre das so. Da Frau Zellweger sich jetzt aber den ganzen Tag in Davos im Juweliergeschäft aufhält, werden die Kinder mittags abgeholt und essen zusammen mit ihrer Mutter in Davos. Frau Zellweger hat Ursula jedoch damit beauftragt, Ihnen auf Wunsch einen Lunch zuzubereiten. Wann immer Ihnen zeitlich danach ist …«, fügte er noch an.

Oliver musste schmunzeln. Er mochte den kauzigen Butler. »Sagen Sie, Herr Wagner, wie kommt es eigentlich, dass Sie in Ihrem Alter noch in den Dienst meines Bruders getreten sind? Ich meine, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber mehr als zehn bis fünfzehn Jahre können Sie ja noch nicht für ihn arbeiten. Länger sind er und das garstige Wei… Viktoria … wohl gar noch nicht verheiratet. Oder?«

Sebastian verschränkte die Arme hinter dem Rücken und trat einen Schritt vom Tisch weg. Vermutlich, damit Oliver seinen Kaffee in Ruhe trinken konnte. »Meine ehemaligen Dienstherren waren recht betagt und verstarben, und ihre Erben fanden keinen Gefallen an meinen Diensten. Sie waren der Meinung, dass ein Butler antiquiert sei. Ich erachte es daher als großes Glück, dass Ihr Bruder und seine werte Ehefrau nach jemandem mit meinen Qualifikationen gesucht haben. Ich wäre sonst arbeitslos geworden. Ich liebe meinen Beruf, müssen Sie wissen.« Ein glückliches Lächeln huschte über seine sonst beherrschten Gesichtszüge.

Oliver musterte den Mann neugierig. »Ich kenne Tobias. Er war nie besonders einfühlsam im Umgang mit Bediensteten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das in der Zwischenzeit geändert hat.« Er dachte an die haarsträubende Geschichte, die Viktoria ihm am vergangenen Abend erzählt hatte. Im Gegensatz zu ihr glaubte er nicht daran, dass es sich bei den Vorkommnissen um eine Verschwörung handelte. Vielmehr erkannte er darin die ureigene Handschrift seines Bruders. Oliver presste die Kiefer aufeinander und spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Er atmete bewusst langsam aus und blickte Sebastian an. Dieser schuldete ihm immer noch eine Antwort, schien jedoch aus einem bestimmten Grund zu zögern.

»Es steht mir nicht zu, ein Urteil über meine Arbeitgeber zu fällen. Das wäre sehr anmaßend. Frau Zellweger war stets gütig zu mir.« Mit diesen Worten verbeugte er sich und verließ den Raum.

Oliver starrte ihm mit offenem Mund hinterher.

Frau Zellweger war stets gütig zu mir.

Damit bestätigte sich seine Annahme in Bezug auf Tobias.

Es erstaunte ihn jedoch maßlos, dass Sebastian Viktoria, die wie Cleopatra durch die Hallen ihres Palastes schritt, »gütig« nannte. Oliver persönlich wusste nicht, was er von ihr halten sollte.

Nach dem Frühstück stand er auf und brachte den schmutzigen Teller in die Küche. Ursula bedachte ihn mit einem entsetzten Blick und nahm ihm das Geschirr hastig ab. Oliver zuckte nur mit den Schultern. Er war es nun mal nicht (mehr) gewohnt, bedient zu werden, und es erschien ihm außerdem dekadent.

Unschlüssig lief er im Flur auf und ab. Vermutlich erwartete nun jeder im Haus von ihm, dass er seinen Bruder im Krankenhaus besuchte. Das wäre sicherlich normal gewesen. In Anbetracht der Dinge, die zwischen ihnen vorgefallen waren, konnte er sich jedoch nicht dazu durchringen.

Ein verwegener Plan formte sich daher in seinem Kopf. Sogleich verwarf er ihn wieder. Ausgeschlossen. Wobei …

Sebastian war gerade dabei, die Rattan-Sitzlounge unter der Pergola im Garten von Tautropfen zu befreien und schön zu drapieren. Das erschien Oliver reichlich sinnlos, da Viktoria und die Kinder ja sowieso erst abends zurück sein würden. Ursula war im Kellergeschoss verschwunden – in der Waschküche, dem Stapel an Handtüchern und Bettbezügen nach zu urteilen, den sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Sicher würde sie mit der Menge an Bügelwäsche eine Weile beschäftigt sein.

Oliver glaubte wie auch die Khmer, die Bevölkerung Kambodschas, an Karma. An ein Gesetz von Ursache und Wirkung. Er war der festen Überzeugung, dass alles seinen guten Grund hatte. Abgesehen von seiner Reise zurück in die Schweiz natürlich. Die hätte man seinem Empfinden nach restlos streichen können.

Er sah sich noch ein letztes Mal im Haus um und horchte auf irgendwelche verräterischen Geräusche. Schließlich nahm er die Treppe ins erste Obergeschoss und schlich auf leisen Sohlen über den Parkettboden. Er öffnete zahlreiche Türen und spähte hinein, bis er im hinteren Teil des Gebäudes endlich fand, wonach er suchte. Viktorias und Tobias’ Gemächer.

Sein Kleidervorrat neigte sich dem Ende zu. Die meisten seiner Habseligkeiten waren bei dem Brand in der Strandbar ebenfalls vernichtet worden. Er hätte Sebastian natürlich auch höflich um Hilfe bei seinem Anliegen bitten können … wollte er aber nicht.

Vorsichtig trat er ein und schloss die Tür lautlos hinter sich. Einige Sekunden lang lauschte er seinem erhöhten Puls und dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Als der Adrenalin-Schub nachließ, lächelte er. Viktoria würde ihm den Kopf abreißen, könnte sie ihn jetzt sehen. Dieser Gedanke löste in Oliver eine seltsame Mischung aus Schadenfreude und Aufregung aus. Er räusperte sich, als wollte er sich selbst zum nächsten Schritt ermuntern. Was seine Schwägerin jetzt gerade von ihm dachte oder ob sie überhaupt an ihn dachte, konnte ihm herzlich egal sein.

Er wandelte wie ein König durch das große Schlafzimmer und bewunderte die teure Einrichtung. Satinbezogene Sessel, flauschige, cremeweiße Teppiche, schwere Vorhänge, die mit Gold- und Silberfäden durchwirkt waren. Moderne, eckig geformte Möbel in schlichtem Weiß bildeten einen angenehmen Kontrast zu dem in verschiedenen Goldtönen gebrannten Holz, das den Großteil des Raumes ausmachte. So wie Oliver Viktoria kennengelernt hatte, hätte er sich für sie eher ein kubisches Haus mit sterilen Glasfronten und viel Kunststoff vorgestellt. Da er annahm, dass sie sich um das Optische ihres Zuhauses gekümmert hatte, erstaunte es ihn, dass sie »warme« Materialien wie Holz, Stoffe und Tierfelle gewählt hatte. Vielleicht war irgendwo unter all den garstigen und kühlen Schichten seiner Schwägerin ja eine heimliche Romantikerin? Geschmack besaß sie jedenfalls, das musste man ihr lassen.

Oliver schlenderte weiter zum Ankleidezimmer. Die eine Hälfte gehörte offenbar der Dame und die andere dem Herrn des Hauses. Tobias’ Seite war erwartungsgemäß eher langweilig. Zahlreiche Jacketts in verschiedenen Dunkeltönen. Nichts Schrilles, nichts Lebensfrohes, keine Ausnahmen. Dazu glänzende Lackschuhe, ein Modell kaum vom anderen zu unterscheiden. Einzig die Sportbekleidung bildete einen kleinen Kontrast in der Garderobe seines Bruders. Da Oliver ihn jedoch gut kannte, empfand er auch das nicht als Leichtigkeit, sondern eher als einen weiteren Ausdruck seiner Verbissenheit. Er war schon immer von Ehrgeiz und Geltungsdrang zerfressen gewesen. Sei das nun im schulischen Bereich oder im Sport. Oliver betrieb in seinem Leben von jeher eher eine Laissez-Faire-Politik, weshalb er auch nicht wirklich Chancen gegen seinen Bruder gehabt hatte. Erneut stiegen Bitterkeit und Wut in ihm auf. »Nie eine Chance gehabt«, echote es in seinem Kopf.

Schließlich blieb Oliver vor der Schrankfront seiner Schwägerin stehen. Er grinste amüsiert. Sie war ein typisches »Mädchen«, so viel stand fest. Pailletten, glitzernde Stoffe, Pink, schillernde Perlen, extravagante Schuhe, Schmuck, ein Taschen-Arsenal. Fehlte eigentlich nur noch der Chihuahua oder die in der Handtasche transportierte weiße Langhaarkatze. Selbst ihre Sportbekleidung sah aus wie Stücke aus einer Barbie-Kollektion. Es wunderte ihn, dass sie in ihrem Sortiment überhaupt so was wie Business-Kleidung führte, denn ebensolche hatte sie ja am vergangenen Abend bei ihrem ersten Aufeinandertreffen getragen. Stand ihr auch nicht schlecht, ließ sie aber noch strenger wirken, als sie ohnehin schon war.

Ein Regal zog Olivers Aufmerksamkeit auf sich. Die Unterwäsche. Seiner Meinung nach sagte sie viel über das Wesen einer Frau aus. War sie gepflegt, leidenschaftlich, verspielt, langweilig, farblos, altmodisch …?

Oliver riss anerkennend die Augen auf. Sein Blick schweifte über die locker platzierten Wäschestücke. Wenn es um das Darunter ging, folgte Viktoria wohl dem Regenbogen-Prinzip. Absolut jede Farbschattierung war in irgendeiner Form vertreten. Mit aufwendiger Spitze oder aus schlichter Baumwolle. Von sportlich bis …

Sein Blick blieb an einem schwarzen, durchsichtigen Etwas hängen, das über den Rand einer offen stehenden Schublade unterhalb des Regals hing. Vermutlich hatte Viktoria vergessen, es wegzulegen oder im Schrank zu verstauen. Das sollte wohl ein Body sein. Gedankenverloren beugte er sich nach vorne, musterte den seidigen Stoff und …

Jemand räusperte sich hinter ihm.

Oliver drehte sich um und wusste einen Moment lang nicht, ob er nun rot oder kreidebleich wurde. Jedenfalls hätte er einiges darum gegeben, wenn sich der Boden kurzzeitig vor ihm aufgetan hätte.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Herr Zellweger?« Sebastian bemühte sich um einen höflichen und neutralen Ton, das amüsierte Glitzern in seinen Augen und das gelegentliche Zucken seiner Mundwinkel verrieten ihn jedoch.

»Ähm … nein, danke, ich glaube, ich finde mich zurecht.« Etwas Besseres fiel Oliver auf die Schnelle nicht ein. Außerdem war die Situation, in der er sich gerade befand, so kompromittierend, dass jedes weitere Wort die Lage bloß noch schlimmer gemacht hätte.

Sebastian zeigte sich nachsichtig. »Falls Sie auf der Suche nach Kleidung sind, empfehle ich Ihnen das Mode- und Sportgeschäft, das fünf Gehminuten von hier entfernt ist. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie.«

»Das wäre sehr freundlich. Sie haben das vollkommen richtig eingeschätzt; ich war eigentlich auf der Suche nach Kleidung. Der Großteil meiner Habe ist mit der Strandbar verbrannt. Allerdings trifft das Sortiment meines Bruders nicht genau meinen Geschmack.«

Mit einem Blick auf Viktorias Wäsche meinte Sebastian: »Das Mode- und Sportgeschäft bietet auch Sommerkleidung an. Ich schätze, so etwas suchten Sie? Leicht und winddurchlässig für die warmen Tage?«

Nun brach Oliver trotz der peinlichen Situation in schallendes Gelächter aus. »Ich mag Sie, Sebastian, ich mag Sie wirklich!« Er klopfte dem Butler auf die Schulter. Verschwörerisch zwinkernd fügte er noch hinzu: »Ich kann auf Ihre Verschwiegenheit zählen?«

»Absolut, Herr Zellweger. Sie hatten ja keine diebischen Absichten. Das lässt sich aufgrund der Wahl des begutachteten Objektes klar ausschließen …«

Erneut legte Oliver den Kopf in den Nacken und lachte. »Ich wünschte, die Herrin des Hauses besäße Ihren Humor, Sebastian!«

Der Butler wurde plötzlich still und ernst. »Oh. Den besaß sie einst.«

Oliver runzelte verwundert die Stirn und hob fragend eine Augenbraue. Er wollte gerade nachhaken, wie Sebastian dies wohl gemeint haben könnte, als der sich auf dem Absatz umdrehte und Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen. Oliver nahm dies als Zeichen, den Angestellten nicht mehr mit Fragen zu bedrängen. Er hatte schon bemerkt, dass Sebastian nicht gern über seine Herrschaften sprach, was ja an und für sich ein sympathischer Zug war. Diskretion war eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein Bediensteter vorweisen musste. Dennoch kreisten Olivers Gedanken nun immerzu um Herrn Wagners Worte. Bestimmt gab es rund um Tobias viele schmutzige Geheimnisse, die Sebastian aus Beflissenheit und Loyalität unerwähnt ließ. Am meisten interessierte sich Oliver jedoch für die Aussage über Viktoria. Wenn der Butler über seine Dienstherren sprach, äußerte er sich ausschließlich positiv über sie. Eine humorvolle und lebensfrohe Viktoria konnte sich Oliver beim besten Willen nicht vorstellen. Er hatte allerdings auch nicht im Traum daran gedacht, dass sie derart ansprechende Unterwäsche trug. Oliver schüttelte lächelnd den Kopf. Was machte er sich eigentlich für wirre Gedanken? Das war die Frau seines Bruders, die Mutter seines Neffen und seiner Nichte, er brauchte sich nicht um ihre Gewohnheiten zu kümmern.

Selbstverständlich verlangte Sebastian nicht von ihm, das nahe gelegene Sport- und Modegeschäft tatsächlich zu besuchen. Den Rest des Tages verbrachte Oliver damit, die riesige Gartenanlage rund um das Anwesen in Augenschein zu nehmen. Er bewunderte den akribisch getrimmten Rasen, die zu perfekten geometrischen Mustern arrangierten Blumen und die zurechtgestutzten Sträucher sowie den zehn Quadratmeter großen Schwimmteich. Die kostspielige Mischung aus Biotop, Swimmingpool und architektonischem Meisterwerk faszinierte ihn.

Als er alles genauestens inspiziert hatte und ihn erneut Langeweile übermannte, machte er es sich mit einem Buch aus der Hausbibliothek in der Rattan-Lounge unter der Pergola bequem. Die Temperaturen waren um diese Tageszeit angenehm mild. Er lauschte dem sachten Wispern der Blätter im Wind und ließ sich vom Gezwitscher der Vögel verzaubern. Die Geräusche in diesem Teil der Welt waren so anders als in Sihanoukville. Sie waren Oliver fremd geworden. Ihm fehlten das Rauschen der Wellen, das Zirpen der Grillen und das Schreien exotischer Vögel. Die Sprache der Khmer löste in ihm auch stets ein Gefühl von Heimat aus. Mehr, als es irgendein Schweizer Dialekt je vermocht hatte. Oliver seufzte wehmütig, als er einen Schatten in den Augenwinkeln wahrnahm. Erstaunt drehte er sich um; er hatte den Jungen gar nicht kommen gehört.

»Hallo, Onkel Oliver.« Valentin blieb scheu in einigen Metern Entfernung stehen.

»Hast du schon Schulschluss?« Oliver klappte das Buch zu und klopfte auf das Polster neben sich. »Komm her, Großer, setz dich zu mir!«

»Ich sollte meine Hausaufgaben machen, sonst ist Mama sauer, wenn sie von der Arbeit kommt.«

Oliver setzte eine ernste Miene auf und beugte sich zu ihm. »Was steht denn an? Wollen wir die Hausaufgaben zusammen machen? Vielleicht kann ich dir ja helfen?« Er unterstrich seine Worte mit einem aufmunternden Lächeln.

Valentin kramte in seinem Schulranzen nach einem Heft.