Der Himmel ist die Grenze - Francis Slakey - E-Book

Der Himmel ist die Grenze E-Book

Francis Slakey

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Beschreibung

"Jede Begegnung mit dem Tod brachte mich dem Leben näher." Unzufrieden mit seinem abgekapselten Wissenschaftlerdasein, beschließt Francis Slakey mit 36, den höchsten Berg eines jeden Kontinents zu erklimmen und auf allen Weltmeeren zu surfen. In den folgenden Jahren gerät er auf abenteuerlichen Trecks in Extremsituationen, die ihn und sein Leben verändern ... Kaum hat Francis Slakey begonnen, aus seinem erstarrten Leben auszubrechen, geschehen unterwegs unerwartete Dinge. Er wird von indonesischen Guerillas aus dem Hinterhalt überfallen, überlebt einen tückischen Schneesturm in der Antarktis, muss während eines Blizzards in den eisigen Höhen des Mount Everest eine Entscheidung treffen, bei der es um die nackte Existenz geht. Und jedes Mal, wenn er dem Tod entrinnt, befreit er sich ein Stück weiter aus dem emotionalen Korsett. Aus der ursprünglichen Mut- und Kraftprobe wird zu einer Reise ins Innere, in deren Verlauf Slakey einen Sinn für die tiefe Verbundenheit der Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt entwickelt. "Erst heute", schreibt er, "verstehe ich meine Reise. Sie hatte nur einen einzigen Zweck: Ich musste das Herz des Jungen wiederbeleben, der ich gewesen war."

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Seitenzahl: 373

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Francis Slakey

Der Himmel ist die Grenze

Deutsch von Jens Hagestedt

Hoffmann und Campe Verlag

Übersichtskarte

Akteure[1]

in der Reihenfolge ihres Auftretens

Tom Paxton

Kletterpartner

Estomii Molell

Massai-Ältester, Tansania

Der ehrwürdige Rinpoche des Khumbu

Lama im Thyangboche-Kloster, Nepal

Jim Williams

Kletterpartner

Gina Eppolito

Teilnehmerin an einem Begleittreck zum Basislager des Mount Everest, Nepal

Ang Nima

Sherpa aus dem Khumbu-Tal, Nepal

Mike McCabe

Kletterpartner

Patsy Spier

Überlebende des Überfalls in West-Papua, Indonesien

Antonius Wamang

Rädelsführer des Überfalls in West-Papua, Indonesien

Hassan

Fahrer aus Essaouira, Marokko

Pemba

Hündin, die zu einer treuen Gefährtin wird

der Fixer

Schlitzohr in Lhasa, Tibet

die Schlangengöttin

Gottheit, Bhutan

Kinle

Lama von Dhorika, Bhutan

Jayasinghe

Hotelbesitzer in Haputale, Sri Lanka

Agarwal der Ingenieur

Erfinder in Delhi, Indien

Knute

Besitzer einer Schlafbaracke auf der Insel Vestvågøy, Norwegen

Für Fotos siehe www.ToTheLastBreath.com

Für eine, die nie die Chance hatte, und einen, der sie tragischerweise erhielt

Niemand von uns weiß, welcher Art die nächste Veränderung sein wird, welche unerwartete Chance seit ein paar Monaten oder Jahren darauf wartet, unser Leben von Grund auf zu verändern.

Kathleen Norris

Der Himmel ist die Grenze

Ich habe das Gleichgewicht verloren. Mein Körperschwerpunkt hat sich gefährlich verschoben, aber es ist mir nicht bewusst, bis mich eine dumpfe Wahrnehmung der Welt um mich herum erwachen lässt.

Ich hebe leicht den Kopf und werfe einen Blick auf meine Füße. Kein Zweifel, ich liege nicht flach, nicht waagerecht. Mein Körper fällt nach unten ab, und im blassen Mondlicht kann ich kaum meine Zehenspitzen sehen. Das wäre kein Grund zur Beunruhigung, läge ich nicht auf einem Feldbett, das sechshundert Meter über der Talsohle an einer Wand aus reinem Granit befestigt ist.

Meine vorsichtigen Bewegungen haben genügt, um Tom Paxton, meinen Kletterpartner, zu wecken. Pax ist mager, aber so muskulös, dass es scheint, als könnte er einen Stier hinter sich herziehen, wenn die Umstände es erforderten. Ich weiß nicht viel von ihm, und er weiß nichts von mir – wir sind ein ideales Paar. Wir leben beide ohne Rückspiegel, geben Gas im Leben und treten nur dann auf die Bremse, wenn es nicht anders geht. Pax spielt sich auch nie auf – eine andere bewundernswerte Eigenschaft. Es gibt jede Menge Bergsteiger, die reden und reden, aber nie oben ankommen. Pax kommt oben an, ohne zu klagen und ohne zu triumphieren.

Im Augenblick versucht er genau wie ich zu erkennen, was mit dem Feldbett passiert ist. Da es für zwei kaum breit genug ist, musste er die kleinste Bewegung von mir mitbekommen. Wir schlafen mit dem Kopf neben den Füßen des jeweils anderen, sodass Pax jetzt bei einem Blick auf seine Füße sieht, dass sie fast dreißig Zentimeter höher liegen als sein Kopf.

Um sicherzugehen, hatten wir eine halbe Stunde darauf verwandt, das Feldbett in der Wand zu befestigen, und dafür breite quaderförmige Aluminiumkeile in einen Riss im Granit gerammt. Die Keile sitzen fest, sie könnten das Gewicht eines Elefanten halten; unmöglich, dass sie sich gelockert haben. Irgendetwas anderes muss geschehen sein.

Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, fällt mein Blick auf eines der Gurtbänder, an denen das Bett aufgehängt ist. An einer Ecke scheint es sich wie ein Gummiband zu dehnen.

Wenig später schüttle ich meine Schlaftrunkenheit ab, und mein Gehirn beginnt, die Sache sorgfältiger zu untersuchen. Ich sehe, dass sich das Gurtband keineswegs dehnt. Es ist viel schlimmer: Seine Naht reißt auf. In wenigen Sekunden wird es sich von der Ecke gelöst haben, und das Feldbett wird sich unter uns selbständig machen. Wir können nichts tun, um das zu verhindern.

»Slake?«

»Ja, Pax?«

»Wir fallen gleich.«

Ich schaue über den Rand des Feldbetts hinab in die Leere und warte auf das Unvermeidliche.

 

Es gab eine Zeit, da El Capitan als unbezwingbar galt, und es ist leicht zu verstehen, warum. Der Hammerkopf aus Granit, der das Yosemite-Tal in Kalifornien überragt, bricht aus dem Boden hervor und steigt neunhundert Meter senkrecht auf.

Nichts von Menschen Erbautes ist je so hoch gewesen. Selbst nach einem Jahrhundert des perfektionierten Gerüstbaus, des Schweißens von Stahl und Gießens von Beton erreicht kein Bauwerk auf dem Planeten die Höhe von El Cap. Wenn man am Fuß des gewaltigen Monolithen steht, sich zurückbeugt und hinaufblickt, scheint er endlos aufzusteigen, weiter, als die Blicke reichen, bis dorthin, wo er nicht mehr der Erde anzugehören, sondern sich in den Himmel zu schieben scheint.

Gigantisch. Überwältigend. Der Felsen verhöhnt dich, fordert dich heraus, ihn zu besteigen. Und keine Frage, eines Tages musste jemand das versuchen.

Die ersten Versuche waren erfolglos, und zwar aus einem einfachen Grund: Menschen sind nicht dazu geschaffen, eine glatte vertikale Wand hinaufzuklettern. Wir haben keine Haftballen an den Füßen, wie ein Gecko. Wir haben nicht die klebrigen Beine eines Tausendfüßlers oder die Hufe einer Bergziege. Unsere Füße sind flach und lang und damit bestens geeignet, uns auf ebener Erde vor einem heranstürmenden Mastodon Reißaus nehmen zu lassen.

Um beispielsweise eine Spalte in einer vertikalen Wand zum Hinaufklettern zu nutzen, müssen Sie Ihre Beine und Füße in einer Weise gebrauchen, die nicht Teil unserer evolutionsbedingten Ausstattung ist: Sie drehen ein Knie weit nach außen, lassen die Zehen in die Spalte gleiten und belasten den Fuß mit Ihrem ganzen Körpergewicht. Dadurch pressen Sie die Zehen fest in die Spalte und verankern den Fuß an Ort und Stelle. Die Knochen werden zusammengedrückt, damit sie sich dem Profil der Spalte anpassen.

Die Hände gebrauchen Sie nach demselben Muster: Sie drehen Finger, Fingergelenke oder Fäuste und pressen sie in die Spalte. Granit verzeiht keinen Fehler, deshalb müssen die Hände präzise eingesetzt werden. Wenn eine Hand gegen den rauen Granit stößt, schält der Stein wie ein Kartoffelmesser eine Hautschicht ab.

Drehen und zusammendrücken, drehen und zusammendrücken – das ist die Technik, mit der man eine Spalte in einer senkrechten Felswand hinaufsteigt.

Wenn die Spalte an einer Stelle so schmal wird, dass man keinen Fuß mehr hineinquetschen kann, sucht man nach anderen Möglichkeiten – nutzt zum Beispiel Strukturen und Konturen, die oft nicht stärker sind als eine Münze, oder schmiert etwas Gummi vom Kletterschuh an den Fels, in der Hoffnung, dass Reibung genügt, um Halt zu finden.

Wenn das alles nichts nützt, treten Bergsteiger den Rückzug an, um nach einer anderen Route zu suchen. Aber jetzt werden sie mit einem weiteren evolutionsbedingten Nachteil konfrontiert: Unsere Augen sitzen an der richtigen Stelle, wenn es ums Hinaufklettern geht, da wir hierbei gut sehen können, wo wir die Füße hinsetzen. Beim Hinabsteigen jedoch ist die Sicht eingeschränkt und das Gleichgewicht stärker gefährdet; der Zeh muss manchmal »blind« durch die Luft schwingen auf der Suche nach einer Stelle, wo er Halt finden kann.

Der granitene Monolith von El Cap war also unerbittlich, und die Bedingungen für seine Ersteigung waren unmenschlich. Der ihn schließlich bezwang, hatte Nerven wie Drahtseile, bewundernswerte Geduld und einen Körper, der an das Erklettern der vertikalen Welt optimal angepasst war.

Warren Harding, der El Cap als Erster bestieg, hat mich inspiriert. Ich war vierzehn, als ich von seinem Aufstieg erfuhr. Von diesem Moment an wollte ich, dass sein Abenteuer auch mein Abenteuer würde.

Sein Abenteuer begann im Sommer 1957, als er und seine beiden Teamgefährten ihre Ausrüstung am Fuß von El Cap ablegten, wie es so viele Bergsteiger vor ihnen getan hatten. In den nächsten Wochen und Monaten steckten sie sorgfältig, Meter für Meter, ihre Zickzackroute ab, schlugen Lager in der Felswand auf und verbanden diese Lager mit Seilen, die sie mit Kletterhaken – zehn Zentimeter langen, in Spalten geschlagenen Metallspikes – im Fels befestigten. Am Ende eines jeden Tages kehrten sie in ihr Basislager zurück.

Doch sie kamen nur langsam voran. Zu langsam. Nach vier arbeitsreichen Monaten, in denen schließlich die Kälte Einzug gehalten hatte – die Schneestürme würden nicht mehr lange auf sich warten lassen –, sahen sie sich gezwungen, den Aufstieg auf die Zeit nach dem Winter zu verschieben. El Cap hätte sie sonst zermalmt.

Der nächste Sommer brachte weitere Enttäuschungen. Einer der beiden Teamgefährten Hardings brach sich ein Bein, der andere verlor den Mut und stieg aus. El Cap schien wieder einmal einen Versuch zu vereiteln. Aber Harding, entschlossen und auf den Preis fixiert, fand zwei neue Partner und nahm den Fels noch einmal in Angriff.

Wieder vergingen Monate, in denen das Team jeden Tag ein paar Dutzend Meter weiter vorstieß, um anschließend zum Ausruhen zurück auf die Talsohle hinabzusteigen. Als der Herbst nahte, begannen die Fixseile zu zerfasern. Nach einem Jahr der Beanspruchung hatten sie an Stabilität verloren; einen weiteren Winter würden sie nicht überstehen. Entweder das Team konnte El Cap vor dem ersten Schnee bezwingen, oder fast achtzehn Monate Arbeit wären umsonst gewesen. Für Harding hieß es jetzt oder nie.

Sie schulterten ihre Ausrüstung und versuchten es. Da die Witterungsverhältnisse schlechter wurden und die Seile schwächer, wussten sie, dass alles gegen sie sprach.

Zunächst kamen sie rasch voran. Der untere Teil war ihnen vertraut; sie hatten ihn Dutzende Male hinter sich gebracht, indem sie die Wand hinauf- und hinabgestiegen waren, um die Route festzulegen. Dann aber verließ sie die Hoffnung; ein früher Wintersturm zog in das Tal, und sie mussten auf einer Felsbank Schutz suchen. Tage vergingen mit Warten; kalter Regen prasselte gegen den Fels, und der Wind peitschte ihnen den Rücken.

Als sich der Sturm endlich legte, hatten sie ihren Rhythmus und ihre Moral verloren. Ihr Tempo verlangsamte sich auf ganze anderthalb Meter Höhengewinn pro Stunde – eine Raupe kommt schneller voran. Sie standen vor der Entscheidung, entweder ihre Müdigkeit zu vertreiben und weiterzuklettern oder hinabzusteigen, einzupacken und El Cap zu vergessen.

Sie entschieden sich, weiterzumachen.

Am 12. November 1958, fast fünfhundert Tage, nachdem Harding mit den Vorbereitungen für den Aufstieg begonnen hatte, zogen er und seine Gefährten sich über den Rand von El Cap. Sie hatten vollbracht, was noch niemand vollbracht hatte, ja was manchen als absolut unmöglich erschienen war: Sie hatten neunhundert Meter senkrecht aufragenden Granit erklommen. Sie waren von einer flachen Talsohle aus aufgebrochen und hatten sich senkrecht nach oben gearbeitet, direkt in den Himmel hinein.

Sie hatten die Natur herausgefordert und dafür gelitten. Ihre Hände waren blutig und voller Schwielen, ihre Füße zerschunden, ihre Körper mit Narben übersät. Aber der Triumph war ihrer. Sie hatten Krieg gegen die Schwerkraft geführt und ihn gewonnen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Sie – sie allein – hatten dieses kolossale Stück Granit bezwungen. Der kleine Teenager, der ich war, als ich zum ersten Mal von ihrer Geschichte hörte, konnte sich kein spektakuläreres Ende denken.

Als ihre Füße wieder den festen Boden der Talsohle berührten, wartete kein Pressekorps, um sie zu begrüßen, kein Mikrophon und keine Kamera. Die Öffentlichkeit interessierte sich nicht für sie. Hardings Leistung stand im Schatten einer anderen, berühmteren Besteigung. Als Edmund Hillary und Tenzing Norgay ein paar Jahre zuvor den Mount Everest erklommen hatten, war die ganze Welt euphorisch gewesen – die Leistung der beiden Männer hatte Schlagzeilen gemacht. Dagegen war die Bezwingung von El Cap eine Fußnote in der Geschichte des Bergsteigens. Aber Harding grollte nicht, denn sein Beispiel machte Schule.

Da er bewiesen hatte, dass man sich über die Schwerkraft hinwegsetzen kann, begannen die Bergsteiger, ins Yosemite-Tal zu strömen. Eine neue Einstellung begleitete sie: Sie hatten dem Gebrauch von Kletterhaken abgeschworen. Die Metallspikes, die in die Wand geschlagen wurden, beschädigten den Fels, verschandelten ihn, hinterließen Roststreifen und verbreiterten die Spalten. Und da viele Haken im Fels zurückblieben, gingen gedankenlose Leute dazu über, ihn als Mülldeponie zu betrachten.

Um Aufstiege zu ermöglichen, die keine Spuren hinterlassen, wurde alternative Hardware entwickelt. Die Kletterhaken wurden durch Metallkeile und Klemmgeräte mit Namen wie Fledermaushaken, Camelots, Ball Nutz und Big Bros ersetzt, die der Seilerste in Risse im Felsen setzen und der Seilzweite wieder herausziehen konnte.

Da das Zubehör im Laufe der Jahrzehnte zugleich immer leichter wurde, erhöhte sich auch das Tempo: Hardings siebenundvierzig Tage schmolzen auf sieben, auf drei, auf zwei Tage zusammen. Verglichen mit der neuen, trotz ihres geringeren Gewichts robusteren Ausrüstung sah die Hardings aus wie eine Ansammlung von Museumsstücken: kurios und unzuverlässig.

 

Bei unserer Besteigung von El Cap haben Pax und ich diese moderne Ausrüstung dabei, und wir sind überzeugt, dass jedes Stück zu 100 Prozent zuverlässig ist, vom Hersteller getestet und für gut befunden. Ich klettere seit Jahren und habe nie erlebt oder davon gehört, dass Ausrüstungsgegenstände ihren Dienst versagt hätten. Nie. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein wichtiges Stück der Ausrüstung bricht, ist verschwindend gering, sagen wir 1 zu 1 Million.

Im Rückblick wird mir allerdings klar: Ich hätte eine böse Vorahnung haben sollen, dass mir das astronomisch unwahrscheinliche Eins-zu-einer-Million-Ereignis einmal widerfahren würde. Nun, ich hatte sie nicht; dafür sollte das Ereignis meine nächsten zehn Jahre beherrschen, indem es ein Gefühl von Unverletzlichkeit in Frage stellte, das ich stolz kultiviert hatte. Im Augenblick aber beherrschte es die nächste Zehntelsekunde meines Lebens.

Swwwwip. Die letzten Stiche der Gurtbandnaht platzen auf, und das Feldbett fällt.

Bevor wir uns schlafen gelegt hatten, hatten wir die Klettergurte enger geschnallt und in an der Felswand gesicherte Seile eingehängt. Aber die Seile hängen schlaff, sodass wir, als wir das Feldbett unter uns verlieren, fallen, bis die Seile sich spannen, unser Gewicht tragen, uns zur Wand hin ziehen und gegen den Fels prallen lassen.

So hängen wir in der Dunkelheit, gehalten nur von neun Millimeter starken Seilen, die uns davor bewahren, sechshundert Meter hinab ins Tal zu stürzen.

Hätte einer von uns einen nachlässigen Knoten gemacht oder sich nicht richtig eingehängt in das Seil, befände er sich schon im freien Fall, nur ein paar Augenblicke von dem Aufprall entfernt, der ihm das Leben aus dem Leib schlüge. In der Geschichte der Besteigungen von El Cap hat dieses Schicksal Dutzende von Kletterern ereilt. Aber da es uns erspart geblieben ist, durchströmt uns Erleichterung und innere Ruhe. Es ist ein bemerkenswert friedvoller Augenblick.

Ich stemme mich mit den Füßen gegen die Felswand, steige, vom straffen Seil gehalten, ein paar Schritte hinauf und blicke in den Nachthimmel über mir.

Einatmen, ausatmen. Stille.

Die unmittelbare Gefahr liegt hinter uns. Doch nun müssen wir das nächste Dilemma ins Auge fassen: Wir baumeln wie Marionetten in der pechschwarzen Nacht und müssen sehen, wie wir aus dieser Situation herauskommen.

Ich habe keine Ahnung, wie viel von unserer Ausrüstung ins Tal gestürzt ist. Das wird sich morgen zeigen. Was wir jetzt am dringendsten benötigen, ist Licht.

Ein von Pax’ Stirnlampe geworfener Lichtkreis, Durchmesser etwa viereinhalb Meter, bewegt sich langsam auf der Felswand hin und her.

Ich löse meine Lampe von einer Schlaufe an meinem Klettergurt und beteilige mich an der Suche, indem ich ebenfalls Licht über die Granitwand schweifen lasse. Ich halte Ausschau nach einer Stelle – einer Vertiefung, einem Vorsprung, einem Sims –, wo wir unsere Gurte von unserem Gewicht entlasten und ausruhen können.

Pax wird als Erster fündig. »Da ist ein Sims!«, schreit er. Es sind die ersten Worte, die einer von uns beiden seit dem Malheur mit dem Feldbett von sich gibt. Hätte Pax um Mitternacht in einem der überfüllten Lager unten im Tal so laut gerufen, wäre jemand wach geworden und hätte ihn ebenso laut angeherrscht, das Maul zu halten. Aber hier, mehrere hundert Meter über dem Tal, sind wir außer Hörweite, und Pax’ Worte sind höchst willkommen.

Seine Lampe beleuchtet eine auffällige Stelle am Fels, ungefähr sechs Meter unter und drei Meter neben uns. Es ist ein schmaler Sims, nicht breiter als zwei Fünf-mal-zehn-Zentimeter-Bohlen. Viel ist das nicht, aber es ist die einzige Option, die wir haben.

»Sieht komfortabel aus, Pax. Gehen wir runter«, sage ich und richte den Strahl meiner Lampe auf meinen Gurt. Wir müssen uns von den Sicherungsseilen lösen, an denen wir hängen, und uns Seilen anvertrauen, die lang genug sind, um damit den Sims zu erreichen.

Ich löse ein dickes, stabiles, wie eine 8 geformtes Stück Metall von meinem Gurt und nehme es – einen zum Abseilen bestimmten Gegenstand – in die linke Hand. Mit der rechten ziehe ich das lange Seil durch die obere Öse der 8 und hänge die untere Öse in den Gurt. Ich ergreife das lose Ende des Seils und lehne mich zurück. Das Seil trägt mein Gewicht.

Ich sehe jetzt nur das an meinem Gurt befestigte Seil; der Rest der Welt liegt wieder im Dunkeln. Nun muss ich den Sicherheitsknoten lösen.

Dies ist ein Moment, der manche Leute zögern lassen würde. Das Sicherungsseil hat mich vor einem Sechshundert-Meter-Sturz in die Tiefe bewahrt; es hat sich als zuverlässig erwiesen. Dagegen hängt ein Ende des Seils, mit dem ich mich abseilen will, unter meinen Füßen, frei schwingend im leichten Wind. Jede Menge Probleme ließen sich ausmalen, die sich aus dem Übergang zu diesem noch unerprobten Seil ergeben könnten.

Natürlich könnte das ein Kriterium sein, die Optionen, die ich habe, gegeneinander abzuwägen: unerprobt versus erprobt. Aber so darf man an die Situation nicht herangehen. Täte ich es, hätte ich den sicheren Boden unter meinen Füßen nie verlassen, um diesen Aufstieg zu wagen.

Meine Sicht der Dinge: Entweder ich löse das Sicherungsseil und seile mich hinab auf den Sims, oder ich hänge weiter an ihm, ohne die Möglichkeit, mich auszuruhen. Die Entscheidung fällt mir nicht schwer. Ich zögere keinen Augenblick, den Knoten zu lösen.

Runterzukommen ist leicht, aber so kann ich nicht auf den Sims gelangen, der drei Meter rechts von mir liegt. Wenn ich mich nur senkrecht abseile, verfehle ich ihn. Deshalb suche ich beim Abseilen nach einer Möglichkeit hinüberzuklettern. Aber keine Chance. Der Schein meiner Lampe fällt nur auf glatten, strukturlosen Stein; ich sehe keine Risse oder Vorsprünge, an denen ich mich hinüberziehen könnte.

Unebenheiten sehe ich aber links von mir, und die müssen genügen. Ich werde wieder nach oben und zugleich nach links klettern; dann werde ich die Beine anziehen und versuchen, zum Sims hinüberzuschwingen.

Ich seile mich ab, bis ich den Sims ungefähr auf Augenhöhe habe, und fange dann an, nach links oben zu klettern. Sobald ich die notwendige Höhe erreicht habe, atme ich kurz durch, stemme mich schräg gegen die Wand, ziehe die Beine an, und los geht’s.

Ich schwinge frei, hinein in die Dunkelheit, wie ein nach rechts ausschlagendes Pendel.

Sobald ich beim Hinaufschwingen den Sims erreicht habe, stelle ich die Füße auf die Fläche. Geschafft. Ich werde heute Nacht ein bisschen zur Ruhe kommen. Ich kann mich jetzt entspannen und nachdenken.

Kein Zweifel, der Superstar von El Cap, Warren Harding, hat ebenfalls kritische Momente wie den eben überstandenen erlebt. Um sein Ziel zu erreichen, musste er Krisen hinnehmen, ohne sich groß Gedanken zu machen. Seine Teamgefährten waren ausgefallen, seine Ausrüstung drohte zu versagen, das Wetter kannte kein Erbarmen, das Gipfelplateau war hoffnungslos außer Reichweite. Was ließ Harding weiterklettern?

Ich glaube, die Antwort lautet: Harding hatte ein stählernes Rückgrat, das dafür sorgte, dass er möglichen Katastrophen die kalte Schulter zeigte.

In dieser Nacht, als ich mich an den schroffen Granit von El Cap lehnte und die Beine baumeln ließ, dachte ich darüber nach, was gerade geschehen war. Ich hatte die Nerven bewahrt; ich war ruhig und abgeklärt geblieben. Aber ich war nicht immer so gewesen. Ich hatte nicht zu den Kindern gehört, die als Zweijährige furchtlos auf Bücherregale klettern oder auf schmalen Ästen balancieren. Ich war zu dem, der ich war, erst geworden.

 

Als ich elf Jahre alt war, erlag meine aus Ecuador stammende Mutter Zaida Sojos-Vela einem Hirntumor. Der Kampf endete, der Tod wurde akzeptiert an dem Tag, als der Arzt meinem Vater in aller Nüchternheit mitteilte, man habe es jetzt mit dem letzten denkbaren Medikament versucht, seiner Frau zu helfen – leider vergeblich.

»Wir können nichts mehr für sie tun. Zaida wird innerhalb der nächsten Monate sterben.«

Mein Vater hat mir diesen Augenblick geschildert, als ich ein paar Jahre älter war – alt genug, um das furchtbare Geschehen zu begreifen. Er erzählte mir die Geschichte mit derselben klinischen Sachlichkeit in der Stimme, mit der der Arzt ihm die bittere Wahrheit eröffnet hatte. Ich bin allerdings sicher: Damals war er am Boden zerstört.

Ich hatte mich auf diesen Augenblick, den Tod meiner Mutter, jahrelang vorbereitet. Ich hatte ihren langen, langsamen, qualvollen Verfall miterlebt, von der Krücke über den Rollator bis zum Rollstuhl. Als das Ende näher rückte und sie still im Bett litt, hinter der geschlossenen Tür ihres Schlafzimmers, hatte ich sie oft tagelang nicht mehr gesehen.

Das letzte Mal hatte sie ihr Zimmer verlassen, um etwas für mich zu tun: um mir ein paar Brownies aus dem Kuchenteig zu schneiden, den mein Vater für mich zum Geburtstag gebacken hatte. Sie lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, mein Vater saß neben ihr, als ich in die Küche ging und den Haufen schief und krumm geschnittener Brownies sah. Ich dachte, es sei mein Vater gewesen, der so wild mit dem Messer herumgefuhrwerkt hatte.

Meine Mutter in den frühen fünfziger Jahren, bevor sie Ecuador verließ, um in die Vereinigten Staaten zu ziehen. Sie starb, als ich elf Jahre alt war. »Sei stark« war ihre letzte Botschaft an mich. Ich brauchte fünfunddreißig Jahre, um zu verstehen, was sie damit gemeint hatte.

»Wer hat die denn geschnitten? Die sind ja alle Murks!«

Das waren die letzten Worte, die meine Mutter von mir hörte. Eine Woche später nahm mein Vater mich und meine Brüder zu einem letzten Besuch in ihrem Zimmer im Krankenhaus mit. Unter Morphiumeinfluss stehend, irrte sie schon geistig umher. Sie erkannte mich nicht mehr. Aber ich wusste nun, was ich ein paar Tage zuvor mit meinen Worten angerichtet hatte.

Ich bin sicher, es hatte sie betroffen gemacht, dass sie nicht mehr in der Lage war, etwas so Einfaches zu tun, wie mir an meinem Geburtstag ein paar Brownies zu schneiden. Wahrscheinlich hatte es sie ihre ganze verbliebene Kraft gekostet, das Messer zu heben. Meine undankbaren, törichten Worte hatten viel tiefer geschnitten.

Die Slakey-Jungs. Rog (rechts neben Dad) und Joe (links neben ihm) behaupten, ich sei zu meiner Kletter- und Surftour rund um die Welt aufgebrochen, um ihnen zu beweisen, was in mir steckt.

Aber ich konnte nichts mehr tun, um diese letzten Worte, die ich doch an meinen Vater gerichtet hatte, wiedergutzumachen. Als ich das erkannte, hatte ich, der Elfjährige, die Wahl, entweder unter der Last der Reue zusammenzubrechen oder so zu tun, als sei nichts geschehen. Ich entschied mich für Letzteres.

Ein paar Tage später wurde meine Mutter beerdigt. Ich weiß noch, dass ich nach dem Begräbnis mit einem Freund zu Hause Tischeishockey spielte und es dabei, als der Puck hin und her schoss, mit unseren üblichen Frotzeleien besonders toll trieb. Scheinbar gänzlich ungerührt, bemühte ich mich verzweifelt, diesen Tag hinter mich zu bringen, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Es klingt herzlos, wenn ich das jetzt bekenne. Aber nachdem ich den jahrelangen qualvollen Verfall meiner Mutter miterlebt und jene letzten Worte zu ihr gesagt hatte, begegnete ich dieser schmerzlichen Erinnerung, indem ich meine Abwehr verstärkte. Ich ließ mich jahrzehntelang treiben, ohne Wärme und ohne Ziel. Als ich älter wurde, blieb ich meist für mich und lebte, stets rastlos, nach meinen eigenen Regeln.

 

Am nächsten Morgen analysieren Pax und ich die Lage. Das Feldbett, das über uns flach gegen die Felswand schlägt, ist nicht mehr zu gebrauchen. Da wir folglich nichts mehr haben, worauf wir auf unserem weiteren Weg nach oben schlafen können, bleibt uns keine Wahl. Wir müssen den Aufstieg vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Und das bedeutet: Gepäck reduzieren.

Pax greift sich das Feldbett und schaut zu mir herüber. Wir befinden uns 750 Meter senkrecht über der Talsohle, keine Menschenseele unter uns. Während Pax den Alurahmen hält, löse ich ihn von dem Zugseil.

»Adiós«, sagt Pax und lässt das Bett aus den Händen gleiten.

Das kann immer noch ein gutes Ende nehmen, denke ich, als wir das Bett geradewegs und immer schneller werdend in die Tiefe stürzen sehen. Natürlich wird es zerbrechen, wenn es unten aufschlägt, aber wir können die Teile zusammensuchen, in einen Karton packen und mit einer Schilderung, was passiert ist, an den Hersteller schicken. Vielleicht ersetzt er es, sodass wir kein Geld verlieren. Das wäre wichtig, denn unser Budget ist klein; ein neues Bett für 800 Dollar können wir uns nicht leisten.

Das Bett befindet sich weiter im freien Fall, bis leichter Wind dafür sorgt, dass es sich nicht mehr auf direktem Wege, sondern in einem eleganten Bogen dem Erdboden nähert.

»Scheiße«, fasst Pax die Situation zusammen. »Behalt es im Auge«, ruft er, während er, die Hand über den Augenbrauen, in die Sonne blinzelt. »Wir müssen es wiederfinden, wenn wir unten sind.«

Als das Bett von der Felswand forttreibt, schaue ich zum ersten Mal – und ich bin hier schon mehrfach geklettert! – über das Tal. Immer war ich so von der Kletterei in Anspruch genommen, dass ich nur den Granitblock vor mir sah. Immer hatte ich nur Augen für die Spalten, die Seile und die himmelwärts führenden Pfade.

Jetzt bekomme ich erstmals ein Gefühl für die Gegend. Ich habe dem Granit den Rücken gekehrt, vor mir ein neuer Anblick: das Yosemite-Tal.

Das Bett flattert jetzt im Wind, segelt auf der Strömung, lässt sich davontreiben von den Böen. Kaum zu glauben, dass es aus Hartaluminiumteilen besteht, die durch Bolzen miteinander verbunden sind. Es gleitet dahin wie ein Vogel, der über den Horizont fliegt, hinweg über die riesigen, unbesteigbaren Redwoods, die – gerade wie Fahnenstangen, aber viel, viel höher – dicht an dicht die Talsohle bedecken.

An einem normalen Tag blicken Dutzende Schaulustige mit Ferngläsern und Teleskopen hinauf zu El Cap und beobachten die Bergsteiger. Auch jetzt sind sie da und verfolgen, was wir tun.

Ich blicke auf sie hinab, die, jeder von ihnen kaum größer als ein Punkt, den Talboden sprenkeln, und mir wird klar: Sie können unmöglich begreifen, warum wir das getan haben. Ihnen muss das so abstrus vorkommen wie ein Nachbar, der sein Bett aus dem Fenster wirft.

Ich hoffe, dass einer der Schaulustigen tun wird, was ein guter Nachbar täte. Wenn das Bett weiter seinen Weg ins Tal nimmt, wird es über die Redwoods hinwegfliegen und in die Lichtung fallen. Vielleicht sucht dann einer der Beobachter die Teile zusammen und bewahrt sie für uns auf.

Jetzt dreht der Wind leicht, und das Bett fliegt wieder in Richtung des Fußes von El Cap, also fort von der Lichtung. Umso besser. Wenn es da landet, wo wir unseren Aufstieg begonnen haben, können wir die Teile aufsammeln, bevor wir das Tal verlassen. Vielleicht haben wir ja am Ende doch noch etwas Glück.

Doch plötzlich fliegt das Bett nicht mehr. Es ist in der Krone eines sechzig Meter hohen Redwood-Baums hängengeblieben.

 

In den nächsten Stunden bringen wir die letzten hundertfünfzig Meter bis zum Gipfel hinter uns. Wir bewältigen die Strecke in ruhigem, bedächtigem Tempo und halten uns an das Bergsteigermantra: Ökonomie der Bewegungen. Um Kraft zu sparen, darf man als Bergsteiger keine unnötigen Bewegungen machen, sondern muss seinen Kletterstil so optimieren, dass die Arme für das Gleichgewicht sorgen und die Beine für das Vorankommen. Körperfülle ist ein Soll, ein klarer Kopf ein Haben. Nur ein David, kein Goliath bezwingt den Fels.

Für die Entwicklung des Bergsteigens, die schnellere Besteigungen möglich machte als Hardings Aufstieg in fünfhundert Tagen, waren bessere Fitness, ein günstigeres Kraft-Körpergewicht-Verhältnis, mehr Gelassenheit und größere Flexibilität erforderlich. Die Kletterer wurden Athleten. Sie haben aber nicht die muskulöse Physis eines Ringers. Schlank ist besser, sodass auch Frauen mithalten können. Eine Frau ist sogar im Besitz eines der am meisten umkämpften Rekorde in der Geschichte der Kletterei im Yosemite-Tal: Lynn Hill war 1993 der erste Mensch, dem es gelang, El Cap – übrigens auf derselben Route wie seinerzeit Harding – ohne ein einziges Stück Ausrüstung zu erklimmen. Und so beachtlich das allein schon war, ein Jahr später wiederholte sie diese Großtat in geradezu höllischem Tempo: Für den Weg von der Talsohle zum Gipfelplateau brauchte sie nicht einmal vierundzwanzig Stunden.

Pax und ich steigen die Felswand weiter hinauf. Verglichen mit anderen Kletterern, komme ich nur im Schneckentempo voran. Das Yosemite-Tal zieht die besten Bergsteiger der Welt an, und einer ist immer dabei, der besser ist als ich, oft direkt nach mir. Für unsere Route werden wir, Pax und ich, zweieinhalb Tage benötigen. In drei Wochen wird ein Team aus Deutschland dieselbe Route nehmen und einen neuen Rekord aufstellen: das Ganze in siebzehn Stunden.

Und diese Leistung wiederum wird bald darauf ein anderer Gipfelstürmer übertreffen, der einer einzigartigen Spezies angehört: der der Free-Solo-Kletterer.

Mit größtem Selbstvertrauen gesegnet, erklimmen Free-Solo-Kletterer die Felsen ohne Seile und ohne Partner. Hier erreichen die Erzählungen aus dem Yosemite-Tal mythische Qualität.

Da ist beispielsweise die Geschichte von dem Kletterer, der in 750 Metern Höhe nur noch einen Riss fand. Der war aber für seine Finger nicht breit genug. Also zog er zwei kleine Ausrüstungsgegenstände hervor, nahm in jede Hand einen, langte damit abwechselnd hinauf in den nur einen halben Zentimeter breiten Riss und zog sich auf diese Weise mit mehreren einarmigen Klimmzügen hoch. Einmal danebengegriffen, und er wäre einen dreiviertel Kilometer senkrecht in den Tod gestürzt. Aber er schaffte es; ja, er soll nicht einmal ins Schwitzen gekommen sein.

Ich weiß, dass manche Leute Free-Solo-Kletterer für tollkühn halten. Aber mir fällt nur ein treffendes Wort für das ein, was diese Menschen tun: Es ist alternativlos für sie. Sie können sich keine andere Form des Kletterns vorstellen. Und klettern müssen sie.

Wie die meisten Bergsteiger habe auch ich mich ein bisschen im Free-Solo-Klettern versucht. Einmal – ich bestieg einen Block aus Granit und befand mich in etwa zwölf Metern Höhe – verlor ich dabei das Gleichgewicht. Ich stand mit dem rechten Fuß auf einem schmalen Sims, während der linke als Gegengewicht in der Luft schwebte. Zwei oder drei Finger meiner linken Hand griffen in eine senkrechte, einen halben Zentimeter tiefe Kerbe, sodass ich Halt fand und mich nach rechts beugen konnte.

Lange konnte ich nicht in dieser Stellung verharren, aber das brauchte ich auch nicht. Ich reckte mich weiter nach rechts und langte ein paar Zentimeter über mich, nach dem, was ich für eine Vertiefung hielt, tief genug, um mit zwei Fingern, genauer: jeweils mit ihrem ersten Gelenk, hineinzugreifen. Doch als sich meine Finger der Stelle näherten, erkannte ich, dass es sich nur um eine Verfärbung handelte. Da war keine Vertiefung.

In einem solchen Moment hält man als Bergsteiger normalerweise inne und überdenkt die Situation. Man nimmt Abstand und analysiert, sucht nach einer neuen Route. In zahllosen Situationen zuvor war ich zu dieser rationalen Besinnung fähig gewesen. Diesmal war ich es nicht.

Wenn ich an diesen Augenblick zurückdenke, fällt mir nur ein Grund dafür ein, warum ich die gebotene kühle, abgeklärte Lagebeurteilung nicht vornahm: Ich dachte, ich hätte alles, was an Planung notwendig war, erledigt, als ich unten am Boden die Route ausgearbeitet hatte. Und jetzt ging ich nach meinem wohlüberlegten Plan vor. Bevor ich nach der vermeintlichen Vertiefung griff, hatte ich entschieden, dass es keinen anderen Weg hinauf gebe. Es gab keine andere Route; ich hatte mich festgelegt. Und es gab keine Möglichkeit, wieder hinabzusteigen.

Also dachte ich jetzt: Wenn das, was ich für eine Vertiefung gehalten habe, nur glatter Fels ist, dann muss ich mich damit abfinden, dass ich unten aufschlagen werde. Statt nach neuen Optionen für den Aufstieg zu suchen, fing ich an, mich auf den Sturz vorzubereiten.

Aus zwölf Metern Höhe konnte ich den Sturz von einer Felswand mit 85 Grad Neigung überstehen, wenn es mir gelang, die Wucht des Aufpralls durch Abrollen zu verteilen. Die Alternative wäre eine Katastrophe: Träfe ich mit gestreckten Beinen auf, so würde die Stoßwirkung zu einer Kompressionsfraktur in meinem Rückgrat führen.

Ich sah hinunter auf den Boden. Dann glitt mein rechter Fuß von dem Sims, so als würde mein Körper das Unvermeidliche akzeptieren und sich der Schwerkraft ergeben.

An den Sturz erinnere ich mich nicht. Er kann nicht viel länger als eine Sekunde gedauert haben. Ich erinnere mich nur an ein knackendes Geräusch, als ich auf den Boden prallte und abrollte.

Ich machte eine Bestandsaufnahme: Blut sah ich keines auf dem Boden, und Schmerzen hatte ich weder in den Armen noch im Rücken. So weit, so gut. Auch das rechte Bein war okay; aber im linken pulsierte spürbar das Blut. Ich sah auf meine Zehen und bewegte den Fuß im Sprunggelenk. Ja, es tat weh, aber Mobilität war da. Ob ich mir das Knacken nur eingebildet hatte? Ich stand auf. Das linke Bein ließ sich immerhin so weit belasten, dass ich gehen konnte. Ich ging den mit Laub bedeckten Weg zurück zu meinem Wagen und fuhr zur Unfallstation.

»Tut das weh?«, fragte der Arzt und drückte auf meinen geschwollenen linken Knöchel.

»Nicht besonders.« Doch, es tat weh, aber es war kein Schmerz, der mich hätte aufschreien lassen. »Sagen wir: vier auf einer Zehn-Punkte-Skala.«

»Und das?« Er fragte weiter, während er den Fuß drehte und auf einige andere Stellen drückte.

»Kein Problem.« Nirgends schien der Schmerz extrem zu sein.

»Sie haben sich verletzt, eindeutig. Aber es ist nur eine Bänderdehnung, kein Bruch.«

Das hörte ich gern. Dieser Sturz würde mich nicht abschrecken, weiter zu klettern. Wenn überhaupt, würde er mich darin sogar bestärken: Ich hatte einen etwas längeren Purzelbaum gemacht und ihn mit heilen Gliedern überstanden.

»Kühlen Sie die Stelle ein paar Tage mit Eis und gehen Sie dann zu einem Heizkissen über.«

Ich humpelte aus der Unfallstation, überzeugt, in einer Woche wieder auf dem Felsen zu sein.

An den beiden nächsten Tagen machte die Schwellung das Bein unempfindlich, und Aspirin linderte den Schmerz. Dann, am dritten Tag, legte ich ein Heizkissen auf die Stelle.

In den ersten Sekunden empfand ich eine angenehme Wärme; eine freundliche Hand umschloss meine Muskeln und Knochen. Ich lehnte mich zurück auf der Couch und ließ das Kissen seine Hitze in mein Bein verströmen.

Als die Hitze für stärkere Durchblutung sorgte, fing die Hand jedoch an, zuzudrücken, fest zuzupacken und höllisch heiß zu werden. Einen Sekundenbruchteil später saß ich aufrecht, durchzuckt vom heftigsten Schmerz meines Lebens. Es fühlte sich an, als würde mein Bein im nächsten Moment explodieren. Ich griff nach dem Kissen und schleuderte es durch den Raum.

Drei Tage nach der ersten Untersuchung saß ich wieder im Wartezimmer der Unfallstation; die ausliegenden Zeitschriften kannte ich bereits. So starrte ich die Wand an, bis die Schwester meinen Namen aufrief.

Diesmal machte der Arzt eine Röntgenaufnahme. Die Verletzung konnte keine bloße Bänderdehnung sein.

Als ich wieder die Wand anstarrte und auf den Befund wartete, bemerkte ich mehrere Ärzte vor der Tür. Einer von ihnen deutete auf mich und flüsterte den anderen etwas zu. Sie sahen, dass ich zu ihnen hinüberblickte und auf eine Erklärung wartete. Schließlich sprach mich einer an.

»Sind Sie Mr. Slakey?«

»Ja.« Ich fragte mich, was mich zu einem so interessanten Fall machen könnte.

»Sie sind also der Mann, der drei Tage mit einem gebrochenen Bein herumgelaufen ist?«

Die Röntgenaufnahme hätte nicht eindeutiger sein können. Es war ein Korkenzieherbruch des Wadenbeins. Ich hatte es mir also nicht eingebildet: Es hatte beim Aufprall tatsächlich geknackt. Und als ich mich drehte und abrollte, hatte mein linker Fuß nicht schnell genug reagiert. Er war einen Augenblick zu lange stehengeblieben, sodass mein Körper den Knochen buchstäblich verdreht und in zwei Teile gespalten hatte.

»Wir hätten gleich ein Röntgenbild machen sollen, aber Sie sagten ja, es täte nicht weh. Warum?« Der Arzt fragte aus ehrlichem Interesse.

»Ein Bruch ist nicht so schmerzhaft, wie man es sich vorstellt.« Auch in diesem Moment hätte ich, versetzt in dieselbe Situation wie vor drei Tagen, auf der Zehn-Punkte-Skala eine Vier vergeben.

»Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte der Arzt und erklärte mir, dass der Knochen versuche, sich selbst zu heilen. Dazu hätten sich die Bruchflächen der beiden Stücke des Wadenbeins zu einer Art Kitt aufgeweicht und versuchten, sich miteinander zu verbinden, um anschließend wieder hart zu werden und den Knochen auf diese Weise zu reparieren. Das Problem sei, dass ich durch mein dreitägiges Herumlaufen mit dem lädierten Bein in diesen Selbstheilungsprozess eingegriffen hätte, sodass sich die aufgeweichten Bruchflächen gegeneinander verschoben, nach beginnendem Hartwerden wieder aufgeweicht und weiter verschoben hätten und so fort.

»Einen Tag später«, sagte er und übergab mir das Röntgenbild, »wären die beiden Teile des Knochens aneinander entlanggerutscht. Ihr Wadenbein wäre nur noch halb so lang gewesen.« Keine schöne Vorstellung: ein Wadenbein, das sich beim Gehen plötzlich wie ein Teleskop zusammenschiebt.

Jahre später habe ich erfahren, dass der Arzt die Verletzung dramatisiert hatte. Mein Bruder, orthopädischer Chirurg, erklärte es mir.

»Nein, dein Bein wäre nicht zusammengeschoben worden – schließlich war da ja noch das Schienbein –, aber ich weiß, warum er das gesagt hat.«

Ich hatte keine Ahnung, was er meinte.

»Du bist mit einem gebrochenen Bein herumgelaufen. Du warst nicht bereit, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Ihm ist einfach keine andere Möglichkeit eingefallen, dich dazu zu bringen, die Sache ernst zu nehmen.«

Die Worte des Arztes hatten den gewünschten Effekt. Ich bin nie wieder allein geklettert. Und um mich darin zu bestärken, habe ich mich an den Korkenzieherbruch noch jahrelang selbst erinnert, indem ich das Röntgenbild als Mauspad benutzte.

 

»Scheiße«, sagt Pax zum zweiten Mal bei dieser Besteigung, nachdem er seine Ausrüstung auf dem Boden um sich herum ausgebreitet hat.

Wir haben gerade vor ein paar Minuten das Gipfelplateau von El Cap erklommen, und ich schnüre meine Stiefel auf. »Was ist passiert?«

»Meine Stiefel! Sie sind weg.«

Das ist eine schlechte Nachricht, da Pax die Stiefel für den Abstieg braucht. Kletterschuhe haben Passform, wie die Spitzentanzschuhe einer Ballerina. Wenn man hinaufklettert, ist die Passform ideal, weil sie den Zehen ein Höchstmaß an Gefühl für den Fels ermöglicht. Beim Abstieg auf steilen, felsigen Pfaden aber würden sich die Füße blutig scheuern, wenn man diese Kletterschuhe trüge; daher trägt man Stiefel.

Pax’ Stiefel sind natürlich nicht wirklich weg; wir wissen genau, wo sie sind. Da sie sich nicht in dem Haufen um ihn herum befinden, müssen sie neunhundert Meter unter uns sein, ins Tal geflogen, als sich das Feldbett selbständig machte.

Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, fallen mir mehrere Möglichkeiten ein, wie wir die nächsten sechs Stunden besser hätten hinter uns bringen können. Zum Beispiel hätte ich den Pfad, der zum Abstieg genutzt wird, allein hinabsteigen, von einem Freund im Basislager ein Paar Stiefel leihen und sie Pax bringen können. Ich habe es nicht getan, und es ist mir peinlich, zugeben zu müssen, dass es mir nicht einmal in den Sinn gekommen ist.

Ich habe es auch nicht fertiggebracht, Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. »Ja, das ist wirklich scheiße« war alles, was mir einfiel.

Also stieg Pax, ohne zu klagen, in seinen Kletterschuhen hinab. Wie zu erwarten, drückten sich die scharfkantigen Felsen durch die dünnen Gummisohlen. Als wir sechs Stunden später wieder beim Auto waren und er die Schuhe auszog, waren seine Füße zerschunden; seine Fußsohlen sahen aus, als seien sie mit einem Bambusrohr malträtiert worden.

Am selben Abend, zurück im Lager – Pax kühlte seine Füße im Wind –, fassten wir das nächste Problem ins Auge: Das Feldbett hing in der Krone eines sechzig Meter hohen Redwood-Baums.

»Pax, ich würde dir ja gern helfen, aber ich muss nach Hause; die Arbeit ruft.«

»Verstehe ich vollkommen.«

Auch dieser Augenblick erfüllt mich mit Scham, wenn ich jetzt, Jahre später, daran zurückdenke. Kein Angebot, Pax zu helfen. Nicht einmal das Angebot, mich an den Kosten für ein neues Feldbett zu beteiligen.

»Kein Problem, Slake, ich klettere auf den Baum und hole es.«

Ein paar Wochen später rief ich Pax an, um mich zu erkundigen, was daraus geworden war. Tom Paxton ist wahrscheinlich der einzige Bergsteiger in der Geschichte des Yosemite-Tals, der je auf einen Redwood geklettert ist.

Das Bett war zerbrochen, aber er hatte es in mehrere Teile zerlegt, diese in einen Karton gepackt und das Ganze mit einer Schilderung, was passiert war – einschließlich seiner Besteigung des Baums –, an den Hersteller geschickt.

Nur einen Karton voller Einzelteile vor sich, konnte der Hersteller unmöglich wissen, ob Pax’ Geschichte von unserer El-Cap-Besteigung stimmte. Er hatte jede Menge Gründe, die Bitte um Ersatz abzulehnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Feldbett in dieser Weise in seine Bestandteile aufgelöst hatte, war unendlich gering – 1 zu 1 Million. Aber man glaubte ihm.

1 zu 1000000.

Im Zeichen dieser äußerst geringen Wahrscheinlichkeit sollte eine Reise stehen, die sich über mehr als zehn Jahre meines Lebens erstreckte.

Die Reise sollte mich erst auseinandernehmen und dann wieder zusammensetzen zu jemandem, der imstande war, zu fühlen und für andere da zu sein. Im Rückblick erkenne ich mich in dem fühllosen Klotz, der ich war, nicht wieder. Doch indem ich eine Welt von Bergen und Ozeanen erkundete, entdeckte ich nach und nach mein Menschsein.

Sei stark

Am Anfang meiner Reise stand die Idee, auf jedem Kontinent den höchsten Berg zu besteigen und in jedem der Weltmeere zu surfen. Die Berge waren bereits von anderen bezwungen worden, und vielleicht gab es jemanden, der in allen Weltmeeren gesurft hatte, aber noch niemand hatte sich beides zum Ziel gesetzt.

Ich war siebenunddreißig und ungebunden. In meinem Job als Physiker hatte ich mich so eingerichtet, dass ich flexibel genug war, um wochenlang reisen zu können. Als Wissenschaftler besaß ich alle Voraussetzungen, um die Liste der Berge und Ozeane mit größter Effizienz abzuarbeiten, indem ich sorgfältig jede Herausforderung mit all ihren Risiken analysierte und anschließend die Aufgabe in Angriff nahm.

Ich hatte nicht die Absicht, meinem Leben oder dem Leben irgendeines anderen Menschen Sinn zu geben. Ich hatte nicht vor, für irgendeinen guten Zweck auch nur einen Cent zu spenden. Niemand würde von meiner Reise in irgendeiner Form profitieren, und das war mir vollkommen recht.

Ich hatte mit dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, mit dieser Distanziertheit bereits jahrzehntelang gelebt. Meine Absonderung von den Mitmenschen hatte begonnen, als ich im Alter von elf Jahren einen nüchternen Korridor entlanggegangen war.

 

Ich weiß nicht mehr, wann ich ihr Zimmer zuletzt betreten hatte. Monatelang war die Tür zu gewesen, das Zimmer ein Grab. Manchmal, wenn ich durch den Korridor ging, machte ich halt an der Tür, um zu lauschen, ob irgendwelche Geräusche zu hören waren. Aber nichts. Kein Geflüster, nicht einmal das beruhigende Gedudel eines Radios. Ich stellte mir vor, ich könnte meine Mutter wenigstens atmen hören, wenn ich meine elf Jahre alten Ohren fest an die Tür presste. Aber ich hörte nie etwas.

Als ich diesmal an der Tür vorbeikam, stand sie offen; ich trat näher und sah hinein. Das Zimmer war leer. Dad musste mit Mom ins Wohnzimmer gegangen sein; es schien ihr heute also besserzugehen.

Auf der Frisierkommode sah ich zwei Köpfe aus Styropor. Über einen von ihnen war ein vertrautes Gebilde aus dunklem Haar gestülpt. Ich erkannte den adretten Pony und die glatten, unten in eine Welle auslaufenden Seiten. Leise näherte ich mich der Kommode und nahm die Perücke von dem gesichtslosen Kopf.

Ich konnte mich nicht erinnern, meiner Mutter jemals mit den Fingern durchs Haar gefahren zu sein. Jetzt wollte ich fühlen, wie weich es war. Ich berührte die Strähnen mit den Fingerspitzen. Das Haar war trocken und steif. Ich versuchte, die Welle zu glätten, aber sie war widerspenstig und nahm, als ich sie losließ, sofort wieder ihre vorherige Form an.

Ich weiß nicht mehr, ob ich die Perücke wieder über den Styroporkopf gestülpt habe, wohl aber, dass ich das Zimmer verließ und den Flur entlang zum Wohnzimmer ging.

Meine Mutter hatte nun alles in sich aufgenommen, was der Tag ihr hatte geben können, und so trug mein Vater sie auf den Armen zurück in ihr Krankenzimmer. Als wir uns begegneten, machte er eine Vierteldrehung, sodass sich der Körper meiner Mutter einen Moment lang zwischen ihm und mir befand.

Trotzdem sahen wir uns – meine Mutter und ich – weder an, noch sprach einer von uns beiden ein Wort.

Ich bin sicher, sie sehnte sich danach, meine Hand zu berühren. Aber sie wollte – ganz, wie es ihrem Wesen entsprach – kein Mitleid; sie wollte nicht Anlass von Tränen sein.

Wenig später, ich ging weiter den Korridor entlang, hörte ich, wie hinter mir die Tür ihres Krankenzimmers ins Schloss fiel.

Wir hatten keine Worte gewechselt, als ich an meiner Mutter vorbeiging, aber ich hörte sie dennoch sprechen. Jahrelang erinnerte ich mich an diesen Augenblick und hörte ihre Stimme. Und obwohl ihr Kopf, das Gesicht von mir abgewandt, an der Brust meines Vaters gelegen hatte, konnte ich ihre Augen sehen, als sie zu mir sprach und sagte: Sei stark.

Ich folgte ihrem Rat. Ich legte mir ein dickeres Fell zu.

Erst dreißig Jahre später, nach Zehntausenden von Kilometern tief ins Herz der Welt hinein, wurde mir klar, dass ich meine Mutter an jenem Tag vollkommen missverstanden hatte.

 

Ich glaube, die Entwicklung, die mich immer distanzierter werden ließ, hätte früh gestoppt und rückgängig gemacht werden können. Ein paar Jahre nach dem Tod meiner Mutter war ich eng mit einem abenteuerhungrigen Jungen in meinem Alter befreundet.

Greg Stevens und ich standen in der Nähe von Logan, Utah, auf einem Berggipfel und blickten über das Tal hinweg. Ich verbrachte hier meine Highschool-Sommerferien und hatte mich mit Greg angefreundet. Er war lebhaft, neugierig und voller Energie – man musste ihn einfach mögen.