Der Geschmack von Kaktusfeigen - Susanne Aernecke - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Geschmack von Kaktusfeigen E-Book

Susanne Aernecke

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Miriam ist seit 20 Jahren Regieassistentin und hat immer weniger Lust, sich von durchgeknallten Filmdiven das Leben schwer machen zu lassen und beschließt ihren Job hinzuschmeißen. Ein Film über die Insel La Palma, wo sie während eines Urlaubs vor 18 Jahren die große Liebe ihres Lebens traf und zurückließ, weckt eine Sehnsucht in ihr, der sie folgen möchte. Dort trifft sie jenen Carlos wieder und muss sich eingestehen, dass ihr Sohn Vincent ihm ähnlicher ist als seinem angeblichen Vater.. Nach dem Tod ihrer Großmutter fällt ihr ein handgeschriebenes Rezeptbuch in die Hände, in das sie einst sämtliche, ausgefallene Marmeladenrezepte aufgeschrieben hatte. Das war es, was sie auf La Palma machen wollte!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 386

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kurzbeschreibung

Miriam ist seit 20 Jahren Regieassistentin und hat immer weniger Lust, sich von durchgeknallten Filmdiven das Leben schwer machen zu lassen und beschließt ihren Job hinzuschmeißen. Ein Film über die Insel La Palma, wo sie während eines Urlaubs vor 18 Jahren die große Liebe ihres Lebens traf und zurückließ, weckt eine Sehnsucht in ihr, der sie folgen möchte. Dort trifft sie jenen Carlos wieder und muss sich eingestehen, dass ihr Sohn Joshua ihm ähnlicher ist als seinem angeblichen Vater.. Nach dem Tod ihrer Großmutter fällt ihr ein handgeschriebenes Rezeptbuch in die Hände, in das sie einst sämtliche, ausgefallene Marmeladenrezepte aufgeschrieben hatte. Das war es, was sie auf La Palma machen wollte!

Susanne Aernecke

Der Geschmack von Kaktusfeigen

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2021 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2021 by Susanne Aernecke

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Arrowsmith Agency

Covergestaltung: Designomicon, München.

Lektorat: Tatjana Weichel

Korrektorat: Jennifer Eilitz

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-400-4

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

 

 

 

 

... und es kam der Tag, da das Risiko, in der Knospe zu verharren schmerzhafter wurde als das Risiko, zu blühen …

Anais Nin

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Epilog

1. Kapitel

„Ton ab!“

„Ton läuft …“

„Kamera!“

„Läuft.“

„Und bitte …“

Die Klappe wurde geschlagen und Miriam schaltete auf Vollkonzentration, so wie immer, wenn diese Worte erklangen. Stimmte der Anschluss zur vorherigen Szene? Trug der Schauspieler seine Uhr am richtigen Handgelenk? Saß die Frisur der Protagonistin, und vor allem, sprachen die Pappnasen auch den im Drehbuch vorgegebenen Text?

„Du bist es. Ich habe mein Leben lang auf dich gewartet“, säuselte Jörg Fleming, altgedienter Serienschauspieler, der seit zwanzig Jahren 30-Jährige spielte.

„Ist das wahr?“, hauchte die blonde Jungschauspielerin zurück.

„Nichts könnte mich davon abhalten, den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen.“

Miriam checkte kurz den Dialog im Drehbuch. Er war tatsächlich so schlecht. Der Drehbuchautor musste entweder jemand sein, der seine Rente mit diesem Schrott aufbesserte oder er hatte echt keine Ahnung. Sie jedenfalls glaubte nicht mehr daran, den Rest ihres Lebens mit irgendjemandem zu verbringen. Ihre Beziehungen hielten meist nur ein paar Monate. Und das war oft schon anstrengend genug gewesen. Restliches Leben bedeutete in ihrem Fall ... na ja, noch mindestens 30 Jahre. Und ihre gute Freundin Sarah, die schon lange verheiratet war, hatte ihr kürzlich erst bestätigt, die ersten 20 seien die schwierigsten, danach würde es leichter.

Fleming setzte zum Kuss an.

„Aus. Aus. Aus!“, schrie der Regisseur. „Seid ihr jetzt alle völlig durchgeknallt? Das ist eine Liebeskomödie und kein Vampirfilm! Du siehst aus, als würde er dir gleich die Kehle durchbeißen“, herrschte er die Schauspielerin an, die er extra wegen ihrer großen, ängstlichen Rehaugen engagiert hatte.

Miriam seufzte tief. Sie ahnte, was jetzt gleich kommen würde. Sie arbeitete schon ein gefühltes Jahrhundert als Regieassistentin und hatte während dieser Zeit einiges mitgemacht. Vor allem mit diesem Regisseur. Markus Ellinger war nicht nur eine ihrer Kurzbeziehungen, sondern auch der Vater ihres inzwischen 18 Jahre alten Sohnes Vincent. Und wenn einer seine Wutausbrüche und deren Wirkung auf andere kannte, dann war sie es.

Prompt brach die Kleine auch in Tränen aus, was Susi, der Maskenbildnerin, die neben Miriam stand, einen tiefen Seufzer entlockte. Sie zückte ihre Puderquaste, um das sich ankündigende Desaster möglichst früh zu stoppen. Doch keine Chance. Die Tränen kullerten die Wangen hinunter und hinterließen ihre Spuren auf dem geschminkten Puppengesicht. Die Kleine schluchzte filmreif auf und verließ mit einem beleidigten Blick zu Markus das Set. Er hingegen nickte Miriam auffordernd zu. Sie wusste, was das bedeutete. Was soll’s, dachte sie. Sie hatte schon so oft hinter ihm aufgeräumt, dass es auf dieses eine Mal auch nicht mehr ankam. Aber trotz all dem fühlte sie plötzlich eine tiefe Abneigung, der Schauspielerin hinterherzulaufen.

Der Aufnahmeleiter, ein junger Typ, der sich seine Sporen verdienen wollte, klatschte in die Hände. „So, können wir dann mal wieder? Wir hängen schon mit drei Szenen hinterher.“

Miriam wollte sich zusammenreißen, wie schon so oft – oder besser gesagt, eigentlich wie immer. Aber plötzlich fühlte sie sich wie gelähmt, unfähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Zudem hatte sie das Gefühl, dass das Mittagessen – Spinat Cannelloni, die nicht einmal schlecht geschmeckt hatten – ihren Weg nach oben suchten. Ihr war grottenschlecht. Was war nur los? Sie hatte so etwas schon mindestens hundertmal durchexerziert. Mit eitlen Schauspielern, alternden Diven und Neulingen. Sogar Kameraleute schaffte Markus zu vergraulen, und selbst die hatte sie heldenhaft zurückgeholt. Zumindest die meisten. Der Fall hier war ja schon fast lachhaft.

„Miriam, was ist los?“, schallte Markus’ Stimme zu ihr rüber. „Ich will drehen. Wir sind hier schließlich nicht im Wartezimmer eines Zahnklempners.“

Sie hasste es inzwischen, wie er sich immer in Vergleichen ausdrückte. „Hol sie doch selbst zurück“, rutschte es ihr völlig unüberlegt heraus. „Schließlich ist sie deinetwegen weggerannt.“

Markus starrte sie fassungslos an. Und nicht nur er. Das ganze Filmteam schien zur Salzsäule erstarrt.

Miriam richtete sich auf, ihr war klar, was gleich über sie hereinbrechen würde. Meist begann es mit einer kleinen Rötung am Hals. Doch als sie ihn jetzt anblickte, musste sie feststellen, dass bereits sein ganzes Gesicht rot angelaufen war.

„Nimm das sofort zurück! Und beweg deinen fetten Arsch“, schrie er sie an.

Die Cannelloni stiegen höher. Wenn sie Markus nicht vor die Füße kotzen wollte, musste sie schleunigst das Set verlassen. Aber vielleicht war das gar keine schlechte Idee. Ihr Körper drückte aus, was sie schon lange fühlte. Es kotzte sie alles an. Alles! Wie mit ihr umgegangen wurde, wie alle ihre eigenen Befindlichkeiten rücksichtslos über andere ausschütteten. Dass man einander nicht half, wenn jemand Schwäche zeigte, sondern auch noch in der Wunde herumbohrte. Es reichte ihr. Komplett! Auch wenn diese kleine Szene nicht rechtfertigte, was sie jetzt tun würde, so hatte sie doch das Fass zum Überlaufen gebracht.

Miriam klappte ihr Drehbuch zu und warf es Markus mit einem lauten Knall vor die Füße. Dann drehte sie sich um, lief in das zum Maskenraum umgestaltete Badezimmer, schnappte sich ihren Mantel und verließ ohne einen weiteren Ton die feudale Altbauwohnung, in der gedreht wurde. Ihr Herz klopfte, Schweiß stand auf ihrer Stirn und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Doch sie setzte tapfer einen Schritt vor den anderen. Als sie den Aufzug betrat, stieß sie unsanft mit einem der Produktionsfahrer zusammen.

„Schon fertig für heute?“, fragte der erstaunt.

„Nicht nur für heute“, gab sie zurück und war froh, dass sich die Aufzugtür unmittelbar schloss und sie keine weitere Erklärung abgeben musste. Der Moment des Alleinseins ließ sie langsam wieder zu Bewusstsein kommen. Hatte sie das gerade wirklich getan? Das war doch nicht sie!

Ihr ganzer Körper begann zu zittern. Beinahe so wie früher, als sie noch mit Markus zusammen war und seine Wutanfälle fast täglich erleben durfte.

Erst als sie durch das edle Foyer des Jugendstilhauses nach draußen ging und ihr der kalte Februarwind um die Nase wehte, wurde sie ruhiger. Und nachdem sie in ihrem Auto saß, an dem erfreulicherweise einmal kein Strafzettel hing, überkam sie sogar ein Gefühl der Euphorie. Es war richtig gewesen. Sie hatte schon lange keine Lust mehr, sich zum Affen machen zu lassen. Das war nicht das Leben, das sie führen wollte.

An der ersten roten Ampel holte sie den USB-Stick mit Helene-Fischer- Schlagern, den sie im Handschuhfach versteckte, um Peinlichkeiten gegenüber Nicht-Fans zu vermeiden, steckte ihn in die Buchse ihres Radios und sang, als die ersten Töne erklungen, lauthals mit.

Wahrscheinlich würde man sie nach ihrem Aufstand heute fristlos kündigen oder zumindest nur noch so lange weiterbeschäftigen, bis man einen Ersatz gefunden hatte. Aber nicht mal das würde sie mitmachen. Auf sie wartete ein anderes Leben.

Da es früher Nachmittag war, und sie nicht wegen ständiger Überstunden erst kurz vor Mitternacht nach Hause kam, fand Miriam einen Parkplatz direkt vor der Eingangstür des Mehrfamilienhauses, in dem sie wohnte. Während sie die Treppen in den vierten Stock hinaufstieg, ließ ihre Euphorie langsam nach. Sie ging in die Küche, machte sich eine Tasse frischen Espresso und blickte über die regennassen Dächer Münchens. Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. Das monotone Ticken der Küchenuhr und das Tropfen auf das blecherne Außenfensterbrett trugen dazu bei, dass ihre Stimmung immer mehr in den Keller rutschte. Sie fühlte sich plötzlich fürchterlich allein.

Was sollte sie denn den lieben langen Tag tun, wenn sie jetzt wirklich alles hinschmiss? Und dann stand auch noch der Winter bevor, mit den vielen grauen Tagen, die nie einfach für sie waren. Und vor allem, von was sollte sie leben? Hartz 4? Hatte sie doch einen Fehler gemacht? Sollte sie sich entschuldigen und reumütig zurückkehren? Markus war schon so oft ausgerastet, da würde man ihr das eine Mal sicher verzeihen.

Das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür kündigte an, dass Vincent von der Schule nach Hause kam. Sie hörte, wie er seinen Rucksack auf dem Boden abstellte und rief ihm ein Hallo entgegen. Kurz darauf erschien er mit fragendem Blick in der Küchentür.

„Was machst du denn um diese Uhrzeit hier?“ Er verkniff sich einen Hustenanfall, während er geräuschvoll das Fenster öffnete. Miriam drückte schnell die Zigarette aus. Sie hatte schon so oft versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, dann aber letztendlich nie die Kurve gekriegt.

„Da muss ja etwas ganz Spektakuläres passiert sein“, stellte ihr Sohn trocken fest.

„Kann man so sagen.“

Er sah sie neugierig an.

„Ich hab’s hingeschmissen. Hab Markus vor dem ganzen Team das Drehbuch vor die Füße geworfen.“

„Na, endlich“, erwiderte Vincent fade. „Das war doch längst fällig, Ma.“

Wie schon so oft war Miriam von ihrem Sohn erstaunt, der für seine jungen Jahre oft mehr Durchblick bewies als sie selbst.

„Der abgespackte Egoshooter! Sorry, auch wenn er mein Vater ist, aber das hat er verdient. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass du irgendwann mal nach Hause gekommen bist und mir von einem Traum-Drehtag vorgeschwärmt hast, außer ...“, er grinste sie verschmitzt an, „... als dieser C-Schauspieler aus Hollywood einen Zwei-Sekunden-Gastauftritt bei euch hatte.“

Miriam warf ihre Zigarettenschachtel nach ihm. Natürlich war es damals ein großer Moment gewesen, dass Chris Anderson für zwei Stunden am Set aufgetaucht war und sie dann noch für den Abend an die Hotelbar des Vier Jahreszeiten eingeladen hatte. Allerdings war schon nach dem zweitem Glas Champagner klar, dass es ihm weniger darum ging, ihr Kontakte in Hollywood zu verschaffen. Und da sie sich eindeutig zu schade für eine schnelle Nummer war, endete der Abend früher als gedacht. So erging es ihr meistens mit Männern aus der Branche. Einerseits war sie froh, dass sie für ihre 40 noch recht knackig aussah, andererseits hasste sie es, wenn man sie mit karrierewütigen, zu allem bereiten Schauspielerinnen verwechselte.

„Aber was jetzt?“ Sie sah ihren Sohn etwas ratlos an.

„Ich mach uns erst mal was zu essen. Kommt Zeit, kommt Rat.“

Miriam seufzte tief. Der Spruch hätte von ihrer Großmutter kommen können. Kein Wunder! Vincent hatte, als er klein war, viel Zeit mit ihr verbracht. Omi war allerdings inzwischen 91 und lebte in einer Senioren- Residenz am Tegernsee. Mindestens einmal im Monat fuhr Miriam nach Bad Wiessee, um sie dort zu besuchen. Omi hatte selbst jetzt noch immer ein Ohr für die beiden. Ganz anders als Markus’ Eltern, die nie wirklich etwas von ihrem Enkel wissen wollten. Nur zum Geburtstag und zu Weihnachten, und auch nur, weil sich das so gehörte. Dass ihr wunderbarer, hochtalentierter Sohn Markus sich mit einer Frau wie ihr eingelassen hatte, war ihnen bis heute ein Dorn im Auge.

Miriam lehnte sich zurück und sah Vincent zu, wie er den Salat wusch, ein paar Krevetten aus dem Eisfach holte und sie in kaltes Wasser zum Auftauen legte. Er kochte für sein Leben gern und überraschte seine Mutter immer wieder mit neuen Kreationen. In ein paar Wochen würde er 18 sein und sein Abitur in der Tasche haben – und dann seinen eigenen Weg gehen. Leider. Schnell vertrieb sie diesen Gedanken wieder. Er trug nicht gerade dazu bei, ihre jetzige Situation in einem helleren Licht zu sehen.

„Ich mach uns nur eine Kleinigkeit. Du bist doch heute zum Abendessen verabredet.“

Ach du Schreck! „Das muss ich sofort absagen“, erwiderte sie. Das fehlte gerade noch. Zwar hatte sie darauf bestanden, ihre neueste Bekanntschaft bei Paarship möglichst schnell persönlich kennenzulernen, aber heute passte ihr das überhaupt nicht. Sie verzog das Gesicht.

„Du gehst da hin“, sagte Vincent bestimmt. „Das bringt dich auf andere Gedanken, Ma. Oder willst du hier den ganzen Abend rumhängen und vielleicht noch darüber nachgrübeln, Markus morgen wieder die Füße zu lecken?“

Miriam sah ihn überrascht an. Vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht sollte alles so kommen, und sie traf heute den Mann, der mit ihr ein anderes Leben leben würde. Das alte jedenfalls ging zu Ende, und heute hatte sie endlich den Schlusspunkt gesetzt.

2. Kapitel

Sie erkannte ihn sofort. Das Foto war nicht geschönt. Der Typ sah auch im wirklichen Leben verdammt gut aus. Wenn auch schon etwas angegraut, aber die Figur war top und der Blick strahlend. Sollte dieser Scheißtag doch noch ein gutes Ende nehmen? Für Vincent war es völlig normal, sich per Internet zu verabreden. Für sie hatte es noch immer den Beigeschmack von „Die kriegt sonst keinen mehr ab“, obwohl auch viele ihrer Freundinnen und Kolleginnen paarshippten oder tinderten. Ihre beste Freundin Lucie chattete oft ganze Abende lang mit mehreren Typen gleichzeitig, nicht um sie zu treffen, nur um sie heiß zu machen. Miriam sah darin eher Zeitvergeudung, aber wie sonst, fand man heute sein Glück?

Sie hatten sich in einem kleinen, italienischen Kellerlokal mit weißen Tischdecken, Stoffservietten und Kerzenleuchtern verabredet. Ralf, so zumindest sein Profilname, küsste ihr galant die Hand, half ihr aus dem Mantel, rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich ihr charmant lächelnd gegenüber. Kein schlechter Anfang. So etwas war heute rar gesät. Der Mann hatte Geschmack. Er trug einen teuren Anzug von Boss mit passendem Hemd und seidenem Einstecktuch. Mit ihrem Einverständnis bestellte er für sie beide Spaghetti Vongole als Vorspeise und anschließend einen Wolfsbarsch in Salzkruste. Dann begann er von sich zu erzählen –und zwar ohne Punkt und Komma: Er war Architekt und arbeitete mit am Wiederaufbau des Stadtschlosses in Berlin, dem zukünftigen Humboldt Forum. Sein Vater war bereits ein berühmter Architekt gewesen, und er trat nun in seine Fußstapfen.

Miriam, die keine Chance bekam, ihn zu unterbrechen, machte auf angemessen beeindruckt. Schnell war ihr klar, dass sie mal wieder auf einen Selbstdarsteller erster Rangordnung getroffen war. Sie schien diese Exemplare anzuziehen wie das Licht die Motten. Der Typ war ein Schwätzer, wie er im Buche stand. Mit dem Berliner Stadtschloss hatte er sich eine Art Dauerstellung für die nächsten zehn Jahre verschafft und musste sich nicht mal mehr um andere Aufträge kümmern.

„Oft fühlt man sich ja als Sohn nicht gerade angehalten, dem Weg des Vaters zu folgen, aber in meinem Fall war es die richtige Entscheidung“, nahm er sich weiter wichtig. „Mein Vater hat mir früh das Geschäft hinterlassen, aber mich bis heute auf dezente Weise beraten. Das habe ich ihm immer hoch angerechnet.“

Ah, und einen Berater mit offensichtlich lokalpolitischem Einfluss hatte er noch gratis dazu. Tolle Leistung, dachte Miriam. Eigentlich kein Grund, mit so stolz geschwellter Brust herumzulaufen.

„Haben denn deine Eltern auch schon mit Film zu tun gehabt?“, fragte er und erinnerte sich offensichtlich daran, dass zu einem Gespräch eigentlich zwei gehörten.

Miriam schüttelte den Kopf. „Nein. Außerdem sind sie schon früh gestorben.“

„Das tut mir leid.“

„Schon ok.“ Aber eigentlich war es natürlich nicht ok. Immer wieder, wenn sie hörte, wie Eltern ihre Kinder bei ihrer Berufsfindung unterstützten, wurde sie traurig. Und immer wieder musste sie sich in solchen Momenten zusammenreißen, damit man es ihr nicht anmerkte.

Zum Glück kam gerade der Kellner mit einer silbernen Platte, auf der ein Prachtexemplar von einem Fisch lag, begann ihn zu filetieren und auf zwei Teller zu verteilen. Sie sahen ihm stumm dabei zu und machten sich dann beide gleichzeitig über ihre Speisen her.

Es schmeckte köstlich. Miriam war fast versöhnt und dachte sogar darüber nach, ob sie sein narzisstisches Getue nicht einfach ignorieren sollte. Immerhin sah er gut aus, wusste sich zu benehmen und schien etwas von gutem Wein und gutem Essen zu verstehen. Das war, wenn sie sich die allgemeine Marktlage ansah, schon einiges. Doch was er ihr dann eröffnete, ließ sie schleunigst den inneren Rückwärtsgang einlegen.

„Also, Miriam, ich will ehrlich sein. Ich bin verheiratet, und ich liebe meine Frau, aber sie schläft nicht mehr mit mir. Na ja, und da suche ich mir eben auf diesem Weg das, was ich zu Hause nicht bekomme. Was denkst du? Könntest du dir vorstellen, mit mir …?“

Miriam versuchte einen aufsteigenden Heul-Lach-Anfall zu unterdrücken, legte Gabel und Fischmesser auf den Tellerrand und atmete tief durch. Das passte ja zu diesem Tag. Und nein, eigentlich konnte sie sich das nicht vorstellen. Aber da der Mann immerhin ehrlich war, ließ sie sich weder Entrüstung noch Enttäuschung anmerken. Doch ehrlich sein wollte sie nun auch. Sie sah ihm direkt in die Augen.

„Ich hatte eher an etwas Festes gedacht. An jemanden, mit dem ich abends in Löffelchenstellung einschlafen kann. Mit dem ich mich an einem regnerischen Tag auf die Couch kuscheln und bei Sonnenschein Abenteuer erleben kann. Mit dem ich durch dick und dünn gehe und der mir, wenn ich krank bin, eine kräftige Suppe kocht.“ Ja, das wünschte sie sich wirklich, auch wenn sie es bisher nie so klar ausgesprochen hatte.

„Das hat sich aber in deinem Profil anders angehört.“

„Schon möglich“, erwiderte Miriam, „aber heute ist wohl mein Erkenntnistag.“

„Tja, dann bin ich wohl der Falsche“, sagte Ralf mit leicht gepresster Stimme.

Miriam nickte nur, denn sie wollte es sich nicht ganz verderben. Schließlich stand das Dessert noch aus.

„Du kannst es dir ja noch mal überlegen. Vielleicht bist du ja gerade auf einem ganz falschen Trip. Was will denn eine so unabhängige Frau wie du mit einer festen Beziehung? Was glaubst du, was da auf dich zukommt? Beziehungen schleifen sich so schnell ab wie billige Schuhsohlen. Und dann heißt es ständig Rücksicht nehmen und ewig Verständnis haben. Das kann auf Dauer recht anstrengend werden. Glaub mir, ich bin seit 15 Jahren verheiratet.“

„Aber nicht treu.“

„Treue ist letztlich auch keine Lösung“, gab er grinsend zurück.

Miriam sah sich nicht in der Position, ihm zu widersprechen. Vielleicht hatte er ja recht mit dem, was er zuvor gesagt hatte, und sie war längst beziehungsunfähig. Vielleicht war die große Liebe in diesem Leben einfach nicht für sie vorgesehen. Zumindest sah es bis dato danach aus.

Als sie gegen elf nach Hause kam, saß Vincent, statt wie gewohnt vor seinem Computer, im Wohnzimmer vor dem Fernseher.

„Warst du nicht auch mal auf La Palma?“, rief er Miriam zu, die im Flur ihren Mantel aufhängte. Sie musste unwillkürlich lächeln.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie erstaunt und betrat das Wohnzimmer.

„Da läuft gerade eine Doku über die Kanaren. Du hast doch früher immer so geschwärmt von dieser Insel.“

Miriam ließ sich neben ihren Sohn auf die Couch fallen und öffnete erleichtert ihren Hosenknopf.

Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu. „Und, wie war’s?“

„Nett.“

„Nett ist die kleine Schwester von scheiße.“

„Na, dann brauche ich es ja nicht weiter ausführen“, erwiderte sie. Irgendwie hatte sie auch keine Lust über den Abend zu reden, zumal die Bilder, die über den Bildschirm flimmerten, sie sofort gefangen nahmen: Schwarze Strände, bizarre Felsformationen, saftig grüne Bananenplantagen, so weit das Auge reichte. Dann Obstbäume, die sich unter der Last ihrer Früchte bogen. Orangen und Zitronen, Avocados, Mangos, Papayas. Und Kakteen und natürlich unzählige Palmen, die der Insel ihren Namen verliehen haben.

Früher hatte Miriam immer mal wieder an jene Zeit gedacht, die sie mit Anfang zwanzig dort verbracht hatte, aber dann verblasste die Erinnerung langsam, bis jene Zeit nur noch eine Ferienreise von vielen war. Plötzlich zuckte sie jedoch zusammen. Der dunkelhaarige Mann, der gerade interviewt wurde und von der Arbeit auf den Bananenplantagen erzählte, zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sie. Er war es nicht, aber er sah ihm verdammt ähnlich. Jemandem, der ihr einmal sehr nahestand: Carlos. Ein richtiger Platanero, wie die Bananenbauern auf La Palma genannt werden.

Von einem Moment auf den anderen war er wieder in ihrem System. Sie hatte mit ihm die leidenschaftlichsten und zugleich romantischsten vier Wochen ihres Lebens verbracht. Er war damals für sie der Mann aller Männer. Miriam schloss die Augen und genoss das warme und zugleich prickelnde Gefühl, das ihren ganzen Körper erfasste. Völlig unerwartet liefen Tränen ihre Wangen herunter, was sie allerdings erst bemerkte, als Vincent sie darauf aufmerksam machte.

„Alles in Ordnung, Ma?“

Schnell wischte sie sich mit dem Ärmel die Augen trocken.

„Du weinst doch nicht etwa wegen dem vermasselten Date?“

„Nein.“ Sie lächelte ihren Sohn an. „Deswegen nicht.“

Was war heute nur mit ihr los? War Merkur rückläufig? Wüteten gerade irgendwelche Sonnenstürme oder gab es einen Mondknoten, der ihr ihre Emotionen so vollständig aus der Hand nahm? Sie hatte sich eigentlich immer ganz gut unter Kontrolle, das brachte schon ihr Beruf mit sich. Aber heute schien alles aus dem Ruder zu laufen. Zuerst die Szene am Morgen, dann das mit dem Paarship-Typ und jetzt noch die Erinnerung an eine Urlaubsliebe, die lange her war und sie trotzdem noch derart aus der Fassung brachte.

Miriam musste in die Küche fliehen und bei offenem Fenster eine rauchen. Es war eine sternenklare Nacht und, als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich daran, wie sie mit Carlos am Strand Sternschnuppen gezählt, wie sie den Sonnenaufgang miteinander erlebt und nach wunderbaren Liebesstunden ein morgendliches Bad im kühlen Atlantik genommen hatten. Ihr Blick fiel auf die große Topfpflanze, die in der Ecke stand. Ein kanarischer Drachenbaum. Er hatte alle Umzüge überlebt. Als Carlos ihn ihr damals geschenkt hatte, war er gerade mal 20 Zentimeter hoch. Jetzt überragte er sie bereits und brauchte alle zwei Jahre einen größeren Topf, weil die Wurzeln den alten sprengten.

Noch einmal stiegen die Bilder aus dem Film vor ihrem inneren Auge hoch und vermischten sich mit Carlos’ strahlenden Augen, mit seinem frechen Lachen, dem Gefühl, in seinen Armen zu liegen und dem Geruch von Strand, Meer und Sonne. Alles war plötzlich wieder gegenwärtig, als wäre sie erst gestern von diesem Urlaub zurückgekehrt. Auch die Gefühle, vor allem auch die Schuldgefühle, waren wieder da. Sie hatte ihm versprochen, zurückzukommen – und es nie getan. Zuerst hatten sie noch hin und wieder telefoniert, dann war ihr das Handy gestohlen worden und sie verloren den Kontakt. Markus hatte sie inzwischen wieder an der Angel und wollte sie sogar als Regieassistentin einarbeiten. Und Miriam träumte damals noch von einem Glamourleben: Blitzlichtgewitter, roter Teppich in Cannes und vielleicht selbst mal irgendwann Regie führen. Doch nichts war aus all dem geworden. Sie war inzwischen zwar eine der besten Regieassistentinnen und konnte, wenn sie wollte, das ganze Jahr lang arbeiten, aber eben immer nur in der zweiten Reihe. Niemand traute ihr mehr zu oder hatte ihr irgendwann mal eine Chance gegeben. Doch vielleicht lag es auch an ihr. Vielleicht war sie einfach nicht ehrgeizig genug. Es fehlte ihr an Durchsetzungskraft oder sie war einfach nur einer Illusion hinterhergejagt. Lag darin der Grund, dass sie immer tiefer in die Sackgasse der Unzufriedenheit geraten war?

Miriam konnte lange keinen Schlaf finden. Befand sie sich auf einem völlig falschen Lebensweg? Die Gedanken wirbelten nur so durcheinander. Und immer wieder tauchte er auf. Carlos. Wie wäre wohl ihr Leben verlaufen, wenn sie damals zurückgekehrt und bei ihm geblieben wäre? Ob sie sich dann auch mit vierzig so ausgebrannt gefühlt hätte? Wie es ihm wohl ging? Ob er verheiratet war, Kinder hatte? Ja, bestimmt! Er war ein Familienmensch. Letztlich genauso wie sie selbst.

Und dann drängte sich ein Gedanke nach vorne und wurde immer dringlicher und ließ sich nicht mehr beiseiteschieben. Warum flog sie nicht einfach für ein paar Wochen nach La Palma? Nicht wegen Carlos. Natürlich nicht. Aber diese Insel war schon einmal ein Scheideweg in ihrem Leben gewesen, und galt es nicht, im Augenblick wieder eine Entscheidung zu treffen? Nämlich die, was sie mit ihrer zweiten Lebenshälfte anfangen sollte.

La Palma war genau der richtige Ort dafür. Zumal dort um diese Jahreszeit traumhaft schönes Wetter war. Sie würde Wanderungen in den Vulkankrater unternehmen und sich auf dem Roque de los Muchachos auf 2400 m Höhe vom Wind den Kopf frei pusten lassen. Von dort hatte man diesen wunderbar freien Rundblick auf die anderen Kanarischen Inseln, Teneriffa, La Gomera und El Hiero. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie sie auf dem Mirador, dem höchsten Aussichtspunkt der Insel, gestanden hatte. Hand in Hand mit Carlos.

3. Kapitel

Am nächsten Morgen wachte sie wie gewohnt um sechs Uhr auf, auch ohne, dass der Wecker läutete, und ihr Entschluss stand fest. Daran änderte sich auch nichts, als sie ihr Handy eingeschaltet und die vielen WhatsApps der Teammitglieder gelesen hatte. Markus war auch dabei. Die Nachrichten reichten von „Sei bitte nicht kindisch“ über „Komm zurück, wir brauchen dich“ bis „Du kannst uns doch nicht einfach im Stich lassen, Miriam, ich flehe dich an!“

Ein kurzer Anflug von Schadenfreude versöhnte sie etwas. Die Produktion konnte wohl so schnell keinen Ersatz aus der Tasche zaubern. Doch das war ihr trotz allem Pflichtbewusstsein, das ihrem Jungfrau-Aszendenten alle Ehre machte, diesmal egal.

Miriam schaltete das Handy aus, um nicht erreichbar zu sein. Sie wollte sich nicht rechtfertigen und auch nicht diskutieren. Für sie war die Sache gegessen – oder „der Kas bissen“, wie man in München sagte.

Als ihr Sohn gegen halb acht aus dem Bad kam, saß sie bereits bei einer Tasse Tee in der Küche vor ihren Laptop und hatte für den nächsten Tag einen Flug nach Santa Cruz, der Hauptstadt von La Palma, gebucht.

Vincent war zwar überrascht, aber er versuchte es ihr weder auszureden noch stellte er Fragen, die sie sowieso nicht hätte beantworten können. Zumindest nicht so, dass ein aufgeweckter 18-Jähriger damit klarkam.

Und vielleicht war er auch mal ganz froh, dass seine durchgeknallte Mutter für 14 Tage die Biege machte und er die Wohnung für sich hatte.

Jetzt fehlte ihr nur noch eine Unterkunft. Aber auch die war übers Netz schnell gefunden. Eine gewisse Isiris bot bei Airbnb einen kleinen Bungalow in Meeresnähe zu einem erträglichen Preis an. Auch wenn es auf den Fotos für ihren Geschmack etwas sehr esoterisch aussah, buchte Miriam sie, ohne weiter darüber nachzudenken. Für zwei Wochen würde sie es schon mit ein paar Buddhas, orangenen Tüchern und Traumfängern vor den Fenstern aushalten. Und die Räucherstäbchen brauchte sie schließlich nicht anzuzünden.

Sie hatte gerade per Kreditkarte bezahlt und wollte ihren Laptop zuklappen, als es an der Tür klingelte.

Vor der Tür stand mit versteinertem Gesichtsausdruck Markus. „Warum gehst du nicht ans Telefon? Was soll dieses kindische Verhalten, Miriam?“

„Oh, der Regisseur höchstpersönlich.“ Sie grinste ihn an und überhörte bewusst seine Beleidigung. „Musst du nicht am Drehort sein?“

„Ja, müsste ich. Und du auch. Komm, pack deine Sachen zusammen. Ich stehe im Halteverbot.“

Miriam schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht mehr zurück. Akzeptiere das bitte.“

Sie merkte genau, wie Markus versuchte, ruhig zu bleiben. Er sah an ihr vorbei in die Wohnung. „Ist Vincent schon weg?“

„Ja. Er geht jeden Morgen zur Schule, falls dir das entgangen sein sollte.“

„Und was sagt er zu deinem Verhalten?“

„Dass ich es schon längst hätte tun sollen.“

Markus schluckte. „Aber doch nicht während einer laufenden Produktion.“

„Es tut mir leid, dass ich dich nicht vorher informiert habe, aber mir war selbst nicht bewusst, dass ich die Schnauze so voll habe – auch wenn es mir mein Körper schon lange sagt.“

„Ach ja, die vielen chronischen Wehwehchen“, spöttelte er. „Wo tut es denn diesmal weh? Im Kopf? Im Rücken? Oder mal wieder im Magen?“

„Ich denke, die anderen warten am Drehort auf dich, Markus“, ging sie gar nicht darauf ein. „Soweit ich den Drehplan noch in Erinnerung habe, geht es um neun los.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Das wäre in zehn Minuten.“

Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Tür direkt vor seiner Nase und ging leicht zitternd zurück in die Küche. Er schaffte es noch immer, sie innerlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch diesmal hatte sie sich nicht wieder einwickeln lassen. Es war die richtige Entscheidung, sich zu verabschieden. Auch wenn ihr dadurch in Zukunft so einige Türen verschlossen bleiben würden. Markus würde natürlich in der ganzen Branche publik machen, wie unprofessionell sie sich verhalten hatte. Aber wenn schon. Sie flog morgen in die Sonne, auf die Insel, auf der sie die schönste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Und alles andere war im Augenblick nicht wichtig.

Nachdem sie ihren Kleiderschrank nach Sommerklamotten inspiziert hatte und nicht wirklich fündig wurde, beschloss sie, den Tag für ein ausgiebiges Shopping zu nutzen. Sie hatte die letzten Sommer durchgearbeitet, weshalb kurze dünne Fähnchen mit Spaghettiträgern und passenden Sandaletten nicht zu ihrem täglichen Outfit gehörten. Und wann sie zum letzten Mal ihren Bikini angehabt hatte, daran konnte sie sich schon überhaupt nicht mehr erinnern.

Miriam fuhr mit der Straßenbahn zum Stachus und gab sich dem ungewohnten Gefühl hin, einfach mal so den Tag zu verbummeln, zumal sie ihr Handy ausgeschaltet ließ. Sie genoss die Münchner Fußgängerzone, erfreulicherweise bei strahlendem Sonnenschein, hörte Straßenmusikern zu, kaufte sich eine Tüte frisch gebrannter Mandeln und ließ sich von Geschäft zu Geschäft treiben, bis ihre Kreditkarte glühte und sie ihren Frust mit Schuhen, Kleidung und einer Handtasche erfolgreich verdrängt hatte. Und als sie später zu Hause anfing, ihren Rucksack zu packen, pfiff sie sogar leise vor sich hin. Eigentlich war es gar nicht so schwer, mal auf die Bremse zu treten und nicht immer weiter geradeaus zu fahren, nur weil da angeblich die Hauptstraße verlief. Irgendeine neue Beschäftigung würde sich schon finden lassen. Selbst wenn sie sich vorübergehend wegen Arbeitslosengeld anstellen müsste. Schließlich hatte sie jahrelang dafür eingezahlt. Warum nicht endlich mal davon profitieren?

Am Abend kochte Vincent ihre Lieblingsnudeln, und sie gerieten in ein intensives Gespräch über den Sinn des Lebens.

„Ich jedenfalls werde mich nicht diesem Wahnsinn unterwerfen, bis 67 auf die Rente hin zu arbeiten und kurz danach an Krebs oder einem Herzinfarkt das Zeitliche zu segnen. Dafür sind wir nicht auf dieser Welt, Ma.“

Auch wenn sie selbst bisher so gelebt hatte, musste Miriam ihm insgeheim zustimmen. So lief es bestimmt bei vielen. Aber andererseits, wer Arbeit hatte, konnte sich auch etwas leisten, ein teures Auto, eine schöne Wohnung. Und ein Kind großzuziehen, kostete schließlich auch etwas. Auch wenn Markus sich zumindest in diesem Punkt einigermaßen fair verhielt.

„Und wie stellst du dir dann deine Zukunft vor?“, fragte sie gespannt.

„Mit einer Arbeit, die mich erfüllt, aber die mich nicht stresst und dann krank macht.“

„Schon klar.“ Natürlich war das auf sie gemünzt.

„Und natürlich mit einer Partnerin, die ich liebe und für die ich mich zu hundert Prozent entscheide. Und die ich nicht verlasse und die mich nicht verlässt, wenn es mal schwierig wird.“

„Das klingt ja wie im Märchenwunderland. Ich wünsche dir wirklich alles Gute“, sagte Miriam mit leicht spöttischem Unterton. „Du wirst schon sehen.“

Sie fragte sich, von wem er diese positive und beherzte Einstellung hatte. Vielleicht von Omi? Oh je. Der hatte sie ja noch gar nicht Bescheid gesagt, dass sie nach La Palma fliegen würde. Sie zückte ihr Handy, schaltete es an und wählte die Nummer. Während sie darauf wartete, dass die alte Dame ans Telefon ging, räumte Vincent den Tisch ab.

„Hallo Omi, kannst du mich hören?“, rief sie nach gefühlten drei Minuten mit lauter Stimme in ihr Handy, wohl wissend, dass die alte Dame nicht mehr so fit auf den Ohren war.

„Ja, ja, Kind“, schallte es aus dem Lautsprecher, den Miriam inzwischen eingeschaltet hatte. „Ich habe heute auch schon an dich gedacht. Alles in Ordnung?“

„Kann man nicht unbedingt sagen, aber ich fliege für zwei Wochen nach La Palma.“

„Das ist doch wunderbar. Dort hat es dir doch so gut gefallen, dass du am liebsten dortgeblieben wärst. Hattest du dich nicht auch unsterblich verliebt ... wie hieß der Mann noch mal?“

Miriam schluckte. Dass ihre Großmutter sich daran noch erinnern konnte! Erstaunlich, wie gut das Langzeitgedächtnis bei älteren Menschen funktionierte.

„Wirst du ihn wiedersehen?“

„Das weiß ich nicht, Omi“, antwortete sie vorsichtig. „Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm.“

„Das musst du unbedingt, Kind. Ich habe dich nie wieder so positiv und liebevoll über einen Mann reden hören. Ich weiß bis heute nicht, warum du den hast sausen lassen.“

Miriam spürte, wie sie knallrot anlief und Vincent sie erstaunt ansah. „So kann man das nicht sagen, Omi. Es waren andere Umstände.“

„Die Umstände zählen nicht, Miri, sondern das Herz muss entscheiden. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich.“

„Wie meinst du das?“

„Ist nicht wichtig. Schreib dir einfach nur hinter die Ohren, was ich dir eben gesagt habe. Versprich mir, nach ihm Ausschau zu halten.“

„Ich verspreche es dir“, sagte Miriam leise.

„Gut. Dann hab eine schöne Zeit und grüß mir Vincent.“

„Er hört dich, Omi.“

„Dann ist ja gut. Buenas noches y buen viaje.“

„Hhm?“ Vincent sah sie verwundert an.

Miriam legte nachdenklich das Handy beiseite. „Das heißt: Gute Nacht und gute Reise.“

„Wieso spricht sie plötzlich spanisch?“

„Sie hat einmal in Südamerika gelebt ... vor langer Zeit.“

„Wusste ich gar nicht.“

„Sie hat nie gern über diese Zeit gesprochen, aber die Sprache sehr geliebt und mir als junges Mädchen auch so einiges beigebracht.“

„Viel ist davon ja nicht geblieben“, feixte Vincent. „Und über den Typ aus La Palma hast du auch nie etwas erzählt“, insistierte er weiter.

„Nicht so wichtig, ein Urlaubsflirt halt.“

„Das glaube ich nicht. Sonst hätte Omi nicht so reagiert. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Was heißt das?“ Er sah sie abwartend an.

„Keine Ahnung“, sagte Miriam und stand vom Tisch auf. „Ich geh jetzt ins Bett. Muss schließlich morgen ganz früh raus. Vielen Dank für das wunderbare Essen.“ Sie drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn und flüchtete aus der Küche. Nein, sie wollte nicht über Carlos reden. Es war sowieso ein komisches Gefühl, dass er nach so langer Zeit wieder in ihren Gedanken auftauchte.

4. Kapitel

Die Maschine startete pünktlich um 6 Uhr 50. Miriam war es gewohnt, früh aufzustehen. Sie hatte sogar eine S-Bahn früher als gedacht erwischt und konnte so noch ganz in Ruhe am Flughafen einen Kaffee trinken und ein Croissant essen. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die viel geschäftlich unterwegs waren, liebte sie es, zu fliegen. Es war oft die einzige Zeit gewesen, in der niemand sie anrufen konnte, um ihr etwas aufzutragen oder sie anzumeckern. Über den Wolken hatte sie immer ihre Ruhe gehabt und diese wenigen Stunden genossen.

Statt Anzugträger saßen heute gut situierte Rentner in Freizeitklamotten in der Maschine. Fast alle hatten ihre Wanderschuhe an, was nur vernünftig war, denn das erlaubte Gepäckstück durfte nicht mehr als zwanzig Kilo wiegen. Sie selbst war, genauso wie vor achtzehn Jahren, nur mit einem Rucksack unterwegs, der als Handgepäck durchging. Viel brauchte man bei den warmen Temperaturen sowieso nicht. Und was fehlte, konnte sie überall kaufen. La Palma war schließlich nicht das Ende der Welt, sondern wie ihr jetzt erst wieder bewusst wurde, eine sehr beliebte Ferieninsel. Was für ein Glück, dass sie noch ein Ticket ergattert hatte. Eigentlich war sie nicht der Typ für spontane Entscheidungen. Doch im Moment schien alles anders zu sein.

Als sie ihren Rucksack in die Gepäckablage wuchtete, wurde sie von einer Frau in ihrem Alter angesprochen, die sich als ihre Sitznachbarin herausstellte.

„Machen Sie Urlaub oder leben Sie auf der Insel?“

Miriam sah sie erstaunt an. „Ich mache Urlaub, und Sie?“

„Ich lebe dort schon lange. War die beste Entscheidung meines Lebens.“ Sie strahlte Miriam an. „Ich konnte den deutschen Winter einfach nicht mehr ertragen.“

Miriam nickte zustimmend. „Das kann ich gut verstehen.“ Sie rutschte in die Sitzreihe hinein und setzte sich auf ihren Platz am Fenster.

„Aber so alles hinter sich abzubrechen, dafür braucht man ganz schön Mut, oder?“, führte sie die Unterhaltung interessiert fort.

„Halb so schlimm. Ich bin übrigens Silvia.“

„Miriam. Und wie lange leben Sie schon auf La Palma?“

„Oh, lange.“ Sie lachte. „Hat die Insel dich erst mal im Griff, lässt sie dich nicht wieder los.“

„Und wie sieht es mit Geld verdienen aus? Schließlich kann man ja nicht nur von Luft und Liebe leben“, fragte sie direkt und wunderte sich mal wieder über sich selbst.

Silvia setzte sich ebenfalls und schnallte sich an. „Am Anfang schon. Ich hab eine Weile in einer Hippie-Kommune im Norden gelebt. Keiner von uns hatte einen Pfennig, aber irgendwie kamen wir über die Runden.“

Miriam sah sich Silvia genauer an. Sie trug ein dunkelblaues Wickelkleid, das ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachte, und wirkte sehr gepflegt, fast schon elegant.

„Und ich muss sagen, im Nachhinein war es die schönste Zeit meines Lebens. Doch man kommt in die Jahre. Irgendwie sind wir ja doch, zumindest unsere Generation noch, so erzogen worden, dass wir einer geregelten Arbeit nachgehen müssen, wenn wir ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft sein wollen.“ Sie grinste keck. „Eigentlich Blödsinn. Aber die Konditionierung ist da. Was machst du?“

„Ich bin Regieassistentin – oder besser gesagt, ich war es bis vorgestern“, fügte Miriam hinzu.

„Spannender Beruf, oder? Aber wie du das sagst, klingt es irgendwie nach keiner Lust mehr.“

„Kann man so sagen“, erwiderte Miriam trocken.

„Dann bist du auf La Palma goldrichtig. Wenn auch die Dinge nicht mehr so sind wie vor zwanzig Jahren, lässt es sich dort doch super angenehm leben.“

Schon merkwürdig, dass sie gerade neben dieser Frau gelandet war, die auf La Palma lebte und das offensichtlich nicht schlecht. Miriam war sonst nicht der Typ, der mit jedem gleich eine Unterhaltung anfing, aber Silvia schien echt in Ordnung zu sein.

„Hast du Familie?“

„Einen Sohn, er wird bald achtzehn.“

„Und der Vater hat sich aus dem Staub gemacht?“

„Nicht direkt, aber wir sind schon lange nicht mehr zusammen.“

„Das heißt, du hast den Bengel allein großgezogen?“

Miriam nickte.

„Dann würde ich sagen, jetzt bist du mal dran.“

Irgendwie schon, dachte Miriam. Aus der Perspektive hatte sie es noch gar nicht gesehen. Das Leben als alleinerziehende Mutter war ihr inzwischen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie es schon gar nicht mehr als Belastung sah. Früher war das anders gewesen, und während der Schwangerschaft hatte sie nur Panik geschoben und war überzeugt, niemals in der Lage zu sein, ein Kind großzuziehen. Umso stolzer war sie jetzt, dass Vincent sich so toll entwickelt hatte.

„Also wenn du jemanden zum Quatschen brauchst, kannst du gerne bei mir im Laden vorbeikommen.“ Sie holte ihre Handtasche unter dem Vordersitz hervor und gab Miriam ihre Visitenkarte. Silvia Taubner, Vulkanschmuck und mehr. Los Llanos, Calle Dr. Fleming 25.

„Danke. Ich komme gerne mal vorbei“, sagte Miriam und steckte die Karte in die Brusttasche ihrer Jeansjacke.

„Ich wünsche dir jedenfalls, dass du auf der Insel die Wahrheit über dich und dein Leben findest. Dass du das findest, nachdem du dich in deinem tiefsten Inneren sehnst.“

Miriam schluckte. Die Frau kannte sie doch so gut wie gar nicht. Dafür war sie ganz schön direkt.

„Keine Sorge, ich wollte dir nicht zu nahetreten, aber wir sind hier alle so drauf.“ Silvia hatte offensichtlich Miriams Gesichtsausdruck richtig interpretiert. „Wenn du länger abseits vom großen Getriebe lebst, hast du keine Lust mehr auf Small Talk.“

Gut zu wissen, dachte Miriam. Die Frau, bei der sie sich eingemietet hatte, würde bestimmt ähnlich sein. „Kennst du eine Isiris, die kleine Bungalows vermietet?“

Silvia grinste. „Na, klar. Die meisten, die so lange hier sind, kennen sich.“

„Und wie ist sie so?“

„Das musst du schon selbst herausfinden. Aber keine Sorge. Die klebt dir nicht auf der Pelle, wenn du das nicht willst.“ Silvia rückte sich ihr Nackenkissen zurecht, schloss die Augen und gab damit kund, dass die Unterhaltung für sie vorerst beendet war.

Sie waren inzwischen längst gestartet und Miriam machte es sich ebenfalls bequem, öffnete ihren Sicherheitsgurt und stellte die Rückenlehne nach hinten. Das gleichmäßige Brummen der Maschine entführte sie in die Zeit, in der sie zum ersten Mal in Richtung dieser Insel unterwegs gewesen war. Wie unerfahren, um nicht zu sagen, unschuldig sie damals doch war. Sie hatte eine kaufmännische Ausbildung in einem kleinen Kinderbuchverlag hinter sich gebracht und die Möglichkeit bekommen, dort weiterzuarbeiten.

Doch eine Freundin, die bei einer Filmproduktion arbeitete, hatte sie eines Abends mit zu einer Abschlussfeier genommen. Dort war es dann zu der schicksalhaften Begegnung mit Markus gekommen. Natürlich war sie voller Bewunderung für ihn gewesen. Er war zehn Jahre älter und hatte gerade den Bundesfilmpreis für seinen ersten abendfüllenden Kinospielfilm bekommen. Außerdem sah er nicht schlecht aus und verwendete genau das Aftershave, das sie damals an Männern am liebsten roch. Als er sie nach mehreren Gläsern Weißwein und einigen härteren Drinks abschleppte, war sie am nächsten Morgen sogar stolz darauf, in seinem Penthouse über den Dächern Schwabings aufzuwachen. Jetzt schämte sie sich beinahe, wenn sie daran dachte. Doch das waren Gott sei Dank „Tempi Passati“. Ihre Liaison dauerte kein Jahr, aber immerhin lang genug für sie, um in die Filmszene hineinzuschnuppern und den Traumberuf Regieassistentin zu erlernen.

Als sie Markus jedoch mehrfach mit irgendwelchen Jungschauspielerinnen erwischt hatte, hatte sie ihm damals nicht das Drehbuch, sondern die Beziehung vor die Füße geworfen und war wütend und verzweifelt nach La Palma geflogen, um sich ein paar Wochen Auszeit zu gönnen. Sie hatte den Tipp von einer Kollegin bekommen, und so wurde die Insel für sie zu einer Art Rettungsstation. Und Carlos ihr Retter.

Miriam musste eingeschlafen sein, denn die Stimme der Flugbegleiterin, die die Landung ankündigte, schreckte sie auf. Sie sah aus dem Fenster.

Die Wolkendecke war aufgerissen, und unter ihr ragte die bis zu den felsigen Gipfeln grün bewachsene Vulkaninsel geheimnisvoll aus dem glitzernden Meer. Was sie dort wohl erwarten würde? Eines war gewiss: Auf irgendeine Weise würde sie erkennen, in welche Richtung ihr Leben weiter verlaufen würde und sich vielleicht wieder näherkommen. Sie hatte sich irgendwie verloren, den Lebensplan verlegt. Vielleicht half ja der Abstand von allem, ihn wiederzufinden.

Die Anschnallzeichen blinkten auf, während die Maschine schnell tiefer ging. Miriam erinnert sich wieder, dass der Flughafen von Santa Cruz de La Palma als einer der schwierigsten der Welt galt. Sie merkte, wie ihre Hände feucht wurden und sich um die Armlehnen klammerten.

„Alles okay?“, fragte Sylvia.

Miriam nickte nur und konzentrierte sich darauf, tief ein- und auszuatmen.

„Kurze Landebahn und Fallwinde“, sagte Silvia beruhigend, während beide den Gurt umlegten. „Aber du kannst ganz entspannt sein. Sie nehmen für diese Flüge nur erfahrene Piloten.“

Als Kind hatte Miriam enorme Flugangst gehabt, diese aber inzwischen ganz gut überwunden. Trotzdem war sie erleichtert, als die Maschine mit einem heftigen Ruck aufsetzte und stark abbremste, so dass der Gurt ihren Bauch etwas einschnürte. Die Passagiere klatschten laut, was bei Silvia ein ironisches Grinsen hervorrief. Doch Miriam hätte am liebsten mitgeklatscht.

„Ich werde übrigens von meiner Freundin abgeholt. Wenn du willst, können wir dich bis Los Llanos mitnehmen. Von dort fährt alle halbe Stunde ein Bus nach Tazacorte“, bot Silvia ihr an, während sie am Gepäckband auf ihre Koffer warteten. Und da Miriam weder einen Wagen gemietet noch sich über die Busfahrzeiten informiert hatte, nahm sie das Angebot gerne an.

5. Kapitel

Der schon etwas betagte Fiat Panda ächzte, während er die steile und kurvenreiche Straße die Cumbre hinauffuhr, den gigantischen Gebirgszug, der die Ost- von der Westseite der Insel trennte. Miriam saß zwischen Koffer und Taschen eingeklemmt auf der Rückbank und sah konzentriert nach vorne, damit ihr nicht schlecht wurde. Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, dass schon damals die vielen Kurven und die gigantischen Höhenunterschiede ihr gehörig zugesetzt hatten.

Zu Anfang war sie alles andere als begeistert von dieser Insel gewesen. Dicke Wolkenfetzen zogen an den bis oben hin bewaldeten Bergformationen vorbei und ließen die Landschaft mystisch erscheinen. Sie sog den Geruch feuchter Erde ein, eine Wohltat im Gegensatz zur Feinstaub geschwängerten Münchner Luft. Nachdem sie einen längeren Tunnel passiert hatten, war es fast so, als würde sich eine andere Welt auftun: Strahlender Sonnenschein und ein blitzblauer Himmel, an dem sich keine Wolke zeigte.

Miriam hatte noch im Gedächtnis, dass die Cumbre eine Art Wetterscheide war. Die Wolken blieben dort hängen und bescherten der Westseite höhere Temperaturen und auch weniger Regen. Die Vegetation bestand hier in tieferen Lagen vor allem aus Sukkulenten, dicken fleischblättrigen Gewächsen und Kakteen, die selbst um diese Jahreszeit noch große, knallrote Früchte trugen. Die Tuneras, wie sie hier auf La Palma genannt wurden, wuchsen beinahe überall. Am Straßenrand, zwischen den Häusern. Fast jedes Fleckchen unbebauten Landes nahmen sie für sich in Anspruch.

Miriam erinnerte sich noch genau, wie ein alter Palmero ihr damals zum ersten Mal Kaktusfeigen angeboten hatte. Wie er mit Grasbüscheln die groben Stacheln abgekehrt, dann unter einem Wasserstrahl die feinen und anschließend die Frucht in der Mitte aufgeschnitten hatte, um ihr das rot gelbe Fruchtfleisch zu geben. Irgendwann hatte sie es dann selbst mal versucht und sich dabei viele kleine Stacheln eingefangen, die sie noch tagelang in der Hand gespürt hatte. Carlos hatte sie damals herzlich ausgelacht, als sie ihm davon erzählte. Schon wieder waren ihre Gedanken bei ihm.

„So, wir sind da. Und dort steht auch der Bus Richtung Tazacorte“, riss Silvia sie aus ihren Gedanken. Ohne dass sie es so richtig bemerkt hatte, waren sie am Busbahnhof von Los Llanos angekommen, der heimlichen Hauptstadt der Insel, ein kleines Städtchen mit 20 000 Einwohnern. Miriam bedankte sich herzlich bei den beiden Frauen, schulterte ihren Rucksack und stieg in den Bus.

Sie hatte Glück, denn kaum saß sie – sogar am Fenster – ging es auch schon los Richtung Küste. Das Blau des Himmels und des Meeres verschmolzen in einem Dunststreifen, sodass sie nicht sagen konnte, wo das eine ins andere überging.