Der Herbst des Falken - Tanya Carpenter - E-Book

Der Herbst des Falken E-Book

Tanya Carpenter

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Beschreibung

Die Jahre in der Fremde haben Rose McBain von einem verzogenen, hochnäsigen Gör in eine gebildete, warmherzige Frau verwandelt. Ihre Rückkehr nach Schottland auf das Gut ihrer Zieheltern weckt unterschiedliche Gefühle in ihr. Einerseits ist sie froh, wieder zu Hause zu sein, andererseits erscheint ihr das Leben auf Withurst Hall erschreckend oberflächlich. Außerdem steckt die Familie in ernsten finanziellen Schwierigkeiten, für die Rose möglichst rasch eine Lösung finden muss. Ihr einziger Lichtblick ist Josh Fraser, der Falkner von Withurst Hall, mit dem sie seit Kindertagen eine tiefe Freundschaft verbindet. Doch die aufkeimende Liebe zwischen den beiden jungen Menschen steht unter keinem guten Stern ...

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Kurzbeschreibung:

Die Jahre in der Fremde haben Rose McBain von einem verzogenen, hochnäsigen Gör in eine gebildete, warmherzige Frau verwandelt. Ihre Rückkehr nach Schottland auf das Gut ihrer Zieheltern weckt unterschiedliche Gefühle in ihr. Einerseits ist sie froh, wieder zu Hause zu sein, andererseits erscheint ihr das Leben auf Withurst Hall erschreckend oberflächlich. Außerdem steckt die Familie in ernsten finanziellen Schwierigkeiten, für die Rose möglichst rasch eine Lösung finden muss. Ihr einziger Lichtblick ist Josh Fraser, der Falkner von Withurst Hall, mit dem sie seit Kindertagen eine tiefe Freundschaft verbindet. Doch die aufkeimende Liebe zwischen den beiden jungen Menschen steht unter keinem guten Stern. 

Tanya Carpenter

Der Herbst des Falken

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Tanya Carpenter

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Philipp Bobrowski 

Korrektorat: Cathérine Fischer

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-293-2

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Prolog

„Eileen.“ Amanda fasste nach der Hand ihrer Schwägerin, die abweisend das Gesicht wegdrehte. Es tat ihr weh, aber im Augenblick konnte sie wenig dagegen tun. „Überleg es dir bitte noch einmal. Ich weiß doch, dass du längst nicht so hart bist, wie du dich gibst. Schau, wir sind jetzt für zwei Wochen in Italien, aber wenn wir zurückkommen, müssen wir darüber reden. Alle. Ich bin sicher, das weißt du so gut wie ich.“

„Tu, was du nicht lassen kannst“, erwiderte Eileen kühl und entzog sich ihr. „Aber bedenke, dass wir dann auch mit den Konsequenzen leben müssen. Alle.“

Amanda seufzte leise und sah der Herrin von Withurst Hall nach, wie sie hocherhobenen Hauptes das Kaminzimmer verließ. Ihr schwarzes Haar fiel wie ein dunkler Schleier um ihre Schultern. Oder über ihre Seele, ging es Amanda durch den Kopf. Sie wusste, Eileen war kein einfacher Mensch, aber so hatte sie sie noch nie erlebt. Ihre blauen Augen waren wie zwei Eiskristalle gewesen, als Amanda das Gespräch mit ihr gesucht hatte. Aber was hätte sie denn anderes tun sollen?

Schon seit ihrer Ankunft auf Withurst Hall waren Amanda und ihre Schwägerin wie Tag und Nacht gewesen, sowohl optisch als auch in ihrem Wesen. Dennoch waren sie stets gut miteinander ausgekommen, und Amanda hatte sogar das Gefühl gehabt, dass sie sich mit der Zeit nähergekommen waren. Doch Eileens Verschlossenheit in dieser Sache betrübte Amanda sehr.

Nach einigen Minuten trat Edward, Amandas Mann und jüngster Sohn des Hauses McBain, lautlos hinter sie. „Sie weicht keinen Zentimeter von ihrem Standpunkt ab, nicht wahr?“

„Nicht einen Millimeter. Ich kann das einfach nicht verstehen.“ Amanda ließ traurig die Schultern sinken und blickte ins Feuer.

Ihr Gatte rieb ihr tröstend über die Arme und hauchte einen Kuss auf ihren blonden Scheitel. „Nimm es nicht so schwer. Vielleicht braucht sie wirklich nur ein wenig Zeit.“

Zeit. Es war schon viel zu viel Zeit vergangen. Im Stillen wünschte sich Amanda, nie in diese Lage gekommen zu sein, aber dafür war es jetzt zu spät. Sie konnte einfach nicht gegen ihre Überzeugungen handeln. Bisher hatte sie sich nur Edward anvertraut, aber ihr Entschluss stand fest. Sie würde nicht mehr lange schweigen. Dafür hing zu viel davon ab. Es ging hier schließlich um das Familienerbe. Das betraf jeden von ihnen. Letztlich sogar Rose, ihr kleines Mädchen, auch wenn sie erst drei Jahre alt war.

„Lass uns schlafen gehen“, bat Edward. „Morgen sieht die Welt schon anders aus. Wer weiß, womöglich kommen wir aus dem Urlaub zurück, und es hat sich alles längst geklärt.“

„Ja, mag sein, dass du recht hast“, raunte sie, obwohl ihr klar war, dass auch er nicht daran glaubte.

Am nächsten Morgen war Eileen nicht einmal da, um sich von ihnen zu verabschieden.

„Möchtest du, dass ich sie holen lasse?“, fragte Edward, der ihr offenbar ansah, wie sehr ihr die offene Ablehnung ihrer Schwägerin zusetzte.

„Nein, bitte nicht. Robin würde sich darüber wundern, und ich möchte ihn weder belügen noch es ihm erklären müssen. Nicht jetzt, da wir zwei Wochen lang fort sein werden.“

Ihr Mann nickte und lud den letzten Koffer ins Heck ihres Volvos. Sein Bruder erschien am oberen Treppenabsatz, die kleine Rose auf dem Arm. Er war vernarrt in das Kind. Vor allem, da seine eigene Ehe bisher kinderlos geblieben war. Allem Anschein nach konnte Eileen keine Kinder bekommen, was auch ein Grund dafür sein mochte, dass sich die beiden immer weiter voneinander entfernten und jeder seine eigenen Ablenkungen suchte. Robin beim Golf und im Aufsichtsrat der Bank of Scotland, Eileen vorrangig mit Luxuseinkäufen, Teerunden mit ihren High-Society-Freundinnen und auf unzähligen Fuchsjagden, bei denen sie ritt wie der Teufel.

Robin gab seiner kleinen Nichte einen Kuss auf die Wange, ehe er sie an Amanda reichte. „Passt gut auf die kleine Prinzessin auf“, mahnte er gespielt mit erhobenem Zeigefinger. Dann wurde seine Miene ernst. „Es tut mir sehr leid, dass Eileen nicht herunterkommt, aber ihre Migräne … Ihr kennt das ja bereits.“

„Mach dir keine Gedanken. Wir haben uns gestern Abend schon verabschiedet. Da ging es ihr schon nicht gut. Außerdem sind wir ja nicht lange weg. Die zwei Wochen werden wie im Flug vergehen.“

Sir Robin drückte Amanda fest an sich und klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Bring die beiden Mädchen gesund wieder nach Hause. Es wird furchtbar still hier sein ohne euch. Vor allem ohne Rose. Wer malt mir denn jetzt jeden Morgen meine Sonnenblumen?“

Amanda balancierte ihr Töchterchen auf der Hüfte und strich ihr ein paar vorwitzige Löckchen aus dem Gesicht. „Ich bin sicher, Rose wird dir jeden Tag etwas malen, wenn wir in Italien sind, und dir einen Haufen Bilder mit nach Hause bringen.“ Für ihre drei Jahre war Rose schon eine richtige kleine Künstlerin.

„Das hat sie von ihrer Grandma. Unsere Mutter hat auch stundenlang vor ihrer Staffelei gestanden und halb Schottland in Öl oder Aquarell gebannt“, scherzte Edward.

Während Amanda die Kleine in ihrem Kindersitz festschnallte, überprüfte ihr Mann noch einmal, ob sie auch nichts vergessen hatten. Tickets, Pässe, die schriftliche Buchungsbestätigung für das Hotel in Rom.

„Von mir aus können wir los. Dann sind wir frühzeitig am Flughafen und müssen uns nicht gleich zu Beginn unseres Urlaubs stressen.“

Amanda winkte ihrem Schwager aus dem Seitenfenster zu, als sie losfuhren. Irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl. Sie sah nach oben zu Eileens Zimmer und meinte, dort einen Schatten zu erkennen, aber sicher war sie sich nicht.

Es war gut, dass sie zeitig aufgebrochen waren, denn die Straßen waren teils stark vereist. Der Winter hatte die Highlands fest im Griff. Umso mehr freute sich Amanda auf ein paar Tage Sonne und milderes Klima. So sehr sie ihre Heimat liebte, an die Kälte würde sie sich nie gewöhnen. Nicht an die vor der Tür – und an die neuere emotionale Kälte in den Mauern von Withurst Hall noch viel weniger.

Edward fasste neben sich und griff nach ihrer Hand, um sie aufmunternd zu drücken. „Keine trüben Gedanken für die nächsten vierzehn Tage, versprich mir das“, bat er.

„Ich geb mir Mühe.“

Auf dem Rücksitz kicherte Rose und spielte mit ihrer Puppe Miss Sophie. Sie zeigte ihr ein Rudel Hirsche, das unter dem Schnee neben der Straße nach Gras grub.

„Verdammt, jetzt fängt es auch noch an zu regnen“, schimpfte Edward. Angespannt starrte Amanda auf die Straße, die sich unter dem Eisregen rasch in eine regelrechte Schlittschuhbahn verwandelte. Der Wetterbericht hatte zwar von vereinzelten Schneefällen gesprochen, aber von Blitzeis war keine Rede gewesen.

„Sollten wir nicht besser umkehren?“, fragte sie bang.

„Unsinn. Die Räumdienste fahren doch. So schlimm wird es nicht werden.“

Auf den ersten Kilometern war noch alles in Ordnung, aber je näher sie Stonehaven kamen, desto mehr Autos lagen bereits im Graben. Edward drosselte die Geschwindigkeit, die Anspannung zeigte sich an seinen zusammengepressten Lippen und dem Zucken seiner Kiefermuskeln. Amanda wusste, er hätte es vor ihr niemals zugegeben, um sie nicht zu beunruhigen, aber sie sah ihm an, dass auch er die Straßenverhältnisse inzwischen kritisch einschätzte.

„An der nächsten Abfahrt verlassen wir die Autobahn“, entschied er schließlich. „Vielleicht entspannt sich die Lage in einer Stunde wieder. Sonst rufe ich eben am Flughafen an und versuche zu erreichen, dass sie uns auf einen späteren Flug umbuchen.“

Amanda lächelte erleichtert. „Ja, das wäre sicher eine gute Idee.“ Besorgt sah sie nach hinten zu Rose, die sich als Einzige nicht um das Wetter draußen kümmerte. Sie war vollkommen in ihr Spiel mit Miss Sophie vertieft.

Sie fuhren um eine Kurve, und wie aus dem Nichts stand dort plötzlich ein Lkw mit Warnblinklicht.

„Verdammt!“ Edward trat das Bremspedal durch, Amanda unterdrückte mühsam einen Aufschrei. Ihr Wagen geriet ins Rutschen, die Räder wollten einfach nicht greifen. Das Heck des Lkw kam immer näher. Alles passierte wie in Zeitlupe und gleichzeitig rasend schnell. Sie hörte schon den Aufprall, die Angst schnürte ihr Herz zusammen. Rose!

Amanda drehte sich zu ihrer Tochter um, die mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Kindersitz saß und nicht verstand, was passierte, wohl aber die panische Stimmung ihrer Eltern realisierte.

Durch den Wagen ging ein kurzer Ruck. War das der Aufprall? Aber der Knall blieb aus. Neben Amanda keuchte Edward, sein Atem ging viel zu schnell. Zäh sickerte die Erkenntnis in ihren Verstand, dass er es gerade noch geschafft hatte, rechtzeitig anzuhalten. Ihre Glieder fühlten sich taub an, sie zitterte am ganzen Körper. Rose war unruhig und wimmerte leise.

„Puh! Das war knapp“, sagte Edward mit brüchiger Stimme.

Der Blick durch die Windschutzscheibe zeigte nur schwarzes Metall. Zwischen ihnen und dem Lastwagen waren es weniger als zehn Zentimeter.

Amanda sandte bereits ein kurzes Dankgebet gen Himmel und wollte gerade Rose beruhigen, als lähmendes Entsetzen von ihr Besitz ergriff.

„Oh mein Gott!“

Edward sah es im Rückspiegel, für Amanda war es wie ein Panaromablick in einen Albtraum.

Um die Kurve, die ihnen vor Sekunden fast zum Verhängnis geworden wäre, kam nun ein zweiter Lkw, der trotz der Straßenverhältnisse viel zu schnell fuhr und direkt auf sie zuraste. Der Fahrer sah sie, sah das Ende des Staus … doch er war machtlos. Auch er trat die Bremse durch, was man daran erkennen konnte, dass sich der Anhänger seines Gefährts quer stellte. Die darauf festgezurrten Baumstämme drückten mit ihrem Gewicht die Zugmaschine dennoch unerbittlich weiter. Die Fahrbahn war einfach zu glatt, der Abstand viel zu gering, die Folgen unausweichlich. Verzweifelt rüttelte Amanda am Verschluss des Sicherheitsgurtes von Rose’ Kindersitz, doch ihre Hände zitterten oder der Mechanismus klemmte. Sie wusste es nicht, kämpfte gegen die Panik an und hörte ihren eigenen Herzschlag in den Ohren trommeln. Edward schnallte sich ab und kam ihr zu Hilfe. Beinah gleichzeitig hoben sie den Kopf und sahen auf das näherkommende Gefährt, das mittlerweile riesengroß die gesamte Heckscheibe ausfüllte. Es war zu spät!

Tränen verschleierten Amandas Blick, als sie sich zu Edward wandte. Instinktiv ergriff er ihre Hand, presste seine Lippen aufeinander. Seine Gedanken flogen zu ihr. Sie wusste genau, was er ihr sagen wollte. Ich liebe dich. Ich liebe euch beide.

Eine seltsame Ruhe überkam Amanda in diesen Bruchteilen von Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Sie waren zusammen. Sie passten aufeinander auf. Auch jetzt noch. Für immer. Doch für immer dauerte bloß noch einen Herzschlag lang. Während sie ihre Finger so fest mit denen ihres Mannes verflocht, dass es schmerzte, schenkte sie Rose einen letzten Blick. Wenn es noch einen einzigen Wunsch gab, den der Himmel ihr erfüllen wollte, dann sollte es ein Wunder sein, das ihre Tochter überleben ließ. Sie war zu jung, es war zu früh für sie.

Das Letzte, was Amanda hörte, war die Hupe des auf sie zurasenden Lkw. Das Letzte, was sie fühlte, die urgewaltige Kraft, die ihren Wagen zusammendrückte wie einen Schwamm, sie und Edward nach vorn schleuderte. Es gab keine Schmerzen, als das Metall sich ineinanderschob und sie schier verschluckte. Jeden bewussten Gedanken auslöschte. Dann war es schwarz und weiß und rot und … totenstill.

Kapitel 1

Rose

Der Blick aus dem Autofenster ließ mein Herz schneller schlagen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, was mir albern erschien, aber die Gefühle überrollten mich wie eine Flutwelle an den Klippen von Kilt Rock. Gott, ich hatte das alles hier so vermisst. Zehn Jahre war ich nicht mehr hier gewesen; eine kleine Ewigkeit. All die schönen Momente in Boston mit meinen Freunden, die ich dort gefunden hatte, konnten das hier nicht aufwiegen. Ich würde Lucy, Ally, Sandra, Bell und Cora vermissen, aber wir blieben über WhatsApp in Kontakt. Wir waren beste Freundinnen und trotzdem grundverschieden. Die Mädels, eingefleischte City-Girls, würden Boston bestenfalls verlassen, um in eine noch größere Stadt zu ziehen. Ich hingegen blieb ein Landei. Ein an Feen und Elfen glaubendes, sommersprossiges, ewig elfjähriges Mädchen, das nie erwachsen werden wollte. Ein Schritt auf schottischem Boden und die vergangenen Jahre fielen von mir ab, als hätte es sie nie gegeben. Ich war … zu Hause.

Withurst Hall, das Anwesen meiner Zieheltern, lag in der Nähe von Inverurie, umgeben von viel Grünland und einem großen Wald, in dem regelmäßig Jagdritte stattfanden. Als Kind war ich praktisch den ganzen Tag draußen gewesen, bis ich im Teenageralter meine Prinzessinnenphase, wie ich sie nannte, in vollen Zügen nachgeholt hatte. Heute musste ich darüber lachen und fand es furchtbar, denn das war nicht ich gewesen. Aber es gehörte eben dazu, sich auszuprobieren.

Tom, unser Chauffeur, bog von der geteerten Straße auf den Kiesweg ab, der vom Haupttor des Anwesens bis zum Haus führte. Als wir die schmiedeeisernen Torflügel passierten und ich durch die Heckscheibe sah, wie sie sich wie von Geisterhand wieder schlossen, wuchs der Kloß in meiner Kehle ins Unermessliche vor Glück. Alles sah noch genauso aus wie damals, als ich mit achtzehn von hier fortgegangen war. Die Bäume, die den Pfad links und rechts säumten und in eine Allee verwandelten, waren größer, die Stämme dicker geworden, aber es waren immer noch dieselben. Kaum zu glauben, dass ich in all der Zeit nicht einmal wieder hier gewesen war. Aber tief in mir drin hatte ich gewusst, wenn ich erst zurückkehrte, könnte ich diesen Ort niemals mehr verlassen. Darum war es mir so wichtig gewesen, zuerst mein Studium in den Staaten zu Ende zu bringen, ehe ich in den Flieger nach Hause stieg, obwohl ich jeden Tag darauf hin gefiebert und mir meine Rückkehr tausendmal erträumt hatte.

Sechs Jahre hatte ich auf Wunsch meines Onkels in Boston erst gutes Benehmen und danach Marketing und Wirtschaftswissenschaften studiert, um die Verwaltung von Withurst Hall eines Tages zu übernehmen. Da die Ehe meiner Zieheltern kinderlos geblieben und mein Vater gestorben war, sollte ich Onkel Robin beerben. Meine Großeltern hatten nur die zwei Söhne gehabt, Onkel Robin und Dad. Und da sowohl Grandma als auch Grandpa Einzelkinder gewesen waren, gab es auch sonst keine Verwandtschaftszweige mehr. Ich hatte die beiden nie kennengelernt, weil sie vor meiner Geburt verstorben waren. Letztlich vielleicht ein Segen, da sie so nicht mehr erleben mussten, wie ihr jüngerer Sohn tödlich verunglückte. Andererseits hatte ich mich manches Mal gefragt, ob womöglich ein Fluch auf unserer Familie lag und es uns bestimmt war, irgendwann auszusterben. Aber das war natürlich abergläubischer Unsinn.

Nach dem Abschluss des Pflichtstudiums hatte es mir freigestanden, wieder heimzukommen. Stattdessen war ich vier weitere Jahre in Boston geblieben, um das zu tun, was mein Herz mir sagte. Ein Kunststudium, kombiniert mit Grafik und Design. Mein Traum war, die kreativen und die bodenständigen Studiengänge miteinander zu verbinden – zum Wohle meines Zuhauses. Ich war nicht sicher, ob ich schon so weit war, aber ich hatte meinen – als Zweitbeste des Jahrgangs sogar ausgezeichneten – Abschluss in der Tasche und würde mein Bestes geben, um meinem Erbe und der Verantwortung, die mein Onkel mir übertragen wollte, gerecht zu werden.

In seiner letzten Mail, die mich drei Tage vor meinem Abflug erreicht hatte, deutete er an, dass dies schon in diesem Jahr geschehen könnte, sofern ich das wollte. Seit seiner Nachricht grübelte ich darüber nach, aber bisher hatte ich keine abschließende Entscheidung treffen können. Es war alles so fremd und unwirklich. Ich war unsicher, was mich erwartete und wie lange ich brauchen würde, um hier wieder Fuß zu fassen. Schließlich lagen zwischen den Schottischen Highlands und Boston Welten. Es würde eine große Umstellung für mich werden, denn der American Way of Life passte nicht zu den Traditionen der McBains.

Außerdem hatte mein Onkel mir eröffnet, dass sich, wenn er sich zum Ende des Jahres von der Verantwortung für den Familienbesitz und den gesellschaftlichen Verpflichtungen zurückziehen wollte, noch eine weitere Verpflichtung für mich ergab, die ich mir momentan nur schwer vorstellen konnte und die mir gehörige Bauchschmerzen bereitete. Ich sollte heiraten.

Als das Herrenhaus Withurst Manor hinter der langen Rechtskurve in Sicht kam, raubte mir der Anblick den Atem und verdrängte meine sorgenvollen Gedanken zunächst. Manch einem mochten die grauen Mauern fade erscheinen, für mich besaßen sie einen Zauber, den man nirgendwo sonst auf dieser Welt finden konnte. Sie erzählten die Geschichte von Jahrhunderten. Sie erzählten auch meine Geschichte.

Die schwarze Limousine hielt vor den beiden Säulen am Eingang von Withurst Manor. Gemäß den Benimmregeln, die ich an der Boston School for Young Ladies gelernt hatte, hätte ich warten müssen, bis Tom mir die Tür öffnete und beim Aussteigen half, aber dafür war ich viel zu aufgeregt. Er hatte den Wagen noch nicht umrundet, als ich auch schon die vier Stufen hinaufeilte und an der Tür prompt mit meinem Onkel zusammenprallte, der wohl in der Absicht, mich willkommen zu heißen, herausgetreten war.

Onkel Robin keuchte auf. Nach einem Moment der Atemlosigkeit starrte er mich mit funkelnden Augen an. Ich besaß die Geistesgegenwart, zerknirscht den Kopf einzuziehen und mir verlegen auf die Unterlippe zu beißen. Eine Geste, mit der ich schon immer mein Ungestüm zu entschuldigen versucht hatte. Meist mit Erfolg, jedenfalls wenn es nicht gerade Tante Eileen gewesen war, bei der ich diese gespielte Demutsvorstellung zum Besten gegeben hatte.

Und auch das hatte sich nicht geändert: Mein Onkel konnte ob dieser zerknirschten Geste und meines schuldbewussten Augenaufschlags weder ernst noch wütend bleiben. Seine Mundwinkel zuckten, seine Nase kräuselte sich, und im nächsten Moment brach er in herzliches Lachen aus und drückte mich fest an sich.

Aufatmend und von unbeschreiblicher Wärme erfüllt, kuschelte ich mich in seine Arme und presste meine Wange fest an seine Brust, die unter seinem Lachen vibrierte. „Ich hab euch so sehr vermisst. Das alles hier“, gestand ich.

Onkel Robin antwortete nicht, sondern streichelte mir schweigend über die Haare. Ich war wirklich viel zu lange weg gewesen.

Nachdem ich mich widerstrebend aus seiner Umarmung gelöst hatte, betrachtete ich meinen Onkel genauer, um mir jede Einzelheit in seinem ebenso gütigen wie strengen Gesicht aufs Neue einzuprägen. Er war alt geworden in diesen zehn Jahren. Im ersten Moment erschreckend, weil ich es nicht erwartet hatte, obwohl mir natürlich bewusst war, dass er sich mit seinen vierundsechzig Jahren allmählich dem Rentenalter näherte. In seinem Gesicht hatten sich tiefe Linien eingegraben, und sein Schnäuzer zeigte ebenso wie sein Haupthaar mehr graue als dunkle Haare. Unverändert war hingegen sein wacher besonnener Blick, der gerade voller Stolz und Liebe auf mir ruhte.

Onkel Robin war ein traditionsbewusster Mann, da ließ er nicht mit sich reden. Aber er hatte das Herz am rechten Fleck und hätte nie jemanden hängen lassen, der seiner Hilfe bedurfte, das wusste ich.

„Wo ist Tante Eileen?“, fragte ich, ehe ich zu tief in meine Gedanken versinken und die Wiedersehensfreude mich in Tränen ausbrechen lassen würde.

„Oh, ich denke, sie wird entweder auf ihrer neu angelegten Trainingsbahn oder in den Stallungen sein“, erklärte Onkel Robin. „Sie hat kürzlich ein neues Rennpferd gekauft.“ Er verdrehte die Augen. „Ich glaube, es ist das elfte oder zwölfte. Seit sie vor knapp drei Jahren ihre Begeisterung für die Rennbahn entdeckt hat, gibt sie hunderttausende Pfund für vielversprechende Jährlinge aus, die regelmäßig als Letzte ins Ziel kommen.“

„Rennpferde?“, hakte ich ungläubig nach. Seit wann stand Tante Eileen auf schlanke Vollblüter? Bis jetzt hatte ich sie nur auf den eleganten, kraftvollen Huntern gesehen, die sie züchtete und selbst trainierte, um sie entweder auf den herbstlichen Jagden zu reiten oder aber an ambitionierte Liebhaber solcher Events zu verkaufen.

„Frag mich nicht“, bat Onkel Robin mit gequälter Miene und hob abwehrend die Hände. „Du weißt, wenn sich deine Tante etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nur schwer davon abzuhalten.“ Er lachte, aber es klang eher sorgenvoll, weshalb ich sanft seine Hand drückte und ihn fragend musterte.

Ich erinnerte mich gut, dass meine Tante stets Mittel und Wege gefunden hatte, alles zu bekommen, was sie begehrte. Als Kind und Heranwachsende hatte ich das an ihr bewundert und zumindest eine Weile versucht, ihr nachzueifern. Es hatte so ein berauschendes Gefühl von Macht und Unbesiegbarkeit beinhaltet, sich wieder einmal durchgesetzt zu haben, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Heute sah ich das anders. Es gab so viel Wichtigeres als Besitz. Auch das war ein Grund, warum ich froh über meine Zeit in Boston war. Die Vorstellung, mich charakterlich in Richtung meiner Tante zu entwickeln, erschreckte mich. Es war nicht so, dass ich sie nicht auch von Herzen liebte, aber sie lebte ihren gesellschaftlichen Stand viel stärker aus als Onkel Robin, was in mir ein bitteres Gefühl hinterließ. Es würde vermutlich nicht so einfach werden, sie von meinen Ideen und Vorstellungen für Withurst Hall zu überzeugen, die zwar durchaus noch traditionell, jedoch deutlich moderner und toleranter waren. Ich beurteilte Menschen nach dem, was sie taten, nicht danach, in welche Vermögens- oder Gesellschaftsklasse sie hineingeboren worden waren.

„Geh nur und lass dir ihre Errungenschaften zeigen“, ermutigte mich mein Onkel. „Ich werde George sagen, dass er in der Zwischenzeit dein Gepäck nach oben bringen soll. Das Zimmer zum Wald hin gehört nach wie vor dir.“ Er zwinkerte mir zu und lächelte verschwörerisch.

Freude und Aufregung ließen mein Herz schneller schlagen. Ich wusste, dass Tante Eileen immer schon ein Auge auf dieses Zimmer geworfen hatte. Darum war ich selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie es sich in meiner langen Abwesenheit zu eigen gemacht hatte. Zu erfahren, dass mein kleines persönliches Paradies immer noch mir allein gehörte, war das schönste Willkommensgeschenk, das Onkel Robin mir hatte machen können.

„Oh danke, Onkel!“ Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Schon gut mein Kind“, meinte er und errötete leicht. „Es gibt ein paar Dinge, da muss selbst deine Tante einsehen, dass sie sie nicht bekommen kann. Und ich verspreche dir, dass alles noch genauso ist, wie du es verlassen hast. Die Zimmermädchen haben lediglich hin und wieder Staub gewischt, aber es wurde nichts entfernt oder umgestellt.“

Ich strahlte ihn an und war mit einem Mal ganz aufgeregt und hibbelig. „Dann will ich zuerst nach oben und mich dort umsehen. Außerdem muss ich mich frisch machen, ehe ich Tante Eileen unter die Augen trete. Ich fürchte, der Geruch der großen, weiten Welt, den ich mitbringe, wird nicht ganz das sein, was sie darunter versteht.“ Sechzehn Stunden Bus und Flug, ich war durchgeschwitzt und steif.

Wir mussten beide lachen bei der Vorstellung, wie Eileen die Nase rümpfte, weil meine Kleidung nach Schweiß und Staub und Imbissbude roch, denn für mehr als einen Cheeseburger mit Pommes hatte die Zeit nicht mehr gereicht.

„Ich hoffe, es ist in Ordnung?“, hakte ich rasch nach, denn ich wollte nicht vorlaut erscheinen oder mir zu viel herausnehmen. Ein bisschen fühlte ich mich noch als Fremdkörper hier.

Onkel Robin lachte. „Aber natürlich ist das in Ordnung. Du bist hier schließlich zu Hause. Je eher du dich auch wieder so fühlst, desto besser. Eileen ist vermutlich sowieso derart mit dem Training beschäftigt, dass sie deine Ankunft noch gar nicht bemerkt hat.“

Ich gab ihm noch einen Kuss auf die Wange und folgte George dann nach oben. Er war schon Butler auf Withurst Manor gewesen, als ich gerade laufen lernte, und auch wenn er selbstverständlich die Etikette wahrte, grinste er mich immerhin so breit an wie ein Honigkuchenpferd. Neben meinem Onkel also mindestens einer, der sich freute, mich wieder hier zu haben.

George stellte meine beiden Koffer neben dem Bett ab und verabschiedete sich mit einem Nicken.

Endlich allein.

Rücklings ließ ich mich auf mein Bett fallen und blieb einen Moment mit geschlossenen Augen liegen. Es fühlte sich unbeschreiblich gut an, wieder auf der eigenen Matratze zu liegen. Nicht, dass die Schlafmöglichkeiten in den letzten zehn Jahren unbequem gewesen wären, doch ich hatte nie ein Zimmer für mich gehabt, weil Doppel- und Dreierzimmer im Studentenwohnheim eben günstiger waren. Ganz zu schweigen von der Benimmschule, in der es noch altertümliche Schlafsäle mit sechs oder acht Betten gab.

Aber ich hatte nie eine Sonderbehandlung haben wollen, weshalb ich auch über meinen familiären Hintergrund eher geschwiegen hatte. So war es leichter gewesen, dazuzugehören. Natürlich waren die Lehrkräfte im Bilde gewesen, und auch meine Freundinnen wussten inzwischen darüber Bescheid, aber es hatte lange gedauert, bis ich es ihnen erzählt hatte, und ansonsten hatte ich es einfach nicht an die große Glocke gehängt.

Ein bisschen war mir die Stille hier gerade fremd. In Boston gab es das so nicht. Irgendwelche Geräusche waren immer da, Straßenlärm, Stimmengewirr, Klingeltöne, Taxihupen … Ich hatte wie alle anderen gelernt, sie auszublenden, aber unterschwellig nahm man sie wahr. Auf jeden Fall würde ich heute Nacht schlafen wie ein Baby, da war ich mir sicher.

Am liebsten wäre ich einfach direkt hier liegen geblieben und hätte bis zum Frühstück durchgeschlafen. Der Jetlag steckte mir in den Knochen, ebenso wie die lange Unbeweglichkeit. Das war ich nicht gewohnt. Normalerweise ging ich morgens joggen. Bisher hatte ich außerdem zwei- bis dreimal die Woche mit den anderen das Fitnessstudio aufgesucht und, wenn sich die Gelegenheit bot, Reitunterricht genommen, um es nicht zu verlernen. Obwohl mir der amerikanische Stil anfangs fremd gewesen war. Vermutlich würde ich mich bei den Huntern erst wieder umstellen müssen.

Ich streckte mich noch einmal genüsslich und schwang dann die Beine wieder aus dem Bett. Tante Eileen hätte es mir sicher übel genommen, wenn ich sie nicht begrüßt hätte, und mein Magen beschwerte sich schon, denn außer dem spärlichen Menü im Flugzeug und dem Cheeseburger hatte ich heute noch nichts gegessen.

Obwohl die Müdigkeit bleiern und schwer in meinen Gliedern lag, während von der weichen Bettdecke der frische Duft von Lavendel und Wiesenkräutern lockte, zwang ich mich aufzustehen. Mein Blick glitt durch den Raum, in dem sich wahrhaftig kaum etwas verändert hatte. Ich biss mir auf die Lippen, als ich meinen alten Kleiderschrank betrachtete. Ein Unikat aus Eichenholz, das ich gemeinsam mit meiner Mom bemalt hatte, als ich etwa zwei Jahre alt gewesen war. Sozusagen mein erstes Kunstwerk. Hätte Tante Eileen den Raum übernommen, wäre der Schrank vermutlich das Erste gewesen, das sie rausgeschmissen hätte.

Der passende Schreibtisch stand – unbemalt – ebenfalls noch an seinem alten Platz am Fenster, von dem aus man die Ställe und die angrenzende Falknerei überblicken konnte. Rechts lag der Bachlauf, der abseits der Gebäude in einen See mündete. Im Hintergrund schloss sich das weitläufige Waldgebiet an, das zu Withurst Hall gehörte.

Ich riss mich von dem idyllischen Anblick los und öffnete lustlos einen meiner Koffer, aus dem ich ein hellblaues T-Shirt, eine dunkle Jeans sowie frische Unterwäsche hervorzog. Danach betrat ich das angrenzende Badezimmer und spülte mir mit einer heißen Dusche den Jetlag aus den Knochen. Zumindest versuchte ich es, der Erfolg war eher mäßig. Aber ich fühlte mich besser und nicht mehr ganz so steif, als ich wenig später sauber und in bequemen Klamotten die Treppe hinunterging. Die frisch gewaschenen Haare band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen, weil ich keine Lust hatte, sie zu föhnen.

Laut Onkel Robin lag die provisorische Rennbahn etwas abseits der Stallungen, aber wenn Tante Eileen vorhin dort das Training überwacht hatte, dürfte sie inzwischen wohl wieder im Stall angekommen sein. Also lenkte ich meine Schritte zunächst dorthin und freute mich darauf, das eine oder andere vertraute Gesicht wiederzusehen.

***

Eileen

Trotz des ausladenden Sonnenhutes mit venezianischer Spitze schirmte Eileen ihre Augen noch mit einer Hand gegen die hoch am Himmel stehende Sonne ab. In der anderen hielt sie die Stoppuhr, während sie den Lauf von In A Secret Word verfolgte. Sie hatte den zweijährigen Hengst erst vor knapp drei Wochen gekauft und wollte ihn bereits kommenden Monat beim Rennen in Musselburgh starten lassen. Jack Mycroft, ihr bisheriger Trainer, fand das zu früh, weshalb sie sich vorgestern von ihm getrennt hatte. Neun Pferde hatte er für sie in den letzten anderthalb Jahren betreut und nichts dabei zuwege gebracht. Nun trainierte sie dieses hier selbst mithilfe des vielversprechenden jungen Bereiters Heath, der auch jetzt im Sattel saß und Secret über die Bahn jagte. Als er die Markierung passierte, stoppte Eileen die Zeit. Siebenundfünfzig Sekunden. Gar nicht mal schlecht. Es würde noch nicht für einen Sieg reichen, aber zumindest für eine Platzierung. Diesmal, dessen war sie sich sicher, hatte sie einen wirklich guten Kauf gemacht. Das war auch dringend nötig. Alle Pferde, die sie bisher gekauft hatte, waren ein Reinfall gewesen, was sie – ihrer Wut zum Trotz – nicht allein Jack zum Vorwurf machen konnte, sondern auch ihrer Unerfahrenheit beim Kauf. Secret würde diese Pechsträhne hoffentlich beenden. Er war ein Tipp eines guten Bekannten gewesen, der relativ erfolgreich in die Szene investierte. Eine Szene, zu der Eileen um jeden Preis ebenfalls gehören wollte, denn sie würde ihr die Tür in einen weiteren elitären Kreis der High Society öffnen und ihr helfen, weiterhin ihren Lebensstandard beizubehalten. Unabhängig von ihrem Mann – und auch unabhängig von Rose, sobald die Withurst Hall übernahm.

Nur darum ging es Eileen, denn sie war nicht bereit, in Zukunft Abstriche zu machen. Doch allmählich sah sie ihre Felle davonschwimmen. Sie musste sich etwas einfallen lassen, wenn sie weiterhin ihren Traum leben wollte.

Heath ließ das Pferd ausgaloppieren und dann in einen leichten Trab fallen, ehe er es wendete und zu ihr ritt. Reiter und Pferd waren beide verschwitzt und außer Atem. Ihre Muskeln zeichneten sich deutlich ab, was Eileen ausgesprochen attraktiv fand, vor allem bei Heath. Zugegeben, sie hatte eine Schwäche für gut aussehende, jüngere Männer. Aber warum auch nicht. Schade eigentlich, dass die Jockeys bei den Rennen nicht solch eine Augenweide waren. Aber die ritten sowieso nicht in Muscle-Shirts wie Heath.

„Er läuft gut“, lobte er den Hengst und klopfte ihm den Hals. „Aber auf der letzten Gerade geht ihm immer noch die Puste aus.“

Secret tänzelte nervös, trotzdem blieb Heath lässig im Sattel sitzen und grinste Eileen herausfordernd an.

„Wir haben ja noch ein paar Wochen. Ich werde morgen mit Parker Jefferson sprechen, damit wir einen guten Jockey für ihn bekommen. Wenn er die Strecke unter fünfzig Sekunden schafft, haben wir uns vielleicht einen Champion eingekauft.“

Heath nickte zuversichtlich. „Ich denke, der Bursche schafft das. Mit dem richtigen Training versteht sich. Es war gut, dass du Jack rausgeschmissen hast, Eileen. Er hat einfach nicht den nötigen Biss, macht sich zu viele Gedanken.“

Eileen hob warnend eine Augenbraue, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging Richtung Stallungen. Heath würde ihr folgen, auch ohne dass sie ihn dazu aufforderte. Der Kerl fraß ihr aus der Hand, und das war gut so, aber er nahm sich auch verdammt viel heraus, obwohl sie ein paar klare Regeln aufgestellt hatte.

Eileen mochte es nicht, wenn Leute ihren Träumen im Weg standen oder ihr einreden wollten, dass sie etwas nicht schaffen könnte. Darum hatte Jack Withurst Hall verlassen müssen. Heath war anders, er riskierte auch mal was und teilte ihre Einstellung zum Leben. Wenn man etwas wirklich wollte, war nichts unmöglich. Anfangs hatte er sie und Jack lediglich beraten, als sie sich zwei junge Vollblutstuten in Wales angesehen hatten, die er betreute. Er hatte die beiden Pferde nach Schottland gebracht, ihr Training in den ersten Tagen begleitet und hätte dann zurückfahren sollen. Aber er war geblieben. Aus mehreren Gründen, und Eileen bereute bisher nicht einen davon.

Vor dem Eingang zu den Boxen traf sie auf den Stallburschen, der gerade eine Karre mit Mist wegfuhr. „Mick, kümmere dich um Secret, wenn Heath von der Bahn kommt“, wies sie ihn an. „Er muss in die Führanlage, bis er sich abgekühlt hat. Danach wasche ihn und stell ihn unters Rotlicht, das ist gut für die Muskeln, hat man mir gesagt. Dr. Dean hat Secrets Futterration neu zusammengestellt, der Plan hängt an seiner Box. Keine Fehler, verstanden? Wenn das Pferd beim Rennen nicht in Topform ist, weil du deine Arbeit nicht gewissenhaft genug machst, bist du deinen Job los.“

Der Junge nickte hektisch und gab kein einziges Widerwort. Man musste seinen Angestellten immer wieder vor Augen führen, wer das Sagen hatte, sonst wurden sie nachlässig. Das konnte sie gerade jetzt nicht gebrauchen.

Hufgetrappel vor dem Stall kündigte Heath an. Mick eilte sofort herbei und nahm dem Bereiter das Pferd ab. Der ging erst einmal zum Brunnen und warf sich einen Schwall kühles Wasser ins Gesicht, das in winzig kleinen Perlen und Rinnsalen über seine erhitzte Haut rann. Der Anblick war atemberaubend.

„Heath? Auf ein Wort in mein Büro“, forderte Eileen scharf. „Ich möchte das heutige Training noch einmal mit Ihnen durchsprechen.“

Der Bereiter stockte kurz, neigte fragend den Kopf zur Seite, bis er schließlich nickte. „Ja, Mrs McBain. Ich zieh mir nur noch schnell …“

„Sofort!“, unterbrach sie ihn und hielt bereits auffordernd die Tür zu dem kleinen Zimmer auf, in das sie ihr persönliches Büro verlegt hatte, damit ihr Mann sie nicht störte. Sir Robin mied den Pferdestall zumeist. Er hielt sich lieber an Golf.

„Natürlich, Sie sind der Boss, Ma’am.“

„Ganz genau“, bestätigte sie und lächelte kühl.

Sie hatte die Tür hinter ihnen beiden kaum geschlossen, als der Zorn auch schon aus ihr herausbrach. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich nicht mit meinem Vornamen anreden sollst, wenn wir nicht allein sind.“

Das Funkeln in Heaths Augen zeigte, was er von ihrem Vorwurf hielt. „Bleib locker, Eileen. Es war doch weit und breit niemand in der Nähe der Bahn zu sehen.“

„Und wenn doch jemand vorbeigekommen wäre? Überraschend. Verdammt, Heath, ich habe einen Ruf. Ich habe einen Rang in der Gesellschaft, den ich nicht verlieren will. Nicht verlieren darf, verstanden?“

Statt sich reumütig zu zeigen, grinste er nur. Demonstrativ drehte er den Schlüssel im Schloss und sperrte damit jeden Störenfried aus. Mit zwei Schritten war er bei ihr, zog sie in seine Arme und presste seine Lippen verlangend auf ihre. Eileen war überrumpelt, stemmte die Fäuste gegen seinen Brustkorb, doch er wusste einfach zu genau, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste, damit sie einbrach. Der Kuss raubte ihr den Atem, weckte ein Verlangen in Eileen, das für ihren Mann schon seit Jahren keine Bedeutung mehr hatte. Wer wollte ihr vorwerfen, dass sie sich in solche Abenteuer flüchtete? Sie brauchte das Gefühl, attraktiv und begehrt zu sein und nicht bloß ein hübsches Aushängeschild für das Familienimage.

Heath zog eine glühende Spur aus Küssen entlang ihrer Kehle bis zu ihrem Schlüsselbein. Gleichzeitig öffnete er die Knöpfe ihrer Bluse und fing an, ihre Brüste zu streicheln. Eileen stöhnte verhalten auf, machte sich an seiner Hose zu schaffen. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in diesem Büro ein kleines Stelldichein gaben, und wenn Heath vom Reiten erhitzt war und nach dieser Mischung aus Leder, Schweiß und herbem Männerparfüm roch, übte er auf Eileen einen unwiderstehlichen Reiz aus.

Er umfasste ihre Hüften und hob sie auf den Schreibtisch, griff ihr fast ein bisschen grob zwischen die Beine und erstickte ihren lustvollen Schrei mit einem weiteren Kuss.

Nur vage hörte Eileen Schritte draußen im Gang, doch als jemand nach ihr rief, blieb ihr fast das Herz stehen.

„Tante Eileen? Bist du hier?“

Eine kalte Dusche hätte nicht effektiver wirken können. Augenblicklich war ihre Lust dahin. Stattdessen stieß sie Heath in aufwallender Panik von sich und drehte sich zur Tür um. „Oh Gott, das ist Rose. Verdammt, sie hätte doch erst heute Nachmittag zurück sein sollen.“

Hastig knöpfte sich Eileen die Bluse zu und versuchte, ihre zerzauste Frisur wieder zu richten. Wo war denn der verdammte Hut?

„Wenn wir uns ins Stroh kuscheln, übersieht sie uns vielleicht“, raunte Heath, schlang von hinten seine Arme um ihren Körper und knöpfte die Bluse von unten wieder auf. Seine Erektion presste sich gegen ihren Po, was durchaus nicht unangenehm war, aber gerade hatte sie dafür absolut keinen Sinn.

„Jetzt nicht. Sie darf uns auf keinen Fall so zusammen sehen.“ Genervt schlug sie seine Hände beiseite, was ihn nicht davon abhielt, ihren Nacken zu küssen. Wenn er so weitermachte, würde sie doch noch schwach werden. Entschlossen drehte sie sich um und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Verdammt, was soll das?“ Zornig funkelte er sie an.

„Ich habe gesagt, jetzt nicht“, zischte sie, nur um gleich darauf mit zuckersüßer Stimme ihrer Nichte zu antworten. „Ich bin hier, Liebes. Warte bitte einen Moment, ich bin gleich bei dir.“

Sie richtete ihre Kleidung und klopfte den Staub von ihrem weißen Hut, der bei dem stürmischen Kuss zu Boden gefallen war, da packte Heath sie schmerzhaft an den Handgelenken. „Ich warne dich, Eileen. Spiel keine Spielchen mit mir. Ich bin nicht einer deiner Laufburschen. Die Ohrfeige wirst du mir noch büßen, darauf kannst du Gift nehmen.“

Sie hielt seinem bohrenden Blick mühelos stand und reckte stolz ihr Kinn. Der Mann, von dem sie sich Angst einjagen ließ, musste erst noch geboren werden. „Darüber reden wir noch, Mr Summer. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mich um meine Nichte kümmern.“

***

Rose

Ich schlenderte an den Boxen entlang, während ich auf Tante Eileen wartete. Ein paar der Pferde kannte ich noch, aber die meisten Tiere hatten vor zehn Jahren noch nicht hier gestanden. Auf der einen Seite der Stallgasse waren noch immer Irish Hunter untergebracht, aber in den Boxen auf der anderen standen schlanke Vollblüter, die im Gegensatz zu den massigen Jagdpferden sehr nervös wirkten und sich unruhig im Kreis drehten.

Sie taten mir leid. Diese Pferde waren geboren, um zu rennen. Eine große Weide hätte ihnen besser gelegen als die Enge hier. Das galt allerdings auch für die Hunter. Seltsam, dass alle im Stall standen. Früher waren die Pferde um diese Jahreszeit tagsüber auf den Koppeln gewesen.

Ich streichelte einer großen braunen Stute über die weichen Nüstern und lächelte, als sie gegen meine Finger schnaubte und sanft dagegen stupste.

Ein junger Bursche führte ein englisches Vollblut am Halfter und hatte ziemlich zu kämpfen, weil das Tier ständig mit dem Kopf schlug, den gesamten Körper unter Spannung, als wollte es jeden Moment auf und davon laufen. Auch diesen Jungen kannte ich nicht. Als ich hier weggegangen war, hatte er vermutlich noch die Grundschule besucht. Verlegen blickte er zur Seite und tippte sich an seine Baskenmütze.

„Ich bin Rose“, sagte ich und hielt ihm meine Hand entgegen. Er starrte darauf, als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte, aber vielleicht ergriff er sie auch nur deshalb nicht, weil er mit zwei Händen den Führstrick umklammern musste, damit der Hengst sich nicht losriss.

„Mick“, antwortete er einsilbig.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Mick“, erwiderte ich und hielt an meiner Freundlichkeit fest in der Hoffnung, ihm damit die Unsicherheit zu nehmen. „Arbeitest du hier im Stall? Dann werden wir uns künftig nämlich öfter sehen, ich wohne jetzt wieder hier.“

Er gab nur ein unverständliches Murmeln von sich und blickte ebenso nervös wie das Pferd von einer Seite zur anderen. Gerne hätte ich ihn nach Jeff gefragt, der früher hier als Stallmeister gearbeitet hatte, aber ich spürte, wie unwohl er sich gerade in seiner Haut fühlte, und hoffte bloß, dass es nicht an mir als Person lag. Ich entschied mich, ihn nicht länger aufzuhalten, wofür er augenscheinlich dankbar war, so schnell wie er das Weite suchte.

„Na wenn das nicht die kleine Rose ist“, erklang just in diesem Moment eine bärige Stimme hinter mir.

Mit einem Strahlen im Gesicht wirbelte ich zu dem Sprecher herum. Als könnte er Gedanken lesen, denn der Neuankömmling war kein Geringerer als Jeff. Er musste inzwischen über fünfzig sein, und die Bartstoppeln in seinem Gesicht waren deutlich grau geworden. Dennoch breitete er die Arme aus und drehte sich einmal mit mir um die eigene Achse.

Nachdem er mich wieder auf die Füße gestellt hatte, blickte er ungeniert an mir herab und wieder hinauf. Was ich bei vielen Männern als unhöflich empfunden hätte, machte mir bei ihm nicht das Geringste aus. Er kannte mich, seit ich das Licht der Welt erblickt hatte, und würde immer mein großer Pferdeonkel bleiben.

„Alle Achtung. Bist ja ne richtige Lady geworden“, meinte er anerkennend und pfiff durch die Zähne.

„Danke. Hier scheint sich aber auch einiges verändert zu haben.“ Ich wies auf die Vollblüter und Jeff winkte ab.

„Rausgeschmissenes Geld. Aber meins is es ja nicht. Die Gäule sind lahmer als die Schafe vom alten Wiggins.“

Überrascht hob ich die Brauen. Auch wenn mein Onkel schon angedeutet hatte, dass Eileens Vollblüter eher als Letzte denn als Erste die Ziellinie überquerten, machte es mich nachdenklich, Jeff so schlecht von ihnen sprechen zu hören. Nie hatte ich erlebt, dass er hart oder gar ungerecht zu einem Pferd gewesen wäre. Er liebte sie alle und kannte jede ihrer Eigenarten. Diese Resignation in seiner Stimme zu hören gefiel mir nicht, weil das kein gutes Bild von den Tieren malte.

Hinter Jeff tauchte plötzlich ein schwarz-weißer Hund auf und entlockte mir einen überraschten Aufschrei. „Ist das Wobble?“, fragte ich.

„Aye“, bestätigte Jeff. „Der alte Flohsack ist inzwischen stocktaub, aber er begleitet mich immer noch überallhin.“

Der Border Collie war Jeffs ganzer Stolz gewesen. Er musste fünfzehn oder sechszehn Jahre alt sein. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er noch lebte. Als ich mich auf den Boden hockte, kam er sofort mit wedelndem Schwanz zu mir und ließ sich den ergrauten Kopf kraulen. Dabei schloss er genüsslich die Augen, die vom Alter bereits trüb geworden waren.

„Hat dich sofort wiedererkannt, der Bursche“, stellte Jeff fest und kicherte zufrieden.

Die Tür zur alten Sattelkammer öffnete sich und Jeff verstummte augenblicklich. Ein Blick von Tante Eileen genügte, und der Stallmeister trollte sich mitsamt Wobble, was mir einen kleinen Stich versetzte. Dass meine Tante gegenüber dem Personal mit harter Hand auftrat, hatte sich offenbar nicht geändert. Neben Eileen kam ein Mann, etwa Anfang dreißig in Reithosen und eng anliegendem Shirt, aus dem Raum und musterte mich mit kühlem Blick. Auch ihn hatte ich hier noch nie gesehen, und allmählich drängte sich mir der Verdacht auf, dass sich in Withurst Hall mehr verändert hatte als gedacht.

„Heath, wir sehen uns dann morgen wieder. Seien Sie bitte pünktlich auf der Bahn“, sagte Eileen schroff.

Im Gegensatz zu Onkel Robin hatte sie sich kaum verändert. Die sechsundfünfzig Jahre sah man ihr jedenfalls nicht an. Wer sie nicht kannte, hätte sie auf höchstens Anfang vierzig geschätzt. Ihr Haar war noch immer satt schwarz, ihre Haltung aufrecht und ihre Haut jugendlich frisch, auch wenn da vermutlich auf die eine oder andere Weise nachgeholfen worden war. Sie besaß nach wie vor eine tadellose Figur, die in den Reithosen aus feinstem Wildleder und der recht eng geschnittenen Bluse gut zur Geltung kam. Selbst im Stall achtete sie penibel auf ihr Äußeres, heute genau wie früher.

„Wir werden Secret und Destiny trainieren. Ich will, dass beide bis zum Rennen fit sind, da können wir uns keine Nachlässigkeiten mehr leisten.“

„Jawohl, Mrs McBain. Sie sind der Boss.“ Der Blick des Mannes war lodernd, fast schon zornig, während Eileen ihn triumphierend anlächelte. Erst als er genau wie Jeff verschwunden war, wandte sie sich mir zu.

„Wer ist das?“, wollte ich wissen.

„Das ist Heath. Heath Summer. Er ist mein Bereiter für die Rennpferde und inzwischen auch mein Trainer, nachdem ich den vorherigen leider entlassen musste.“ Sie verdrehte die Augen. „Absolut keine Ahnung von Pferden und von durchdachten Trainingsplänen erst recht nicht. Es war seine Schuld, dass wir bei den Rennen zu schlecht abgeschnitten haben. Aber Heath macht seine Sache bisher ziemlich gut, seitdem Jack ihm nicht mehr reinreden kann. Ich glaube, es war ein guter Deal, ihn praktisch zusammen mit zwei Jährlingen eingekauft zu haben.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, wartete offenbar, dass ich etwas dazu sagte, aber ich hätte nicht gewusst, was. Es bedrückte mich, dass meine Tante über einen Menschen sprach, als wäre er ein lohnenswertes Objekt, das sie günstig erstanden hatte.

„Onkel Robin hat schon erwähnt, dass du dich jetzt auf Rennpferde konzentrierst“, bemerkte ich ausweichend. „Ich bin … überrascht.“

„Ja.“ Sie lachte gekünstelt. „Das sieht man dir auch an.“

„Was ist mit den Huntern?“

Eileen blickte die Stallgasse entlang, doch ihre Miene zeigte Gleichgültigkeit. „Wie du siehst, stehen sie noch immer hier. Ich reite natürlich auch noch hin und wieder Jagden. Aber Rennpferde sind lukrativer. Und schöner. Außerdem“, fügte sie mit verschwörerischer Miene hinzu, „lernt man auf der Rennbahn sehr interessante und vor allem einflussreiche Leute kennen.“ Sie hakte sich bei mir unter und führte mich aus dem Stall hinaus, als könnte sie nicht schnell genug hier wegkommen. Dabei hatte sie früher häufig den halben Tag im Stall, auf der Reitbahn oder auf der Jagdstrecke im Gelände zugebracht. Sie hasste jede andere Art von Sport, aber mit dem Reiten hielt sie sich fit. Was sie wohl jetzt tat, um sich diese Figur zu erhalten, wenn es nicht mehr das Reiten war?

„Weißt du, jetzt, wo du wieder hier bist, sind solche Kontakte besonders wichtig“, ergänzte sie, und ich runzelte verwirrt die Stirn, weil ich ihr nicht so ganz folgen konnte.

„Oh, sind sie das?“

„Aber ja. Ich meine, schau dich an, du bist jetzt erwachsen und wirst das hier bald übernehmen. Da ist es schon wichtig, dass dein künftiger Ehemann aus den richtigen Kreisen stammt.“

Ihre Worte waren wie ein kalter Guss. Ich schluckte und hatte das Gefühl, als würde die Luft um mich herum knapper. „Moment mal, das meinst du jetzt aber nicht so, wie du es gesagt hast, oder? Ich … ich weiß zwar, dass von mir erwartet wird, mich in absehbarer Zeit zu verloben, aber das hat doch sicher noch ein bisschen Zeit.“ Vor allem war ich nicht bereit, mich auf eine arrangierte Ehe einzulassen, wir lebten schließlich nicht mehr im Mittelalter. Wenn ich schon heiraten sollte, würde ich mir meinen Mann selbst aussuchen.

Meine Tante machte ein ebenso ratloses wie pikiertes Gesicht. „Na ja, allzu lange warten sollten wir wohl nicht. Du bist schließlich keine zwanzig mehr. Wenn du Withurst Hall übernehmen willst, brauchst du einen passenden Mann an deiner Seite, und es gehört zu unserer Pflicht, die infrage kommenden Kandidaten genau zu prüfen. Zu deinem eigenen Besten. Darum haben dein Onkel und ich uns bereits einige genauer betrachtet. Aber keine Sorge, ich denke, ich weiß ganz genau, welche Art von Traumprinz dir vorschwebt. Und ich glaube, ich habe da schon den richtigen Kandidaten.“

Ich war einfach zu perplex, um zu antworten, weil das nun doch viel schneller kam, als ich es mir vorgestellt hatte. Meine einzige Hoffnung war, dass das gerade nur so endgültig klang. Onkel Robin hatte das Thema vorhin komischerweise mit keinem Wort erwähnt.

„Sein Name ist Richard Mountraw. Er wird einmal die Kiltweberei seiner Eltern erben. Die beste in Edinburgh, wenn nicht gar in ganz Schottland. Wir haben uns auf der Rennbahn kennengelernt, aber dort sind die beiden wirklich nur gelegentlich. Ich weiß, Robin hat auch noch ein paar andere junge Männer ins Auge gefasst, aber ich finde schon, du solltest nicht nur aufgrund von Familienstammbäumen und Traditionen heiraten, sondern auch einen Gewinn in deinem zukünftigen Mann sehen.“ Die Worte sprudelten aus ihr hervor, ohne dass sie einmal Atem holte. Dabei schien sie nicht im Ansatz zu bemerken, wie mir mit jeder Sekunde weiter die Gesichtszüge entglitten. Ich kam mir vor wie auf einem türkischen Basar, wo mir jemand partout seine Ware aufschwatzen wollte.

Nein, ich wollte und ich würde mich nicht derart überrumpeln lassen. Alles mit Ruhe und zu seiner Zeit. Zunächst hatte ich völlig andere Pläne als die Suche nach einem Ehemann, egal ob Traumprinz oder nicht, denn ich musste mich erst einmal wieder hier zurechtfinden, mich mit meinem künftigen Erbe auseinandersetzen. Danach konnte ich mir vielleicht Gedanken um meinen Zukünftigen machen. „Stopp!“, sagte ich entschieden und blieb stehen. „Eure Bemühungen in allen Ehren, aber das geht mir zu schnell, das ist mir zu früh und es ist vor allem die völlig falsche Methode.“

Eileen blinzelte ein paar Mal ungläubig und verzog dann beleidigt ihre perfekt geschminkten Lippen. „Aber Liebes, was bist du denn gleich so ablehnend? Es geht doch erst mal nur darum, dass du ein paar vielversprechende junge Gentlemen kennenlernst. Die Entscheidung triffst selbstverständlich du allein“, versicherte sie, und ich wollte schon aufatmen, als sie mit einem koketten Grinsen doch noch einen nachsetzte. „Aber wer weiß, vielleicht verliebst du dich schneller, als du denkst.“ Sofort streichelte sie mir beschwichtigend über die Wange, aber ich drehte den Kopf weg, weil diese Tüddelei mir unangenehm war und noch dazu unehrlich wirkte. Dabei entdeckte ich den Bereiter, der im alten Gästehaus verschwand.

Tante Eileen räusperte sich verlegen. „Ich habe Heath dort untergebracht, damit er ständig verfügbar ist. Er hätte sonst jedes Mal von Aberdeen hierherkommen müssen, das fand ich äußerst unpraktisch.“

„Ist das wirklich nötig, dass er hier wohnt? Ich meine, du hättest ihm doch auch eine Wohnung in Inverurie suchen können, wo er nach Feierabend hinfährt. Nachts wird er wohl kaum mit den Pferden trainieren.“

Sie zuckte gleichmütig die Achseln. „Er berät mich in allem, was mit dem Rennsport und den Pferden zu tun hat. Da ist es mir einfach lieber, er ist vor Ort, falls ich Fragen habe oder etwas klären muss. Nimm es mir nicht übel, aber das geht dich einfach nichts an. Es ist allein meine Sache. Robin hatte nichts dagegen. Der alte Kasten stand sowieso seit drei Jahren leer.“

Allzu häufig war das Gästehaus auch früher nicht benutzt worden, aber doch hin und wieder, wenn Freunde aus England oder den Lowlands zu Besuch waren. Dass es mehrere Jahre gar nicht mehr bewohnt worden war, wunderte mich, und ich fragte mich insgeheim, wie viele Überraschungen dieser erste Tag noch für mich bereithalten würde.

„Dein Onkel und ich haben jedenfalls einen kleinen Willkommensball zu deiner Heimkehr organisiert.“ Man hörte Eileen bei diesem spontanen Themenwechsel an, dass sie nicht bereit war, länger über diesen Heath zu sprechen. „Es werden unglaublich wichtige Leute da sein“, beeilte sie sich zu sagen. „Geschäftspartner von Robin und ein paar gute Freunde von mir. Natürlich auch ein paar potenzielle Kandidaten, die du dir schon mal anschauen solltest.“

Ich räusperte mich peinlich berührt. „Also eigentlich … wollte ich erst mal ankommen. Nach mehr als zehn Jahren …“

„Aber natürlich“, stimmte Eileen überschwänglich zu. „Genau darum geht es doch. Du sollst hier ankommen und gleich wieder in der Gesellschaft Fuß fassen. Glaub mir, das können wir nicht schnell genug vorantreiben. Gute Kontakte sind das A und O. Es hat sich ja so viel verändert. Wenn ich dir erzähle, wer alles geheiratet hat.“ Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Und teils sogar schon wieder geschieden wurde.“

Auf dem Weg zurück zum Herrenhaus zählte sie munter die Gästeliste auf, von der mir nicht die Hälfte der Namen etwas sagte. Am Fuß der Treppe blieb Eileen plötzlich abrupt stehen und wandte sich mit erschrockenem Gesichtsausdruck zu mir um. „Du liebe Güte, dabei fällt mir ein … was sollst du denn nur anziehen? Ich fürchte, ich habe völlig unterschätzt, wie sehr du dich verändert hast. Deine alten Kleider passen wohl kaum noch. Außerdem sind sie längst aus der Mode. Und die Feier ist schon morgen, aber ich habe überhaupt keine Zeit, um mit dir nach Edinburgh zu fahren und dich neu einzukleiden. Oje!“

„Ach, mach dir da keine Sorgen.“ Ich winkte ab. „Ich habe genügend passende Outfits aus den Staaten mitgebracht.“ Ich rang mir ein Lächeln ab, obwohl allein die Vorstellung, einen ganzen Abend lang Small Talk mit wildfremden Leuten halten und einen regelrechten Spießrutenlauf zwischen einem Dutzend Bewerber absolvieren zu müssen, mir Übelkeit verursachte. Wie sollte ich das schaffen? Ich war fix und fertig, wollte schlafen, mich ausruhen und dann ganz langsam wieder in den Alltag starten. Dieser Abend würde mich überfordern, das wusste ich jetzt schon. So schnell überwand niemand einen Jetlag, von dem Gefühlschaos in meinem Inneren ganz zu schweigen, weil mir so vieles fremd und neu erschien, während andere Dinge mich mit einer Flut von Erinnerungen schier überrollten. Aber natürlich würde ich meine Zieheltern nicht hängen lassen. Irgendwie würde das Fest vorübergehen. „Ich habe einen Hosenanzug in Dunkelblau, der ist sehr schick und klassisch. Ich glaube, das wäre genau das richtige …“

„Nein, nein, nein“, wiegelte Eileen sofort ab. „Das geht gar nicht. Du kennst doch deinen Onkel. Bei so einer Feierlichkeit muss alles stimmen. Insbesondere die Garderobe der Gastgeber.“ Sie rollte die Augen. „Aber keine Sorge, wir finden bestimmt etwas in meinem Kleiderschrank, was sowohl hübsch als auch traditionsbewusst ist und dir passt. Wir haben ja in etwa die gleiche Figur.“ Sie betrachtete mich mit zur Seite geneigtem Kopf, und ein wehmütiger Ausdruck legte sich auf ihre Züge. „Du bist deiner Mutter unglaublich ähnlich, weißt du das?“

Ich hatte von meinen Eltern nur ein paar Fotografien, mehr war mir nicht geblieben. Meine Erinnerungen waren lange verblasst, weil ich einfach noch zu klein gewesen war, als sie starben. Womöglich auch eine Spätfolge der Amnesie, die nach dem Unfall eingesetzt hatte. Aber dennoch wusste ich genau, was Eileen meinte. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete und daneben ein Foto meiner Mutter legte, war die Ähnlichkeit in der Tat frappierend.

„Ich lasse dir von Margie ein paar Sachen auf dein Zimmer bringen“, unterbrach Eileen meine Gedanken. „Nach dem Dinner können wir dann gemeinsam beratschlagen, welches Kleid du morgen anziehen wirst.“

Mit einem Seufzen fügte ich mich. Was blieb mir auch anderes übrig. Es war sowieso alles bereits geplant und organisiert. Solange ich bloß ein Mitspracherecht bei der Kleiderauswahl hatte, würde sich schon etwas finden lassen, in dem ich mich auch wohlfühlte.

Kapitel 2

Rose