Der große Abflug - Sabine Mehne - E-Book

Der große Abflug E-Book

Sabine Mehne

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Beschreibung

Sterben muss keine todernste Sache sein. Nachdem Sabine Mehne während ihrer Krebserkrankung eine Nahtoderfahrung hatte, macht ihr der Gedanke an den Tod keine Angst mehr. Im Gegenteil: Für sie hat Sterben mit Freiheit, Helligkeit, ja, sogar Freude zu tun. Heute ist sie von ihrer Krebserkrankung geheilt und erlebt die neuen Gefühle der Leichtigkeit als Bereicherung in ihrem Alltag. Erfrischend direkt beschreibt sie, wie sich das Leben und die Beziehungen zu den Mitmenschen verändern, wenn man dem Tod mit Zuversicht und Humor entgegensieht. Ein Buch mit überraschenden Einsichten, das dazu ermutigt, Tod und Sterben in einem anderen Licht zu sehen

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Sabine Mehne

Der große Abflug

Wie ich durch meine Nahtoderfahrung die Angst vor dem Tod verlor

Patmos Verlag

Inhalt

1. Verwandlung – ich sterbe

2. Freiheit – keine Angst mehr vor dem Tod

3. Rückschau – mein Lebensfilm

4. Schnittmengen – ich und die anderen

5. Übergänge – der Tod der anderen

6. Hier und jetzt – keine Angst mehr vor dem Leben

7. Vorbereitung – das letzte Stück

Dank

Anmerkungen

Zitatnachweise

Literatur

»Wenn eine Idee am Anfang nicht absurd klingt, dann gibt es keine Hoffnung für sie.« 

Albert Einstein (1879–1955) 

»Unsere tiefgreifendste Angst ist nicht, dass wir ungenügend sind. Unsere tiefgreifendste Angst ist, über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein.«1

Nelson Mandela (1918–2013)

Gewidmet

meinem Vater

Gerhart Rothgang

(1923–2011)

und

meinem geistigen Vater

Günter Ewald

(1929–2015)

1. Verwandlung – ich sterbe

Sterben ist keine todernste Angelegenheit. Jedenfalls nicht für mich. Ich stelle mir vor, wie kostbar es sein wird, wenn ich zu gegebener Zeit meinen Körper abgelegt haben werde. Wenn sich das Unaussprech­liche von mir verwandelt hat und vielleicht aus reinem Licht besteht oder sich mit dem großen Bewusstsein von allem, was es je gab und je geben wird, verbunden hat. Ich stelle mir vor, wie still, fein und zart dies sein wird. Und ich fühle schon heute eine unermessliche Freude darüber, je an diese Stelle meines Lebens zu gelangen, an der meine Sehnsucht nach dieser Freiheit, Liebe und Stille endgültig gestillt werden wird. Eine solche Freude, dass ich jauchzen und jubilieren könnte. Heute, jetzt, jeden Moment, denn ich lebe ja noch. Was für ein Glück. Ich lebe ja noch. Und wie.

»Sie sind doch noch viel zu jung, um über das Sterben nachzudenken. Kommen Sie erst mal in mein Alter, dann ist noch Zeit genug. Leben Sie erst mal, Sie verpassen ja das pralle Leben, wenn Sie jetzt schon ans Sterben denken!« Solche Sätze höre ich, wenn ich es wage, mein Lebensthema bei Fremden anzusprechen. Dann werde ich starr, schnappe nach Luft und in mir formt sich ein Gedanke: Die meisten Zeitgenossen haben ja keine Ahnung, was ich hinter mir habe, und überhaupt, sind sie nicht geniale Verdränger. Keiner will wirklich nachdenken, geschweige denn darüber sprechen, über das letzte Stück. Die Emotion, die in diesen Momenten in mir aufsteigt, ist eine geballte Ladung aus Empörung und Zorn. Sie löst meine innere Starre, ich atme tief aus und wieder ein und werde ruhig. Dann höre ich mich sagen, nicht sicher, ob mich mein Gegenüber versteht: »Sie haben recht, der Tod gehört zum Leben dazu, sonst ist es kein Leben.«

Ist es Weisheit, über den Tod zu schweigen? Er kommt ja ohnehin, wie er will und wann er will, mein Freund, der Tod. Sterben wir so, wie wir gelebt haben? Können wir das Sterben üben, so ähnlich, wie man sich auf einen Marathon, eine große Reise, eine Prüfung oder nur eine Familienfeier vorbereitet?

Wups! Da ist sie wieder. Meine innere Resonanz. Meldet sie sich in mir, überkommt mich tiefer innerer Frieden und ein ehrliches Gefühl, ein inneres Wissen: Ich denke nicht nur, nein, ich spüre alles bis in die letzte Faser meines Seins. Ich habe keine Angst vor dem Ende. Sterben werde ich überall können, wenn es sein muss auch ohne jede medizinische Hilfe, ja, vielleicht sogar besser als angeschlossen an Kabel und Schläuche und mit diesem ewigen Lärm in solchen Hightechabteilungen eines Krankenhauses. Ich habe es ja erlebt! Den ersten Marathon auf dieses Ziel hin bin ich längst gelaufen, auch wenn mir das heute keiner mehr ansieht.

Diejenigen, denen ich mich anzuvertrauen wage, schauen komisch und wollen es einfach nicht glauben, wenn ich ihnen sage, dass ich mich oft wie eine Neunzigjährige fühle. Nicht, dass ich so alt werden will. Gott bewahre, wäre hier vielleicht der richtige Satz. Möglich wäre es vielleicht doch, das wären dann noch mehr als dreißig Jahre, die ich vor mir hätte. Alle Zahlenspiele und Gedanken über meine Zukunft sind eher beiläufiger Natur, denn es kommt ja ohnehin so, wie es kommt. Wichtig, nein, erstaunlich finde ich die Klarheit und Eindringlichkeit meiner Empfindungen. Ich verspüre sie so klar, seit ich 1995 selbst so schwer krank war und sicher wusste, dass ich mich im Sterbeprozess befand. Damals steckte die Palliativmedizin gerade in den Anfängen, und als Palliativpatient gilt man erst, wenn man von seiner Diagnose her als unheilbar krank eingestuft und »austherapiert« ist, wie es so nett heißt. 1995 hatte ich weder eine Diagnose noch galt ich als unheilbar krank. Bei mir gab es nur Vermutungen und Symptome, die über Monate anhielten, die aber vom Schweregrad eines Palliativpatienten nur unwesentlich entfernt waren. Ich hatte hohes Fieber, Hautblutungen, Nachtschweiß, starke Schmerzen, geschwollene Lymphknoten und wurde immer weniger. Der Verdacht einer Krebserkrankung wurde recht früh, schon im Mai 1995, ausgesprochen. Wirklich bestätigen ließ er sich aber erst nach sechs Monaten. Warum es so lange dauerte und so schwer war, trotz Krankheitszeichen eine Diagnose zu stellen, ist mir noch immer ein Rätsel. Im Lauf der Jahre konnte ich erfahren, dass es trotz bester diagnostischer Verfahren für Ärzte offenbar nicht immer einfach ist, schweren oder verzwickten Leidensgeschichten auf den Grund zu kommen. Glück also für jeden, der eine sichere und rasche Diagnose erhält, auch wenn sie ihm nicht gefällt. Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, hierfür keine Antwort bekommen zu haben, und damit diese Epoche meines Lebens unter die Rubrik der unlösbaren Fälle abgelegt. Ich sehe sogar das Gute im Schlechten und weiß den ungeheuren Erfahrungsschatz, der hinter diesem Leidensweg liegt, zu schätzen.

Nur so schien es für mich möglich gewesen zu sein, zu den Erkenntnissen zu gelangen, die mein Leben so sehr bereicherten und mich zu der haben werden lassen, zu der ich womöglich geboren wurde. Wer weiß das schon immer so genau? Aber einen tieferen Sinn hinter all dem zu entdecken, was uns das Leben so auftischt, ist für mich die beste Strategie für mein persönliches kleines Glück geworden. Jammern hilft auf Dauer nicht wirklich, im Gegenteil, mich schwächt es und gerade das ist es, was meine Lebensqualität mindert. Eine gute Freundin, die ein schweres Schicksal zu meistern hatte und die mir zum Vorbild geworden ist, baute sich selbst mit dem Satz auf: »Wer sagt schon, dass das Leben immer einfach ist?« Ja, wer sagt das eigentlich!

Sind es eher selbst ernannte Hoffnungen ans Leben, die an der Realität vorbeigehen? Oder leben wir echt schon so eingelullt und verwöhnt, dass wir Leid, Ungerechtigkeit und Verlust von vorneherein ausklammern dürfen? Wäre es nicht viel gescheiter, mögliche Misslichkeiten in Betracht zu ziehen, und wäre dann die Dankbarkeit, wenn sie nicht eintreten, nicht umso größer? Würde damit unsere Gier nach immer mehr womöglich kleiner? Und unser Zusammenleben wieder gerechter!

Ich weiß, ich muss aufpassen, das Moralinsaure kommt nicht gut an, und ich will ja auch nicht die Welt retten. Nur manchmal halte ich es fast nicht mehr aus, wenn ich sehe und höre, was wir hier auf diesem Planeten anstellen. Wie verrückt sind wir eigentlich, dass wir meinen, nur »die anderen« kriegten die fiesen Krankheiten, und wir selbst wollen mit heiler Haut davonkommen? Was diesen Teil angeht, habe ich zwar nicht freiwillig hier geschrien, aber offensichtlich hatte ich etwas zu lernen. Oder ist es leichter, es Schicksal zu nennen?

Ich hing an Schläuchen, phasenweise an einem Katheter, künst­licher Ernährung, einer milchigen Flüssigkeit, die oben am Hals in meine Adern tropfte, und ich war auf Morphium eingestellt. Ich war knochendürr und konnte kaum noch essen. In mir wohnte das Gefühl: Ich habe keine Kraft mehr, dieses Leben zu halten, und ich weiß, wenn sich nicht bald etwas ändert, werde ich sterben. Angst verspürte ich seltsamerweise keine. Es war eher die Gewissheit: Wenn dies mein Weg sein sollte, dann stimme ich zu. Ja. Ich bin bereit.

Blick zurück

Das Ganze nahm Anfang Mai 1995 seinen Lauf und begann mit einer Grippe, die es in sich hatte und von der ich mich nicht erholte. Das Merkwürdige war meine Vorahnung, die ich damals mitten in der Nacht hatte. Vorahnungen habe ich, seit ich denken kann, und meistens sind sie richtig und ich tue gut daran, sie ernst zu nehmen. Diesmal lautete die Vorahnung: Diese Krankheit, für die es keinen Namen gibt, hat den Tod im Gepäck. So eindringlich und klar war diese Ansage wie seither das Gefühl, schon neunzig zu sein.

Seit dieser Zeit begann ein innerer Prozess, ein Erfahrungsweg, eine tiefe Verwandlung, die bis heute mein Leben bestimmt. Damals errichtete ich zwei Kammern in mir, in denen ich zu leben begann und zwischen denen ich oft hin- und herpendelte. Die eine Kammer, Nummer eins, galt dem realen Leben mit meinem Mann, unseren drei Kindern, meiner Familie, den Freunden und was sonst noch alles zu einem guten Leben gehört. Ich hatte alles, was ich mir nur wünschen konnte. Ich war verheiratet mit der Liebe meines Lebens, und es war uns vergönnt, drei Wunschkindern das Leben zu schenken: zwei wunderbaren Jungs, die in dem besagten Jahr ihren zehnten und siebten Geburtstag gefeiert hatten, und ihre kleine Schwester, die mit ihren eineinhalb Jahren gerade in einem entzückenden Alter war. Sie konnte sicher auf ihren eigenen Beinen laufen, hatte ein bezauberndes Kindergesicht, umrahmt von blonden Locken, und sie entdeckte nicht nur die Welt um sich herum – im Spazierenstehen, das ich mit ihr statt des Spazierengehens übte –, sondern probierte auch ihre ersten Sätze. Wir hatten uns ein Haus im Grünen bauen können mit genügend Auslauf für unsere Bande. Meinen Traumberuf der Physiotherapie übte ich in einer nahe gelegenen kleinen Praxis aus, zusammen mit einer Kollegin und weiteren Mitarbeiterinnen. Für unsere Kinder sorgte dann unsere Kinderfrau Gudrun, die auch einkaufte, kochte und die Wäsche bügelte, wenn sie Zeit hatte. Die Großeltern lebten keine zehn Minuten entfernt, und jedes Kind hatte dort sein Bett, seinen Schlafanzug und eine Zahnbürste. Darüber hinaus gab es dort einen prachtvollen Garten und wunderbares Spielzeug, meist von der Großmutter selbst gebastelt und gebaut.

Ich weiß es noch, als wäre es heute, sagte ich doch auf einem Spaziergang mit meinem Mann voller Entzückung zu ihm: »Unser Leben ist gerade so schön, dass ich es festhalten will. Alles soll genau so bleiben, wie es ist.« So schön es war, so anstrengend war es auch. Wir waren beide fest eingetaktet in unsere Berufe und das Leben mit den Kindern. Für uns Eltern blieb oft wenig freie Zeit, und wenn wir sie uns mühsam ergattert hatten, waren wir trotz aller Unternehmungslust manchmal einfach nur müde. Heute, da alle Kinder ihre Wege gefunden haben und ich endlich mein Leben weitgehend wieder so gestalten kann, wie es mir selbst entspricht und ich es brauche, fällt es mir schwer zu begreifen, wie wir diese Zeit gemeistert haben. Mich überkommen regelrechte Panikgefühle, wenn ich daran denke, noch mal dieses Pensum schaffen zu müssen. Aber muss ich ja nicht.

Seit auch mein Mann in Pension ist und wir uns an ein neues Bei- und Miteinander gewöhnt haben – ja, unser Leben einen Hauch von Schneckentempo hat, das mir unendlich guttut –, empfinde ich eine große Dankbarkeit und auch ein wenig Stolz, meine Lebensaufgabe bis hierher gemeistert zu haben. Denn in jenem Jahr 1995 gab es in mir auch das nagende Gefühl, dass dieses volle Leben womöglich eine Nummer zu groß sei. Ich fühlte mich nicht nur müde, sondern oft am Limit meiner Möglichkeiten. Ich lebte auf Pump meiner Energiereserven und hatte Anfang 1995 beschlossen, mir selbst doch noch ein halbes Jahr verlängerte Elternzeit zu genehmigen und nicht in der Praxis zu arbeiten, sondern nur die administrativen Dinge zu erledigen. Doch diesen Entschluss musste ich nicht mehr umsetzen, denn mein Körper hatte sich bereits entschieden, die denkbar heftigste Auszeit für sich einzufordern. Dass ich nach meinem Empfinden schon am Limit meiner Kraft angekommen war, interessierte ihn nicht. Es geht immer noch mehr, und was der Mensch auszuhalten in der Lage sein kann, sollte ich mit achtunddreißig Jahren kennenlernen.

Meine zweite Kammer

Wie gut, dass ich meine Kammer Nummer zwei hatte, in die sich anfangs meine Angst einquartiert hatte. Angst vor dem, was alles noch auf mich zukommen würde, Angst zu sterben und vor allem Angst vor diesem Leiden und Ausgeliefertsein, liegt man einmal in solch einem Krankenhausbett und kann nicht mehr alleine für sich sorgen. Erstaunlicherweise war diese Kammer kein schwarzes Loch in mir. Nein, sie war eine helle, kleine, lichtdurchflutete Stube, die Geborgenheit und Frieden beherbergte. Ich hatte einen Schutzraum gefunden, in dem ich mich aufwärmen konnte. Zum damaligen Zeitpunkt konnte ich mit niemandem über meine Ängste sprechen. Keiner wollte damit etwas zu tun haben, es reichte schon, dass es mir so schlecht ging. Ich übte das, was ich auch von anderen Schwerkranken kenne: Obwohl ich so sehr der Hilfe bedurft hätte, tröstete ich die anderen und spielte ein wenig die Heldenrolle. Ich wurde tapfer, wie man so schön sagt.

Als Kranker oder schwerbehinderter Mensch lebt man in unserem Land in einer Art Schutzzone. Auf der einen Seite erfährt man Unterstützung und Zuwendung, auf der anderen Seite muss man, auch wenn man am Limit ist, immer etwas freundlicher, geduldiger und höflicher sein als die gesunden Muskelpakete um einen herum. Sie können sich bei aller Lebenskraft nur sehr schwer in einen leidenden und ausgelieferten Menschen hineinversetzen. Sie vergessen einfach, dass man plötzlich keine Kraft mehr hat und sofort einen Stuhl braucht oder einen Moment Reizfreiheit.

Zur Heldenrolle gehört also die Lernerfahrung, sich selbst so gut im Griff zu haben, dass man auch dann noch freundlich bleibt, selbst wenn einem das Herz schon lange in die Hose gerutscht ist, und dass man rechtzeitig einschätzen kann, wann es mit der Souveränität vorbei sein könnte. Verzweifelte Erschöpfungsattacken, womöglich noch begleitet von Weinanfällen lösen immer wieder Erstaunen und Hilflosigkeit aus. Außerdem will die Umgebung oft nichts von Leid und Schwäche hören, sie will das Gefühl der Unverwundbarkeit bitte nicht angetastet wissen, so meine langjährige Erfahrung. Ich konnte auch erleben und beobachten, dass es einem Menschen eine ungeheure Stärke verleiht, wenn er schweres Leid überstanden hat. Meine Vorbilder waren und sind immer noch Menschen, die den Wahnsinn der Konzentrationslager, Folter, Vertreibung und Krieg überall auf der Welt miterlebt haben. Was ist mein kleines Schicksal gemessen an der Menge des Leides auf diesem Planeten? Den eigenen Rahmen größer zu spannen und sich als Teil der ganzen Menschheit zu wissen und zu verstehen, ist für mich sehr hilfreich gewesen und immer wieder Ansporn, den eigenen Horizont zu erweitern.

Urlaub mit dem Tod im Gepäck

Trotzdem war da nun mal mein Leben mit der Lernerfahrung, über die ich froh war, nämlich die Entdeckung meines inneren Zweikammersystems. Diese Aufteilung diente der Klarheit und Notwendigkeit, diese unerklärliche Phase meines Lebens heil zu überstehen. So durften meine Familie und ich im Sommer 1995 doch noch unseren lange geplanten Urlaub antreten. Zuvor wurden mir zur Untersuchung einige der geschwollenen Lymphknoten am Hals entfernt, und mein Arzt hatte den Verdacht auf eine mögliche Krebserkrankung offen ausgesprochen. Hohe Dosen an Cortison halfen mir wieder auf die Beine. Die einzige Ansage meines Arztes lautete: Sollte ich Fieber bekommen, dann müsse ich umgehend den nächsten Flieger nehmen und sofort in die Klinik kommen. Ich wusste, ich würde kein Fieber bekommen, und wir flogen gemeinsam mit meinen Eltern nach Portugal ans Meer und in die Sonne. Ich saß also mit den Kindern am Strand und versuchte, eine ganz normale freundliche Mutter zu sein. Bilder aus dieser Zeit bestätigen das, auch wenn ich etwas dünner war als sonst. Von außen war mir nichts anzusehen. Es gelang mir tatsächlich, die Stunden am Strand mit den Kindern zu genießen. Diese ungebrochene Lebenskraft, die in ihnen steckte, erlebte ich als sehr erfüllend und nährend, und ich wollte alles tun, sie ihnen nicht auszutreiben oder sie zu lähmen, trotz meiner Vorahnung im Gepäck.

Oft aber blieb ich im Appartement zurück. Es war mir zu heiß und zu anstrengend. Dann lag ich auf meinem Bett und las in dem Buch von Elisabeth Kübler-Ross »Kinder und Tod«. Es war das einzige Buch zum Thema Tod, das ich zum damaligen Zeitpunkt in unserem Bücherregal stehen hatte. Ich hatte es für den Fall gekauft, dass mal eines unserer Kinder dem Tod nahe käme. Meist geschieht so etwas überraschend, und ich wusste, dass ich dann keine Zeit gehabt hätte, um noch in die Stadt zu fahren und Bücher zu besorgen. Ich war immer schon gerne vorbereitet, und außerdem habe ich stets in dem Bewusstsein gelebt, dass auch ein Kind sterben könnte. Ich wusste immer, dass sie uns nicht gehören, nur weil wir sie in die Welt gesetzt haben. Mein Mann und ich sind nur die Menschen, die sie hervorbringen, beschützen, ernähren, lieben und achten, bis sie selbst auf eigenen Füßen stehen können. Sie waren uns anvertraut von dieser großen Kraft, die man Gott nennt. Ich wusste bei jeder Geburt, dass ich auch den Tod geboren hatte, und hätte es auf dem Lebensplan eines Kindes gestanden, dass es nur kurz hier auf der Erde verweilen darf, hätte ich dem zustimmen können, so schwer es mir auch gefallen wäre. Es ist bis heute nie dazu gekommen, welches Glück, welche Gnade!

So lag ich mit dem Buch an der Algarve in unserem Appartement auf meinem Bett, das weiße Leintuch über mich gezogen, denn obwohl es draußen heiß war, fröstelte ich. Meine Kammer Nummer zwei war hell erleuchtet und bot mir Schutz. Diese Leichtigkeit, Feinheit und sogar Freude, mit der Kinder über ihren eigenen Tod sprechen, zeichnen und nachdenken, übertrug sich auf mich. Sie tat mir gut, mich auf mein eigenes Ende einzustimmen, und ich verspürte weniger Angst. Schon damals bemerkte ich einen Hauch dieser Greisenhaftigkeit in mir. Etwas Langsames, Zartes, ein ruhiges Atmen, auch wenn es nicht mehr bis hinunter in die Flanken reichte, ein Seufzen und eine gewisse Müdigkeit, obwohl ich real erst achtunddreißig Jahre alt war.

Einschulung mit dem Tod im Gepäck

Kurz nach der Rückkehr aus dem Urlaub wurde unser ältester Sohn ins Gymnasium eingeschult. Mein Mann hatte an diesem Tag einen beruflichen Termin, den er nicht absagen oder verschieben konnte, also packte ich unsere kleine Tochter in den Buggy und wir zogen los in die große Aula. Das Schieben des Wagens machte mir zu schaffen, ich hatte keinen Saft in den Gliedern und war schnell in Schweiß gebadet. Dann fror ich wieder und hüllte mich trotz milder Temperaturen in Wolle. Trotzdem gab ich nach außen sicher eine gute Mutter ab, Kammer Nummer eins stand offen. Ich war nicht die Einzige, die das Taschentuch zückte, weil sich plötzlich Tränen sammelten, als die Kinder einzeln aufgerufen wurden. Dieser Moment fühlte sich großartig an, und ich war so glücklich, überhaupt hier zu sein. Beim Naseputzen kippte meine Stimmung und ich musste mich beherrschen, sie zu verbergen, vor allem vor unserer kleinen Tochter, die ich auf dem Schoß hielt. Glasklar schob sich meine neue Realität zwischen uns, die unaufhörlich in mir einen Satz anstimmte: Womöglich erlebe ich es gar nicht, wenn unser Sohn diese Schule abschließen wird. Die Vorahnung, die ich nun schon wochenlang mit mir herumschleppte und niemandem zu erzählen wagte, machte sich breit: Diese Krankheit hat den Tod im Gepäck, auch wenn es dir momentan besser geht!

Ich bemerkte, wie mir alle Spannung aus dem Körper wich und ich zusammengesunken jeden Wirbel an der harten Stuhllehne spürte. Meinen dünnen Hintern drückte ich auf den Sitz, um nicht wegzurutschen, und obwohl ich dieses weiche kleine Bündel von unserer Tochter auf dem Schoß hielt, fühlte ich mich wieder für einen kurzen Moment wie eine Greisin, die ihr Urenkelchen hält. Die Angst, alle drei Kinder womöglich nicht groß werden zu sehen und von ihnen Abschied nehmen zu müssen, wandelte sich in einen Hauch von Stille. Um mich herum hörte ich alles wie durch Watte, als säße ich in einem schalldichten Raum. Die Elternmasse, zu der ich eben noch gehört hatte, zog sich von mir zurück, ich saß in meiner Kammer Nummer zwei und war versunken in einen Frieden, der mich innerlich umarmte. Meine Tochter, die bis eben ihren Blick wachsam zur Bühne gerichtet hatte, drehte ihren Kopf an mein Gesicht, streichelte mit ihrer kleinen warmen Hand meine Wange, lächelte mit ihrem süßesten Kinderlächeln direkt in meine Augen und vergrub dann ihren Kopf an meinem Hals. Ihre kleine Nase und ihren Atem spürte ich an dieser weichen Stelle zwischen den Schlüsselbeinen. Ihr schneller Herzschlag pochte auf meiner Haut und ich dachte: Sie hat den Schlüssel zu meiner Kammer Nummer zwei gefunden. Sie weiß, wo ich bin, sie kennt diesen Ort, sie teilt mit mir im Innersten eine Ebene, für die es keine Worte gibt.

Dann klappte die Tür meiner Kammer Nummer zwei mit einem Knall zu. Das schlechte Gewissen machte sich in mir breit. Eine innere Stimme tadelte mich, wie ich es wagen könne, das Kind so zu benutzen, es in seiner Zartheit mit in meinen Todessog einzubeziehen, anstatt ihm nur vom Leben, den Blumen und den Tieren zu erzählen, wie alle Mütter es in diesem Alter mit ihren Kindern tun. Beherrsch dich, reiß dich zusammen, du bist erwachsen, du hast die Verantwortung für dieses junge Leben, gib dir einen Ruck und komm wieder zurück in dieses bunte Treiben! Hier spielt die Musik deines Lebens, Kopf hoch, es wird schon!

Ab diesem Tag verbot ich mir, die Kammer Nummer zwei im Beisein der Kinder zu öffnen, ja ich versteckte meinen Schlüssel, so gut ich konnte, hinter meinem Lächeln und einer heiteren Stimmung. So begann ich selbst zu glauben, dass alles bisher nur ein Spuk gewesen war, der jetzt sein Ende fände, und dass ich wieder ganz gesund werden und meine Aufgabe wie bisher mit ganzer Kraft und Freude würde erfüllen können. Ich nahm mich in den nächsten Tagen zusammen und fuhr den ältesten Sohn am Nachmittag zum Schwimmunterricht, den jüngeren zur Geigenstunde, die Kleine erhielt ihre Masern-Mumps-Impfung beim Kinderarzt, ein Grillfest, ein Friseurtermin standen auf dem Programm, ich besuchte sogar meine Fitnessstunde mit Pilates, hielt eine Fortbildung für Kolleginnen in meiner Praxis und eine Wochenendveranstaltung in einem Weiterbildungsinstitut für Physiotherapeuten, lud die Großeltern zum Kaffeetrinken ein, begleitete die Kinder zu einem Malkurs. Abends sank ich komplett erschöpft in meine Kissen, um nachts schweißgebadet aufzuwachen und mich zum Weiterschlafen zu zwingen. Ich hatte über mehrere Tage leichtes Fieber, das ich ignorierte, und urplötzlich Schmerzen, als hätte ich einen Dauerkrampf im Leib. Ich rief meine Ärztin an, die mich am liebsten sofort in die Klinik einweisen wollte. Doch das konnte ich abwiegeln. Sonntagabends geht kein normaler Mensch in ein Krankenhaus, wenn es nicht absolut lebensnotwendig ist. Es würde nichts mehr passieren, davon konnte ich sie überzeugen, und die Nacht würde ich irgendwie rumkriegen. Ich wollte selbst am Montag bei meinem Professor im Klinikum, der mich bis dato betreut hatte, vorsprechen. Dass ich die nächsten Wochen das Krankenhaus nicht mehr verlassen und fast ständig in Kammer Nummer zwei leben würde, hätte ich in meinen kühnsten Träumen und auch mit der sicheren Vorahnung nicht zu denken gewagt.

Meine Verwandlung

Die Schmerzen, das Fieber und ein Krankenhausbett als einzig sicheren Ort verwandelten mich innerhalb von wenigen Tagen in eine Schwerkranke, die jetzt Schläuche an sich hängen hatte, kaum noch essen konnte, von einer Untersuchung zur nächsten gefahren wurde und es kaum ertrug, was mit ihr und ihrer Körperhülle angestellt wurde. Die ihren Kopf in das Kissen grub, sich leise selbst ansprach und stundenlang zählte, um nach jeder Zehn wieder Luft zu holen. Waren die Schmerzen zu groß, dann rollte ich mich auf der Seite zusammen und wimmerte vor mich hin. Manchmal atmete ich auch so, wie ich es für die Wehen gelernt hatte, mit spitzem Mund eine lange Ausatmung, um dann die Luft hineinströmen zu lassen und mich beim nächsten Ausatmen möglichst locker zu halten.

Das Empfinden für meinen Körper veränderte sich drastisch. Es wurde weiter, größer, wabbeliger, löchriger, und ich begann mich von dieser Leiblichkeit regelrecht zu entwöhnen, sie nicht mehr als Einheit mit mir zu betrachten. Erstaunt bin ich noch heute, dass ich selten ärgerlich oder wütend wurde, eher verzweifelt und wissend, dass der einzige Weg, dem zu entkommen, sich zu fügen ist. Je eher ich mich fügte, mich also ganz und gar hineinbegab, je weiter weg empfand ich mich von meinem Körper, und umso heller wurde es in meinem Geist, in meinem Inneren, meiner Kammer Nummer zwei. Dort erlebte ich eine ungeheure Weitung meiner selbst, eine Art des Staunens, wie ich es von unseren Kindern kannte. Alles schien neu und doch sehr bekannt. Es war mir, als wäre ich dort schon einmal gewesen und hätte es nur bis dahin vergessen. Je leidender mein Körper wurde, umso feiner wurde meine Wahrnehmung.

Mein Gehör empfing Schallwellen, die ich bislang als unbedeutend eingestuft hatte. Ich hörte das zarte Atmen meiner Zimmernachbarin, die Summ- und Surrgeräusche aller möglichen Gerätschaften und die Schritte draußen auf den Fluren. Am Klang konnte ich irgendwann erkennen, wessen Füße sich da bewegten. War es eher ein zaghafter Besucher, der unsicher nach der Zimmertür suchte, die Herde der Chefvisite, die Nachtschwester oder ein Notfalleinsatz vorne im Zimmer am Fluranfang? Die Geräusche verwandelten sich für mich bisweilen zu einer Melodie, so seltsam es klingen mag. Mein Geist bastelte daraus Rhythmen, kleine wiederkehrende Melodien, oder ich meinte, das Atmen der Nachbarin wäre der Wind am Strand, der in der Abenddämmerung leicht das Seegras umspielt. Selbst das zarte Geräusch, welches entsteht, wenn sich ein Tropfen aus der Infusionsflasche löst, um in den kleinen Sammeltopf darunter zu plumpsen, bevor er dann durch den Schlauch in mein Blut rutscht, verwandelte ich in Melodien. Ich hörte manchmal Mozartinfusionen und verspürte Ruhe, Freude und Leichtigkeit. So ergab es für mich einen Sinn, an diesen Beuteln zu hängen.

Später, als es dann die Chemo war, die sich auf diese Weise ihren Weg in mich bahnte, entdeckte ich ein wunderschönes Bild: Ich stellte mir vor, dass jeder Tropfen des Giftes in Wahrheit pures Gold sei. Ich wurde innerlich vergoldet. Die Krebszellen wurden vergoldet, nicht getötet. Mit diesen militärischen Worten konnte ich gar nichts anfangen, sie schwächten mich. Die Vorstellung, einen inneren Krieg gegen den Krebs zu führen, fand ich grässlich. Ich und Krieg, das kostete doch viel zu viel Kraft, und so viel Totes in mir zu wissen und selbst zum Grab zu werden, nein, danke. Aber vergoldet zu werden, das hatte etwas. Wer wird schon einfach so vergoldet? Es kostet ja auch in Wirklichkeit einen Haufen Geld, ja, eine Krebstherapie in diesem Ausmaß ist ein halbes Haus wert. Welch ein Glück, dass wir ein so gutes System der Krankenversicherung haben.

Ich weiß, es klingt bedenklich, doch wie wunderbar scheint diese Vorstellung zu sein, dass sie mir letztlich half, in andere Bereiche meiner selbst einzutreten, um damit dem Leiden entfliehen zu können und ihm eine neue Bedeutung zu geben. Mit meinem heutigen Wissen denke ich, dass ich nicht die Einzige bin, die solcherlei Erfahrungen, wie das Eintauchen in innere Welten, machen darf, die zum Menschsein gehören, aber erst möglich werden, wenn sie tatsächlich gebraucht werden. Alleine diese Vorstellung dämpft meine Sorge um zukünftige Leiden, denn sterben werde ich ja irgendwann endgültig. Wer weiß, welche inneren Bilder dann in mir wach werden, um mir den Übergang zu erleichtern?

Ähnlich wie mit dem Wahrnehmen von Geräuschen verhielt es sich auch mit dem Sehen, es stellte sich auf Weite – oder soll ich sagen auf die Unendlichkeit? – ein. Ich konnte stundenlang am Himmel das Vorbeiziehen der Wolken sehen, ich verfolgte jede einzelne punktgenau, bis sie aus dem Horizont meines Fensters verschwunden war. Dagegen war es schwierig geworden, die Uhrzeit auf dem Wecker zu erkennen. Die genauen Merkmale eines Menschen konnte ich mir nur schwer merken, wohl aber die Ausstrahlung des jeweiligen Blickes und den Klang der Stimme sowie seine Wirkung auf mich oder die Bewegung der Hand, die sich meinem Körper näherte, um mir eine Spritze zu geben oder mich zu waschen. Mir Namen zu merken, fiel mir damals schon schwer, aber eine Schwester danach zu beschreiben, wie sie lächelte, wo ihr Scheitel saß oder wie sie die Spritzennadel führen konnte, war für mich eine Leichtigkeit. Dies ist im Übrigen geblieben, zu meinem Leidwesen. Bis ich mir einen Namen gemerkt habe, muss ich richtig ackern, aber die Situation der jeweiligen Begegnung, der Ausdruck des Gesichtes und was gesprochen wurde, kann ich sofort in allen Details beschreiben.

Außerdem wurde ich zur Spezialistin in der Wahrnehmung der Gefühle anderer. Sogar von weitem wusste ich, wer selbst vor dem Tod Angst hatte, wer zu Hause Stress hatte, müde, hungrig, freudig oder traurig war. Und blitzschnell stellte ich mich darauf ein. Solange ich konnte, wollte ich dann den jeweiligen Menschen schonen, indem ich ihm möglichst wenig Arbeit bereitete. Ich klingelte und jammerte nur in meiner größten Not. Manchmal ging das leider nach hinten los, und letztlich wurde die Arbeit mehr statt weniger, wenn ich zum Beispiel zu lange gewartet hatte, um Hilfe zu rufen, und dann doch das Bett beschmutzte und es völlig neu bezogen werden musste. Schön blöd, aber es dauerte eben, bis ich mich nicht mehr schämte, die Hilfe wirklich zuzulassen. Ob dies in uns Menschen angelegt ist? So lange wie möglich die Autonomie zu wahren? Wie schlecht muss es einem Menschen gehen, bis er aufhört, sich dafür zu schämen, wenn der Popo abgewischt wird?

Berührung

Es gab noch eine Veränderung, die mir sehr zu schaffen machte. Berührungen anderer konnten mich fast umbringen. Ein Griff unter die Achsel zum Aufsitzen an der Bettkante fühlte sich für mich an wie ein Stromstoß. Der übliche Händedruck eines anderen Menschen war mir viel zu stark oder das Betasten des Bauches eine Tortur. Selbst zarte Berührungen, die mich beruhigen sollten, konnten mir Schmerz bereiten. Ehrlich, am liebsten wäre es mir gewesen, jeder hätte mich mit einem Sicherheitsabstand von mindestens zwanzig Zentimetern berührt, an manchen Tagen eher gar nicht. Doch das ist leider im Krankenhausalltag unmöglich. Ich weiß, dass alle Sterbebegleiter dafür heute sensibilisiert sind und meist ihre Berührung sogar verbal ankündigen. Das finde ich respektvoll, es lindert und hilft, sich als weiche Masse Mensch zu orientieren.

Es gab auch Berührungen, die außerordentlich hilfreich waren und viel öfter bewusst hätten verabreicht werden sollen. Auf der Suche nach der Ursache meiner starken Schmerzen wurde eine Angiografie der Bauchgefäße durchgeführt. Dabei war meine Mitarbeit vonnöten: Ich sollte auf Kommando die Luft anhalten. Das schien mir völlig unmöglich, denn ich war mit Beruhigungs- und Schmerzmitteln abgefüllt und wollte nur schlafen. Ich lag auf der harten Untersuchungsliege und spürte die Konturen meines Körpers nicht mehr. Mein Kopf fühlte sich an wie eine Kugel und der Rest war nur noch Masse, keine Arme, keine Beine, nur ein Stück Fleisch, dessen Grenzen verschwommen waren. Mein Zeitempfinden war gedehnt, alles dauerte ewig. Der Arzt, der an mir herumhantierte, sprach streng und laut mit mir. Seine Anweisungen nahm ich wie durch eine Wand wahr, ihn als Person nicht wirklich. Ich quälte mich auf der harten Unterlage, seinen Worten zu folgen, doch mein Bewusstsein schaltete sich immer wieder aus. Jeder Schuss des Kontrastmittels durchfuhr mich wie ein Feuerstrahl, dem ich standhalten musste. Da geschah etwas Unerwartetes: Mein behandelnder Arzt, der der Untersuchung zusah, trat zu mir und legte seine Hand oben auf meinen Kopf. Der Gegendruck seiner Hand gab mir die Möglichkeit, mich wieder zu fühlen, mich zu zentrieren. Meine Konzentration wurde schlagartig besser, und ich spürte seine Kraft und Unterstützung. In meiner Bewertung kam mir das »Handanlegen« als der rettende Moment vor. Kein Medikament der Welt hätte das geschafft! Eine gigantische Vorstellung, gemessen an der Winzigkeit der Handlung.

Jahre später fragte ich meinen Arzt, der sich noch gut an die Situation erinnern konnte, welchem Impuls er gefolgt sei. Er sagte mir, er habe sehr stark gespürt, wie schlecht es mir gegangen sei, so dass er aus Mitgefühl gehandelt habe.

Als Eindrücke, die mir zu schaffen machten, wären noch die Zusammenstöße des fahrenden Bettes mit der Aufzugkante, der Wand oder der Zimmertür zu nennen. Das ist wie auf einer Buckelpiste zu fahren, nur ohne Vergnügen. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich samt diesem Bett durch Krankenhausflure und unterirdische Verbindungswege gefahren oder in schrecklich stinkende Aufzüge geschoben wurde. Ich weiß aber, wie Nasenlöcher und Kinnpartien und wie Deckenleuchten und Abhängungen von unten aussehen, selbst bei geschlossenen Augen. Ich kenne alle Geschichten, die so erzählt werden, wenn Patienten beim Transport irgendwo in der Bettenschlange abgestellt werden und selbst bei örtlichen Betäubungen vermeintlich nichts mitbekommen.

Die Geschichten und Erzählungen von draußen bei wohlgemeinten Besuchen, die dazu dienen sollten, mich anzuspornen, tapfer zu sein, empfand ich leider meistens als sehr anstrengend. Verzeihung an alle Besucher, die es nur gut mit mir meinten. Das Leben da draußen hatte sich so weit von mir zurückgezogen, dass mich Besuche mit viel Gerede komplett erschöpften, aber zur Heldenrolle gehörte auch, hier durchzuhalten, bis sich der Besuch wieder verabschiedet hatte. Es sind verschiedene Welten, in denen jeder für sich unterwegs ist, und jede hat ihre Berechtigung. Die Schnittmengen sind selten optimal, aber solange sie vorhanden sind, muss es sich noch um Leben handeln und so lange ist man noch nicht tot!

Aufs Sterben einlassen

Zurückgezogen in Kammer Nummer zwei fühlte ich wieder und wieder zu den sterbenden Kindern, die mir beim Lesen im Urlaub zu Begleitern geworden waren. Sie waren mir so nah, dass ich meinte, auch ich würde, wenn es nicht bald eine Lösung gäbe, hier immer weniger werden und irgendwann einfach verschwunden sein. Ich wusste es so sicher, die einzig logische Folge. Für mich war das der erste Teil des Sterbeprozesses, das langsame Loslassen und Einlassen auf einen Zustand, der mir unabänderlich erschien.

Wenig später zeigte sich, dass ich recht behalten sollte, denn am 6. Oktober 1995 lautete endlich die Diagnose: Hochmalignes, großzelliges T-Zell-Lymphom im Stadium III B, eine Krebsart, vergleichbar einer akuten Leukämie. Meine spezielle Diagnose ist eine absolute Rarität, wie ich immer wieder hörte. Normalerweise bekommen nur Männer über fünfundsechzig Jahren diese Krankheit. Bei den meisten Menschen, die ein sogenanntes Non-Hodgkin-Lymphom haben, entarten die B-Zellen, eine Untergruppe der weißen Blutkörperchen, die eine wichtige Rolle für das menschliche Abwehrsystem spielen. Das Besondere und Gefährliche bei mir waren aber die entarteten T-Zellen, die sich so rasant in mir vermehrten, dass ich Teile dieser Lymph­tumor­pakete, die sich in meinem Bauchraum, in den Organen und überall tummelten, mit meinen Fingern berühren konnte. Sie quollen über meinen Schlüsselbeinen aus mir heraus und hatten schon meine Luftröhre verschoben. Das Atmen bereitete mir große Mühe. Unbehandelt führt diese Krankheit in kurzer Zeit zum Tode. In dem Moment der Diagnosestellung gab es nur mein inneres Wissen und Fühlen.

Für mich gibt es, wenn wir über das Sterben sprechen, einen elementaren Unterschied: Es gibt die rationale, denkende und sprechende Form, sich dem Sterben anzunähern, und die fühlende, erlebende und erfahrbare Seite dieses Prozesses, den jeder Mensch zu durchleben oder durchleiden hat. Diejenigen, die tatsächlich versterben, können nicht mehr darüber berichten. Was uns bleibt, um uns anzunähern, ist die Beobachtung von außen, die Schilderungen derer, die durch Pflege oder Beistehen direkt betroffen sind. Es liegt in der Natur des Menschen, dass jede Beobachtung immer mit der eigenen Weltsicht und dem eigenen Erfahrungsschatz bewertet wird. So ist es natürlich auch bei mir, wenn ich über meinen inneren Sterbeprozess schreibe und mich hauptsächlich diesem feinen inneren Erleben widme, diesem Prozess des Abschiednehmens von dieser Welt und meinem Körper. Ich habe unzählige Gespräche geführt und mich immer bemüht, meine Geschichte zu reflektieren und zu hinterfragen. Und wenn ich heute tatsächlich wie das blühende Leben aussehe, so bin ich im Inneren die geblieben, die in jeder Zelle weiß, was Sterben bedeutet. Daher fühle ich mich so oft wie eine Neunzigjährige, die ihr Leben gelebt hat, deren Schritte kürzer geworden sind und die mit einer gewissen Gelassenheit und fast kindlicher Naivität auf das schaut, wovor hier in Deutschland so viele Menschen Angst haben: Sie blickt auf ihr eigenes Ende und weiß, dass es kommt, wann es will und wie es will. Für mich ist dann jeder Moment, jede Sekunde, jeder Atemzug eine ganz normale Angelegenheit und gleichzeitig das größte Wunder überhaupt. Ich staune, bin irre dünnhäutig, dankbar und empfinde ein Glück, für das es keine Worte gibt.

Morphium

Als wunderbar erlebte ich die Stunden nach den Morphiumspritzen. Anfangs bekam ich die Spritzen auf Verlangen, dann schlief ich meist und mein Geist war wie in Watte gepackt, fern der Qualen, wie erhoben in den Himmel und ohne Schmerz. Später wurde ich auf Morphium eingestellt und war erstaunt, wie schnell sich mein Körper daran gewöhnte, denn die Schläfrigkeit ließ nach und ich bekam wieder Biss. Dann konnte ich mühelos meine Kammer Nummer zwei schließen und die andere öffnen. Ich telefonierte mit meiner Familie, hörte die Stimmen unserer Kinder, ließ mir erzählen, was sie so machten, und beriet sogar meinen Mann bei der einen oder anderen Entscheidung.

Nach zehn Tagen war ich so gut eingestellt, dass ich sogar einen Nachmittag nach Hause gehen durfte, um wichtige Dinge für die Praxis zu erledigen und die Kinder noch einmal zu sehen, bevor ich am Tag darauf für die Chemotherapie in die Uniklinik Mainz verlegt wurde. Unsere Kinder waren seltsam verschämt an diesem Nachmittag. Obwohl sie sich in meine Arme kuschelten, war ich ihnen durch die Wochen im Krankenhaus fremd geworden, und sie spürten meine andere Schwingung. Damals war ich ziemlich hilflos, aber ich lächelte und überspielte den Tod in mir durch einfaches Dasein, Zuhören und ein bisschen Albernsein. Kinder sind einfach wunderbar. Sie spüren sofort, was los ist, und auch, dass sie nichts sagen dürfen, sondern tun so, als wäre alles gut. Ich wollte nicht wissen, wie viel Angst auch sie fühlten und wie tapfer sie waren, es mich nicht spüren zu lassen. Heute weiß ich es und natürlich auch, was diese Angst mit ihnen gemacht hat. Sie sind um ein Vielfaches mitfühlender als Altersgenossen, sie haben eine dünnere Haut und oftmals Mühe, Stress auszubalancieren. Außerdem plagte sie eine innere Wut auf meine Krankheit und den Umstand, dass sie in einer Zeit, in der Kinder normalerweise ihre Dinge erleben dürfen, viel zu oft Rücksicht auf mich nehmen mussten und es heute auch noch oftmals müssen.

Singen trotz Tod im Gepäck

In der Zwischenzeit war ich auf die hämatologische Abteilung der Uniklinik Mainz verlegt worden und hatte die Aufnahmeprozedur nebst erneuter Knochenmarkpunktion überstanden. Die Kinder durften mich hier nicht besuchen, wegen des Risikos, Kinderkrankheiten einzuschleppen, die für alle Patienten eine große Gefahr gewesen wären. Das stimmte mich sehr traurig. Der Vorteil war, dass ich mich vor ihnen nicht hätte verstellen müssen, hätten sie hier im Zimmer herumgestanden und eine Mutter in einer Umgebung erlebt, die für ein Kind nur schwer zu ertragen ist. Auf meinem Nachtschränkchen wartete mein kleiner Kassettenrekorder auf seinen Einsatz. Mit ihm überbrückte ich die Trennung von den Kindern. In den langen Wochen erzählte ich ihnen Geschichten auf Kassetten und sang sogar aus dem mitgebrachten Liederbuch mit krächzender Stimme Kinderlieder, die mich trösteten. »Der Mond ist aufgegangen«, »Morgens früh um sechs kommt die kleine Hex« oder »Kommt ein Vogel geflogen« wurden für mich zu Ohrwürmern und halfen mir über manch unruhige Nacht hinweg. In Gedanken eine Melodie zu singen, ist wahrlich Balsam. Gudrun erzählte mir am Telefon, dass diese Kassetten für die Kinder der absolute Hit waren. Sie saßen oft im Kreis auf dem Boden, in der Mitte ihr Rekorder, wie am Lagerfeuer und lauschten. Immer wieder hörten sie meine Geschichten und Lieder, und ich dachte mir, die Stimme ist doch ein wunderbares Instrument.

Als ich mich im März 1996 auf die Knochenmarktransplantation vorbereitete und erneut damit rechnen musste, zu sterben, habe ich wieder eine Kassette besprochen. Um unseren Kindern nicht unnötige Angst einzujagen, wollte ich ihnen die Gefahren dieser noch neuen Behandlungsmethode nicht auftischen. Aber hätte es mich nun doch erwischt, wäre es für mich unverzeihlich gewesen, ihnen im Angesicht des Todes nicht mehr gesagt zu haben, wie sehr ich sie liebe. So sprach ich diese Botschaft auf mein Band, ebenso, dass kein Kind an meiner Krankheit Schuld tragen würde. In verschiedenen psychologischen Fachbüchern hatte ich gelesen, dass Kinder dazu neigen, sich selbst die Schuld zu geben, und sich Vorwürfe bis zur Selbstzerstörung machen können. Ich erzählte ihnen, wie schmerzlich ich sie vermissen würde und wie schön unsere Zeit gewesen war. Ich wagte sogar, von meinem Lebensplan zu reden, der mir eben nur diese Jahre mit ihnen schenkte, und davon, dass ich sicher wäre, dass sie ihren Papa, ihre Großeltern, ihre Gudrun und viele liebe Menschen hätten, die sie beschützten, liebten und ins eigene Leben begleiteten. An einigen Stellen kamen mir die Tränen und ich musste das Band stoppen, doch es hätte nichts genützt, die Tränen zu verbergen, denn sie sollten ja auch spüren, wie schwer mir der Abschied fiel.

Ich legte diese Kassette in mein Wäschefach und weihte meinen Mann und Gudrun ein. Für den Fall der Fälle bat ich Gudrun und eine andere Freundin, die Kinder, wenn sie es gewünscht hätten, zu begleiten, um von mir, meiner sterblichen Hülle, im Krankenhaus oder bei einem Bestatter Abschied nehmen zu können. Zur damaligen Zeit war es für Kinder noch nicht so selbstverständlich, wie es heute schon ist, und ich war sicher, dass ich mit diesem Wunsch meinen Mann völlig überfordert hätte. Auf ihn wären dann so viele Notwendigkeiten eingeprasselt und er hätte sicher nicht die nötige Ruhe gehabt. Ich versetzte mich in ein Kind hinein, dem gesagt wird: Deine Mama ist gestorben, und sie ist dann einfach weg, für immer weg, man kann sie nicht mehr sehen und anfassen. Wie soll ein Kind begreifen, dass ihre Seele – oder wie immer man es nennen will – ausgezogen ist? In diesen Momenten empfand ich einen solchen Schmerz und eine tiefe Wut. Wut, da es schon schwer genug ist, wenn eine Mutter stirbt; dann sollte nicht noch der Abschied, als das Natürlichste von der Welt, Kindern verwehrt werden. Sie benötigen dafür Unterstützung; sie auszuschließen, wie es so oft getan wird, nur um sie zu »schonen«, ist falsch. Wie sollen Kinder, so wie alle Angehörigen, einen solchen Verlust dann verarbeiten, ohne dass das weitere Leben zur Katastrophe wird?

Wir haben diese Kassette nicht gebraucht. Für mich war es sehr entlastend, sie erstellt zu haben, so hatte ich bei allem Leid eine wichtige Aufgabe und mein Herz ein wenig erleichtert. Sie liegt noch immer in meinem Wäschefach und bisher haben wir sie noch nie gemeinsam angehört. Ich habe unseren Kindern nur davon erzählt und auch, dass ich sie so sehr liebe. Es tat gut, diesen Satz in ihrer Gegenwart auszusprechen. Außerdem ist es mir ein Herzensanliegen, die Kinder meine Liebe spüren zu lassen. So danke ich, wenn es der Moment hergibt, auch manchmal den Kindern. Ich danke ihnen, dass sie mit mir durchgehalten haben, und dafür, dass ich glücklich bin, ihre Mutter sein zu dürfen, mit allem, was mich ausmacht, mit allem Schönen und Schweren. Ich beobachte in diesen kostbaren Momenten immer noch diesen Hauch von Scham, aber dahinter liegt ein Leuchten in ihren Augen, welches mir Garant zu sein scheint, dass es richtig ist, auch solche Sätze ab und an mit der ganzen Kraft des Herzens auszusprechen.

Vor ein paar Jahren habe ich diese besondere Kassette digitalisiert. Dabei flossen nochmals Tränen, doch ich empfand wieder diese tiefe Dankbarkeit, heil davongekommen zu sein und bis hierher so unverschämt viel Glück gehabt zu haben. Vielleicht werden die Kinder dieses Dokument niemals mehr anhören, wer weiß, aber es wäre da, sollte jemals die Zeit dafür reif sein.

Eine mutige Frage

Die Tatsache, durch das Morphium weitgehend schmerzfrei zu sein, verhalf mir, wieder Zugang zu meinem realen Leben, wenn auch zu einer völlig neuen und erst einmal beängstigenden Realität, zu bekommen. Meine Kammer Nummer eins ermöglichte mir bisweilen einen ungeheuren Mut und eröffnete Gedanken, Visionen und Fragen, die völlig überraschend über meine Lippen kamen. Am 12. Oktober 1995, es war ein Donnerstag, rollte der Stationsarzt mit der ersten Chemo an und wollte mich an diesen Turm aus Flaschen, Beuteln und piepsenden Geräten anschließen.

Ich wundere mich noch heute, dass ich diese Frage überhaupt formulierte: »Sie haben mich noch nicht gefragt, ob ich der Therapie zustimme! Welche Chancen habe ich denn noch, also gibt es eine Alternative?«

Mit meiner offensichtlichen Naivität sorgte ich für einen kurzen Moment der Verklemmung. Mein Arzt blickte aus dem Fenster hinaus, schluckte und sagte trocken: »Keine. Sie haben keine Alternative.«

Wie, ich habe keine Alternative? Bisher hatte ich immer die Wahl zwischen mindestens zwei Möglichkeiten. Hieß das tatsächlich, wenn ich keine Chemo wollte, dass ich sterben würde?

»Wie viel Zeit habe ich denn noch, wenn ich keine Chemo will?«, fragte ich eigentlich eine Nummer zu kess, aber Kammer Nummer eins war offen, und die Kraft aus ihr übermannte mich gerade.

Jetzt hatte ich offensichtlich vermintes Terrain betreten. Mein Arzt wechselte von einem Fuß auf den anderen und rang mit einer Antwort. Schon klar, kein Arzt kann und will jemals Auskunft darüber geben, wie lange man noch zu leben habe. Ich bin aber froh, dass er es doch tat, weil er mir dadurch die Tragweite der Situation wie mit einem Hammerschlag offenbarte. »Vielleicht haben Sie noch sechs Monate«, war seine Prognose. In mir schrie es: Du Lügner, ich schaffe höchstens zwei!

Ich sank in mein Kissen zurück und wurde nachdenklich, aber nicht weniger kämpferisch. In mir ratterte es nur so, die Gedanken jagten durch mich hindurch und letztlich sagte ich erschöpft und müde: »Ich brauche eine Stunde Bedenkzeit, bitte geben Sie mir noch etwas Zeit, bis ich wirklich zustimmen kann!« Ich glaube, so was kam ihm nicht alle Tage unter, dass ein Patient die kostbare Chemo ablehnte und sein ärztliches Bemühen derart hinterfragte und unterbrach. Er wirkte trotzdem freundlich, verließ den Raum und sagte in der Tür stehend mit einem wirklich freundlichen Lächeln: »Wenn Sie so weit sind, klingeln Sie.«

Die Entscheidung

Da lag ich nun und sollte die Entscheidung selbst treffen. Ich hätte es auch einfacher haben können. Diese eine Stunde in meinem Leben sollte eine wichtige Zeitspanne werden, denn ich legte noch mal alles auf die Goldwaage. In der einen Schale lag mein Gefühl, tatsächlich zum Sterben bereit zu sein, so seltsam sich das für Außenstehende anhören mag. Ich für mich ganz alleine war bereit zu gehen, denn mir war klar, dass ich den schlimmsten Teil des Sterbens längst hinter mir hatte. Ich war auf Morphium eingestellt, also weitgehend schmerzfrei, hatte ein Bett, ein Dach über dem Kopf und konnte um Hilfe rufen. Die Lymphome in meinem Inneren waren so gewaltig, dass sie mir irgendwann, ganz plötzlich, mit Sicherheit lebenswichtige Gefäße abklemmen würden und ich schnell aufhören würde zu atmen.

Ich hatte keine Angst vor diesem Tod, im Gegenteil, ich hatte eine irre Angst vor dem, was auf mich zurollte, um wieder ins Leben zu kommen, nicht wissend, ob es klappen würde. Die Therapie und deren Folgen auszuhalten erschien mir weit schrecklicher, als jetzt bald zu sterben. Dann hätte ich diesen Teil meines Lebens auch geschafft. Jeder steht irgendwann vor dieser Frage, egal ob er wie ich achtunddreißig Jahre alt ist, fünfzehn oder siebenundachtzig. Kammer Nummer zwei öffnete ihre Türen und wieder überkam mich dieser Frieden, dieses Gefühl, dann endlich heimkommen zu dürfen, dorthin zu gelangen, wo ich zuvor schon einmal war und was mir so vertraut erschien. Ich empfand mich selbst als reine Energie und meine Körperhülle als weit entfernt von mir, als wäre ich längst ausgezogen. Die Anbindung an diese Leiblichkeit war aufgelöst, ein langer Faden schien zwischen meiner Seele – oder wie immer ich es nennen will – und diesem Leib zu existieren. Würde dieser Faden ganz gelöst, dann würde mein Herz stillstehen. Eine Stille und Liebe umgab mich, die mich umhüllte und so groß wurde, dass ich zu schweben begann.

In der anderen Waagschale lag mein Leben. Unsere Kinder, mein Mann, meine Praxis, dieses ganze wundervolle Leben, das ich ja auch hatte und das es doch nach überstandener Therapie wert war, weitergelebt zu werden. Es war mir, als brüllten sie mir alle zu: »Lass uns nicht alleine, bitte, bitte, komm wieder zurück, wir brauchen dich doch!«

Ich glaube, diese Bindung ist der stärkste Kitt, der Sterbende am Leben hält oder sie oft auch hindert, ihren Weg in Frieden gehen zu können. Wenn Angehörige dem Schicksal und dem offensichtlichen Verfall eines geliebten Menschen einfach nicht zustimmen können, ist das für viele Sterbende nicht nur reine Liebe, sondern auch Qual. In meinem Fall waren die Kinder noch zu klein, um mich gehen zu lassen, obwohl auch Kinder sehr fein spüren, wann es so weit ist. Hierbei denke ich mehr an Eltern, die ein sterbendes Kind noch nicht hergeben wollen oder können, an Ehepartner untereinander oder auch an erwachsene Kinder im Fall ihrer Eltern. Alleine übrig zu bleiben ist hart, aber nicht in Frieden und mit der ganzen Freiheit seinen Weg gehen zu dürfen, auch wenn dieser Weg das Sterben beinhaltet, empfinde ich als noch viel härter. Ich möchte hier niemandem ein schlechtes Gewissen einreden, sondern anregen, zu begreifen, dass Sterben für den, der auf dem Weg ist, ab einem gewissen Punkt auch etwas Schönes, etwas zutiefst Heiliges und Erfüllendes wird. Sterben kann auch schön sein, ja, das sage ich heute mit aller Überzeugung und werde darüber im Weiteren noch berichten.

Mein Sterbenskampf wurde letztlich zu einem Lebenskampf und ich folgte meinem Verstand, der mir einflüsterte, dass ich eine große Verantwortung trüge und alles auf mich nehmen solle für unsere drei Kinder und meinen Mann! Also gut, dann mache ich diese Chemo, auch wenn ich vor Angst am liebsten sofort getürmt wäre. Ich sagte Ja zu allem, was kommen sollte, ohne zu wissen, welchen Kampf ich auszufechten hatte. Ja zum Leben, Ja zur Therapie und Ja zu mir selbst, einer Frau, die in einem Körper lebte, der von Krebszellen und riesigen Tumoren innerlich überschwemmt und zerfressen war.

2. Freiheit – keine Angst mehr vor dem Tod

Das Schwinden der Kraft, das langsame Immer-weniger-Werden und die Loslösung meiner Seele – ich nenne es jedenfalls erst einmal so – von ihrem Haus, meinem Körper, führte aus heutiger Sicht dazu, dass ich am 14. September 1995 eine Nahtoderfahrung machte. Dieses Erleben hatte neben allen Erfahrungen des Leidens und Abschiednehmens eine solche Intensität und Dichte, dass es mein Leben für immer verändern sollte.2

Diese Veränderungen spielten sich auf vielen Ebenen ab. Am einfachsten zu akzeptieren war für mich der grundlegende Verlust einer Angst vor dem Sterben und dem Tod. Es so radikal sagen zu können und wirklich bis in die letzte Faser meines Seins zu spüren, dass ich keine Angst habe, hat für mich etwas Köstliches. Dieses Wort passt zugegebenermaßen nicht unbedingt zu Sterben und Tod. Wir verwenden es eher bei einer Mahlzeit oder wenn wir uns bei einem guten Film amüsieren. Für mich ist es jedoch absolut köstlich, den Übergang zum Tod als eine Lebensphase zu erleben, in der alles, was wir empfinden können, in seiner vollen Dichte und Reife erfahrbar ist, so dass ich dies zu den Höhenpunkten eines Menschenlebens zähle.

Immer wieder taucht in mir ein Bild auf, das sich tief in mir eingeprägt hat. Diese eindrücklichen Bilder, vielleicht sind sie vergleichbar mit einer Art Vision, habe ich seit der Nahtoderfahrung recht häufig und sie erfüllen einen tieferen Sinn für mein Leben: Ich sehe ein Kind, das staunend auf einer Wiese steht und Blumen pflückt. Leuchtende, bunte, kleine Wiesenblumen, voller Saft. Dieser Teil steht für das pralle Leben, für den Beginn, für die Fülle, für alles Schöne. Dann sehe ich dieses Kind, wie es wieder über die Wiese geht, als die Blumen verblüht sind. Es pflückt eine davon, betrachtet sie und beginnt gedankenverloren die einzelnen verblühten Teile mit den Fingern abzuzupfen und zu Boden fallen zu lassen. Übrig bleibt das Innere der Blume, in dem die Samen angelegt sind, und das Kind lässt auch dies zu Boden fallen. Einfach so, ohne Angst, ohne Schuldgefühl, ohne Zögern. Dieser Teil des Bildes ist für mich das Ende des Lebens, das Verblühtsein, das Verwelken, das Zu-Boden-Fallen und wieder Zu-Erde-Werden. Möglicherweise, herrschen gute Bedingungen, gehen die Samen wieder auf. Es geschieht leicht, selbstverständlich, einfach so, es geschieht täglich hunderttausende Male überall auf der Welt. Rechne ich mit sieben Milliarden Einwohnern und einem Durchschnittsalter von siebzig Jahren, dann sind es rund 300 000 tägliche Geburten und Todesfälle auf der Erde.

Dass die verblühten Blätter abgezupft werden und nicht von alleine fallen, was ja am natürlichsten wäre, entspricht dem, wie ich Sterben in unserem Land erlebe. Es wird gezupft, es wird an uns gearbeitet, oft noch diagnostiziert und therapiert, um einer längst welken Blüte noch einen blühenden Anschein zu verleihen. Wir werden versorgt, weil wir eben keine Wiesenblumen in freier Natur sind, sondern Menschen – aufbewahrt in geschlossenen Räumen –, bei deren Verfall eine gewisse Ordnung, Sauberkeit und Fürsorge nötig ist.

Aber: Das Kind fühlt sich leicht und frei, und genauso fühle ich mich auch, wenn ich über diesen Teil des Lebens spreche, ob er sich nun auf mich oder andere bezieht. Ich habe keine Angst. Ich fühle Freude und Erleichterung, und das, obwohl Sterben auch schmerzlich und grauenvoll sein kann. Wie komme ich dazu? Durch meine Nah­tod­erfahrung, einer Grenzerfahrung, in der ich mir inmitten dieses Leids selbst nicht mehr ausweichen konnte. Dabei habe ich nicht nur mein Leben verabschiedet, sondern auch alle seltsamen Vorstellungen, die einem so beigebracht werden, damit man ein anständiger Mensch in einer zivilisierten Gesellschaft wird.

Die Situation, in der ich dieses Erlebnis geschenkt bekam, war, gemessen an den zuvor erlebten und geschilderten Dingen, eher unspektakulär. Es wurde eine Ultraschalluntersuchung meines Bauches durchgeführt. Ich hatte unsagbar starke Schmerzen, und das Ergebnis der Untersuchung zeigte den Grund: eine Blasenlähmung mit einer kindskopfgroßen, dem Platzen nahen gefüllten Blase. Während der Untersuchung war ich weder klinisch tot noch bewusstlos, obwohl es gut möglich ist, dass ich kurz das Bewusstsein verloren, es aber keiner bemerkt hatte. Ich kann diesen Umstand nicht eindeutig erinnern.