Mini und Tomate - Thomas Böcher - E-Book

Mini und Tomate E-Book

Thomas Böcher

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Beschreibung

Das Buch schildert die Begegnung und das vorsichtige Mit- bzw. Nebeneinander zweier Menschen in Berlin-Kreuzberg. Eine moderne Liebesgeschichte, eine, die sich vor dem Hintergrund einer schweren Krankheit zaghaft und langsam abzeichnet und entwickelt. Für einen scheinbar Verlorenen setzt eine junge selbstbewusste Frau auf Risiko und überschreitet dabei teilweise ihre eigenen Grenzen.

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Seitenzahl: 350

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Thomas Böcher

Mini und Tomate

Roman

Impressum

Texte: © Copyright 2024 by Thomas Böcher, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Druck:epubli - ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Für Rich

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Folgsamkeit, Eigenwille

Kapitel 2: Die Tür

Kapitel 3: Fixierung und Faszination

Kapitel 4: Die Brücke bis zum zweiten Fallen

Kapitel 5: Vertiefung in gewisser Hinsicht

Kapitel 6: Die neue, feste (An-)Ordnung

Kapitel 7: Ein guter Vorschlag, dazu Zeit

Kapitel 8: Ein neuer Arzt

Kapitel 9: Vom Vermissen

Kapitel 10: Glück in der Angst

Kapitel 11: Initiative

Kapitel 12: Passiert…

Kapitel 1: Folgsamkeit, Eigenwille

I

„Hallo Nilanti!“, rief Piyumi erfreut, als sie den Anruf ihrer älteren Schwester auf dem Smartphone entgegennahm. Sie sprachen eine gute halbe Stunde miteinander, über dies und jenes, wie es den Eltern gehe etwa. Seit ihrer Heirat lebte die große Schwester mit ihrem Mann zusammen in einer beschaulichen Wohnung in Alt-Treptow. Piyumi dagegen hatte noch lange nicht vor, das heimische Nest in der Blücherstraße in Kreuzberg zu verlassen. Nun zu dritt auf ca. 85 qm in einer recht großen also und dazu sehr günstigen 3-Zimmer-Wohnung so zentral in Berlin zu wohnen, das hatte schon was. Sogar ein kleiner Balkon war dabei. Mit den Eltern verstand sich Piyumi ausgezeichnet, für gewöhnlich hörte sie immer noch auf deren wohlgemeinte Ratschläge. Mittlerweile eine erwachsene junge Frau im Arbeitsleben, ergo leistete sie auch einen finanziellen Beitrag zur Miete. Sie verdiente mehr als ihre Mutter Tharushi, die putzen ging, seit Piyumi zur Schule gegangen war. Und auch deutlich mehr als ihr Vater Ranil, der als Kassierer in der Bergmannstraße arbeitete. Familie Ratnayake ging es insgesamt sehr gut, und sie alle wussten und schätzten das auch. Manches Mal erzählten die Eltern, wie sie wie viele andere Singhalesen auch Anfang Mai 1994 vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka geflohen waren. Sie waren nach Deutschland mit der am 5.7.1992 geborenen Nilanti gekommen. Piyumi wurde erst am 8.11.1996 im Urban-Krankenhaus in Kreuzberg geboren und war noch nie im Land ihrer Vorfahren. Außer in ihrer blühenden Phantasie natürlich, durch welche sie sich traumhaft schöne Landstriche ausmalte.

Zuhause wurde normalerweise singhalesisch miteinander gesprochen. Nur wenn die Schwestern sich alleine unterhielten, kam gewöhnlich die deutsche Sprache zum Einsatz, die beide muttersprachlich perfekt beherrschten. Piyumi, mittlerweile 24, war noch nie mit einem Mann zusammen, hatte noch nie einen Freund. Ihre Schwester war da forscher gewesen und vergaß fast bei keinem längeren Gespräch, die kleine Schwester daran zu erinnern, wie wichtig diese Sache doch wäre. Nein, Piyumi war nicht lesbisch, was sie nicht sonderlich gestört hätte, sie war sich stets alleine mehr als genug, vermisste rein gar nichts und ging fröhlich durchs Leben. Pubertäre schwermütige Gedanken, davon war sie glücklicherweise verschont geblieben, sie war schlicht kein melancholischer Mensch. Ihre Eltern konnten sich immer auf sie verlassen, und das bereits seit Grundschulzeiten. Stets der Augenstern der kleinen Familie ihre Eltern machten sich überhaupt keine Sorgen darüber, dass sie noch solo war.

Nebenan im Wohnzimmer saßen ihre Eltern auf dem Sofa und sahen fern. Sie selbst surfte lieber im Internet und vertrieb sich so die Zeit zwischen Abendessen und Bettruhe. Als Kind und Jugendliche hatte sie ungeheuer gern gelesen, und zwar richtige althergebrachte Bücher. Das hatte sich ein wenig verändert, zwar las sie noch, doch lange nicht mehr so ausufernd, sie musste sich regelrecht vornehmen, dann und wann wieder eine gewisse Dauer fürs Lesen zu reservieren. Klar, da war ihr Job, der sie sehr in Beschlag nahm. Ausfüllend auf der einen Seite, aber eben auch fordernd. Mutter und Vater jedenfalls meinten, das sei ganz normal, dass man bei zunehmendem Alter bei beruflicher Inanspruchnahme ein Bedürfnis entwickle, die freie Zeit ohne großartigen Anspruch zuzubringen und sich ein wenig von Belanglosigkeiten treiben zu lassen. Nun konnten Piyumis Eltern das auch recht leicht sagen, schließlich hatten sie alles, was notwendig war. Obwohl sie sich wie bereits gesagt selbst normalerweise mehr als genug war, erahnte Piyumi dann und wann, dass es für sie nicht ewig so weitergehen könne, dass es irgendwann zu einer Veränderung kommen müsse. Die Augenblicke, in denen sie sich das bewusst machte, erfüllten sie mit ein wenig Angst, nicht mit lähmender, doch mit deutlich spürbarer. Ihre Mutter war am 12.2.1972 geboren worden, ihr Vater am 24. März 1969. Also beide noch nicht so alt, dass man sich jetzt schon Gedanken machen musste, was denn im Alter wäre. Und trotzdem, so war Piyumi nun einmal, sie ertappte sich das ein ums andere Mal dabei, wie sie sich über diese ungelegten Eier Sorgen machte. Von sich selbst dachte sie übrigens diesbezüglich, dass sie noch so furchtbar lange so dermaßen jung sein würde, dass es tatsächlich Zeitverschwendung sei, darüber zu grübeln. Aber wenn schon mal grübeln, gut, dann auch bewusst. Melancholie entwickeln, nein, auf gar keinen Fall. Viel zu lebensfroh und unbekümmert war der weit überwiegende Teil von Piyumis Natur. Also auf, rüber zu den Eltern vor den Fernseher, was auch immer gezeigt werden würde.

Ihrem Singhalesisch taten solche Abende gut, und dem Deutschen ihrer Eltern ebenfalls. Gegenseitige Fragen, angeregt durch das mehr oder weniger interessante Programm auf dem Bildschirm, gespickt mit wohlwollender guter Laune und gelegentlichem Gelächter, ja so sollten sich die Abende ruhig immer anfühlen, vertraut ohne langweilig zu sein, stets lustig und von eigentümlicher Intensität, die gar nicht großartig beabsichtigt wurde, die sich einfach so manches Mal ergab.

Natürlich hatte Piyumi auch Freundinnen, noch aus Schulzeiten etwa oder auch von der Arbeit aus, auch manchen Mann nannte sie ihren Freund. Und ab und zu unternahm sie auch etwas mit dieser oder jenem, stets auf rein freundschaftlicher Basis natürlich. Piyumi war ihrer Meinung nach diesbezüglich gut versorgt, sodass sie keine Anstrengungen unternahm, neue Bekanntschaften anzusteuern. Da waren noch dazu ihre Schwester samt freundlichem Ehemann Leo, einem jungen Studienrat für Sport und Kunst, aufgrund dessen Anstellung es sich Nilanti leisten konnte, als Hausfrau zuhause zu bleiben, wesbezüglich von keiner familiären Seite aus irgendwelche Einwände erhoben wurden. Man kann Hausfrau sein und dennoch eine emanzipierte selbstbewusste Frau, die voll im Leben steht. Da waren sich alle einig. Piyumi freute sich für ihre Schwester, der es offenkundig sehr gut ging und die mit dem Gedanken spielte, Mutter zu werden. Ehepaar Ratnayake jedenfalls war ungemein stolz auf ihre beiden Töchter, und das auch mit Recht. Beide hatten einen eigenen Weg gewählt, und bislang lief alles hervorragend.

Piyumi dachte, dass sie sehr angepasst sei. Und zwar im Großen wie im Kleinen. Warum denn auch nicht, wenn es doch so gut funktioniert. Und das war ihre bisherige Erfahrung. Verhielt man sich regelkonform und höflich wohlwollend, so wurde das einem auch zurückgegeben. Gewöhnlich zumindest. Ausnahmen hatte sie freilich kennengelernt, sie waren jedoch kaum der Rede wert. Der Abend mit den Eltern neigte sich langsam zum Ende, alle drei wollten in etwa zur gleichen Stunde ins Bett gehen, was wahrlich nicht immer so war. Dieser Tag im Juni war von angenehmer Temperatur, nicht so warm und auch nicht zu kühl. Ihr Bett im eigenen Reich wirkte stets einladend, sodass sie sich darauf freute, erst zu dösen, dann zu schlafen und dabei womöglich zu träumen, etwas, womit sie bislang so gut wie immer sehr angenehme Erfahrungen gemacht hatte. Vom Schlaf ging eine eigentümliche Faszination für Piyumi aus, sie konnte es nicht wirklich in Worte fassen, doch etwa so: der Schlaf ummantelt das reale Geschehen, zeigt neue Wege oder lädt schlicht die Batterie auf. Sie wusste, was es bedeutet, müde zu sein. Zu müde, und dennoch funktionieren zu müssen. Diesen Zustand vermied sie wenn immer möglich; ihr Job war hinsichtlich dieses Aspektes jedoch mitunter fordernd. Aber so wie nahezu alles, Piyumi hatte es in aller Regel im Griff, war eine gute und verlässliche Steuerfrau ihres Geschicks. Endlich die Augen zu.

Der Morgen danach, und ein Morgen gehört doch stets zum angenehmen Schlafen dazu, war wie so oft von effizienter Routine und einem ordentlichen Frühstück geprägt. Geträumt hatte Piyumi dieses Mal rein gar nicht, jedenfalls soweit sie sich erinnern konnte und das deshalb zu sagen vermochte. Ein unschätzbarer Vorteil der Wohnung war es, dass sie bequem zu Fuß zu ihrer Arbeitsstätte gehen konnte. In der ganzen Familie gab es nicht ein einziges Auto. Mit dem gesparten Geld konnte man natürlich sehr viel Sinnvolleres anstellen, etwa gute und schmackhafte Lebensmittel kaufen. Sowohl ihre Mutter als auch sie selbst waren mehr als passable Köchinnen. Die Schwester nebenbei bemerkt ebenso. Ein guter Morgen, ein guter Start in einen hoffentlich guten und zufriedenstellenden Tag. Davon ging Piyumi nahezu selbstverständlich aus. Und ihre Erfahrungen sprachen ja denn auch für sich. Sie war nicht die erste, die die Wohnung verließ, da ihre Mutter bereits vor gut einer Stunde gegangen war. Vater Ranil hatte noch viel Zeit, bevor er in den Supermarkt musste. Piyumi gab ihm einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. Der kurze Spaziergang zum Urban-Krankenhaus verging immer wie im Fluge, die das doch sehr oft mit den Dingen der Fall ist, die einem angenehm und willkommen sind. Es war auch zu dieser doch recht frühen Stunde ausreichend warm und hell, sodass Piyumi sogar ihre Jacke auszog und in den großen Rucksack verstaute, den sie gewöhnlich zur Arbeit mitnahm. Darin war alles erdenklich Mögliche, was man so brauchen konnte. Ihre Schwester zog sie gerne etwas auf, indem sie neckisch behauptete, dass diese Art von vorausschauendem Handeln und Planen typisch deutsch sein würde, was eindeutig dadurch zu erklären sei, dass Piyumi eben hier und nicht in Sri Lanka geboren wurde. Nun, wenigstens blieb sie von Kontrollzwängen verschont, gerade in ihrem Job nicht immer die Regel.

Sie war da, stand vor dem Krankenhaus, das viele Betrachter eher hässlich fanden. Sie nicht, für sie war es ein schönes Gebäude, sogar was die zurückhaltend gedeckte Außenfarbe anbelangte. Sie lächelte und ging hinein.

II

Trotz Corona normaler Klinikalltag auf Station 32, eine psychiatrische geschlossene, wo Piyumi oft und gerne ihren Dienst verrichtete. Sie war bereits seit einiger Zeit ausgebildete Pflegefachkraft und war auch mit ihrem Gehalt recht zufrieden. Hier wollte sie sein und arbeiten, ihre oft geistig schwer kranken Patienten faszinierten oder überraschten sie gar so manches Mal. Es wurde wirklich nie langweilig, und obgleich oft eine gewisse Tragik in der Luft lag, erlebte Piyumi auch rührende und ihrer Meinung nach äußerst wertvolle Momente. Sie kam normalerweise auch mit jeder Schicht klar, ob früh, ob spät oder auch mal Nachtwache. Piyumi war schon immer sehr gut darin gewesen, sich an die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen. So hatte sie etwa bereits in der Schule nie nennenswerte Probleme. Im Gegenteil, sie war eine ausgezeichnete Schülerin gewesen und ging aufs Gymnasium und schaffte dort sogar das zweibeste Abitur des ganzen Jahrgangs. Insbesondere ihre Mutter Tharushi hatte daher gehofft, ihre Tochter würde studieren, vielleicht sogar Medizin. Doch Piyumi hatte andere Pläne gehabt, und zwar bereits seit längerem, genauer gesagt, seit sie ein Schülerpraktikum im Urban-Krankenhaus gemacht hatte, wusste sie unumstößlich felsenfest, dass sie einmal dort als Schwester arbeiten wollte. Deshalb hatte sie seitdem darauf hingearbeitet. Fleiß und Zielstrebigkeit. Es gab so manche Stimme, die ihr zuraunte, sie solle doch ihre große Begabung anders nutzen, nach einem Studium könne sie doch immer noch in die Pflege wechseln. Doch war sie stur und entschlossen und sah die etwaigen Jahre an einer Universität schlicht und einfach als verschwendet an. Nun, sie hatte es geschafft, war da, so sie immer hinwollte. Wenn sie an ihren beruflichen Werdegang zurückdachte, musste sie sich immer ein wenig zurücknehmen und aufpassen, dass sie nicht vergnügt zu kichern anfing. Aber sagte man nicht, dass jeder so ein wenig merkwürdig ist, der sich in dieser Branche herumtreibt?

„Mini, kommst du mal bitte schnell!“, ertönte der Bass des stellvertretenden Stationsleiters. Piyumi ließ alles stehen und liegen und lief zu ihrem Vorgesetzten. Nein, war denn doch glücklicherweise nichts Ernstes, nur eine Frage hinsichtlich eines Patienten, der ein wenig Probleme mit seiner Körperhygiene hatte. Das war dem erfahrenen Pfleger sofort aufgefallen, als er in unmittelbarer Nähe zu dem älteren Herrn zugange war. „Mini“, ja, so nannte er sie. Das war aber alles andere als ungewöhnlich. Die meisten taten das hier, jedenfalls diejenigen, die sie ein wenig näher kannten, was jedoch nicht die ärztliche Belegschaft einschloss. Und das war auch ganz in Ordnung, fand Piyumi, schließlich hatte sie selbst diesen Spitznahmen in der Klinik lanciert. Der Name „Mini“ begleitete sie bereits seit dem Kindergarten. Damals hatte eine Kindergärtnerin bemerkt: „Na du bist ja mal mini.“ Und Piyumi hatte daraufhin den Spitznamen selbst gewählt und sich bei jeder möglichen Gelegenheit so vorgestellt. Ganz abwegig war es auch nicht, denn einerseits war „Piyumi“ für viele andere kleine Kinder doch recht schwierig, und zum anderen war sie tatsächlich für ihr Alter außergewöhnlich klein und feingliedrig schlank gewesen. Kindergarten und dann Schule bis Job, es war irgendwann normal, sie so zu nennen. Mittlerweile freilich eine junge Frau, die immerhin 1,60 m und ganze 47 kg vorweisen konnte, was ja immer noch zumindest nicht diametral entgegengesetzt zu dem Spitznamen ist bzw. dagegensprechen würde. Der Name wurde eigentlich immer wohlwollend benutzt. Nicht aber bei ihren Eltern sowie ihrer Schwester, die sie beim richtigen Namen nannten.

Der Tag verging wie im Fluge. Noch dazu ein Freitag, und zu allem Überfluss stand auch kein Wochenenddienst bevor. Ein schönes langes und gemütliches Wochenende, Piyumi hatte sich auch nicht verabredet und gedachte, die freie Zeit ausschließlich zuhause zuzubringen, in Schlabberklamotten vor der Glotze vorzugsweise, was ab und zu sehr willkommen war. Noch allerdings war es noch nicht soweit, noch musste sie ihre Sinne zusammenhalten und aufpassen, dass sie all ihre Aufgaben ordentlich verrichtete und verwaltete. Sie trank einen Kaffee. Wenn es überhaupt irgendeinen Stoff gab, von dem sie sich nahezu als abhängig bezeichnen würde, dann was es Koffein. Kaffee um Kaffee, den sie selbstverständlich stets ohne Milch und Zucker zu sich nahm. Dennoch hatte Piyumi niemals Einschlafprobleme. Und solange dem so war und sie auch ansonsten körperlich so topfit bliebe, würde sie ihren Kaffeekonsum auch nicht einschränken, da war sie sich ganz sicher. Tee hingegen war in ihrer Familie das traditionelle Getränk., doch sie als einzige war dem nicht so zugeneigt. Ihre Schwester würde dazu eventuell sagen, dass das ein weiterer Hinweis auf ihre Geburt in Deutschland wäre. Quatsch mit Soße natürlich, ein aufgeklärter Mensch weiß es besser. Und auch ihre ältere Schwester war eine aufgeklärte moderne junge Frau, da bestand bei ehrlicher und ernsthafter Betrachtung überhaupt kein Zweifel. Aber spaßeshalber durfte schließlich gefrotzelt werden, was das Zeug hält. Überhaupt, Piyumi als auch schon äußerlich nicht rein Bio-Deutsche erkennbar, fand es immer schade, wenn so manche so einiges nicht sagten, weil sie dachten, das wäre nicht politically correct. So ein Unfug, etwas mit Respekt geäußert und der eigenen Meinung entsprechend, was sollte es denn schaden. Nur stets im Stillen und Heimlichen dann aber unter Umständen umso drastischer geäußert, das kann doch nicht wirklich das Ziel einer modernen, offenen und toleranten Gesellschaft sein. Davon war Piyumi fest überzeugt. Sie fand es immer wieder erfrischend, wenn sie ganz normal behandelt wurde, und zwar ohne Benachteiligung, aber eben auch ohne unberechtigte Bevorzugung. Sie war ausgesprochen froh darüber, dass sie in der Tat sozusagen „farbenblind“ war und jedem zunächst gleich höflich und freundlich begegnete, vorurteilsfrei, ob dick oder dünn, whatever. Und zu ihrem großen Glück hatte sich mit ihrer offenen Art auch bisher so gut wie keinerlei schlechte Erfahrungen sammeln müssen. Sie war unglaublich gerne schlicht „Kreuzbergerin“. Und so geht es im besten Falle möglichst vielen. Genug davon, noch zwei Stunden, und sie würde sich ihren gigantischen Rucksack schnappen und nachhause gehen. Tingeln, wie sie gerne sagte. Sie sprach und gebrauchte dagegen in aller Regel ein geschliffen scharfes und präzises, genaues und lupenreines Hochdeutsch.

Die moderne psychiatrische Behandlungsmöglichkeit war ein Segnen für die Menschheit, da war sich Piyumi ganz sicher. Ein schrecklicher Gedanke, all die unsichtbar Kranken zu ignorieren. Sie sprach gern und oft auch mit den Ärztinnen und Ärzten, und hatte sich trotz ihrer jungen Jahre schon ein beachtliches medizinisches aber auch psychologisches Wissen erworben. Und so kam es das ein ums anders Mal vor, dass auch eine altgediente Schwester respektive ein altgedienter Pfleger den Rat der jüngeren Kollegin erfragten. Dennoch blieb Piyumi bei ihrer Ansicht, dass es sich nicht wirklich lohnen würde, Medizin oder gar Psychologie zu studieren. Denn näher als sie als Schwester kam niemand an die Kranken heran, die Kranken, die oft so einfühlsam und sensibel, oft so ungemein verständig waren. Natürlich gab es da auch diejenigen, von denen leicht und oft Gefahr ausging. Die gehörten eben dazu, da musste man vorsichtig sein und im Team zusammenarbeiten. Jeder Beruf hatte doch wohl auch seine Schattenseiten, ein wenig Unschönes konnte sie leicht in Kauf nehmen, wo ihr der normale Klinikalltag so gelegen war und sie weder über- noch unterforderte.

Piyumi blickte auf ihr Smartphone, um die Zeit abzulesen. Eine Armbanduhr besaß sie nicht, sie empfand eine solche als schlicht überflüssig heutzutage, nicht mehr ganz zeitgemäß eben. Und als Schmuckstück ebenso uninteressant, da sie wirklich gar nichts trug, keinen einzigen Ring, keine Halskette, wirklich gar keinen Schmuck oder sonstigen „Tand“, wie sie es gerne bezeichnete. Hatte man vielleicht irgendwann mal einen Freund, Verlobten oder Ehemann, dann würde sie gerne einen entsprechenden Ring tragen, gerne sogar wie gesagt, dann das hätte für sie dann eine große Bedeutung. Ihre Eltern hatten ihr einmal einen wirklich ästhetischen Armreif aus echtem Gold geschenkt, und zwar zu ihrem hervorragenden Abitur. Piyumi jedoch zog ihn ein paar Mal an, bevor er so gut wie vergessen in einer kleinen Schatulle in ihrem Nachttischchen landete. Nein, eitel konnte man Piyumi in rein gar keiner Beziehung nennen, die Tugend der Bescheidenheit war etwas, was sie niemals lernen musste, sie war stattdessen anscheinend in Piyumis Wesen von sich aus in großem Maße angelegt und denn auch ausgeprägt. Ihre Schwester dagegen schien sich so ziemlich mit jedem Schmuckstück, was man sich nur vorstellen konnte, zu behängen oder zu beringen und hatte bereits einen großen Fundus. Überwiegend natürlich bestand dieser aus eher günstigem Modeschmuck, aber dennoch rein quantitativ beachtenswert. Nilanti fand, dass das sehr gut zu ihrer Weiblichkeit passe, wie sie ihrer kleinen Schwester einmal gesagt hatte. „Firlefanz“, hatte ihr Piyumi, die ja noch nicht einmal Ohrringe trug, daraufhin leicht provokativ an den Kopf geworfen, was jedoch nicht zu einem Streit führte. Überhaupt hatten die Geschwister schon immer ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis gehabt und sich so gut wie nie einmal gestritten. Nebenbei, auch ihren Eltern gegenüber kam es fast nie zu Auseinandersetzungen, auch nicht in den Hochphasen ihrer pubertären Entwicklungen.

Nun, Zeit und Ablöse passten zusammen, eine kurze und professionelle Übergabe, die die momentan recht entspannte Situation auf der Station 32 widerspiegelte. Einzig die Stärke der Belegung war ein wenig angespannt, da zwei Patienten in ihren Betten auf dem Flur übernachten mussten. Aber das war beileibe nicht nur ein Problem der 32, da konnten so einige Stationen ein Liedchen von singen. Viele Kranke, mochte deren Zahl wachsen, mehr Platz und mehr Personal konnte kaum bereitgestellt werden. Aber das waren ja nun einmal Dinge, die die höhere Verwaltung bis hin zur Landespolitik zu lösen hatten. Piyumi kam es immer so vor, als ächzte nahezu jedes Krankenhaus in Berlin unter Personalmangel und zu viel Arbeitsaufkommen, zumindest was sie da so mitbekam. Egal, wie hart es zu ihrer Zeit je einmal gekommen war, für Piyumi gab es nie Reue bezüglich ihrer Berufswahl. Ein bisschen rechtschaffen geschafft fühlte sie sich allerdings schon, als sie den Heimweg antrat. Aber das durfte auch so sein, und umso schöner war ja denn auch die Aussicht auf ein verträumt pflichtloses Wochenende. Selbst ums Essen würde sie sich keine Gedanken machen müssen, ihrer stets fleißigen und präsenten Mutter sei Dank.

III

Das Ehepaar Ratnayake tat alles dafür, dass sich Piyumi zuhause so wohl wie nur irgend möglich fühlte, und stellte keine großen Anforderungen an sie. Das Saubermachen etwa oder die Besorgung der Wäsche, alles wurde gerne für Piyumi erledigt, war man doch so ungeheuer stolz auf die Tochter. So ein harter und anspruchsvoller Job, ob Frau hin oder her, da sollte sie im trauten Heim entspannen und sich erholen. Und dazu kam ja noch, dass sie den größten Beitrag für die gemeinsame Wohnungskosten leistete.

Ihr Vater war immer ungemein interessiert, was in der Klinik so vor sich ging und fragte bei jeder Gelegenheit Piyumi regelrecht Löcher in den Bauch. Diese antwortete normalerweise bereitwillig und ausführlich, nur ganz selten, und zwar dann, wenn es auch angebracht war, gab die Tochter zu bedenken, dass sie sich an ihre Schweigepflicht halten müsse. Und das tat sie, und das wurde dann auch so respektiert und zugestanden, Themawechsel. An diesem Wochenende hatten auch Piyumis Eltern Zeit en masse, sodass alle drei lange bequem auf dem Sofa lümmelten, Tee bzw. Kaffee schlürften und fernsahen. Dann kamen Mutter und Tochter spät am Samstag auf die Idee, sich auf dem Home-Entertainment einen Liebesfilm auszuleihen, was denn doch etwas zuviel des Guten für Vater Ranil war, der daraufhin lieber ein wenig früher zu Bett ging. Die beiden Übriggebliebenen jedenfalls hatten einen Mordsspass, die giggelten, kicherten und weinten schließlich sogar vor Empathie und Freude ob des wirklich herzzerreißenden Films. Und so ging auch für die beiden denn schlussendlich dieser immens schöne und beschauliche Samstag zu Ende.

Der Sonntag begann für die drei mit einem ausgedehnten und reichhaltigen Frühstück. So eines zelebrierten sie regelrecht, und zwar wann immer möglich. So wie der Samstag zum Runterkommen geholfen hatte, konnte nun ein schöner langer weiterer Tag kommen, einer, der mit bereits wieder voll aufgeladenen Batterien genossen werden sollte. Frisch gemahlenen köstlichen Kaffee in Fülle hatte Piyumi bereits intus, als ihre Mutter ihr eröffnete, dass am Nachtmittag Nilanti und Leo zu Besuch kommen würden. Das Mittagessen würden sie ausfallen lassen, man konnte schließlich zu einem Apfel oder einer Banane greifen. Aber selbst das wollte niemand so recht, da die Aussicht auf den Nachmittagskuchen schon wieder im Raume stand. Ihre Schwester brachte gewöhnlich herrlichen selbstgebackenen Kuchen mit, wenn sie sonntags zu Besuch kamen. Und normalerweise, und so war es auch heute geplant, würde am Abend ein üppiges Abendessen von Mutter Tharushi zubereitet werden, oft eines aus der alten Heimat, doch darauf konnte man sich nicht hundertprozentig verlassen, da die begnadete Köchin auch dann und wann einmal herumexperimentierte.

Nun stellte sich die Frage, was sie bis zum Besuch anstellen sollten bzw. wollten. Ein bisschen Bewegung täte doch nicht schlecht, meinte Piyumi, und so entschloss man sich, die Wohnung in der Blücherstraße für einen kleinen Spaziergang zu verlassen. Wohin, das war ebenfalls schnell entschieden, sie gingen zur Admiralbrücke und machten eine Runde um den Landwehrkanal. Das Wetter spielte mit, und die Laune sowieso. Sie kehrten sogar – und das war wirklich eine große Ausnahme – kurz in der Außengastronomie auf ein Bier für Vater Ranil ein, wobei die beiden Frauen sich mit einer Apfelschorle zufriedengaben. „Sag mal, Piyumi, hast du nicht manchmal auch Angst vor dem ein oder anderen Patienten? Sind doch schließlich nicht alle ungefährlich.“ Sie erwiderte: „Ach Papa, du machst dir oft grundlos Sorgen. Richtige Angst? Nein, das nicht. Bei manchen ist allerdings tatsächlich Vorsicht im Umgang angebracht, was ich dir übrigens schon oft erzählt habe. Aber man muss immer wieder bedenken, dass ich ja nicht alleine dastehe. Wir haben psychisch wie auch physisch sehr starke Pfleger, die umgehend jede eskalierende Situation unter Kontrolle bringen können. Die Polizei, die des Öfteren anwesend ist, etwa zur Einlieferung eines neu aufzunehmenden Kranken, oder weil eine etwas längerfristige Fixierung vorgenommen werden muss, brauchen wir normalerweise nicht um Hilfe anzurufen. Jedenfalls seit ich auf einer geschlossenen Stationen Dienst tue, habe ich das noch nicht erlebt. Was hingegen schon vorgekommen ist, ist, dass sich ein Patient das Leben genommen hat, da ist dann natürlich auch sofort die Polizei zu verständigen. Man bekommt schon mit steigender Erfahrung auch eine etwas dicker werdende Haut, sollte bei aller Routine aber nie unvorsichtig werden, wie mir mehr als einmal erfahrenere Schwestern und auch Pfleger geraten haben. Der Selbstschutz steht immer ganz oben, Papa, also keine Sorge. Ich bin noch nie ängstlich zur Arbeit gegangen.“ So in der Öffentlichkeit Singhalesisch miteinander zu sprechen, kam Piyumi manchmal ein wenig seltsam vor. Es ist ja nicht so, als dürften die Leute am Nachbartisch auf keinen Fall mitbekommen, worüber sie sprachen. Denn Piyumi ließ im Gegenteil schon ganz gerne mal im Rahmen eines Gespräches durchblicken, dass sie als Schwester im Urban-Krankenhaus arbeitete, natürlich niemals im angeberischen Ton oder Sinne, sondern einfach natürlich und unaufgeregt, so wie viele andere auch neutral von ihrem Job erzählen würden. Schließlich war Piyumi nicht großartig scheu oder bedächtig zurückhaltend, nein, sie war eine junge selbstbewusste Frau.

Ihr Vater, sichtlich zufrieden, zahlte und pfiff während des Nachhausewegs vergnügt vor sich hin. Wieder daheim, potterten die drei, jeder für sich alleine, still herum und erwarteten den Besuch, der schneller als gedacht ankommen sollte.

„Hier, ich habe mal einen ganz anderen Kuchen ausprobiert“, begrüßte Nilanti ihre Familie. Und von hinten warf Leo sofort ein, dass er selbstverständlich beim Backen mitgeholfen habe. Die Fürst-Pückler-Torte sah wirklich verführerisch aus. Man versammelte sich bald um den großen Tisch im Wohnzimmer, der längst ansprechend gedeckt war. Und jeder aß zwei ordentliche Stücke. Tee und Kaffee (auch für Leo) flossen dazu reichlich. In Leos Anwesenheit verlief die gesamte Kommunikation ausschließlich auf Deutsch. Das gehörte sich schlicht und ergreifend auch so. Nilantis Ehemann war da alles andere als empfindlich und hätte das auch niemals erwartetet oder auch nur erwähnt, der Ursprung für diese Regel war der Familienvater gewesen, der sich früher manchmal darüber geärgert hatte, dass er von so mancher Konversation ausgeschlossen geblieben war, obwohl alle Beteiligten die englische Sprache hätte wählen können, die bei den in Betreff stehenden Gelegenheiten auch wirklich jedem gut geläufig gewesen war. Nun, nach einer Weile jedenfalls waren sie fertig, niemand wollte mehr etwas essen oder trinken. Ungefragt standen die beiden Männer auf, räumten den Tisch ab und bugsierten alles, was dafür geeignet war, in die Geschirrspülmaschine in der Küche. Anschließend fand man sich wieder im Wohnzimmer zusammen, dieses Mal auf der bequemen Wohnlandschaft. Der Nachmittag verging so schnell, dass sich alle wunderten, als Mutter Tharushi verkündete, sie müsse nun das Abendessen vorbereiten.

Und was für ein Abendessen: Gemüse, Reis und frittierte Fischbällchen, die nach guter alter Sitte so wunderbar scharf waren, dass dem einzigen gebürtigen Mitteleuropäer (Piyumi zählte sich selbst in diesem Zusammenhang gerade mal nicht dazu) ein wenig die Luft wegzubleiben drohte. Alles wurde bis auf den letzten Krümel ratzekahl weggeputzt, und jeder war insgeheim dankbar, dass kein Nachtisch aufgedrängt werden konnte. Irgendetwas hätte sich natürlich schon noch finden lassen, doch keiner der im Übrigen allesamt sehr schlanken Personen wäre das auch nur annähernd in den Sinn gekommen. Full House sozusagen, alle fünfe pappsatt.

Und so ging der Sonntag und damit das ungestörte Wochenende zur Neige. Bis auf Nilanti, die freilich in ihrer Wohnung tätig werden würde, mussten am nächsten Tag alle raus zur Arbeit, eine neue Woche wollte schließlich in Angriff genommen werden. Und so wurde es nicht spät, die Besucher fuhren mit den Öffentlichen zurück nach Alt-Treptow, und unsere verbliebenen drei sagten sich nicht viel später auch bereits gute Nacht.

IV

Der Juni 2021 war weit fortgeschritten, nicht mehr lange, und ein wahrscheinlich noch wärmerer Monat würde folgen. Piyumi war das nur recht. Je heißer es in Berlin wurde, desto wohliger fühlte sie sich. Niemand wunderte sich darüber, hatte die junge Frau doch augenscheinlich nicht viel „natürliche Isolierung“ vorzuweisen. Grazil und ein wenig kälteempfindlich, so war sie nun einmal, einer so, der andere so, na und? An diesem Tag, erneut auf der 32, war so einiges los gewesen, viel zu tun. Gegen eine Spätschicht hatte Piyumi nichts einzuwenden, sie fand sich schnell in einen neuen Rhythmus ein. Positiv heute war aus ihrer Sicht, dass zwei Patienten entlassen werden konnten. Sie zog die Betten ab und manövrierte diese vom Flur weg, der nun endlich wieder einmal leer war.

Und dann das: Frau Kopp hatte auf ihrem Zimmer gekokelt, und es kam zu einer gewissen Rauchentwicklung. Nun hieß es schnell handeln. Während sich Kollegen um besagtes Zimmer kümmerten, lotsten Klara, die Stationsleiterin, und Piyumi sämtliche Kranken (zurzeit war zum Glück niemand fixiert oder streng bewacht) auf verschlungenem Pfad auf eine andere geschlossene psychiatrische Station, wo für die Ankömmlinge bereits frischer Kaffee bereitstand. Im Nachhinein war alles nur halb so wild, starkes Lüften und ein paar handwerkliche Griffe später, und dann konnte man nach etwa zwei Stunden wieder zurückgehen. Dennoch, ein nicht eingeplanter Zeitverlust, da die gewöhnlichen Routineverrichtungen doch nicht einfach ausgesetzt werden durften. Man nahm natürlich der Zündlerin das Feuerzeug weg, gestattete ihr aber weiterhin den Besuch des Raucherzimmers, was auf einer geschlossenen im Gegensatz zu einer offenen Station eine selbstverständliche Einrichtung darstellt, die von den Kranken, aber auch von Teilen der Arbeitsbelegschaft, sehr intensiv genutzt wird, von den meisten Rauchern unter den Patienten noch dazu mit unglaublich hoher Frequenz. Piyumi hatte in ihrem ganzen Leben ein einziges Mal an einer Zigarette gezogen, als sie gerade mal fünfzehn war, und sofort beschlossen, das nicht mehr zu wiederholen.

Gleich war Abendessenszeit, und Piyumi bereitete schon alles vor. Es war normal, dass dann zwei Patienten (manchmal wollte es auch einer partout alleine machen) den Speisewagen nach hintern rollten, wo gegenüber dem Raucherzimmer der Essensraum lag, der tagsüber als rauchfreier Aufenthaltsraum diente, wo es auch einen Fernsehapparat sowie einige Gesellschaftsspiele gab. Piyumi war wieder ganz entspannt und plauderte ein bisschen mit einem ebenfalls recht jungen Kollegen, der gerade als Aushilfskraft zugegen war. Sie vergaß allerdings nicht, dass sie noch zu tun hatte, und so bereitete sie umgehend die Medikamente für sämtliche Kranken vor, etwas, was normalerweise schon früher passiert wäre, hätte nicht die ungewollte Exkursion am Nachmittag stattgefunden. Und dann kamen auch schon bald die ersten und schluckten im wahrsten Sinne des Wortes ihre Medizin. Nachdem alle versorgt waren (der Speisewagen stand wieder vorne), machte die gesamt Pflegebelegschaft ebenfalls eine etwas längere Pause, freilich dabei stets pflichtbewusst in Bereitschaft für etwaige Vorkommnisse. Das war überhaupt ein äußerst wichtiger Aspekt der Arbeit, den man sich immer wieder bewusst machen musste. Nettes Plaudern innerhalb der Belegschaft, gerne, angeregter Austausch mit Patienten, na klar, aber dennoch, nie sollte man sich verzetteln und darüber vergessen, dass es unter dem Strich eine ernsthafte und mitunter heikle sowie eine wichtige und notwendige Arbeit war, die man mit permanent klarem Kopf und wachen Sinnen zu verrichten hatte. Wenn Piyumi Krankenhausserien im Fernsehen sah, musste sie manchmal grinsen. Sie kannte schließlich die Realität, und diese konnte nun einmal recht fordernd sein. Klar, auf dem Bildschirm wurden oft dramatische Zuspitzungen dargestellt, und oft wurde von den Verantwortlichen wirklich gut recherchiert, doch sie blieb dabei: Realität und Fiktion müssen einfach immer auseinandergehen. Alles andere wäre ja auch unnatürlich.

In einem Moment, als Piyumi schon mal vorsichtig an ihr Schichtende dachte, passierte es dann, es kam ein Anruf, durch den nachgefragt wurde, ob man auf ihrer Station nochmal notfallmäßig jemanden unterbringen könnte. Nachfragen und Anordnen konnten gelegentlich nahe beieinander liegen. Also doch kein leerer Flur, jemand würde nicht in einem Krankenzimmer nächtigen können. Es dauerte nicht lange, und zwei mittelalte Polizisten standen mit einem jungen Mann vor der Stationstür. Klingelten und gingen dann zum Stationszimmer, den Zivilisten auf Armeslänge begleitend. Die Polizisten bewegten sich ruhig und souverän, das war wahrlich nicht ihr erster so gearteter Einsatz, das konnte man ganz deutlich spüren. Und so erfolgte denn noch eine rasche behelfsmäßige Aufnahme, und zwar unter Federführung der Stationsleiterin Klara selbst, die sich auch schon insgeheim auf ihren Dienstschluss gefreut hatte.

Man konnte einigermaßen mit dem jungen Mann reden, er hieß Roland Albrecht und wurde am 7.4.1991 in Berlin geboren, war also genau dreißig Jahre alt. Die Polizisten, genauer gesagt der vorne stehende, der einen gut sichtbaren Bauch mit sich trug, sagten bzw. der genannte erklärte, dass wohl davon auszugehen sei, dass jener im Großen und Ganzen doch recht harmlos und friedlich zu nennen sei, allerdings ziemlich stark verwirrt. „Ja, total von Sinnen“, bekräftigte der schlankere Polizist aus zweiter Reihe, wies aber ebenfalls gleich darauf hin, dass dieser arme Tropf nicht sehr gefährlich sei. Aber, und das war hier eben entscheidend, keiner der Anwesenden, und zwar auch die anwesende Bereitschaftsärztin genau wie zuvor deren Kollege in der Notaufnahme, nun, niemand wusste wirklich zu sagen, wie gefährlich Herr Albrecht für sich selbst war. Natürlich hatte man von Amts wegen versucht, einen Angehörigen zu finden, doch das war erfolglos geblieben. Also musste der junge Mann erst einmal hierbleiben, wo er sicher untergebracht werden konnte. Natürlich würde man ein besonderes Augenmerk auf ihn legen, insbesondere in dieser ersten kommenden Nacht, doch Piyumi als stille Beobachterin der etwa halbstündigen Szene war froh, dass das nicht ihre Sache sein, sondern jemanden von der nächsten Schicht betreffen würde. Kurz nachdem die Polizisten gegangen waren, legte sich der junge Mann folgsam bereits zu dieser frühen Stunde vollständig bis auf seine Schuhe und natürlich seinen abgegebenen Gürtel auf das Bett im Stationsflur und schien ausschließlich die Decke anzustarren. Parallel erfolgte vorne im Stationszimmer eine der Verspätung geschuldete ein wenig rasche, aber dennoch keineswegs oberflächliche oder nachlässige, mithin also dennoch vollwertige und informative Übergabe. Auch Piyumi kam zu mehr als einem Wort und war immer noch hoch konzentriert. Nach der Übergabe allerdings eilte sie sich ein wenig, die Station sowie das Krankenhaus hinter sich zu lassen. Den neuen Patienten würde sie sich morgen mit frischen Kräften ein wenig genauer anschauen.

„Guten Tag, Herr Albrecht, mein Name ist Ratnayake“, sagte Piyumi und deutete auf ihr Namenschild auf dem Pullover. „Ich habe gerade ein wenig Luft und würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.“ Sie lächelte bei diesen Worten und trug auch keine Corona-Maske, sodass ihr Wohlwollen auch deutlich sichtbar werden konnte. Sie hatte sich schon im Vorfeld auf dieses Treffen gefreut und gehofft, dass sich Herr Albrecht bisher ordentlich verhalten haben würde, was denn auch in der Übergabe an die Spätschicht bestätigt worden war. Herr Albrecht hatte auffallend rötliche Haare, war etwa 1,80 m groß und von hagerer Gestalt. Rötlicher Drei-Tage-Bart und soweit auf die Schnelle zu beurteilen normal und sauber bekleidet. Die Einschränkung war der Tatsache geschuldet, dass sie ja nicht unter die blaue Jeans und das schwarze Hemd sehen konnte. Er stank jedenfalls nicht, was auf dieser Station nun wahrlich nicht das erste Mal vorgekommen wäre. Natürlich konnte Herr Albrecht auch schwerlich frisch riechen, schließlich war er ohne irgendwelche Wechselkleidung und ohne Hygieneartikel eingeliefert worden. Sie konnte sehen, wie verwirrt er war, seine Augen konnten kaum auf einem festen Punkt ruhen, er murmelte teilweise so leise, dass es für Piyumi unverständig war. Und dann aufs Stichwort sozusagen, sagte er klar und deutlich: „Ich habe es den anderen Schwestern und diesem riesigen Pfleger vorhin auch schon gesagt, dass ich nur dann längerfristig hierbleiben kann, wenn ich ein Paar Socken, ein T-Shirt, eine Unterhose, Zahnpasta und Zahnbürste und auch ein Duschmittel bekomme. Ich habe genug Geld im Portemonnaie und zahle gerne dafür. Eine Waschmaschine und Waschmittel gibt es hier ja immerhin, das habe ich schon rausgekriegt. Ach ja, ganz wichtig, jemand muss mir zwei Schachteln blaue Gauloises besorgen, damit ich nicht ständig im Raucherraum betteln muss.“ Piyumi war verdutzt. Sie versicherte ihm, dass das alles nach und nach schon aufzutreiben sein würde, da solle er sich für den Moment zumindest keine großen Sorgen machen. Und da wandte er den Blick auf die Wand und murmelte unentwegt unverständliche Worte. Piyumi seufzte nach einer Weile und verabschiedete sich fürs erste; Herr Albrecht zog sich seine weißen Sneaker aus und legte sich auf sein Bett. Piyumi dachte bei sich, dass dieser junge Mann wohl keinen Besuch bekommen würde, ganz abgesehen von Corona, sonst hätte er wohl nicht eine Schwester nach den bezeichneten Sachen frage müssen.

Feuerrot wurde das Gesicht von Herrn Albrecht, wenn er lachte, das bekam Piyumi später am Tag mit, als jener mit einem Mitpatienten scherzte. Er schien sich außerordentlich schnell einzuleben, das autistisch wirkende Gestarre sowie das undeutliche oder schlicht unverständliche Gemurmel dagegen konnten weder Piyumi noch ihre Mitarbeiter (so nannte die junge Schwester das und meinte damit beide Geschlechter) weiterhin beobachten. Das Lachen jedenfalls von Herrn Albrecht war ein offenes und freundliches, und es schien ansteckend und häufig zu sein; Piyumi fiel das rote Gesicht noch ein paar Male in dieser Schicht auf, sodass sie Herrn Albrecht sogar vorsorglich, allerdings ohne Auffälligkeit, auf Bluthochdruck untersuchte. Wegen der Zigaretten hatte sie eine andere Patientin, die schon länger auf der Station war und diese auch im ärztlich genehmigten Ausgang verlassen durfte, gefragt, ob sie welche mitbringen könne, wenn sie das nächste Mal welche für sich selbst besorgen würde (und die ältere Patientin pflegte sich jeden Tag ein Päckchen zu kaufen). Erfreut hatte Herr Albrecht der Mitpatientin das für zwei Päckchen ausreichende Geld gegeben und schlug im Überschwang gar vor, dass sie das Wechselgeld ruhig behalten dürfe, was aber bereits im Vorfeld ihres Ausgangs mit aller Deutlichkeit zurückgewiesen wurde. Nachdem er die Zigaretten erhalten hatte, sah Piyumi Herrn Albrecht erstmal nicht mehr, da der sich im Raucherraum einnistete, und zwar bis es Zeit fürs Abendessen wurde.

Piyumis Dienst war wie im Fluge vergangen, und das galt auch für die folgenden. Keine besonderen Vorkommnisse mehr in dieser Arbeitsphase. Herr Albrecht bekam zunächst Tavor verordnet, die Ärzte wollten erst einmal in Ruhe abwarten und seine Entwicklung beobachten. Der bereits begonnene Juli sollte sich allerdings etwas anders entfalten, als alle Beteiligten das hätten voraussehen können.

Kapitel 2: Die Tür

I

Warum ging sie denn nicht auf? Diese verflixte Tür am Eingang zur Station. Er hatte doch alles getan, hatte seine übermenschlichen, fast göttlich zu nennenden Kräfte eingesetzt. Sie müsste von selbst aufgehen. Auch hatte er ihr genügend Zeit gegeben, hatte sich lange genug vor ihr aufgehalten. Entweder zu gut vom deutschen Geheimdienst konstruiert, oder eben zu nachlässig. Der Pfleger hatte ihn mehr als einmal aufgefordert, die Tür nicht zu belagern, wie er es genannt hatte. Roland hatte jedoch nicht vor, aufzugeben. Er ging zurück in sein Zimmer, interagierte rasch mit Islam und Christentum, und zwar mit den höchsten Stellen, die sich ein Mensch nur vorstellen konnte, und dann ging er mit neuem Schwung zurück, trat erneut vor die Tür und verharrte einen Moment. Nichts geschah. Verdammt, da war doch auch diese kleine Mitpatientin, deren Namen er immerzu vergaß, sie stand nicht weit weg von ihm. Vielleicht war sie eine Blockerin, konnte zu einem gewissen Teil seine Kräfte neutralisieren. Viele große Talente waren hier zusammengekommen, waren vom deutschen Geheimdienst in enger Kooperation mit den Amerikanern und sämtlichen großen und wichtigen Geheimdiensten rekrutiert worden. Davon hatte der normale Mann auf der Straße selbstverständlich keinen blassen Schimmer. Eine Art Probe, eine Art Trainingscamp für die außergewöhnlichen Individuen, ja, das war das gesamte Krankenhaus, dazu war es gemacht worden. Und auf dieser Station waren die stärksten in- wie ausländischen Talente untergebracht.

Nun, er hob die Kräfte der Mitpatientin auf, sodass sie sich verzog, nun stand er wieder alleine vor der Tür, die aber immer noch nicht aufsprang. Also musste er noch schwerere Geschütze auffahren. Augenblicklich suchte er eine ältere Insassin in ihrem Zimmer auf, die eine ranghohe Vertreterin des Islam war. Und tatsächlich, dort fand er nach wenigen gewechselten Worten ein Deo. „Deo“, das hieß „dem Gott“ oder „durch den Gott“. Nun war das Christentum mit dem Islam fürs erste wieder einmal versöhnt. Er sprühte sich ausgiebig ein, und zwar unter offensichtlichem Wohlgefallen der Herrin des Zimmers. „Herr Albrecht, kommen Sie heraus, ich wiederhole mich gerne, Sie dürfen fremde Zimmer nicht betreten. Sollten sie wirklich nicht tun, wir sehen das hier nicht gerne. Für Kontakt untereinander ist doch der Flur und sind die Gemeinschaftsräume da.“ Was wusste dieser glatzköpfige Gehilfe des deutschen Geheimdienstes denn schon? Aber in Ordnung, Roland verließ bereitwillig das Zimmer, schließlich hatte er doch alles, was für einen weiteren und dieses Mal doch sicherlich erfolgreichen Versuch notwendig war, die Ein- bzw. Ausgangspforte von alleine aufspringen zu lassen. Also rasch wieder da hin. Er breitete beide Arme aus und ließ den Geruch, der zusammen mit seiner Körperchemie etwas ganz Eigenes erschaffen hatte, auf die nähere Umgebung wirken. Doch es passierte wieder nichts, die Tür blieb zu. Roland trat kurz vor das Stationszimmer und winkte der Schwester, die jedoch lediglich zurücknickte, sich aber ansonsten nicht rührte. Sie kam augenscheinlich nicht einmal auf die Idee, die Tür zu öffnen. Das war mehr als befremdlich. Rolands Kräfte waren doch dermaßen ausgebildet, dass er schnöde verbale Kommunikation nicht nötig hatte. Jedenfalls, wenn er die beiden großen Blöcke verband und anwendete. Einerseits das Göttliche, der Glaube, die Religionen, und dann der zweite Bereich: das Menschliche, der Fortschritt, Technik und die Geheimdienste. Roland war mittlerweile ein solch großer Meister in diesen beiden Sphären, dass er sich ohne Probleme mittels jedes Radio- oder Fernsehapparates mit den jeweiligen ranghöchsten Repräsentanten austauschen konnte. Eine Einigung wurde gewöhnlich schnell erzielt, und so hatte er aktiv mit daran gearbeitet, dass er nun hier war, unter anderen Talenten und Media, freilich war und bleib er der primus inter pares, mindestens! Die beiden freundlichen Polizisten, die ihn hergebracht hatten, waren nur gewöhnliche Helfer des deutschen Staates, des Geheimdienstes gewesen. Roland hatte die eigentliche Führung innegehabt und hatte die beiden vor vielen anderen großen Mächten der Natur und vor ausländischen Geheimdiensten, die Roland gerne für ihr jeweiliges Land angeworben hätten, stets verlässlich beschützt. Und so war alles gut ausgegangen. Nun stand er hier, da war die Tür. Sie ging trotz allem nicht auf. Allen Beteiligten musste doch klar sein, dass er sie nicht im Stich lassen würde, dass er freiwillig und bereitwillig wiederkommen würde, da sie doch alle gemeinsam an diesem ungeheuer großen und wichtigen Projekt zur Ausbildung und Anwendung der schier unendlichen Kräfte arbeiteten.