Ich sterbe, wie ich will - Sabine Mehne - E-Book

Ich sterbe, wie ich will E-Book

Sabine Mehne

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Beschreibung

Sabine Mehne (1957-2022) hatte den Krebs besiegt und sich mit all ihrer Kraft ins Leben zurückgekämpft. Mit Mitte 60 zählte sie zu den Langzeitüberlebenden nach einer Knochenmarktransplantation. Die mannigfaltigen, sehr belastenden Spätfolgen der Krebsbehandlung bekam kein Arzt in den Griff. Deshalb traf sie eine radikale Entscheidung: Sie möchte die moderne Hochleistungsmedizin kein weiteres Mal in Anspruch nehmen. "Sterbefasten" lautet Sabine Mehnes persönliche Antwort auf die Frage, wie sie ihr Leben selbstbestimmt und ohne weitere Qualen vollenden kann. Wie sie sich und die ihr nahestehenden Menschen darauf vorbereitet, erzählt sie offen in diesem Buch. Damit gibt sie auch wertvolle Anregungen für Menschen, die sich für das Thema interessieren oder diese Option für sich selbst in Betracht ziehen.

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Sabine Mehne (1957 - 2022), Autorin, war bis zu ihrer Krebserkrankung 1995 als Physiotherapeutin und systemische Familientherapeutin tätig. Sie setzte sich seitdem intensiv mit dem Sterben auseinander, auch mit zahlreichen Vorträgen und Lesungen, u. a. über selbstbestimmtes Sterben.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. -- Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02886-3 (Print)

ISBN 978-3-497-61787-6 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61788-3 (EPUB)

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Coverfoto: © Katrin Denkewitz, Bad Homburg

Fotos im Innenteil: S: 117, links: Udo Schäfer, rechts: Berhold Mehne

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Gewidmet den Gegangenen, Gegenwärtigen und Kommenden meiner Familie

Inhalt

Geleitwort von Dieter Birnbacher

Prolog I bis III

Prolog I

Prolog II

Prolog III

Plädoyer für ein selbstbestimmtes Sterben in Form von freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) – nicht nur für Hochbetagte

Grundsätzliche Überlegungen

Selbstbestimmung als oberstes Prinzip

Chronisch krank und / oder austherapiert

FVNF: Ein natürlicher Tod

Eine freiwillige Entscheidung

Palliativversorgung und Sterbefasten

Persönliche Überlegungen

Warum?

Schulmedizin? Nein danke

Meiner Zeit voraus

Immer schon war ich zu früh

Meine Nahtoderfahrung und die Weltbildfrage

Was wirklich zählt im Leben

Von hinten denken

Unser Wohnmodell – einer wird übrig bleiben

Offenes Sprechen mit der Familie und Freunden

Erfüllung letzter Wünsche

Leben bis zum Schluss

Wie schön, noch auf der Welt zu sein!

Lieber gut geschminkt als vom Leben gezeichnet

Vorbilder

Vollendung meiner Lebensaufgabe und Lebensbilanz

Ordnung schaffen

Mein Vermächtnis an die Kinder

Praktische Überlegungen

Vorbereitung meiner letzten großen Reise

Letzte-Hilfe-Kurse

Vertrauen

Formale Dinge

Meine Reisebegleitung

Plan B für den Notfall

Vorsorge ohne Familie

Sterben üben

Totenfürsorge und Totenwache

Sarggeschichten

Adieu

Bestattung

Die Trauerfeier und die Totenrede

Trauer

Anhang

Listen

Vorher

Währenddessen

Danach

Adressen

Literatur

Geleitwort von Dieter Birnbacher

Die Möglichkeit, in schweren und unumkehrbaren Leidenszuständen oder in hohem Alter sein Leben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken zu beenden, war lange Zeit wenig bekannt. Es ist jedoch ein uralter Weg, den insbesondere in der Antike Philosophen und Könige beschritten haben. Gegenwärtig nimmt das Interesse an dieser Form eines selbstbestimmten Sterbens auch in Deutschland deutlich zu. Ärzte, Hospize, Palliativdienste und Seniorenheime werden zunehmend mit Wünschen von Patienten nach Unterstützung dieser Form des Sterbens konfrontiert; das diesem Thema gewidmete Buch von Boudewijn Chabot und Christian Walther „Ausweg am Lebensende“ von 2010 liegt bereits in sechster Auflage vor; in zwei anderen kürzlich erschienenen deutschsprachigen Büchern berichten die Autorinnen ausführlich über den Prozess des „Sterbefastens“ ihrer Mutter bzw. ihres Vaters; und Vortragsveranstaltungen zum Thema stoßen bei Ärzten, Pflegenden und realen und potenziellen Patienten auf gleichermaßen große Resonanz. Auch in der deutschsprachigen Medizinethik und dem deutschen Medizinrecht hat eine intensive Diskussion darüber eingesetzt, wie dieses Verfahren auf dem Hintergrund der etablierten Grundsätze von Medizinethik und -recht zu beurteilen ist.

Verantwortlich für die schnell wachsende Aufmerksamkeit dürften vor allem zwei Faktoren sein: Das zunehmende Interesse vieler Menschen, die selbstbestimmt gelebt haben, auch ihr Lebensende in die eigene Hand zu nehmen; und die seit 2011 bestehenden Beschränkungen von Alternativen durch berufs- und und (in den Jahren zwischen 2015 und 2020) strafrechtliche Verbote.

In Deutschland ist nicht nur die Tötung auf Verlangen strafrechtlich verboten, sondern als verboten galt in den fraglichen Jahren auch die wiederholte Unterstützung der Selbsttötung von Sterbewilligen durch Ärzte und Sterbehilfegesellschaften. Darüber Darüber hinaus besteht seit 2011 im Zuständigkeitsbereich von zehn Landesärztekammern ein berufsrechtliches Verbot der ärztlichen Hilfe bei der Selbsttötung.

Gegenwärtig gibt es im Umgang mit diesem Verfahren noch viele Unsicherheiten. Auch die Benennungen – von denen keine die Sache wirklich trifft – schwanken. „Sterbefasten“ hebt zwar mit der Intention, dadurch das Leben zu beenden, ein wesentliches Merkmal heraus. „Fasten“ legt aber fälschlicherweise nahe, dass der Tod durch den Verzicht auf Nahrungsaufnahme erfolgt, während dieser stattdessen in der Regel durch den Verzicht auf Flüssigkeit herbeigeführt wird. Auch das in der Fachdiskussion bisher dominierende Kürzel FVNF (Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit) ist nicht vollständig befriedigend, da es nicht unterscheidet zwischen der Lebensbeendigung durch freiwilligen Verzicht auf Flüssigkeitsaufnahme und der Lebensbeendigung durch Verzicht auf künstliche Hydrierung, etwa durch eine Infusion. Außerdem unterschlägt dieser Ausdruck die für das Verfahren wesentliche Intention auf Lebensbeendigung.

Unsicherheiten zeigen sich auch in der ethischen Bewertung – mit der Folge, dass viele einschlägige Institutionen zwischen Akzeptanz und Nichtakzeptanz des Verfahrens schwanken.

Unkontrovers ist, dass Ärzte und Pflegende verpflichtet sind, dem Patienten Hilfe zu leisten, sobald dieser den Prozess des Verzichts auf Flüssigkeit einmal aufgenommen hat und der Hilfe bedarf. Wie generell bei ärztlichen Hilfeleistungspflichten besteht diese Verpflichtung unabhängig davon, wie man das zu der Hilfsbedürftigkeit führende Vorverhalten des Patienten ethisch beurteilt.

Kontrovers ist, ob die Aufnahme des Prozesses durch einen Patienten innerhalb der eigenen Institution zugelassen werden muss. Aus den USA sind Fälle bekannt geworden, in denen Pflegeheime die Äußerung der Absicht, durch Sterbefasten zu sterben, mit der Entlassung quittiert haben. Auch im deutschsprachigen Bereich vertreten einige Autoren katholischer Provenienz die Rechtmäßigkeit dieser Praxis, vor allem mit dem Argument, eine Unterstützung des Sterbefastens sei mit einer religiös geprägten Hospizidee unvereinbar. Insgesamt herrscht allerdings die Tendenz vor, Sterbefasten in Pflegeheimen und Hospizen nicht nur bei bereits aufgenommenen Patienten zu akzeptieren, sondern auch Patienten, die auf diese Weise sterben wollen, eigens zu diesem Zweck aufzunehmen.

Hintergrund der Kontroverse sind u. a. unterschiedliche Auffassungen darüber, wie weit das Sterbefasten als eine Form von Selbsttötung aufgefasst werden muss. Autoren, die entweder eine Selbsttötung oder eine Hilfe bei der Selbsttötung oder beides für moralisch unzulässig oder problematisch halten, neigen entweder dazu, Sterbefasten zusammen mit der „aktiven“ Selbsttötung abzulehnen oder es von der Selbsttötung als eine eigenständige Art des selbstbestimmten Sterbens abzugrenzen. Zwischen dem Sterbefasten und der „aktiven“ Selbsttötung eine klare Grenze zu ziehen liegt dabei vor allem aufgrund der sehr unterschiedlichen Erscheinungsweise beider Verfahren nahe.

Im Gegensatz zu einem punktuellen Akt vollzieht sich das Sterben beim Sterbefasten allmählich und ohne aktive äußere Intervention. Demgegenüber sehen Juristen, Ethiker und orthodoxe Theologen im Sterbefasten überwiegend eine „passive“ Form der Selbsttötung, bei dem ein Unterlassen – der Verzicht auf Flüssigkeitsaufnahme – an die Stelle der Tötungshandlung tritt. Für diese Auffassung spricht, dass eine Selbsttötung auch dadurch ausgeführt werden kann, dass sich der Suizident, ohne „Hand an sich“ zu legen, einem todbringenden Agens (etwa einem herannahenden Schnellzug) aussetzt. Orthodoxe christliche Theologen, die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende für unzulässig halten, lehnen insofern konsequenterweise auch das Sterbefasten (und die Hilfe dazu) ab. Im Gegensatz zu einem zum Tode führenden Abbruch einer ärztlichen Behandlung wird durch das Sterbefasten nicht nur ein „künstlich“ ins natürliche Geschehen eingreifendes Handeln beendet. Vielmehr wird ein natürliches Bedürfnis, das Bedürfnis nach Flüssigkeit willentlich überwunden und damit der „natürliche“ Lauf der Dinge durchkreuzt.

Dieses Buch ist ein sehr persönliches Buch, geprägt durch ein besonders schweres Schicksal. Seit dem Alter von 38 Jahren leidet die Autorin an einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung, die ihr auch noch die elementarsten Lebensvollzüge zur Belastung werden lässt. Seit mehreren Jahren verarbeitet sie die Erfahrungen mit ihrer Krankheit, mit der Medizin und mit dem Tod in literarischer Form. Mit diesem Buch möchte sie vor allem über das Verfahren des Sterbefastens, zu dem sie sich entschlossen hat, aufklären und praktische Hinweise geben, wie man das, was sie „Recht auf Eigensinn“ nennt, als Patient im medizinischen Alltag durchsetzt. Bemerkenswert ist, dass die Autorin in diesem Zusammenhang nicht nur von Widerständen berichtet, sondern auch von viel positiver Resonanz, auf die ihr Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben bei verständnisvollen Ärzten, Pflegenden und Mitgliedern von Palliativteams gestoßen ist. Ich wünsche diesem Buch ein großes Publikum.

Dieter Birnbacher

Professor für Praktische Philosophie,

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, im Mai 2020

Prolog I bis III

Prolog I

Am Verreisen hasse ich den Stress davor. Seitdem ich denken kann, liebe ich das Gefühl, wieder heimzukommen. Dann sehe ich die Schönheit des Gegenwärtigen nicht mehr, sondern bin nur gesammelt für das, was kommen will. Der Abschiedsschmerz ist dann verflogen. Die Tränen der Ergriffenheit sitzen locker, mein Gemüt ist butterzart, weich wie eine leichte Daunendecke. Dankbarkeit für alles Erlebte und Durchlittene durchströmt mich tief im Herzen. Alles war gut, so wie es war. Alles ist gesagt. Köstliche Stille hinter den Lippen. Bisher brauchte ich in der Regel mindestens drei Wochen, um tiefe Erholung und das Absinken der Seele zu erreichen. Drei Wochen wird meine letzte Reise dauern – vielleicht ein bisschen länger – und ich werde die gleichen Phasen, den gleichen Rhythmus durchlaufen wie im Urlaub. Erst Unruhe und Müdigkeit, dann tiefe Erschöpfung und viel Schlaf. Und dann der Moment des tiefen Erkennens: Es reicht jetzt! Jetzt will ich heim! Jetzt muss ich heim! Ich stelle mir vor, so wie ich es bei meiner wunderschönen Nahtoderfahrung kennenlernte, langsam aus meinem verbrauchten Körper herauszuklettern oder zu gleiten. Ich werde oben am Scheitelpunkt meiner Hülle stehen, werde meine „Seelenflügel“ ausbreiten und werde fliegen. Wie bei Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“: Ich werde ins Licht fliegen und heimkommen.

Prolog II

Ich habe alles gelebt, was es für mich zu leben gab. Alles was jetzt noch ansteht, empfinde ich als Bürde, die ich noch abzuarbeiten habe. Es macht mir selten Freude, weil mein Leben so mühsam geworden ist und ich so müde bin. Es schließt sich unmittelbar die Frage nach dem Sinn des Lebens an: Ich habe alles durchdacht, durchfühlt, gelesen und mit anderen besprochen. Mein Fazit fällt mit zunehmender Gelassenheit recht einfach aus. Der Sinn des Lebens muss das Leben selbst sein. Alles was dazu gehört, gilt es zu leben und irgendwie und irgendwann anzunehmen, als das, was es war. Punkt!

Und was kommt danach? Licht und Liebe, was auch davor schon existierte, denn eine Trennung ist für mich eine reine Kopfgeburt. Ich stelle mir vor, dorthin zurückzukehren, woher ich einst kam. Nur noch Geist zu sein oder Schwingung, eine Form oder keine, eben sein in einer Weise, für die unser Gehirn keine Begriffe kennt. Mehr muss es für mich nicht sein. Spiritueller Minimalismus, Bescheidenheit dem Universum gegenüber, weil das Große für mich letztlich betrachtet ganz einfach ist.

Lüge ich mir etwas in die Tasche? Vielleicht. Aber das ist mir egal. Letztlich entscheide ich, was für mich stimmig erscheint.

Prolog III

Oft denke ich an meinen Tod. Er ist mir ein guter Freund geworden. Mit 38 Jahren bin ich ihm schon begegnet. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Das möchte ich in diesem Buch genauer erklären. Ich habe moderne Hochleistungsmedizin erhalten und bin dem Tod dadurch gerade nochmal von der Schippe gesprungen. Mittlerweile bin ich über 60 Jahre alt und bereite mich ernsthaft auf mein Sterben vor, weil ich spüre, dass sich meine Zeit neigt. Auch deshalb habe ich eine sehr ungewöhnliche Entscheidung getroffen: Ich möchte keine medizinischen Eingriffe mehr in Anspruch nehmen. Ich möchte niemals mehr in ein Krankenhaus. Mein leidgeprüfter Körper soll nie mehr unnötig gequält werden. „Schulmedizin? Nein danke“ lautet meine Devise. Doch ohne Medizin und mit den mannigfaltigen Spätfolgen meiner Krebstherapie werde ich nicht alt werden können. Ein klassisches Dilemma! Eigentlich unlösbar, doch für mich handhabbar, in dem ich mich den Tatsachen meines Lebens stelle. Es gilt, ihnen ins Auge zu blicken, meinen Weg rechtzeitig vorzubereiten, vom Ende aus zu denken und das Leben, das ich jetzt noch habe, zu genießen. Aber auch meine Lebensaufgabe zu vollenden. Ich werde also so lange leben, wie es für mich noch auszuhalten ist, und hoffe, dass kein Notfall dazwischen kommt. Einen Plan B habe ich jedoch für diesen Notfall in der Tasche.

Und darum geht es in diesem Buch. Es klingt schwer, fällt mir aber im Vergleich zu erneuten medizinischen Maßnahmen leicht: Bevor ich noch einmal auf Medizin angewiesen sein werde oder von selbst spüre, dass meine Zeit gekommen ist – was ich mir zutraue, so gut wie ich mich kenne – höre ich „einfach“ auf, zu essen und zu trinken. Ich finde diese Möglichkeit, bewusst und in Würde mit einem für mich guten Sterbeprozess aus dem Leben zu scheiden, optimal. Sterben ist für mich wie eine Reise. Wir sagen ja auch so schön, dass wir unsere letzte Reise antreten. Auch wenn wir dafür keinen Koffer mehr brauchen, so sind doch wichtige Vorkehrungen zu treffen. von denen ich noch erzählen werde. Eine Reise in die Schweiz oder in die Niederlande zu einem begleiteten Suizid käme für mich persönlich nicht in Frage. Das wäre mir viel zu anstrengend, zu teuer und vor allem käme dieser Tod für mich zu schnell. Abgesehen vom plötzlichen Herztod, den sich die meisten wünschen, den jedoch laut Statistik nur ein kleiner Teil der Menschheit erlebt, dauert Sterben einfach eine gewisse Zeit. Außerdem ist Sterben – und hier gilt es, mir gegenüber ehrlich zu sein – in der Regel schmerzhaft und von außen betrachtet auch bisweilen furchtbar. Aber es ist ein Teil des Lebens, den jeder Mensch in irgendeiner Form erleben muss. Tröstlich finde ich, dass es letztlich doch auch jeder schafft, genauso wie wir den Weg in dieses Leben irgendwie überstanden haben. Und Geborenzuwerden ist doch ein gewaltiges Naturereignis, das Mutter und Kind in der Regel viel oder alles abfordert.

Sterbefasten oder korrekt „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – FVNF“ ist in meinen Augen eine völlig natürliche Form des Sterbens. Schon von jeher haben Mensch und Tier die Nahrungsaufnahme und irgendwann auch die Flüssigkeitszufuhr beendet und sind dann meist friedlich eingeschlafen. Hierfür gibt es ausreichend Beispiele, sowohl in der Literatur als auch in meinem persönlichen Umfeld.

Mit diesem Buch möchte ich ein Exempel statuieren und zu einer neuen Bewusstheit aufrufen. Diese mündet in einer Form der Bescheidenheit gegenüber den gigantischen Möglichkeiten unserer modernen Medizin. Unser deutsches Gesundheitswesen zählt zu den teuersten der Welt. Für mich wurde schon eine gewaltige Summe ausgegeben, wofür ich extrem dankbar bin. Heute soll und muss eigentlich jeder prüfen und entscheiden, wieviel Medizin er braucht und nutzt. Jeder muss auch entscheiden, wie viel Mut er einsetzt, um von moderner Medizin zu profitieren. Jeder medizinische Eingriff hat seine Folgen, und wenn es nur Narben sind, die für immer bleiben. Oder man verbringt für den Rat eines Arztes Stunden in seinem Wartezimmer und zuvor hat man Wochen auf diesen Termin gewartet. Es kann schwer per Gesetz verordnet werden, ab wann Medizin unbezahlbar wird. Womöglich landen wir aber doch irgendwann genau an diesem Punkt, weil der Kollaps dieses Systems eingetreten ist. Anzeichen dafür können wir heute schon finden. Resistenzen auf Antibiotika, Pflegefachkräfte, die im Verhältnis zur steigenden Zahl der Pflegebedürftigen schon heute aus falscher Sparsamkeit zu wenig ausgebildet und eingesetzt werden. Die Prognosen für die Zukunft klingen beunruhigend. Ich möchte mit achtzig nicht in einem Pflegeheim dahinvegetieren und warten, bis man mich auf die Seite dreht oder mir die Windel wechselt.

Im 21. Jahrhundert angekommen, leben wir so verwöhnt und denken, dass alles möglich ist. Wir können uns leisten, das Sterben und den Tod von uns wegzuschieben, weil wir in der Sicherheit leben, dass im Notfall immer Hilfe bereit steht. Wehe, der Tod kommt ungeplant in unser Leben, dann stehen wir da, fassen es nicht, werden wütend auf das Gesundheitssystem, das versagt hat. So jedenfalls erlebe ich es tagtäglich und sage nur: Ich mache das anders und ich habe andere Erfahrungen gemacht.

Mein Leitspruch im Leben, der sich oft bewahrheitet hat, lautet deshalb:

„Plane das Schwierige da, wo es noch leicht ist!

Tue das Große da, wo es noch klein ist!

Alles Schwere auf Erden beginnt stets als Leichtes.

Alles Große auf Erden beginnt stets als Kleines.“ (Laotse)

Hinweise: Der Einfachheit halber habe ich mich für die männliche Schreibweise entschieden und es ist für mich selbstverständlich, dass auch die weibliche und diverse Form gemeint sind. Ich verwende sowohl die Begriffe „Sterbefasten“ als auch den „freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“ (FVNF) und den „freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken“ (FVET), wie bei bei der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zu finden (www.dgpalliativmedizin.de/phocadownload/stellungnahmen/DGP_Stellungnahme_Rechtssicherheit_fr_schwer_und_unheilbar_Erkrankte_130202019.pdf, 5.6.2019).

Plädoyer für ein selbstbestimmtes Sterben in Form von freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) – nicht nur für Hochbetagte

Grundsätzliche Überlegungen

Selbstbestimmung als oberstes Prinzip

Wir haben in Deutschland die Freiheit, über unser Leben grundsätzlich selbst bestimmen zu dürfen. Dieses Grundrecht ist durch unsere Verfassung geschützt und beinhaltet außerdem das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. In meinen Augen ist das ein hohes Gut. Unsere Selbstbestimmung endet allerdings dort, wo die Rechte anderer verletzt werden, oder wo wir gegen die Verfassung verstoßen. Das bedeutet auch, dass ich persönlich für die Folgen meines Handelns verantwortlich bin. Darüber hinaus regeln, je nach Gesellschaftsordnung oder religiöser Zugehörigkeit, ethische sowie moralische Gesichtspunkte unser Zusammenleben. So weit, so gut. Es liegt mir fern, mit diesem Buch einen juristischen oder ethisch-moralischen Diskurs zu eröffnen. Das können andere sicher besser. Ich möchte lediglich die Punkte abklopfen, die ich für mein Thema für bedeutungsvoll halte und die sowohl mein Leben, als auch meine Entscheidung, selbstbestimmt sterben zu wollen, mitgetragen haben.

In meiner beruflichen Tätigkeit als Physiotherapeutin in den Jahren 1982 bis 1997 habe ich mich sehr oft gewundert, wie wenig Selbstbestimmung und Verantwortung meine Patienten für ihren Körper übernommen haben. Diese Körperhülle wurde qua Rezept in meine Praxis gehievt, mit dem Auftrag an mich, alles schnellstmöglich wieder funktionstüchtig zu machen. Diese Distanz zum eigenen Körper, bis hin zu einer kompletten Gefühlslosigkeit, galt es für mich dann als erstes zu überwinden, um überhaupt die Basis einer therapeutischen Intervention herzustellen. Ich kam mir oft vor, wie in einer Autowerkstatt. Wobei ich selten „nur Zündkerzen“ zu wechseln hatte, sondern schon mittlere Schäden bis hin zu Totalschäden zu behandeln hatte. Ein akuter Bandscheibenvorfall, mit kompletter Unfähigkeit gehen zu können sowie anhaltenden Schmerzen, kämen diesem Vergleich sehr nahe. Mein Verständnis – und hier war mir die Selbstbestimmung immer wichtig – galt natürlich dem Bemühen, die Schmerzen zu lindern und eine gute Beweglichkeit wiederherzustellen. Außerdem wollte ich im edukativen Sinne dazu beitragen, anatomische Zusammenhänge verständlich zu machen, damit meine Patienten vorbeugende Maßnahmen in den Alltag integrieren konnten. Meine Patienten sollten folglich ihren Körper beobachten und erfühlen lernen. Bisweilen gab ich ihnen auch kleinere paradoxe Denkaufgaben mit nach Hause: Etwa zu überlegen, was sie anstellen müssten, um möglichst schnell die neugewonnene Schmerzfreiheit wieder zu verlieren oder den Erfolg der Behandlung in Frage zu stellen. Kreativität, sowohl bei mir, als auch bei meinen Patienten, schätzte ich sehr. Auch das Recht auf Eigensinn ist für mich ein wesentlicher Teil der Selbstbestimmung und oft ein wesentlicher Beitrag zur Gesundung. Um in meiner Tätigkeit sinnstiftend zu arbeiten, bediente ich mich systemischer Denk- und Fragetechniken, die ich in den Jahren 1989 bis 1992 bei der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST) in Heidelberg erlernt habe. Beobachten, Erkennen, Austesten und stetiges Reflektieren wurden mir und meinen Patienten zur zweiten Natur. Das führte zu tiefgreifenden Erkenntnissen und verblüffenden Erfolgen.

Im Mai 1995 – mit 38 Jahren – erkrankte ich dann an einer Grippe, aus der ein Leidensweg werden sollte. Ein halbes Jahr später waren unerklärliche Bauchschmerzen nur noch mit Morphium und künstlicher Ernährung auszuhalten. Er mündete in der Diagnose eines anaplastischen hochmalignen T-Zell-Lymphoms (für Laien erkläre ich diese Diagnose gerne mit dem Vergleich zu einer akuten Leukämie). Ich musste die Seite wechseln und wurde selbst Patientin, doch ich profitierte von meinem eigenen Arbeitsstil. Die Selbstbestimmung und den Eigensinn zu wahren, auch wenn der Tod plötzlich am eigenen Bett steht, war für mich aus heutiger Sicht betrachtet lebensrettend. Doch was heißt eigentlich Selbstbestimmung in der Praxis, jenseits der juristisch und schriftlich festgelegten Verfügungen? Aus meiner leidvollen Erfahrung weiß ich, dass man seine Selbstbestimmung meistens schon bei der Klinikaufnahme abgeben muss. Dieses Prozedere durchlief ich mehrfach, denn ich hatte fünf Zyklen einer aggressiven Chemotherapie und im April 1996 eine Hochdosischemotherapie mit autologer Knochenmarktransplantation zu überstehen. Davon war ich etliche Wochen in „Isolationshaft“, um gegen Keime geschützt zu sein. Dazwischen musste ich mehrfach, wegen hohen Fiebers oder anderer Beschwerden, stationär aufgenommen werden.

Als eklatant empfinde ich in der Klinik dieses deutliche Gefälle zwischen Patienten und „Weißkitteln“. So nenne ich hier bildhaft alle Ärzte und Pfleger, weil sie in ihrer Rolle und Aufgabe, den Kranken verpflichtet zu sein, nun mal diese weiße Tracht tragen. Obendrein liegt der Patient meist, wohingegen die „Weißkittel“ stehen. Zwar liegt das in der Natur der Sache, doch schon das ist eine Positionierung, die sich unangenehm hierarchisch anfühlt. Zudem ist der Patient auf Grund seiner Krankheit oft gar nicht mehr in der Lage, seine Selbstbestimmung zu vertreten, auch wenn er einer Untersuchung zunächst zugestimmt hat. Er nimmt sich selbst und seinen kranken Körper in einer völlig veränderten Form wahr, wenn er ihn überhaupt noch spüren kann. Alles Vertraute ist plötzlich anders und vielleicht nur noch schmerzvoll. Die Kraft schwindet bei langen Krankheitsverläufen ohnehin. Chefvisiten sind ebenfalls ein gutes Beispiel, das Gefälle zwischen Patienten und „Weißkitteln“ zu verdeutlichen. In meinem Roman „Winterfell“ (Mehne 2005), den ich zur Verarbeitung meiner leidvollen Krankenhauserfahrungen geschrieben habe, schenkte ich meinem Alter-Ego Sophie meine Stimme. Als die Schar der Weißkittel zum ersten Mal ihr Krankenzimmer betritt und an ihrem Bett zum Stehen kommt, fühlt sich Sophie urplötzlich winzig, der Masse ihr gegenüber nicht gewachsen. Im Bett kommt sie sich wie ein Wurm vor, der verunsichert unter die Bettdecke rutscht und ihre sonst noch klare Beobachtungsfähigkeit kommt ihr abhanden. Diese Chefvisiten empfindet sie wie eine „weiße Wolke“. Bei diesen Chefvisiten ist die Selbstbestimmung des Patienten deaktiviert. Die „weiße Wolke“ bestimmt über das eigene Selbst, ob man es will oder nicht.

Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass mir Ärzte immer wieder gestanden haben, sie würden bei sich selbst nur im Ausnahmezustand ihre bei mir durchgeführten Therapien anwenden. Kämen sie in eine vergleichbare Lage, so hätten sie genug Möglichkeiten, um all dem zu entkommen. Etliche Ärzte nutzen nicht einmal die gängigen Vorsorgemöglichkeiten für sich selbst. Sehr verhalten reagieren viele Mediziner auch, wenn sie über ihr eigenes Sterben und ihren Tod sprechen sollen. Mein Recht auf Eigensinn habe ich hier oftmals im Gespräch eingesetzt und habe immer wieder hartnäckig nachgefragt und nachgehakt.

Der allergrößte Feind der Selbstbestimmung jedoch ist meiner persönlichen Erfahrung nach der negative Stress, dem jeder Patient ausgesetzt ist und den alle Personen im Gesundheitswesen nur zu gut kennen. Und sterben zu müssen bedeutet doch den ultimativen Stress für uns Menschen, obwohl Sterben eigentlich das Natürlichste der Welt ist. Die meisten Menschen möchten zwar zu Hause sterben, doch in der Regel ist laut Statistik (Dasch et al. 2015) das Krankenhaus der Sterbeort. Wer gar noch auf einer Intensivstation verstirbt, der hat bis zum Tod unfassbaren Stress zu ertragen. Man denke nur an das qualvolle Absaugen der Atemwege. Bei diesem höchst unangenehmen Eingriff kann man den dramatischen Anstieg der Herzfrequenz deutlich hören und sehen. Keiner, so behaupte ich hier kühn, der das vorher gewusst hätte, wenn er sich beizeiten damit befasst hätte, würde solch einen Sterbeprozess für sich zulassen. Bezüglich all dieser Tatsachen, auch aus meiner eigenen Erfahrung als sterbenskranke Patientin, muss man bedauerlicherweise sagen, dass oft der Arzt am Ende allein entscheidet, was für den Patienten gut und was für ihn schlecht ist. Das bedeutet, der Arzt entscheidet auch, ob ein Patient einen friedvollen Tod erleben darf oder an teuren Apparaten dahinsiechen muss. Mit dieser vielleicht gewagten Aussage beziehe ich mich auf die Genfer Deklaration aus dem Jahr 1948 (Siefert 2005). Erst die Neufassung der Deklaration, welche im Jahr 2017 bei der 68. Generalversammlung des Weltärztebundes in Chicago überarbeitet wurde, betont die Verpflichtung, die Autonomie und Würde des Patienten zu achten (Weltärztebund 2017). Trotzdem müssen Patienten schwerstkrank und sterbend immer wieder ertragen, dass das medizinische Gelöbnis über die Maßen strapaziert und damit letztlich zum groben Nachteil des Erkrankten wird.

Auch der Mediziner und Sterbeforscher Gian-Domenico Borasio ist der Ansicht, dass vom Patientenwillen bei diesem Eid keine Rede mehr sein kann. „Durch Übertherapie sterben wir schlechter und früher“, so betitelte die ZEIT Online ein Interview mit dem bekannten Sterbeforscher. „Zu viel Behandlung mache den Tod qualvoller als nötig, sagt Europas wichtigster Palliativmediziner Gian-Domenico Borasio. Lebensqualität sei das Maß – gerade im Sterben“ (Simmank 2018, 1). Gian-Domenico Borasio setzt sich seit langem dafür ein, auch die Arzt-Patienten-Kommunikation so zu verbessern, dass eine Verwirklichung der Selbstbestimmung realisiert werden kann (Borasio 2017). Die Redewendung „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ sollte meines Erachtens im Kontakt zwischen Arzt und Patient unbedingt umgedreht werden. Reden ist Gold. Und ich möchte diesen Spruch sogar noch zu „Fragen ist Gold“ erweitern, gerade weil man als Patient und Laie den medizinischen Sachverhalt in der Regel sehr schwer verstehen kann. Patienten müssen unbedingt reden, fragen und vor allem nachfragen. Nur so lassen sich eigene Vorstellungen klar herausarbeiten. Und für Ärzte sollte die Regel mit „Zuhören ist Gold“ ergänzt werden. Das würden sicher viele gerne tun, wenn es dafür eine ordentliche Entlohnung gäbe und die Fallpauschalen wieder abgeschafft würden. Bei allem Patientenleid bin ich mir selbstredend auch der Tatsache bewusst, dass Mediziner eine immense Verantwortung tragen und in unserem streng kostenorientierten Kliniksystem an die Grenzen ihrer physischen wie psychischen Kraft getrieben werden. Ich habe sie immer dafür bewundert, mit wieviel Einsatz und Hingabe sie mich damals behandelt haben. Denn bei allem Leid gab es tatsächlich auch Momente, in denen sich der Chefarzt während der langen Zeit der Knochenmarktransplantation einen Stuhl schnappte, sich an mein Bett setzte und mir zuhörte. Er tat es dreimal, es war meist in den Abendstunden, und natürlich musste er sich vermummen und Schutzkleidung tragen, was eine gewisse Komik hatte. Das werde ich nie vergessen. Klinikärzte, so lese ich immer wieder, gehören nicht zufällig zu der Berufsgruppe mit der höchsten Rate an Depressionen, Suchterkrankungen und Burnout (Meyer 2009). Stress, bedingt durch immensen Leistungsdruck, und hohe Zeitnot führen eben unter anderem auch dazu, dass Tätige im Gesundheitswesen über ihre Grenzen gehen müssen, was sich schnell auf die Patienten überträgt. Ich weiß noch zu gut, dass ich ständig Sorge hatte, zu viel Arbeit zu machen, und oft zu spät um Hilfe klingelte.

Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, ein 1994 als wissenschaftliche Fachgesellschaft gegründeter Verein, ist bemüht, ein neues Verständnis für den Umgang mit Sterben und Tod in der Gesellschaft, aber auch unter den Medizinern auszubilden. Sie kooperiert mit allen Berufsgruppen (Multiprofessionalität) und führt regelmäßige Aus- und Fortbildungsveranstaltungen, Tagungen und wissenschaftliche Kongresse durch. Der Aufbau eines nationalen und internationalen Netzwerkes zum Austausch von Informationen und Kenntnissen, ebenso zur Weiterentwicklung und Erarbeitung von Standards für die Ausbildung und Qualitätssicherung in der Palliativ­versorgung wurde durch sie ermöglicht. Die Fachgesellschaft setzt sich im Weiteren mit ethischen Fragestellungen, die mit der Behandlung unheilbar Kranker verknüpft sind, und wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich dem Anliegen der Palliativversorgung widmen, auseinander. Besonders hervorheben möchte ich ihre Mitwirkung in Form von Stellungnahmen bei der Entwicklung von Gesetzgebung und Rechtsprechung, die seit Jahrzehnten versucht, einen Ausgleich der Interessen sicherzustellen.

Letztlich heißt Selbstbestimmung für mich, mir mein Sterben vorzustellen und mich in den Sterbeprozess einzufühlen. Es durchaus mehrmals durchzuspielen, ähnlich den Profisportlern, die ihren Sprung an der Skirampe simulieren und visualisieren. Diese Übung ist aus meiner Sicht zumindest notwendig, um eine Patientenverfügung zu erarbeiten. Eine vernünftige Patientenverfügung ist überhaupt der erste Schritt für ein hoffentlich selbstbestimmtes Sterben. Die Vorsorgevollmacht ist noch wichtiger und sollte bei jedem Krankenhausaufenthalt mitgenommen werden (Putz / Steldinger 2016). Selbstbestimmung heißt aber eben auch, dass ich als Patientin akzeptieren muss, dass Ärzte sich an ihren Eid, „Leben zu retten“, gebunden fühlen und nicht gezwungen werden können, davon abzuweichen. Sollte ich davon keinen Gebrauch machen wollen, dann darf ich im Notfall für mich eben nicht die 112 anrufen. Jeder ist in diesem Punkt frei. „Reden ist Gold“ rate ich auch für die Gespräche mit den Angehörigen. Es kann lebenswichtig sein, zu wissen, was die Betroffenen im Notfall gerne hätten. Um hier mehr Sicherheit zu erlangen, empfehle ich, die seit einiger Zeit angebotenen Letzte-Hilfe-Kurse zu besuchen. Dort erfährt man auch, an welchen Zeichen sich der Sterbeprozess erkennen lässt und welche Handlungsoptionen sich anbieten. Ich habe mit meinem Mann jetzt mehrmals gesprochen und ihn um Folgendes gebeten: Sollte er mich irgendwann vorfinden und feststellen, dass ich nicht mehr atme, dann möge er seinen ersten Schreck zulassen, sich neben mich setzen und meinen Puls und die Atmung überprüfen. Wenn er dann noch eine Taschenlampe findet, kann er mir in die Augen leuchten, um zu sehen, ob die Pupillen starr sind. Wenn dem so ist, dann soll er ruhig atmen, neben mir sitzen und warten. Hält er es neben mir nicht aus, wäre ich nicht böse, wenn er das tut, was für ihn gut ist. Ist er sicher, dass ich es geschafft habe, dann kann er unsere Ärztin rufen. Für weitere Notfälle habe ich auch vorgesorgt, darüber spreche ich im Kapitel „Plan B für den Notfall“. Sollte mir dieses Sterben geschenkt werden, dann wäre ich wirklich sehr glücklich. Das wissen mein Mann und unsere Kinder jetzt schon und ich hoffe, dass sie einen so plötzlichen Verlust dann besser verkraften.

Chronisch krank und / oder austherapiert

Laut Bundesgesundheitsministerium gilt der Mensch als schwerwiegend chronisch krank, wenn er mindestens einen Arztbesuch pro Quartal mit derselben Krankheit über ein Jahr lang nachweisen kann. Zusätzlich muss er einen Pflegegrad, eine Erwerbsminderung oder Behinderung von sechzig Prozent und kontinuierliche medizinische Versorgung nachweisen, ohne die die Lebenserwartung vermindert oder seine Lebensqualität dauerhaft beeinträchtig ist (Bundesgesundheitsministerium 2018