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Die Novelle schildert in drei Teilen die letzte Lebensetappe eines Großstädters ohne familiäre Bindungen, dessen große Leidenschaft schon immer darin bestand, Glas zu säubern bzw. einfach nur so zu putzen, ohne dass eine diesbezügliche Notwendigkeit bestehen müsste. Der gelernte Glas- und Gebäudereiniger befindet sich seit vielen Jahren im Ruhestand. Außer seiner zunehmenden körperlichen Schwäche ereilen den Hochbetagten seit kurzem auch Todesängste, die er zu überwinden versucht, indem er etwas Bedeutsames hinterlassen möchte.
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Seitenzahl: 169
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Thomas Böcher
Der Glasputzer
Novelle
Impressum
Texte: © Copyright 2024 by Thomas Böcher, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Inhaltsverzeichnis
Teil 1: Vorbereitung7
Teil 2: Die fünf Sitzungen49
Teil 3: Leichtigkeit und Atemnot117
Er stand gebeugt da und hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest. Diese verfluchte Treppe. Als er damals, vor über dreißig Jahren, in dieses Haus gezogen war, hatte er sich diesbezüglich gar keine Gedanken gemacht, war nie auf die Idee gekommen, dass es einmal problematisch werden könnte, ohne Aufzug im dritten Stock zu wohnen. Nun verweilte er also und keuchte, rang nach Luft und mit sich selbst. In Ordnung, es sollte schon gehen, so wie immer nach einer gefühlten Ewigkeit, nach einer bewussten Pause. Heute hatte er zumindest insoweit Glück, dass ihn kein Nachbar nach seinem Befinden fragte, während er sich sammelte. Endlich setzte er sich wieder in Bewegung und schaffte die beiden verbliebenen Treppenabsätze ohne Unterbrechung, bis er vor der Tür zu seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung ohne Balkon stand, kramte kurz in der rechten Hosentasche nach dem Schlüssel, holte ihn hervor, schloss sich auf und betrat mit der Einkaufstasche das kühle Refugium in der Gewissheit, sich erst einmal kurz auf einen Küchenstuhl sinken zu lassen und die Augen zu schließen, bevor er die Lebensmittel auspacken würde.
Nach dem Mittagessen, das aus einer Konservensuppe bestand, schaltete er den großen Fernseher im Wohnzimmer an und schlief darüber im bequemen Sessel ein. Nicht lange, aber doch lange genug, um vor seinem inneren Auge zu sehen, wie er im Urwald in die Tiefe sprang, kopfüber von einem Felsvorsprung und dabei gesichert durch ein starkes langes elastisches Band, welches dafür sorgte, dass er nicht in das darunter befindliche Wasser eintauchte, sondern stattdessen nach oben schnellte. Und auf einmal war er wieder hellwach und blickte auf die Reisedokumentation auf dem Bildschirm. Schade, dachte er bei sich, dass nicht einmal seine langen Arme die Wasseroberfläche berührt hatten. Er empfand keinerlei Unbehagen bei dem Gedanken an diesen kurzen Tagtraum, schließlich hatte er mit der Höhe noch nie ein Problem gehabt. Das wäre auch schlimm gewesen, denn er hatte ein wenig mehr als 43 Jahre als Fensterputzer gearbeitet. Und dies eben oft in großer Höhe, was gar nicht gegangen wäre, wenn er nicht vollkommen schwindelfrei hätte zu Werke schreiten können. Ja, es gab sie noch, die Gesellschaft für Glas- und Gebäudereinigung, bei der er zuletzt beschäftigt gewesen war. Und auch wenn er als gelernter Gebäudereiniger natürlich vielfältig einsetzbar gewesen wäre, so wurde er dennoch – entsprechend seinem ausdrücklichen Wunsch – wann immer möglich zur Reinigung von Glasfassaden beordert. Er musste leicht wehmütig lächeln, als er so zurückdachte, erhob sich ein wenig scherfällig und ging wieder in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu kochen. Stark und heiß und schwarz, so und nicht anders.
Er war froh, heute nicht mehr raus zu müssen und wandte sich einem Buch zu, nichts Schweres, reine leichte Unterhaltung. Seine Augen waren freilich aufgrund ihrer 82 Lenze nicht mehr ohne Brille zum Lesen tauglich, und er benötigte auch sonst im Alltag eine Sehhilfe, womit er sich aber längst abgefunden und arrangiert hatte. Seine Gedanken verblieben nicht bei der Lektüre, sondern schweiften ab. Er dachte daran, dass es immer beschwerlicher wurde, die Einkäufe jeden Tag nach Hause zu schaffen. Doch das wollte er unbedingt beibehalten, denn das war doch das, was ihn körperlich einigermaßen forderte und fit hielt. Sich Lebensmittel liefern zu lassen wäre natürlich komfortabler und stressfreier, würde ihn indes dazu verleiten, gar nicht mehr seine vier Wände zu verlassen und nahezu vollkommen den Kontakt zur restlichen Außenwelt aufzugeben. In diesem Zusammenhang fiel ihm nun ein, dass er nicht einmal mehr wusste, wann er das letzte Mal bei einem Arzt aufgeschlagen war. Wahrscheinlich damals vor über zwei Jahren beim Hausarzt, der ihn unter anderem auch vermessen und informiert hatte, dass er nicht mehr 1,99 m sondern „nur“ noch 1,95 m lang war. Dabei war er immerhin so schlank wie eh und je. Und Laster hatte er auch nie gehabt, ok, ab und zu mal ein Gläschen Weißwein, das war aber schon alles. Doch die lange Lebensdauer war unerbittlich und hatte ihn inzwischen dazu verurteilt, nunmehr nach auch nur geringer Anstrengung nach Luft zu schnappen. Nein, zum Arzt würde er deshalb nicht gehen, was sollte der schon daran ändern können? Er verscheuchte die Erwägungen ob seiner Zukunft, die ihn seit einigen Monate immer häufiger heimsuchten, und las weiter.
Abends aß er stets leicht und maßvoll, meistens ein paar Scheiben belegtes Brot. Wie heute auch. Er spülte die Reste mit einem großen Schluck Leitungswasser und schluckte sie pflichtschuldig herunter. Wieder geschafft, er hatte an diesem Tag genügend zu sich genommen. Als er jung und stark war, da hatte er unglaubliche Mengen essen können. Gegenwärtig unvorstellbar sowie in keiner Weise angestrebt. Also, er räumte das Geschirr in die Spülmaschine, die damit auch ausreichend gefüllt war, sodass er sie einschaltete und im Anschluss gutgelaunt vor dem Fernseher neben dem hübschen Wohnzimmertisch aus Glas Platz nahm. Wahrlich, er besaß alles Wichtige. Allein die Geschirrspülmaschine, was war sie für eine Hilfe und Erleichterung. Oder der große Fernsehapparat: viel angenehmer als sein weit dickerer Röhrenvorgänger. Er konnte von seiner kleinen Rente leben und sich hin und wieder etwas leisten, was vor allem daran lag, dass die Miete so niedrig war. Er saß in aller Stille im Sessel und genoss den Moment. Sicher, er war allein und rund um die Uhr ausschließlich auf sich selbst gestellt, doch das war er gewöhnt, das war in seinem ganzen Leben der Fall gewesen. Interessant war, dass er sich nie sexuell zu einer Frau hingezogen gefühlt hatte. Und auch nicht zu einem Mann. Die Liebe, die kannte er zwar, jedoch eher in dem Sinne, dass er seine selbstverständlich längst verstorbene Mutter geliebt hatte. Mhm, interessant; oder auch egal! Er ergriff die Fernbedienung und begann seine gut drei Stunden währende Unterhaltungsberieselung, bevor er, mittlerweile ein wenig ermüdet, sich im Bad für die Nacht herrichtete. Danach im Bett erinnerte er sich daran, dass es nicht schaden könnte, erneut die Glasflächen der Wohnung zu reinigen, was er oft und gerne tat. Der ein oder andere würde sicherlich meinen, dass er übertreibe, dass das schon ein Spleen wäre. Doch so war es nun mal. Morgen. Und darüber schlief er ein, bis kurz vor halb 4. Aufstehen, Toilette, zurück und nochmals wegsinken.
Mehr als eine Woche später begegnete ihm im Treppenhaus während seiner Ausruhphase die mittelalte Frau aus dem 2. Stock, die mit ihrer etwas älteren Partnerin in der Wohnung direkt unter der seinen lebte. „Da sehe ich erneut die große Einkaufstasche. Wenn das für dich doch so anstrengend ist, jeden Tag einzukaufen, dann lass mich doch mal was für dich besorgen. Es macht mir wirklich keine Umstände, ich würde gerne helfen. Müsste ja nicht täglich sein, sondern eben dann und wann.“ Sie lächelte ihn freundlich an und wartete geduldig, bis er wieder richtig zu Atem kam und antworten konnte: „Das ist sehr aufmerksam von dir, dafür herzlichen Dank. Aber ich möchte so autonom bleiben wie nur irgend möglich. Für mich ist das Einkaufen eine Form von Kommunikation mit der Welt da draußen. Das kommt eben noch dazu, nicht nur die Bewegung, sondern auch die Eindrücke. Ich freue mich immer, wenn ich im Supermarkt sehe, was es so alles gibt, auch wenn ich dann doch meistens das gleiche wie sonst auch nehme.“ Er blickte sie an, das empfange Lächeln höflich erwidernd. „Na gut, wenn du deine Meinung ändern solltest, ich stehe parat.“ Sie verabschiedeten sich, und er erklomm die restlichen Stufen hoch zur Wohnung. Er schaute auf die Uhr, es war gerade mal 5 nach 10.
Selbstverständlich war er froh darüber, dass seine Nachbarin von unten ihm ein wenig zur Hand gehen wollte. Das zeigte doch, dass er zumindest nicht jedem vollkommen gleichgültig war. Doch ein derartiges Gefühl hatte er in diesem Haus auch nie gehabt. Mit fast allen Bewohnern hielt er irgendwann einen kleinen Schwatz. Und wenn nicht, dann grüßte man sich wenigstens. Ein solches Miteinander war in der großen Stadt nicht überall die Regel. Das war ihm bewusst, und deshalb war er auch dafür dankbar. Er hatte sich bereits ausgezogen und wollte gerade in die Dusche steigen, als es klingelte. Es war der Paketdienst, dem er mit schnell übergeworfenem Morgenmantel ein Päckchen für die dreiköpfige Familie im 4. Stock, genauer gesagt für den Vater, abnahm. So etwas kaum häufiger vor, und er nahm gerne für jemandem eine Sendung entgegen. Warum auch nicht, er war immerhin fast stets zu Hause und half bereitwillig, wenn es wie in diesen Angelegenheiten in seinen Möglichkeiten stand. Zwar waren die Kräfte im Laufe der Jahrzehnte geschwunden, aber eben nicht vollständig, noch war er nicht gänzlich nutzlos. Jetzt aber ins Bad. Eine warme Dusche am späten Vormittag oder auch mal abends, das empfand er als Luxus, wohlwissend, dass wahrlich nicht alle Menschen dieses Privileg hatten. Und um es auf die Spitze zu treiben sozusagen, ließ er sich auch ab und zu ein heißes und schaumiges Bad ein. Letzteres freilich nicht übertrieben oft, er hatte damals die Badewanne sofort eifrig zu einer Duschbadewanne umgerüstet. Aah, das tat wieder gut, dachte er so bei sich, als er sich nach den wunderbaren 10 Minuten flüssigen Schlafes abtrocknete. Wieder angezogen marschierte er in die Küche, wo er auslotete, was alles zum Mittagessen in Frage kam.
Wie so oft, auch an diesem Nachmittag war er wieder einmal im Fernsehsessel eingenickt und hatte über eine Stunde geschlafen. Weder besonders ruhig noch nennenswert unruhig, soweit er das überhaupt beurteilen konnte. Ein wenig matt und schlaftrunken zog er sich die Hausschlappen aus und massierte die für einen Mann seiner Körpergröße erstaunlich kleinen Füße. Nach einer Weile dann schlurfte er – lediglich auf den braunen Socken – in die Küche und wollte gerade zum Kaffeekochen ansetzen, als es an der Tür klingelte. Ergo raus, um die Ecke, den kleinen Flur durchschreiten und öffnen. „Ah, Sarah, du kommst bestimmt, um das Päckchen für deinen Vater abzuholen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und bückte sich, um jenes vom Boden in unmittelbarer Nähe zum Eingangsbereich aufzuheben. „So, da ist es auch schon.“ „Vielen Dank“, entgegnete die 17-Jährige. Mit ihr pflegte er des Öfteren ein bisschen zu plaudern. So auch heute: „Na, alles gut in der Schule?“ Sie bejahte und berichtete vom Unterricht. Dann meldete sich ihr Handy zu Wort. „Entschuldige bitte, ich gehe kurz ran.“ Und tatsächlich dauerte es kaum mehr als einen gefühlten Wimpernschlag, dass sie sich wieder an den Älteren richtete und mit der Erzählung fortfuhr. Schließlich: „Aber jetzt genug von mir, wie geht es dir denn so momentan?“ Ihr Gesicht verriet ehrliches Interesse, was ihm ungemein schmeichelte. „Ach, was soll ich sagen? Bei mir dreht sich fast alles um meine Routinen. In meinem Alter ergibt sich nicht mehr viel neues. Und der körperliche Verfall ist natürlich auch unaufhaltsam.“ Er lachte und hoffte, dass seine Antwort nicht allzu negativ rübergekommen war. Sarah jedoch, augenscheinlich alles andere als in Verlegenheit geraten, schüttelte den rechten Zeigefinger, währenddessen sie ihn gespielt streng ebenfalls mit Worten tadelte. Da musste er lachen. „Doch doch, ich hoffe für dich, dass du steinalt und dich an meine Klage erinnern wirst. Erst wenn man es am eigenen Leib erfahren hat, den unabwendbaren Prozess der Jahre hin zum Auschecken, erst dann kann man das so richtig beurteilen. Glaube ich jedenfalls.“ „Also wirklich, ein Auschecken erlaube ich dir noch lange nicht!“ Die beiden kannten sich, seit sie als kleines Mädchen mit ihren Eltern dort oben eingezogen war. Und es war ganz offensichtlich, dass sich im Laufe der Zeit zwischen ihnen eine sympathische und auf gegenseitigem Respekt beruhende freundschaftliche Beziehung entwickelt hatte. Und zwarohne daß das in irgendeiner Art befremdlich gewirkt hätte. „Also gut, ich muss mal an meine Hausaufgaben. Die machen sich nicht von alleine. Bis zum nächsten Mal.“ „Tschüss“, entglitt ihm knapp, und er steuerte wieder Richtung Küche, selig in guter Stimmung, und freute sich auf den nun anstehenden Kaffee. Jaja, die liebe Sarah, sprach er im Geiste.
In den letzten Monaten hatte er vermehrt an den Tod denken müssen, was ihm auch an diesem späten Abend ein paar Sorgen bereitete. Statt auf den flimmernden Bildschirm samt Ton zu achten, gestand er sich ein, dass er Angst hatte. In seinem ganzen Leben konnte er keine Zuflucht bei einer Religion finden und glaubte fest, dass dieses mit dem Auftauchen des Sensenmannes unwiederbringlich vorbei war, endete. Schlicht und einfach. Das war seine Ansicht, und die war wie gesagt nicht gerade neu. Doch der Unterschied lag in seiner Furcht, wenn er jetzt darüber nachsann. Und damit wollte er sich nicht einfach so abfinden, dagegen musste er etwas tun. Irgendwie war es unausgegoren, irgendwie war es, als wollte ihm eine Stimme die Lösung zuflüstern, doch schienen die alten Ohren nicht mehr ausreichend zu funktionieren. Er gähnte und schaltete den Apparat aus. Mal rasch in die Falle, vielleicht würde er da schlauer werden. Oder wenigstens etwas lockerer. Im Bad sah er in den Spiegel und verzog den Mund.
Er ließ den Transporter der Glaserei, die sich weiter hinten befand, erst geduldig die Einfahrt passieren. Sie fuhren weg, er kehrte vom Einkaufen heim. Es war ein schöner, nicht allzu frischer und heller Morgen, und er grinste verwegen, obwohl ihm natürlich die nahende, drohende Treppe zu schaffen machte. Im Vorfeld schon zu leiden, das war mit Sicherheit nicht klug, und dennoch genoss er es sogar in irgendeiner Weise, ohne dass er sich dafür den Grund hätte nennen können. Schließlich war keine Abweichung zu anderen Tagen feststellbar. Erst als er Sarah an der Haustür traf, wurde ihm klar, dass heute Samstag war. Keine Schule. Und bevor er etwas sagen konnte, strahlte ihn die Jüngere an und legte umgehend los: „Was für ein angenehmes Wetter. Und das soll auch das ganze Wochenende über schön und warm bleiben. Ok, warm ist es jetzt noch nicht, aber ist ja auch noch früh.“ Ihr Handy gab einen Muckser von sich; sie blickte nur kurz darauf und fuhr fort: „Ich sehe übrigens an deinem Gesicht, dass du dich mit der großen Einkaufstasche da anzustrengen scheinst. Und die blöden Stufen kommen erst noch. Wenigstens samstags könnte ich dir doch mal helfen. Ich meine, wenn ich nachmittags ohnehin einkaufen würde. Bitte keinen falschen Stolz.“ Er war verdattert und wollte eigentlich sofort wüst protestieren, aber er überlegte ein wenig länger und ließ sich mit der Antwort Zeit. Sarah stand nur da und wartete geduldig, wobei sie einen erneuten, längeren Blick auf ihr Handy riskierte. Nein, dachte er, das war gar keine so schlechte Idee. Vielleicht könnte man das nach ihrem Einkaufen mit einem ein bisschen ausführlicherem Plausch verbinden, worüber er sich sehr freuen würde. Klar, dass es ihr auch etwas dafür geben musste. Und wollte. „Lass uns da nächstes Mal nochmal drüber sprechen“, erklärte er ruhig, „ich wäre da nicht abgeneigt. Ob du es glaubst oder nicht. Allerdings nicht umsonst. Ich gebe dir etwas dafür. Das ist meine Bedingung.“ Sie grinste, nickte mit dem Kopf und verabschiedete sich. Obwohl ihm danach gewesen wäre, blickte er ihr nicht nach, sondern stur geradeaus in den Hauseingang. Die Tür hatte er mit der rechten Hand offen gehalten. Nun musste es sein, er ergriff die Tasche und seufzte. Die Treppe wartete.
Noch lange vor dem Mittagessen wurde er wieder einmal tätig, und zwar umfangreich. Er inspizierte zunächst die für einen durchschnittlichen Betrachter bereits sauber erscheinenden Flächen aus Glas. Er hatte stets (und er machte das noch immer, wenn auch nur noch in seinem kleinen eigenen Umfeld) für klare Sicht, für ungetrübten und ungestörten Durchblick gesorgt. Wenn man es sich nur mal recht bedachte, so gab es einiges aus seinem Lieblingsmaterial in der beschaulichen Wohnung: nicht lediglich die Fenster, sondern darüber hinaus vor den zahlreichen Bildern an den Wänden, der Wohnzimmertisch natürlich, im Spiegelschrank über der Spüle im Bad, teilweise in den Türen der Altbaueinheit … und das sollte keinesfalls einen Anspruch auf vollständige Aufzählung haben, wenn man denn ganz genau sein mochte. Er kam sich selbst nicht übertrieben zwanghaft vor, doch wenn er auch nur die winzigste Verschmutzung auf einer Glasfläche sichtete, dann behob er diese umgehend. Und er sah gut durch seine Brillengläser.
Beim Auslöffeln der Suppe dachte er an die freundliche Sarah. An ihre pechschwarzen langen und lockigen Haare. Einst waren die seinen genauso dunkel, inzwischen jedoch hatte er längst einen völlig grauen Haarschopf – immerhin noch einen vollen, den er mittellang trug. Im Übrigen hatte er auch noch nahezu alle natürlichen Zähne an Ort und Stelle, die ohne Schwierigkeiten zu machen brav ihren Dienst verrichteten. Was nun passiert war, geschah des Öfteren: Er dachte an irgendetwas oder an irgendjemanden, und schwupps, war er wieder bei der eigenen Person angelangt. Er war ein Meister darin, alles Mögliche auf sich selbst zu beziehen oder wenigstens mit sich in eine lose Verbindung zu setzen. Vielleicht war dem so, weil er – klammerte man seine Mutter einmal aus – sein ganzes Leben allein zugebracht hatte. Das musste einfach Spuren hinterlassen haben. Andererseits, alles würde dies oder jenes hinterlassen, und er war im Einklang mit seinem Schicksal. Bis auf, ja, bis auf die vermaledeite Angst vor dem Tod, die er in jüngster Vergangenheit empfand, mit der er irgendwie nicht so recht umzugehen wusste. Aber er flüchtete nicht vor sich selbst, sondern stellte sich diesen Gedanken und hoffte unbeirrt, von allein den Knoten lösen zu können. Und wenn er es auch noch nicht einsortieren konnte, so beschlich ihn das unbestimmte Gefühl, dass dabei die junge Nachbarin von oben eine Rolle spielen würde, eine unbestritten schöne Frau, wofür er jedoch rein gar keine Antenne zu haben schien. Nein, nicht nur anscheinend, er hatte tatsächlich keinerlei körperliche Sehnsüchte oder Phantasien, wenn er an Sarah dachte. Und dieses Desinteresse umschloss bekanntlich die komplette Welt, ob real da draußen oder im Internet, zu dem er zwar Zugang hatte, wovon er aber nur selten Gebrauch machte, ganz gewiss im Gegensatz zur Jugend von heute.
Ein Glas Weißwein am Nachmittag, das Glas selbstverständlich makellos und trotz Spülmaschine von Hand gesäubert. Und als er gerade leer in den Fernseher blickte (dieser war ebenfalls nicht eingeschaltet), da kam es ihm. Das war es, und es war nicht kompliziert, sondern scheinbar eine einfache Wahrheit: Er wollte etwas hinterlassen; diesen Punkt, diesen wichtigen hatte er sein ganzes Leben lang nicht beachtet, nicht berücksichtigen können, weil er ihm nicht einmal im Bewusstsein gewesen war. Und jetzt drängte doch gehörig die Zeit, in so hohem Alter und ohne nennenswerten Geldbetrag auf der Bank eine aber nicht so leichte Aufgabe, wie er sich nun, da er begann, intensiver darüber nachzudenken, eingestehen musste. Die erste Frage war, wem er etwas hinterlassen wollte. Logisch, da fiel ihm nur ein Name ein: Sarah! Die zweite Frage stellte ihn vor größere Sorgen: Was? Ja, was sollte er ihr hinterlassen? Das sollte im Mittelpunkt seines alten Sinnes stehen, das sollte der Schlüssel sein, um seine aufgebaute Angst vor dem Tod in den Griff zu bekommen. Genauer nun: die Angst, zu früh zu versterben, bevor er etwas hinterlassen haben würde, was nach ihm noch, zukünftig, einen gewissen Bestand hätte. Weiterhin irgendwie wirken könnte. Oder machte er sich da etwas vor? War er so altruistisch, oder war das, was er verspürte, schlicht die normale menschliche Angst vor dem Ende, das unbekannt, unbeherrschbar und ewig, eben endgültig war? Nun, er würde seine gesamten restlichen Kräfte darauf verwenden, im Rahmen einer geplanten Hinterlassenschaft auch dieses herauszufinden.
Er hatte die vergangene Nacht gut geschlafen und war bester Stimmung, als er sich dem ersten Kaffee des Tages widmete. Freilich ratterte sein Hirn bereits wieder auf Hochtouren, doch es war sogar auf eine bestimmte Art angenehm, wieder ein Ziel zu verfolgen, wieder eine Aufgabe zu haben. Kein Müßiggang; lieber ein sinnvolles Unternehmen, so unbedeutend es denn dann auch schlussendlich ausfallen mochte. Jede kleine Nettigkeit, jede noch so unerheblich scheinende geringe tätige Milde oder erwiesene Freundlichkeit – all das hinterließe schon etwas. Und ja, leider auch jede böse Tat. Aber konnte es wirklich nur darum gehen? Nein, sagte er sich stumm, wenn bewusste Hinterlassenschaft, dann so gut und gross und schön wie möglich. Und so dauerhaft natürlich!