Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross - E-Book

Der Himmel über Nirvana E-Book

Charles R Cross

4,4

Beschreibung

"Die tragischen Umstände des Selbstmordes von Kurt Cobain sind mittlerweile hinreichend bekannt. Doch viele Fakten aus seinem Leben - ebenso wie sein Einfluss als Künstler - blieben eher vernachlässigt. Hier setzt Charles R. Cross an: Er führte mehr als 400 Interviews und recherchierte vier Jahre lang in allen zugänglichen Quellen; er studierte die Tagebücher von Kurt Cobain, seine Songtexte und sogar die Fotoalben seiner Familie - und so verfolgte er die Spur dieses kurzen, intensiven Lebens zurück bis in den Wohnwagen in Aberdeen im US-Bundesstaat Washington, in dem Cobain aufwuchs. Sogar die Witwe Courtney Love gewährte Cross exklusiven Einblick in die Tagebücher des Verstorbenen. So konnte er das überzeugende Porträt eines kreativen Genies schreiben, das seine persönlichen Qualen in musikalische Kunstwerke verwandelte."

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Charles R. Cross

DER HIMMEL

ÜBER NIRVANA

Kurt Cobains

Leben und Sterben

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Schmid

www.hannibal-verlag.de

Impressum

Titel der Originalausgabe:

Charles R. Cross – Heavier Than Heaven, A Biography of Kurt Cobain

Copyright © 2001 by Charles Cross

Published by Arrangement with Charles Cross

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, D-30827 Garbsen

3. Auflage 2013

© 2013 der deutschen Ausgabe:

Koch International GmbH/Hannibal, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

Lektorat: Josef Winkler

Titelfoto: Michael Lavine

Ebook: Thomas Auer, www.buchsatz.com

ISBN: 978-3-85445-424-3

Auch erhältlich als Hardcover: ISBN 978-3-85445-222-5

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich­geschützt und darf ohne eine schriftliche Genehmigung nicht verwendet oder reproduziertwerden. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen und die Einspeicherung und Ver­arbeitung in elektronischen Systemen.

Meiner Familie,

Christina und Ashland

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog: Heavier Than Heaven

New York, New York, 12. Januar 1992

1. Zunächst mit lautem Geschrei

Aberdeen, Washington, Februar 1967 bis Dezember 1973

2. Ich hasse Mom, ich hasse Dad

Aberdeen, Washington, Januar 1974 bis Juni 1979

3. Knaller des Monats

Montesano, Washington, Juli 1979 bis März 1982

4. Prairie Belt Sausage Boy

Aberdeen, Washington, März 1982 bis März 1983

5. Dieser Wille des Instinkts

Aberdeen, Washington, April 1984 bis September 1986

6. Habe ihn nicht genug geliebt

Aberdeen, Washington, September 1986 bis März 1987

7. Soupy Sales in my Fly

Raymond, Washington, März 1987

8. Wieder auf der Highschool

Olympia, Washington, April 1987 bis Mai 1988

9. Zu viele Menschen

Olympia, Washington, Mai 1988 bis Februar 1989

10. Wenn Rock ’n’ Roll illegal ist

Olympia, Washington, Februar 1989 bis September 1989

11. Bonbons, Hundebabys, Liebe

London, England, Oktober 1989 bis Mai 1990

12. Lieb dich so sehr

Olympia, Washington, Mai 1990 bis Dezember 1990

Bildstrecke

13. Die Richard Nixon Library

Olympia, Washington, November 1990 bis Mai 1991

14. Amerikanische Flaggen verbrennen

Olympia, Washington, Mai 1991 bis September 1991

15. Jedes Mal beim Schlucken

Seattle, Washington, September 1991 bis Oktober 1991

16. Putz dir die Zähne

Seattle, Washington, Oktober 1991 bis Januar 1992

17. Ein kleines Monster im Kopf

Los Angeles, Kalifornien, Januar 1992 bis August 1992

18. Rosenwasser, Windelgeruch

Los Angeles, Kalifornien, August 1992 bis September 1992

19. Diese legendäre Scheidung

Seattle, Washington, September 1992 bis Januar 1993

20. In einem herzförmigen Sarg

Seattle, Washington, Januar 1993 bis August 1993

21. Ein Grund zum Lächeln

Seattle, Washington, August 1993 bis November 1993

22. Das Cobain-Syndrom

Seattle, Washington, November 1993 bis März 1994

23. Wie Hamlet

Seattle, Washington, März 1994

24. Engelshaar

Los Angeles, Kalifornien/Seattle, Washington, 30. März bis 6. April 1994

Epilog

Ein Leonard-Cohen-Jenseits, Seattle, Washington, April 1994 bis Mai 1999

Quellenangaben

Dank

Credits

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Vorbemerkung

Kaum anderthalb Kilometervon wo ich wohne steht ein Haus, das mir eisige Schauer über den Rücken zu jagen vermag – ein Hitchcock-Film ist nichts dagegen. Der flache graue Bau ist umgeben von einem hohen Maschendrahtzaun – eine ungewöhnliche Sicherheitsvorkehrung für eine Mittelschichtgegend voller Wohnhäuser und Sandwichshops. Drei Geschäfte sind in dem Haus hinter dem Zaun untergebracht: ein Haarsalon, eine Versicherungsfiliale und „Stan Baker, Shooting Sports“. Hier kauften am 30. März 1994 Kurt Cobain und ein Freund eine Flinte der Marke Remington. Der Inhaber des Geschäfts sagte später einem Reporter, er habe sich gewundert, wieso sich zu der Zeit jemand ausgerechnet eine solche Waffe zulegen sollte, wo doch keine „Jagdsaison“ gewesen sei.

Jedes Mal, wenn ich an Stan Baker’s vorbeifahre, überkommt mich dieses Gefühl, das man mit Orten hat, an denen man einmal Zeuge eines ­schrecklichen Unfalls geworden ist. Und in gewisser Weise passt das sogar. Die Kette von Ereignissen nach Kurts Einkauf in dem Waffengeschäft lässt mir nicht nur keine Ruhe, sie weckt darüber hinaus in mir das Verlangen, Fragen nachzugehen, auf die es, wie ich sehr wohl weiß, schon ihrer Natur wegen keine Antworten geben kann. Spirituelle Fragen, die Frage nach dem Anteil des Wahnsinns im künstlerischen Genie, den verheerenden Wirkungen des Drogenkonsums auf die Seele und vom Verlangen, die Kluft zwischen innerem und äußerem Menschen zu verstehen. Fragen, wie sie sich von Sucht, Depression oder Selbstmord gezeichneten Familien nur allzu real stellen. Für derart vom Schicksal ins Dunkel gestürzte Familien – meine eigene nicht ausgenommen – kann das Verlangen, solche unbeantwortbaren Fragen zu stellen, zu einem Fluch werden.

Sosehr solche Mysterien Nahrung für dieses Buch waren, die Saat dazu war bereits Jahre früher ausgebracht, in meiner Jugend nämlich, als mit den ­Päckchen vom Columbia Record and Tape Club Monat für Monat die Erlösung in die Kleinstadt in Washington kam, in der ich aufwuchs: Rock ’n’ Roll. Es waren nicht zuletzt diese Päckchen mit Platten, derentwegen ich irgendwann meine ländliche Heimat verließ, nach Seattle zog und Autor und Redakteur bei einem Musik­magazins wurde. Ein paar Jahre später, in einem anderen Winkel des Bundesstaats, bescherte derselbe Plattenklub Kurt Cobain eine ähnliche Transzendenz, nur entschied er sich für eine Karriere als Musiker. Unsere Wege kreuzten sich 1989, als mein Magazin, als erstes überhaupt, eine Titelstory über Nirvana brachte.

Es war einfach, Nirvana gern zu haben. Denn egal, wie groß und berühmt sie wurden, sie kamen einem doch immer wie Underdogs vor, und ganz besonders galt das für Kurt. Er begann sein Künstlerleben damit, in einem Wohntrailer Illustrationen von Norman Rockwell, Amerikas berühmtestem Illustrator des zwanzigsten Jahrhunderts und Schöpfer vor allem nostalgischer Kleinstadtszenen, zu kopieren, und entwickelte bald ein Talent fürs Geschichtenerzählen, das schließlich auch mitverantwortlich für die besondere Schönheit seiner Musik werden sollte. Als Rockstar schien er immer ein Außenseiter, ich persönlich jedoch habe immer die Art geschätzt, wie er seinen Halbwüchsigenhumor mit der Bärbeißigkeit eines Oldtimers zu kombinieren verstand. Wenn man ihn in Seattle sah – und seine alberne Mütze mit den Ohrenklappen war praktisch nicht zu übersehen –, war klar, dass man hier ein Original vor sich hatte in einer Branche, in der es herzlich wenige wirkliche Originale gibt.

Während ich an diesem Buch saß, gab es so einige Augenblicke, in denen dieser Humor das einzige Leuchtfeuer in dieser Sisyphusarbeit war.Heavier Than Heavenentstand im Lauf von vier Jahren, mithilfe von vierhundert Interviews, Schränken von Akten und hunderten von Musikaufnahmen, ganz zu schweigen von all den schlaflosen Nächten und endlosen Fahrten zwischen Seattle und Aberdeen. Meine Recherchen führten mich an Orte – physische wie emotionelle –, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie je betreten würde. Es gab Augenblicke von Euphorie, wie etwa als ich zum ersten Mal das unveröffentlichte „You Know You’re Right“ hörte, einen Song, der meiner Ansicht nach zu Kurts besten gehört. Aber auf jede freudige Entdeckung kamen Momente schier unerträglichen Kummers, wie etwa als ich Kurts Abschiedsbrief in der Hand hielt, den ich in einer herzförmigen Schachtel neben einer Locke seines blonden Haars aufbewahrt sah.

Ich hatte mir mitHeavier Than Heavenzum Ziel gesetzt, Kurt Cobain zu ehren, indem ich seine Lebensgeschichte – die Geschichte jener Locke und dieses Abschiedsbriefs – erzähle, ohne mir ein Urteil darüber anzumaßen. Ein Ansatz, den mir allein die großzügige Unterstützung durch Kurts engste Freunde, seine Familie und die Leute aus seiner Band ermöglichte. So gut wie jeder, den ich interviewen wollte, teilte schließlich auch seine Erinnerungen mit mir; Ausnahmen waren nur einige Leute, die sich mit dem Gedanken tragen, ihre Geschichten selbst aufzuschreiben, und ich wünsche ihnen damit allen Erfolg. Kurts Leben war ein verwirrendes Puzzle, umso komplexer, als er so viele Teile dieses Puzzles versteckt hielt, eine Aufsplitterung, die gleichzeitig Folge der Sucht wie auch Nährboden dafür war. Manchmal hatte ich den Eindruck, einen Spion zu studieren, einen geschickten Doppelagenten, versiert in der Kunst, dafür zu sorgen, dass kein Einzelner Einsicht in sämtliche Details seines Lebens bekam.

Eine Freundin von mir, selbst eine ehemalige Drogenabhängige, schilderte mir einmal die „No talk“-Regel, die in Familien wie der ihren galt: „Bei uns“, sagte sie, „bekam man gesagt: ‚Fragt nicht, redet nicht, sagt es keinem.‘ Ein richtiger Schweigekodex, und all die Geheimnisse und Lügen führten bei mir zu einem überwältigenden Gefühl von Scham.“ Dieses Buch ist für all jene, die den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, schmerzliche Fragen zu stellen und sich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen.

– Charles R. Cross, Seattle, Washington, April 2001

Prolog

HEAVIERTHANHEAVEN

New York, New York , 12. Januar 1992

Heavier Than Heaven– Mit diesem Slogan bewarben britische Konzertveranstalter 1989 Nirvanas Tour mit der BandTad. Er bezog sich sowohl auf Nirvanas „heavy“ Sound als auch auf den schwergewichtigen Tad-Sänger Tad Doyle.

Zum ersten Malsah er den Himmel genau sechs Stunden und siebenundfünfzig Minuten nach dem Augenblick, in dem eine ganze Generation sich kollektiv in ihn verknallt hatte. Es war das erste Mal, dass er starb, und nur der erste von vielen kleinen Toden, die folgen sollten. Die leidenschaftliche und rück­haltlose Hingabe der Generation, die ihn ins Herz geschlossen hatte, war die Art Liebe, von der man von Anfang an weiß, dass sie einem das Herz brechen wird und nur wie eine griechische Tragödie enden kann.

Wir schreiben den 12. Januar 1992, ein klarer, aber frostiger Sonntagmorgen. Die Temperatur in New York sollte im Lauf des Tages auf ganze sechs Grad klettern, aber um sieben Uhr morgens, in der kleinen Suite desOmni-Hotelsin Manhattan, stand das Quecksilber noch um die Null. Man hatte das Fenster offen gelassen, wegen des Zigarettengestanks, und der Morgen hatte dem Zimmer auch noch den letzten Rest von Wärme geraubt. Das Zimmer selbst sah aus wie nach einem Orkan: Überall lagen Klamotten verstreut, Kleider, Hemden, Schuhe, wie nach einem Schlussverkauf für Blinde. Vor der Flügeltür der Suite stapelte sich ein halbes Dutzend Tabletts mit den Resten der Mahlzeiten der letzten paar Tage: angebissene Brötchen und ranzige Käsescheiben, eine Hand voll winterträger Taufliegen schwebte über welkem Salat. Der Anblick war nicht eben typisch für ein Viersternehotel, aber das Hotelpersonal war nun einmal aus dem Zimmer verbannt worden. Auf dem Schild draußen vor der Tür hieß es nicht mehr nur „Do not disturb!“ – jemand hatte daraus „Do not EVER disturb! Wir ficken gerade!“ gemacht.

An diesem Morgen konnte davon keine Rede sein. Auf dem überdimensionalen Bett schlief die sechsundzwanzigjährige CourtneyLove. Sie trug einen viktorianischen Unterrock, eine echte Antiquität, und ihr langes blondes Haar war über das Kissen drapiert wie das einer Märchenprinzessin. Die Falten im Laken neben ihr zeigten, dass dort kürzlich noch jemand gelegen hatte. Und wie in der Eingangsszene eines Film noir befand sich eine Leiche im Raum.

„Ich bin um sieben aufgewacht, und er war nicht im Bett“, erinnerte sich Love. „Ich hatte noch nie solche Angst.“

Die Person, die im Bett fehlte, war der vierundzwanzigjährige Kurt Cobain. Kaum sieben Stunden zuvor hatte Kurt mit seiner Band Nirvana beiSaturday Night Livegespielt. Ihr Auftritt in der Sendung sollte eine Wasserscheide in der Geschichte des Rock ’n’ Roll werden: Zum ersten Mal war eine Grunge-Band live im landesweiten Fernsehen zu sehen gewesen. Am selben Wochenende hatte Nirvanas Major-Label-DebütalbumNevermindMichael Jackson vom ersten Platz derBillboard-Charts verdrängt und war damit Amerikas meistverkaufte LP. Der Erfolg war zwar nicht über Nacht gekommen, die Band war ja immerhin schon vier Jahre zusammen, die Art und Weise jedoch, wie Nirvana die Musikbranche überrascht hatten, war beispiellos. Praktisch als Unbekannte hatten sie im Vorjahr die Hitparaden gestürmt; „Smells Like Teen Spirit“ war 1991 der bekannteste Song überhaupt, mit einem Gitarrenriff, das den Beginn einer neuen Dekade im Rock ’n’ Roll einläutete.

Und noch nie hatte es einen Rockstar gegeben wie Kurt Cobain. Mehr Antistar als Prominenter, weigerte er sich sogar, sich in einer Limousine zu NBC chauffieren zu lassen, und was immer er tat, er verlieh ihm dieses gewisse Secondhandladen-Flair. BeiSaturday Night Livetrug er dieselben Sachen wie die vergangen beiden Tage auch: Converse-Tennisschuhe, Großvaterstrickweste, das T-Shirt einer obskuren Band und Jeans mit zerfetzten Knien. Die Haare hatte er sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen und obendrein noch mit Erdbeer-Kool-Aid gefärbt, sodass die verfilzten Zotteln wirkten, als wären sie voll getrock­neten Blutes. Noch nie in der Geschichte des Live-Fernsehens, so wirkte es, hatte jemand so wenige Gedanken auf Erscheinungsbild und Hygiene verschwendet.

Kurt war ein komplizierter Misanthrop, voller Widersprüche, und was gelegentlich nach einer zufälligen Revolution aussehen mochte, wies allenthalben Spuren einer sorgfältigen Inszenierung auf. In Interviews betonte er immer wieder, wie sehr er es verabscheue, auf MTVrauf und runter gespielt zu werden, auf der anderen Seite rief er wiederholt seine Manager an und beschwerte sich, der Sender zeige seine Videos nicht ansatzweise oft genug. Besessen, um nicht zu sagen zwanghaft, plante er jeden Zug seiner Karriere, jeden musikalischen Schritt. Er notierte sich Ideen in seinen Tagebüchern schon Jahre, bevor er sie schließlich in die Tat umsetzte, aber wenn ihm dann die Ehren zuteil wurden, um die ihm gewesen war, tat er, als wäre es ihm schon zu unangenehm, dafür auch nur aus dem Bett zu steigen. Er war einer, der anderen seinen Willen aufzwang, gleichzeitig aber von einem schier übermächtigen Selbsthass zerfressen war. Sogar die, die ihn am besten kannten, hatten das Gefühl, ihn im Grunde überhaupt nicht zu kennen; die Ereignisse jenes Sonntagmorgens waren für dieses Gefühl die beste Bestätigung.

NachdemSaturday Night Liveim Kasten war – die Party danach schenkte er sich mit der Begründung, so etwas sei „nicht sein Stil“ –, gab Kurt einem Rundfunkjournalisten ein zweistündiges Interview. Erst um vier Uhr morgens war sein Arbeitstag schließlich beendet. Und es war nach allem Dafürhalten ein erfolgreicher Tag gewesen: Er war der musikalische Stargast vonSaturday Night Livegewesen, sein Album stand auf Platz eins, und „Weird Al“ Yankovic hatte kurz vor der Sendung um die Erlaubnis gebeten, eine Parodie von „TeenSpirit“ aufnehmen zu dürfen. Zusammengenommen markierte das sicher den Höhepunkt von Kurts kurzer Karriere, die Art von Anerkennung, von der die meisten Künstler nur träumen und wie sie Kurt selbst als Teenager durch die Fantasie gegeistert war.

Während seiner Jugend im Südwesten von Washington hatte Kurt nicht eine einzige Folge vonSaturday Night Liveversäumt und gegenüber seinen Freunden an der Junior High School geprahlt, eines Tages werde er auch ein Star. Ein Jahrzehnt später war er der meistgefeierte Mann im Rock ’n’ Roll. Nach nur zwei Alben pries man ihn als den größten Songwriter seiner Generation. Noch zwei Jahre zuvor hatte er sich um einen Job als Hundezwingerreiniger beworben, und man hatte ihn nachhause geschickt.

In jenen Stunden vor Sonnenaufgang jedoch empfand er weder Genug­tuung, noch war ihm nach Feiern zumute; wenn überhaupt, hatte all die Aufmerksamkeit sein übliches Unbehagen nur noch verschärft. Er fühlte sich krank; er litt von Haus aus an einem, wie er sich ausdrückte, „periodischen brennenden Übelkeitsschmerz“ im Magen, und der Stress machte das alles noch schlimmer. Durch den Erfolg und den Ruhm schien es ihm nur noch schlechter zu gehen. Kurt und seine Verlobte Courtney Love waren das meistdiskutierte Paar im Rockgeschäft, und einige dieser Diskussionen drehten sich um Drogenmissbrauch. Kurt hatte immer gedacht, die Anerkennung seines Talents würde für die emotionalen Schmerzen, die sein frühes Leben gezeichnet hatten, heilsam sein; der Erfolg hatte diesen Glauben nicht nur Lügen gestraft, Kurt schämtesich mehr denn je seiner Drogensucht, die in nicht geringerem Maß am Eskalieren war als seine Popularität.

In jenen frühen Morgenstunden im Hotelzimmer hatte Kurt sich mit einem Tütchen „China White“-Heroin eine Spritze zurechtgemacht und sicheinen Schuss gesetzt. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, schließlich ­drückteer sich seit einigen Monaten regelmäßig Heroin, in der letzten Zeit zusammen mit Courtney, die in den zwei Monaten, die sie nun mit ihm zusammen war, auch damit angefangen hatte. In jener Nacht jedoch, während Courtney schlief, hatte Kurt sich – aus purem Leichtsinn oder absichtlich – eine gefährlich hohe Dosis verabreicht. Die Überdosis verlieh seiner Haut eine aquagrüne Färbung, führte zum Atemstillstand und ließ seine Muskeln so hart wie Koaxialkabel werden. Er rutschte vom Bett, landete mit dem Gesicht in einem Haufen Klamotten und lag dann da wie von einem Serienkiller vergessen.

„Das waren nicht einfach nur die Folgen einer Überdosis“, erinnerte sich Love. „Er war wirklich tot! Wenn ich nicht um sieben aufgewacht wäre … Ich weiß nicht, vielleicht habe ich es einfach irgendwie gespürt. Die ganze Sache war so abgefuckt. So was von krank, total psycho.“ Völlig außer sich, machte sich Love an eine Reihe von Wiederbelebungsmaßnahmen, die ihr bald zur Gewohnheit werden sollten: Sie schüttete ihrem Verlobten kaltes Wasser ins Gesicht und schlug ihm in den Solarplexus, um seine Lungen wieder zum Pumpen zu bringen. Als diese ersten Versuche keinen Erfolg zeitigten, begann sie von vorn, wie ein entschlossener Sanitäter, der das Opfer eines Herzanfalls bearbeitet. Nach einigen Minuten hörte Courtney ein Japsen – Kurt hatte wieder zu atmen begonnen. Sie bearbeitete ihn weiter mit kaltem Wasser und bewegte seine Arme und Beine. Minuten später saß er da, sprach mit ihr, und obwohl er nach wie vor völlig zugeknallt war, trug er ein selbstzufriedenes Grinsen zur Schau, fast so, als erfüllte ihn seine Leistung mit Stolz. Es war seine erste beinahe tödliche Überdosis gewesen. Und das an dem Tag, an dem er zum Star geworden war.

Im Lauf eines einzigen Tages war Kurt in den Augen der Öffentlichkeit geboren, in seiner ganz privaten Finsternis gestorben und durch die Kraft der Liebe wieder zum Leben erweckt worden. Eine außergewöhnliche Leistung, unglaublich, ja fast unmöglich. Aber ebendies ließe sich von einem gut Teil von Kurt Cobains überdimensionalem Leben sagen, angefangen damit, woher er kam.

–1–

ZUNÄCHST MIT LAUTEM GESCHREI

Aberdeen, Washington, Februar 1967 bis Dezember 1973

Wenn er etwas will, macht er zunächst mit lautem Geschrei darauf aufmerksam, und wenn das nicht hilft, verlegt er sich aufs Heulen.

– Auszug aus einem Bericht seiner Tante über den fünfzehn Monate alten Kurt Cobain.

Kurt Donald Cobainerblickte das Licht der Welt am 20. Februar 1967 in einem Krankenhaus auf einem Hügel über Aberdeen, einer Kleinstadt in Washing­ton, dem Staat im nordwestlichsten Zipfel der USA. Seine Eltern wohnten zwar im benachbarten Hoquiam, aber dass in seinem Pass als Geburtsort Aberdeen stand, ist durchaus passend: Drei Viertel seines Lebens sollte er in einem Umkreis von zehn Meilen um die Klinik verbringen und dieser Landschaft zeitlebens zutiefst verbunden bleiben.

Wer an jenem verregneten Montag aus dem Grays Harbor Community Hospital blickte, sah ein Land von herber Schönheit, das Wälder, Berge, Flüsse und einen mächtigen Ozean zu einem gewaltigen Panaroma vereint. Bewaldete Hügel säumen den Schnittpunkt dreier Flüsse kurz vor dem nahe gelegenen Meer. Und genau in der Mitte liegt Aberdeen, mit neunzehntausend Einwohnern damals der größte Ort im Grays Harbor County. Gleich im Westen liegt das kleinere Hoquiam, wo Kurts Eltern Donund Wendy einen winzigen Bunga­low bewohnten. Und im Süden, auf der anderen Seite des Flusses, liegt Cosmo­polis. Von hier stammt die Familie seiner Mutter, die Fradenburgs. Wenn es nicht gerade regnet, was selten vorkommt in einer Gegend mit über zwei Meter Niederschlag im Jahr, kann man die neun Meilen nach Montesano sehen, wo Kurts Großvater herkam, Leland Cobain. Eine ziemlich kleine Welt also, und Kurt sollte ihr berühmtester Spross werden.

Die Aussicht von dem dreigeschossigen Krankenhaus beherrscht der sechstgrößte Hafen an der Pazifikküste der USA. Im Fluss darunter, dem Chehalis, trieben damals so viele Baumstämme, dass man sich vorstellen konnte, auf ihnen über die zwei Meilen breite Bucht zu spazieren. Im Osten liegt das Zentrum von Aberdeen, wo die Geschäftsleute über das unablässige Rumpeln der Holztransporter klagten, das ihnen ihrer Ansicht nach die Kundschaft vertrieb. Es war eine arbeitsame Stadt, und Arbeit hatte hier fast ausschließlich mit den Douglasfichten zu tun, die auf den umliegenden Bergen geschlagen wurden. Siebenunddreißig Sägewerke, Schindel- und Zellstofffabriken gab es in Aberdeen, deren Schornsteine das höchste Haus der Stadt mit seinen gerade mal sieben Stockwerken bei weitem überragten. Direkt unterhalb des Hügels, auf dem das Krankenhaus stand, befand sich der gigantische Schlot der Rayonier Mill, der höchste dieser Türme, der sechzig Meter in den Himmel ragte und die ewige Wolke aus Zellstoffteilchen nährte, die über Aberdeen lag.

Aber so betriebsam Aberdeen auch sein mochte, zur Zeit von Kurts Geburt ging das Geschäft bereits langsam, aber stetig zurück. Der Landkreis war einer der wenigen im Staat mit rückläufiger Bevölkerung, da den Arbeitslosen nichts anderes übrig blieb, als ihr Glück anderswo zu versuchen. Die Holzindustrie hatte die Folgen sowohl der Konkurrenz aus Übersee als auch der radikalen Überbewirtschaftung ihrer Forste zu spüren begonnen. Die Zeichen dieser Überbeanspruchung waren längst allenthalben sichtbar. Die nackten Hügel vor der Stadt erinner­ten an die ersten Siedler, die sich bereits am Kahlschlag versucht hatten, wie man in einem lokalen Geschichtsbuch erfährt. Die Arbeitslosigkeit forderte einen fins­teren Zoll: Alkoholismus, Gewalt in den Familien und die Selbstmordrate nahmen zu. 1967 gab es siebenundzwanzig Wirtshäuser, im Zentrum stand eine ganze Reihe Häuser leer, von denen einige einmal Bordelle gewesen waren, die Ende der 1950er-Jahre geschlossen worden waren. Aberdeen war für seine Hurenhäuser so berühmt gewesen, dass das MagazinLookdie Stadt 1952 als einen der „Brennpunkte in Amerikas Kampf gegen die Sünde“ bezeichnete.

Gelindert wurden diese Probleme allenfalls durch die enge soziale Verbundenheit der Gemeinschaft, an der sie nagten: Man half sich unter Nachbarn, die Eltern engagierten sich in den Schulen, und die Familienbande innerhalb der verschiedenen Einwanderergruppen blieben stark. Es gab mehr Kirchen als Kneipen, und wie in vielen amerikanischen Kleinstädten Mitte der Sechzigerjahre ließ man dort Kindern auf Fahrrädern freien Lauf. Für den heranwachsenden Kurt war die ganze Stadt ein einziger Hinterhof.

Wie meist bei Erstgeburten war auch Kurts Ankunft ein Grund zum Feiern – für die Eltern wie für den den ganzen erweiterten Familienkreis. Kurt hatte sechs Onkel und Tanten mütterlicherseits, zwei Onkel väterlicherseits, dar­über hinaus war er der erste Enkel für beide Großelternseiten. Zwei große Familien waren da zusammengekommen: Von den Karten, die Kurts Mutter nach seiner Geburt drucken ließ, brauchte sie allein schon fünfzig für die unmittelbare Verwandtschaft. Am 23. Februar verkündete eine Zeile in der Rubrik „Geburten“ derAberdeen Daily Worlddem Rest der Welt Kurts Ankunft: „To Mr. and Mrs.Donald Cobain, 2830½ Aberdeen Avenue, Hoquiam, February 20, at Community Hospital, a son.“

Kurt wog bei der Geburt knapp sieben Pfund, und seine Haare waren so dunkel wie sein Teint. Innerhalb von fünf Monaten sollte er blond werden, und auch seine Haut sollte sich aufhellen. Die Familie seines Vaters hatte französische und irische Wurzeln, sie war 1875 aus Skey Townland im irischen County Tyrone nach Amerika emigriert; von dieser Seite hatte Kurt das kantige Kinn. Von den Fradenburgs, der Familie seiner Mutter, die deutscher, irischer und englischer Abstammung war, bekam er die rosigen Bäckchen und die blonden Locken mit auf den Weg. Das bei weitem Auffälligste an ihm waren jedoch seine himmelblauen Augen, über deren Schönheit sich sogar die Schwestern im Krankenhaus gar nicht beruhigen konnten.

Es waren die Sechzigerjahre, in Vietnam tobte ein Krieg, aber von den Meldungen in den Nachrichten einmal abgesehen, nahm Aberdeen sich eher wie eine amerikanische Stadt der Fünfziger aus. An dem Tag, als Kurt zur Welt kam, stand in derAberdeen Daily Worlddie große Nachricht über einen amerikanischen Sieg in Quang Ngai neben den Zahlen der lokalen Holzwirtschaft und Anzeigen von JCPenney, wo anlässlich eines Sonderverkaufs zu George Washingtons Geburtstag Flanellhemden für zwei Dollar und achtundvierzig Cent zu haben waren. Am Nachmittag war in Los AngelesWer hat Angst vor Virginia Woolf?für dreizehn Oscars nominiert worden, aber im Autokino von Aberdeen liefGirls on the Beach.

Kurts Vater Don war einundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Automechaniker bei der Chevron-Tankstelle in Hoquiam. Er sah gut aus und war athletisch, aber sein Flattop-Haarschnitt und die Buddy-Holly-Brille verliehen ihm etwas Linkisches. Kurts Mutter Wendy war neunzehn und im Gegensatz zu Don eine klassische Schönheit, die ein bisschen aussah und sich kleidete wie Marcia Brady aus der FernsehserieThe Brady Bunch (Drei Mädchen und drei Jungen).Die beiden hatten sich auf der Highschool kennen gelernt, wo Wendy den Spitznamen „Breeze“ getragen hatte. Im Juni zuvor, kurz nach ihrem Highschoolabschluss, war Wendyschwanger geworden. Don hatte sich unter einem Vorwand den Wagen seines Vaters geliehen, und die beiden waren nach Idaho gefahren, wo man ohne die Einwilligung der Eltern heiraten konnte, was sie dann auch taten.

Zum Zeitpunkt von Kurts Geburt wohnte das junge Paar in einem winzigen Häuschen im Hinterhof eines anderen Hauses in Hoquiam. Don machte an der Tankstelle Überstunden, während Wendy sich um das Baby kümmerte. Kurt schlief in einer weißen Korbwiege mit einer knallgelben Schleife obendrauf. Geld war knapp bei den jungen Eheleuten, aber einige Wochen nach der Geburt des Kleinen hatten sie genügend zusammengekratzt, um aus dem winzigen Häuschen in ein größeres in der Aberdeen Avenue 2830 zu ziehen. „Die Miete da war nur um fünf Dollar im Monat höher“, erinnerte sich Don, „aber fünf Dollar waren damals ein Haufen Geld.“

Wenn sich die späteren Probleme der Familie damals schon in irgendetwas andeuteten, dann in ihren permanenten finanziellen Schwierigkeiten. Obwohl Don seit Anfang 1968 die Tankstelle leitete, verdiente er gerade mal sechstausend Dollar im Jahr. Die meisten ihrer Nachbarn und Freunde arbeiteten in der Holzwirtschaft, wo die Jobs den Arbeitern körperlich einiges abverlangten – laut einer Studie war die Branche „tödlicher als ein Krieg“ –, aber dafür waren sie auch besser bezahlt. Die Cobains strampelten sich entsprechend ab, innerhalb ihres Budgets zu bleiben, aber was Kurt anbelangte, sorgten sie dafür, dass er stets ordentlich gekleidet war, und ließen immer wieder Geld für professionelle Fotografen springen. In einer Serie von Bildern aus dieser Zeit trägt Kurt einen grauen Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte und wirkt mit seinem Babyspeck und den Pausbäckchen wie der kleine Lord Fauntleroy. Auf einem anderen trägt er eine blaue Anzugjacke mit passender Weste und einen Hut, der eher zu Philip Marlowe gepasst hätte als zu einem Jungen von anderthalb Jahren.

Im Mai 1968, Kurt war fünfzehn Monate alt, schrieb Wendys vierzehnjährige Schwester Mari im Hauswirtschaftsunterricht einen Aufsatz über ihren Neffen: „Meistens kümmert sich seine Mutter um ihn“, schrieb Mari. „[Sie] zeigt ihm ihre Zuneigung, indem sie ihn auf den Arm nimmt, ihn lobt, wenn er es verdient hat, und indem sie an vielen von seinen Aktivitäten teilnimmt. Er reagiert auf seinen Vater, indem er lächelt, wenn er ihn sieht, und er hat es gern, wenn sein Vater ihn auf den Arm nimmt. Wenn er etwas will, macht er zunächst durch lautes Geschrei darauf aufmerksam, und wenn das nicht hilft, verlegt er sich aufs Heulen.“ Außerdem weiß Mari zu berichten, Kurts Lieblingsspiel sei „Kuckuck“ gewesen und dass er mit acht Monaten den ersten Zahn bekam. Sein erstes Dutzend Wörter war „Coco, Momma, Dadda, Ball, Toast, bye-bye, hi, Baby, mich, Liebe, Hotdog und miez“.

Unter Lieblingsspielzeug listet Mari eine Mundharmonika, eine Trommel, einen Basketball, Autos, Laster, Bauklötze, einen Spielzeugfernseher, ein Telefon und ein Holzgebilde auf, mit dem seine Mutter Nähte flach klopfte. Über Kurts Tagesablauf schreibt sie: „Auf Schlaf reagiert er mit Heulen, wenn man ihn dazu ins Bettchen legt. Er interessiert sich derart für die Familie, dass er sie nicht verlassen will.“ Abschließend meinte die Tante: „Er ist ein glückliches, lächelndes Baby, und seine Persönlichkeit entwickelt sich so wegen der Aufmerksamkeit und der Liebe, die er erfährt.“

Wendy war eine aufmerksame Mutter; sie las Bücher über den Lernprozess, sie kaufte Lernkarten mit Wörtern und Buchstaben darauf und sorgte, mit Unterstützung ihrer Brüder und Schwestern, dafür, dass es Kurt an nichts fehlte. Die ganze Großfamilie feierte den Kleinen mit vereinten Kräften, und Kurt blühte auf unter all der Aufmerksamkeit. „Ich kann unmöglich in Worte fassen, wie viel Freude und Leben Kurt in die Familie brachte“, erinnerte sich Mari. „Er war ein kleines quirliges Bündel Leben. Er hatte schon als Baby Charisma. Er war lustig, und er war gescheit.“ Wenn seine Tante nicht dahinter kam, wie man sein Bettchen tiefer stellte, war der Anderthalbjährige clever genug, es selbst zu verstellen.

Wendy war so hingerissen von den Faxen ihres Sohnes, dass sie immer wieder eine Super-Acht-Kamera mietete und Filme mit dem kleinen Kurt schoss – eine Ausgabe, die die Familie sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Einer dieser Filme zeigt einen selig lächelnden kleinen Jungen an seinem zweiten Geburtstag beim Anschneiden der Torte. Er schien für seine Eltern der Mittelpunkt des Universums zu sein.

Bereits an seinem zweiten Weihnachtsfest zeigte Kurt Interesse an der Musik. Die Fradenburgswaren eine musikalische Familie – Wendys älterer Bruder Chuck spielte in einer Band, die sich The Beachcombers nannte; Mari spielte Gitarre, und Großonkel Delbert verdiente sein Geld als irischer Tenor – er hatte sogar in einem Film mitgespielt,The King of Jazz.Wenn die Cobains in Cosmopolis auf Besuch waren, saß Kurt fasziniert bei den Familien-Jamsessions dabei. Seine Onkel und Tanten nahmen ihn sogar beim Singen auf: „Hey Jude“ von den Beatles, Arlo Guthries „Motorcycle Song“ und den Titelsong der FernsehserieThe Monkees.Schon als Kleinkind hatte Kurt Spaß daran, seine eigenen Liedertexte zu basteln. Als er einmal – er war vier – mit Mari vom Park zurückkam, setzte er sich an das Familienklavier und klimperte ein einfaches Liedchen über ihr Abenteuer. „Wir waren im Park und haben Bonbons gekauft“, sang er vor sich hin. „Ich war völlig baff“, erinnerte sich Mari. „Ich hätte das Tonband anmachen sollen – das war wahrscheinlich sein erster Song.“

Kurz nach seinem zweiten Geburtstag legte Kurt sich einen imaginären Freund zu, den er Boddah nannte. Schließlich machten sich seine Eltern Sorgen um seine Bindung zu dem Phantomkameraden, und als ein Onkel nach Vietnam musste, erzählten sie dem Kleinen, Boddah sei mit ihm eingezogen worden. Aber so ganz kaufte Kurt ihnen diese Geschichte nicht ab. Als er drei Jahre alt war, spielte er mit dem Tonbandgerät seiner Tante herum, das zufällig auf „Echo“ gestellt war. Als Kurt das Echo hörte, fragte er: „Redet diese Stimme mit mir? Boddah? Boddah?“

Im September 1969 – Kurt war zweieinhalb Jahre alt – kauften Don undWendy sich ihr erstes eigenes Haus. Die Nummer 1210 East First Street in Aberdeen war ein zweigeschossiges Häuschen mit gut neunzig Quadratmeter Wohnfläche, dazu Garten und Garage. Sie bezahlten siebentausendneunhundertfünfzig Dollar dafür. Das Gebäude aus den Zwanzigerjahren befand sich in einer Gegend, die gelegentlich schon mal abschätzig als Verbrecherviertel bezeichnet wurde. Nördlich des Häuschens schob sich der Wishkah River, der bei Hochwasser immer wieder einmal über die Ufer trat, in die Bucht. Im Südosten lag ein bewaldeter Steilhang, den die Einheimischen „Think of Me Hill“ nannten – um die Jahrhundertwende hatte dort eine Zigarrenreklame der Marke Think of Me gestanden.

Es war ein Mittelschichthaus in einer Mittelschichtgegend – „White trash,der auf Mittelschicht machte“, sagte Kurt später über die Gegend. Im Erd­geschoss befanden sich Wohn- und Esszimmer, die Küche sowie das Schlafzimmer von Wendy und Don. Das Obergeschoss hatte drei Zimmer: ein kleines Spielzimmer und zwei Kinderzimmer, von denen eins für Kurt bestimmt war. Das andere war für Kurts Geschwister eingeplant – Wendy hatte diesen Monat erfahren, dass sie zum zweiten Mal schwanger war.

Kurt war drei, als seine Schwester Kimberley zur Welt kam. Schon als Säugling sah sie ihrem Bruder bemerkenswert ähnlich: Sie hatte dieselben hypnotischen blauen Augen, dasselbe flachsblonde Haar. Als Kimberley aus der Klinik nachhause gebracht wurde, bestand Kurt darauf, sie ins Haus zu tragen. „Er war so was von vernarrt in sie“, erinnerte sich sein Vater. „Und zuerst waren die beiden wirklich ein Herz und eine Seele.“ Der Altersunterschied von drei Jahren war ideal, Kimberleys Wohlergehen wurde ein Hauptgesprächsthema von Kurt. Hier lag der Ursprung eines Charakterzugs, der Kurt sein ganzes Leben lang mitbestimmen sollte: die Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen und dem Kummer anderer – ein Einfühlungsvermögen, in das er sich bisweilen übermäßig hineinsteigern konnte.

Die beiden Kinder veränderten den Alltag im Hause Cobain grundlegend, und das bisschen Freizeit, das den Eltern geblieben war, wurde von Besuchen bei der Familie und Dons Interesse am Sport aufgefressen. Don spielte den Winter über in einer Basketballliga, im Sommer spielte er Baseball; ein gut Teil ihres sozia­len Umgangs bestand darin, zu Spielen oder Partys nach den Spielen zu gehen. Über den Sport lernten die Cobains auch Rodund Dres Herling kennen und freundeten sich mit ihnen an. „Sie waren gute Leute mit Familiensinn, die viel mit ihren Kindern unternahmen“, erinnerte sich Rod Herling. Im Vergleich zu Altersgenossen in den Sechzigerjahren waren sie auffallend spießig: Nicht einer in ihrem Freundeskreis rauchte Pot, und auch Alkohol gab es bei den beiden kaum.

Eines Abends im Sommer waren die Herlings auf eine Kartenspielpartie bei den Cobains zu Besuch, alsDon ins Wohnzimmer kam: „Ich habe eine Ratte erwischt“, sagte er. Ratten waren in Aberdeen nichts Ungewöhnliches, so tief gelegen und feucht, wie die Gegend war. Don befestigte ein Fleischermesser an einem Besenstiel, schon hatte er einen primitiven Speer. Der fünfjährige Kurt war sofort Feuer und Flamme und folgte dem Vater in die Garage, wo der Nager in einer Mülltonne saß. Don sagte Kurt, er solle Abstand halten, aber einem neugierigen Kerlchen wie ihm war das unmöglich. Er rückte langsam näher und hatte schließlich das Hosenbein des Vaters in der Hand. Rod Herlings Plan sah vor, dass er den Deckel der Mülltonne anheben würde, damit Don die Ratte aufspießen konnte. Herling hob den Deckel, Don warf den Besenstiel, verfehlte die Ratte jedoch, und der Speer bohrte sich in den Boden. Während Don den Spieß vergeblich herauszuziehen versuchte, kletterte die Ratte – ruhig und leicht verwirrt – den Besenstiel hinauf, huschte über Dons Schulter, seinen Rücken hinab und lief über Kurts Füße nach draußen. Das Ganze passierte in Sekundenbruchteilen, aber die Kombination von Dons Gesichtsausdruck und Kurts weit aufgerissenen Kulleraugen ließ die Gruppe in heulendes Gelächter ausbrechen. Stundenlang konnten sie sich nicht beruhigen, und der Vorfall hielt Einzug in die Familiengeschichte: „He, weißt du noch, wie Dad die Ratte aufspießen wollte?“ Keiner lachte lauter als Kurt, aber als Fünfjähriger fand er so gut wie alles zum Schießen. Er hatte ein schönes Lachen, das klang, als kitzelte man ein Baby, und es war ständig hören.

Im September 1972 kam Kurt in den Kindergarten der Robert Gray Elementary, der Grundschule, die nur drei Straßen vom Haus entfernt war. Wendy ging am ersten Tag mit ihm zur Schule, danach war er auf sich allein gestellt; die Gegend um die First Street war längst sein Revier geworden. Seine Lehrer kannten ihn als frühreifen, neugierigen Schüler mit einem Snoopy auf der Brotbox. In seinem Zeugnis stand in jenem Jahr: „Ein wirklich guter Schüler.“ Und schüchtern war er auch nicht. Als zum Anschauungsunterricht ein Bären­junges in die Schule gebracht wurde, war Kurt eines der wenigen Kinder, die sich damit fotografieren ließen.

Kunsterziehung war mit Abstand sein bestes Fach. Schon als er fünf war, zeigte sich deutlich, dass er künstlerisch außergewöhnlich begabt war. Die Bilder, die er malte, wirkten bereits völlig realistisch. Tony Hirschman, der Kurt im Kindergarten kennen lernte, war von dem Geschick seines Klassenkameraden beeindruckt: „Er konnte einfach alles zeichnen. Einmal haben wir uns Bilder von Werwölfen angeschaut, und danach hat er einen gezeichnet, der genauso aussah wie die auf dem Foto.“ Noch im selben Jahr zeichnete Kurt eine Reihe von Bildern mit den Comicfiguren Aquaman, Micky Maus, Pluto und dem Kiemenmann aus demSchrecken vom Amazonas.Wenn es Geschenke gab, bekam er von der Familie Mal- und Zeichenutensilien, sein Zimmer sah langsam, aber sicher aus wie ein Atelier.

Zuspruch in diese Richtung erfuhr Kurt vor allem durch seine Großmutter väterlicherseits, Iris Cobain. Sie sammelte Norman-Rockwell-Memorabilia, hauptsächlich die Teller der Franklin Mint mit Rockwells Illustrationen für dieSaturday Evening Post.Sie selbst kopierte Rockwells Arbeiten als Stickereien, und ein Druck seines berühmtesten Bildes – „Freedom from Want“, der Archetyp einer amerikanischen Thanksgiving-Szene – hing an der Wand ihres Wohnwagens in Montesano. Iris brachte Kurt sogar dazu, eines ihrer Lieblings­hobbys aufzunehmen: Sie kratzte mit Zahnstochern Rockwells Bilder in die Hüte frisch gepflückter Pilze. Nach dem Trocknen der großen Pilze blieben diese „Radierungen“ erhalten, wie bei einer Elfenbeinschnitzerei.

Iris’ Mann, Kurts Großvater Leland Cobain, hatte sein Leben lang Straßenwalze gefahren, was ihn den Großteil seines Gehörs gekostet hatte. Er hatte selbst keine künstlerische Ader, aber er brachte Kurt die Arbeit mit Holz bei. Leland war ein eher schroffer, verdrießlicher Typ, und als sein Enkel, der eine besondere Schwäche für Disney-Figuren hatte, ihm eines Tages eine selbst gezeichnete Micky Maus zeigte, beschuldigte Leland ihn, sie nur durchgepaust zu haben. „Hab ich nicht“, sagte Kurt. „Und ob du die durchgepaust hast“, antwortete Leland. Dann gab er Kurt ein frisches Blatt Papier und einen Bleistift. „Hier“, forderte er ihn auf, „zeichne mir doch noch eine, zeig mir, wie du’s gemacht hast.“ Der Sechsjährige setzte sich hin und zeichnete ihm, ganz ohne Vorlage, einen nahezu perfekten Donald Duck. Und dann gleich noch einen Goofy. Mit einem breiten Grinsen guckte er Leland an – er freute sich nicht weniger darüber, es seinem Großvater gezeigt zu haben, als über die gelungene Zeichnung seiner geliebten Ente.

Kurts Kreativität erstreckte sich zunehmend auf die Musik. Obwohl er nie Klavierstunden hatte, konnte er einfache Melodien nach Gehör nachspielen. „Schon als kleines Kind“, erinnerte sich Schwester Kim, „konnte er sich hin­setzen und einfach etwas spielen, was er im Radio gehört hatte. Er konnte künstlerisch ausdrücken, was in ihm vorging, ob auf Papier oder durch Musik.“ Um ihn weiter zu ermutigen, kauften Don und Wendy ihm ein Micky-Maus-Kinderschlagzeug, auf das Kurt eindrosch, wenn er nachmittags aus der Schule kam. Er mochte diese Plastiktrommeln, aber noch lieber waren ihm die ­echten Drums zuhause bei seinem Onkel Chuck, weil sich darauf mehr Lärm machen ließ. Er hängte sich gern TanteMaris Gitarre um, obwohl ihr Gewicht ihn schier in die Knie zwang. Er schrubbte darauf herum und erfand Liedchen dazu. Im gleichen Jahr kaufte Kurt sich seine erste Platte, Terry Jacks’ zuckrige Ballade „Seasons In The Sun“.

Für sein Leben gern blätterte er die LP-Sammlungen seiner Onkel und Tanten durch. Einmal – er war sechs – war er zu Besuch bei Tante Mari und grub sich durch ihre Plattensammlung auf der Suche nach einemBeatles-Album – die Beatles waren eine seiner Lieblingsbands. Plötzlich schrie Kurt auf und kam wie in Panik zu seiner Tante gerannt. Er hielt ihrYesterday And Todayvon den Beatles hin, das Album mit dem berühmt-berüchtigten „Butcher“-Cover. Es zeigt die Pilzköpfe in Fleischerkitteln mit malträtierten Puppen- und Fleischteilen; Capitol nahm das Cover mit dem Foto, das noch nicht einmal für diesen Zweck bestimmt war, rasch wieder vom Markt. „Mir wurde klar, wie empfänglich er schon in diesem Alter für Eindrücke war“, erinnerte sichMari.

Auch auf die zunehmenden Spannungen zwischen seinen Eltern reagierte der Jungen sensibel. Nicht dass während seiner ersten Lebensjahre viel gestritten worden wäre, aber Hinweise auf eine stürmische Liebe zwischen Don und Wendy gab es auch nicht gerade. Wie so viele Paare, die jung heiraten, hatten die beiden sich einfach in die Umstände gefügt. Ihre Kinder wurden zum Mittelpunkt ihres Lebens, und was immer an romantischer Liebe vor der Geburt der Kinder da gewesen sein mochte, es ließ sich nicht wieder entfachen. Don verzagte nahezu wegen der ständigen Finanzprobleme; Wendy hatte mit den Kindern alle Hände voll zu tun. Immer öfter kam es zu Streitereien, schließlich schrien sie sich auch vor den Kindern an. „Du hast keine Ahnung, wie ich mich abschufte!“, hielt Don Wendy vor, und sie konterte mit demselben Anwurf.

Trotz allem hatte Kurts frühe Kindheit auch eine Menge Freude zu bieten. Im Sommer machte die Familie Ferien in einer Blockhütte derFradenburgs in dem an der Pazifikküste gelegenen Örtchen Washaway Beach. Im Winter ging es zum Schlittenfahren. In Aberdeen selbst schneite es eher selten, man musste dazu weiter in den Osten, in die Hügel hinter der Holzstadt Porter zum Fuzzy Top Mountain, fahren. Diese Ausflüge zum Rodeln folgten immer ein und demselben Muster. Sie parkten und luden Dons und Wendys kufenlosen Eskimoschlitten, Kims silberne Plastikrutsche und Kurts modernen Flexible Flyer aus. Dann machte man sich bereit für die Abfahrt. Kurt nahm grundsätzlich Anlauf wie ein Weitspringer, bevor er sich den Hang hinabstürzte. Unten angekommen winkte er seinen Eltern zu – das Signal, dass er die Abfahrt überlebt hatte. Der Rest der Familie kam hinterher, dann machte man sich gemeinsam wieder an den Aufstieg. Dieser Zyklus wiederholte sich stundenlang, bis die Dunkelheit hereinbrach oder Kurt vor Erschöpfung umkippte. Auf dem Weg zurück zum Auto mussten die Eltern versprechen, am nächsten Wochenende wieder mit ihm herzufahren. Für Kurt waren diese Ausflüge später die glücklichsten Erinnerungen an seine Kindheit.

Als Kurt sechs war, ging die Familie zusammen in ein Fotostudio in der Stadt und ließ ein formelles Weihnachtsporträt von sich machen.

Wendy sitzt auf diesem Bild in der Mitte auf einem übergroßen Holzstuhl mit hoher Lehne und trägt ein viktorianisches Kleid mit gerüschten Ärmel­säumen. Ein Spot hinter ihr umgibt sie mit einem weichen Schein. Sie trägt ein schwarzes Samthalsband, das schulterlange rotblonde Haar ist sorgfältig gekämmt und in der Mitte gescheitelt, keine Strähne sitzt schief. In ihrer vollkommenen Körperhaltung und der Art, wie sie die Hände über die Stuhl­lehnen hängen lässt, sieht sie wie eine Königin aus.

Die dreijährigeKim sitzt auf dem Schoß der Mutter. In ihrem langen weißen Kleid und den schwarzen Lacklederschuhen wirkt sie wie eine Miniaturausgabe ihrer Mama. Sie starrt direkt in die Kamera und sieht aus, als wolle sie jeden Augenblick losheulen. Don steht hinter dem Stuhl, nahe genug, um nicht aus dem Rahmen zu fallen, scheint aber nicht so recht bei der Sache. Er lässt die Schultern etwas hängen, und sein Lächeln wirkt eher gedankenverloren als echt. Er trägt ein helles lila Hemd mit überdimensionalem Kragen und eine graue Weste, eine Aufmachung, in der man sich Steve Martin oder Dan Aykroyd in einem ihrer verrückten Sketches inSaturday Night Livevorstellen könnte. Dem Blick nach scheint er weiß Gott wo zu sein, als überlege er, wie er sich bloß vor diese Kamera zerren lassen konnte, wo er doch auf dem Sportplatz sein könnte.

Kurt steht links vor dem Vater, einen Schritt weg vom Stuhl. Er trägt eine gestreifte blaue Hose mit passender Weste und ein feuerwehrrotes Hemd, das ihm etwas zu groß ist, jedenfalls ragen die Hände nicht ganz aus den Ärmeln. Als der Entertainer in der Familie lächelt er nicht nur, er lacht. Er wirkt bemerkenswert glücklich – ein kleiner Junge, der am Samstag einen Riesenspaß mit seiner Familie hat.

Es ist eine auffallend gut aussehende Familie und eine, die von der Ausstrahlung her amerikanischer nicht sein könnte – ordentliche Frisuren, strahlend weiße Zähne und die sorgfältig gebügelte Kleidung stilisiert wie in einem Sears-Katalog von Anfang der Siebzigerjahre. Bei näherem Hinsehen jedoch enthüllt sich aber eine Dynamik, die selbst dem Fotografen schmerzlich aufgefallen sein musste: Es ist ein Familienporträt, aber kein Porträt einer Ehe. Don und Wendy berühren einander nicht; es ist nicht der geringste Hinweis auf Zuneigung zwischen den beiden zu sehen, sie scheinen nicht einmal auf demselben Foto zu sein. So wie Kurt vor seinem Vater steht und Kim auf Wendys Schoß sitzt, könnte man eine Schere nehmen und das Foto – nebst Familie – einfach mitten durchschneiden. Man bekäme zwei separate Familien, jeweils ein Erwachsener und ein Kind, nach Geschlechtern getrennt – die viktorianischen Kleider auf der einen Seite, die Jungs mit den breiten Kragen auf der anderen.

–2–

ICH HASSE MOM, ICH HASSE DAD

Aberdeen, Washington, Januar 1974 bis Juni 1979

Ich hasse Mom, ich hasse Dad.

– Aus einem Gedicht an der Wand von Kurts Zimmer.

Als Don sich 1974entschloss, zu kündigen und sich doch nach einem Job in der Holzbranche umzutun, nahm der Druck auf die Familie zu. Don war kein großer Kerl und hatte von Haus aus kein gesteigertes Interesse daran, Achtzig-Meter-Riesen zu fällen, und so nahm er einen Bürojob bei Mayr Brothers an. Er wusste, dass sich in der Holzbranche letztlich mehr Geld verdienen ließ als an der Tankstelle; unglücklicherweise musste er aber auf der niedrigsten Lohnstufe anfangen und bekam mit vier Dollar und zehn Cent die Stunde sogar noch weniger als als Mechaniker. Er verdiente sich etwas dazu, indem er an den Wochen­enden im Sägewerk Inventur machte, und dahin nahm er oft Kurt mit. „Er fuhr mit seinem kleinen Fahrrad auf dem Hof herum“, erinnerte sich Don. Kurt machte sich später über den Job seines Vater lustig und behauptete, es sei für ihn die Hölle gewesen, seinen Vater begleiten zu müssen. Damals aber freute er sich darüber, dass dieser ihn einbezog. Obwohl er es als Erwachsener später ­hartnäckig bestritt: Die Anerkennung und die Aufmerksamkeit seines Vaters waren von entscheidender Wichtigkeit für Kurt, und er wollte mehr davon, nicht weniger. Immerhin gestand er später, an die ersten Jahre in der kleinen Familie glückliche Erinnerungen zu haben. „Ich hatte eine wirklich schöne Kindheit“, sagte er 1992 dem MagazinSpin,nicht ohne gleich hinzuzufügen: „Bis ich so neun Jahre alt war.“

Don und Wendy mussten sich immer wieder Geld borgen, um über die Runden zu kommen, was mit ein Hauptgrund für Streitereien war. Leland und Iris bewahrten in ihrer Küche einen Zwanzig-Dollar-Schein auf, den sie witzelnd mit einem Gummiball verglichen, der immer wieder zurückkam, wenn man ihn wegwarf: Jeden Monat liehen sie ihn ihrem Sohn für Lebensmittel, und kaum hatte Don das Geld zurückgezahlt, borgte er es sich auch schon wieder. „Er machte die Runde, zahlte seine Rechnungen, und dann kam er zu uns“, erinnerte sich Leland. „Er gab uns die zwanzig Dollar zurück, und dann meinte er: ‚Mensch, da hab ich ja wieder gut abgeschnitten diese Woche. Ich hab noch fünfunddreißig, vierzig Cent übrig.‘“ Leland, der Wendy nicht mochte, weil sie sich seiner Ansicht nach benahm, als sei sie „etwas Besseres als die Cobains“, erinnerte sich, wie die junge Familie dann immer amBlue Beacon,einem Drive-in-Restaurant in der Boone Street, vorbeifuhr und den Rest für Hamburger ausgab. Obwohl Don mit seinem Schwiegervater Charles Fradenburg, der bei der Bezirksstraßenmeisterei Planierraupe fuhr, gut auskam, fanden Leland und Wendy nie so recht zusammen.

Aus den ständigen Spannungen zwischen den beiden wurde ein offener Streit, als Leland beim Umbau des Hauses in der First Street mithalf. Er baute Don und Wendy einen Zierkamin ins Wohnzimmer und passte ihnen neue Arbeitsplatten für die Küche ein, aber er und Wendy gerieten sich zunehmend in die Haare. Schließlich erklärte Leland seinem Sohn, wenn er Wendy nicht dazu brächte, ihn mit ihrem Genörgel in Ruhe zu lassen, würde er den Kram halb fertig liegen lassen und gehen. „Es war das erste Mal, dass ich gehört habe, dass Donnie ihr widersprach“, erinnerte sich Leland. „Sie meckerte über irgendwas, und irgendwann sagte er: ‚Jetzt halt doch endlich mal deine verdammte Klappe, sonst packt er sein Werkzeug zusammen und geht.‘ Und da hat sie dann doch einfach mal den Mund gehalten.“

Wie einst sein Vater mit ihm war auch Don streng mit seinen Kindern. Einer von Wendys Vorwürfen an ihren Mann war der, dass er von den Kindern ständig tadelloses Betragen verlangte – ein unmöglicher Standard – und von Kurt erwartete, er solle sich wie ein „kleiner Erwachsener“ benehmen. Wie alle Kinder war Kurt hin und wieder einfach eine richtige Plage. Das meiste von dem, was er anstellte, wenn er sich mal abreagierte, war nicht der Rede wert – er schmierte an die Wände, schlug Türen zu oder triezte seine kleine Schwester. Trotzdem setzte es dafür öfter mal eine Tracht Prügel, aber Dons übliche – und beinahe täglich angewandte – Methode der körperlichen Züchtigung bestand darin, Kurt mit zwei gestreckten Fingern vor die Brust oder gegen die Schläfe zu stoßen. Das tat zwar nicht besonders weh, der psychologische Schaden jedoch war enorm: Die Stöße erinnerten seinen Sohn ständig daran, dass ihm jederzeit Schlimmeres blühen konnte, und verstärkten Dons Dominanz. Kurt begann sich immer öfter in den begehbaren Wandschrank seines Zimmers zurückzuziehen. Solche abgeschlossenen, engen Räume, die bei anderen Panik­attacken hervorgerufen hätten, suchte er sich als Zufluchtsort.

Und es gab einiges, wovor man sich gern versteckte: Beide Eltern konnten sarkastisch und spöttisch sein. Einmal, als Kurt noch klein und unreif genug war, um so etwas zu glauben, warnten Don und Wendy ihn: Wenn er nicht brav sei und vor allem nicht endlich aufhörte, mit seiner Schwester zu streiten, würde er zu Weih­nachten wohl nur einen Brocken Kohle bekommen. Als Streich steckten sie ihm dann ein Stück Kohle in den Weihnachtsstrumpf. „Es war nur ein Scherz“, erinnerte sich Don. „Wir haben das jedes Jahr gemacht. Er hat schon seine Geschenke bekommen und so – er hat nie nichts bekommen.“ Der kleine Kurt freilich verstand diese Art von Humor nicht, zumindest erzählte er die Geschichte später so. Einmal, so behauptete er, hätten seine Eltern ihm eineStarsky & Hutch-Spielzeugpistole versprochen, die er aber nie bekam. Stattdessen habe er nur ein fein säuberlich verpacktes Brikett in seinem Strumpf gefunden. Kurt übertrieb bei dieser Geschichte, aber in seiner inneren Vorstellung hatte das Bild von seiner Familie bereits einen ganz persönlichen Dreh bekommen.

Gelegentlich kamenKim und Kurt ganz gut miteinander aus, spielten zuweilen sogar miteinander. Obwohl Kim nicht das künstlerische Talent ihres Bruders hatte – und mit ihm ständig um die Aufmerksamkeit der Familie rivalisierte –, entwickelte sie einiges Geschick als Stimmenimitatorin. Besonders gut hatte sie Micky Maus und Donald Duck drauf, und mit solchen Einlagen konnte sich Kurt stundenlang amüsieren. Kims stimmliche Fertigkeiten brachten Wendy gar auf eine ganz neue Fantasie. „Der große Traum meiner Mutter“, erklärte Kim später, „war, dass Kurt und ich in Disneyland enden würden, dass wir beide dort arbeiten würden. Er als Zeichner, ich mit meinen Stimmen.“

Der März 1975 brachte viel Freude für den achtjährigen Kurt: Er durfte endlich Disneyland besuchen und dazu noch das erste Mal mit dem Flugzeug fliegen. Leland war 1974 in den Ruhestand gegangen und hatte den Winter mit Iris in Arizona verbracht. Don und Wendy fuhren Kurt nach Seattle, setzten ihn in eine Maschine, und Leland holte den Jungen in Yuma ab, bevor es nach Südkalifornien ging. Sie erlebten zwei völlig überdrehte Tage: Sie besuchten Disneyland, Knotts Berry Farm, einen südkalifornischen Fantasypark nach dem Muster von Disneyland, und die Universal Studios. Kurt war völlig hin und weg. Gleich dreimal wollte er in Disneyland mit den „Pirates of the Caribbean“ fahren. In Knotts Berry Farm wagte er sich in die riesige Achterbahn, war aber blass wie ein Gespenst, als er wieder ausstieg. Als Leland seinen Enkel fragte, ob er nun genug habe, bekam der sofort wieder Farbe – und fuhr gleich noch einmal mit der Achterbahn. Bei der Tour durch die Universal Studios lehnte Kurt sich an der Stelle, wo der weiße Hai aus dem Wasser auf den Tourzug zuschießt, so weit aus dem Waggon, dass einer der Sicherheitsleute den Großeltern zurief: „Holen Sie den kleinen Blondschopf da lieber rein, bevor ihm noch der Kopf abgebissen wird!“ Kurt widersetzte sich dem Befehl und schoss ein Foto vom Rachen des Hais, der nur Zentimeter an seiner Kamera vorbeizog. Später, auf dem Freeway, schlief Kurt auf dem Rücksitz ein, und wohl nur deshalb gelang es seinen Großeltern, ihn am Magic Mountain, einem weiteren Entertainment-Park in Kalifornien, vorbeizuschmuggeln – sonst hätten sie da auch noch reingemusst.

Von all seinen Verwandten stand Kurt seiner GroßmutterIris am nächsten. Die beiden teilten ein Interesse an der Kunst und hingen zuweilen einer gewissen Melancholie nach. „Die beiden vergötterten einander“, erinnerte sich Kim. „Ich glaube, Kurt erkannte instinktiv, dass sie die Hölle durchgemacht hatte.“ Sowohl Iris als auch Leland hatten eine schwierige Kindheit hinter sich. Bittere Armut und der frühe Tod ihrer Väter durch Arbeitsunfälle hatten bei beiden tiefe Narben hinterlassen. Iris’ Vater war an giftigen Dämpfen in der Rayonier Pulp Mill, einer Zellstofffabrik, gestorben; Lelands Vater war County-Sheriff gewesen und umgekommen, als sich aus seiner Dienstwaffe versehentlich ein Schuss löste. Leland war fünfzehn, als sein Vater starb. Er ging zu den Marines und wurde nach Guadalcanal geschickt, aber nachdem er einen Offizier zusam­mengeschlagen hatte, musste er zur psychiatrischen Beobachtung in eine ­Klinik. Nach seiner Entlassung heiratete er Iris, aber er kämpfte mit dem Alkohol und seinem Jähzorn, vor allem nachdem ihr dritter Sohn Michael geistig zurück­geblieben zur Welt kam und im Alter von sechs Jahren in einer Anstalt starb. „Freitagabend, wenn es die Lohntüte gab, kam er betrunken nachhause“, erinnerte sich Don. „Er hat meine Mutter verprügelt. Er hat mich verprügelt. Er hat meine Großmutter verprügelt und den Freund meiner Großmutter. Aber so war das damals nun mal.“ Als Kurt heranwuchs, war Leland bereits wesentlich sanfter geworden, seine schlimmste Waffe war seine vulgäre Sprache.

Wenn Leland und Iris nicht zur Verfügung standen, musste eines der Fradenburg-Geschwister als Babysitter für Kurt herhalten – drei von Kurts Tanten wohnten in einem Umkreis von vier Blocks. Auch Dons jüngerer Bruder Garymusste den Kleinen ein paar Mal hüten, und eine dieser Gelegenheiten bescherte Kurt seinen ersten Trip zurück in das Krankenhaus, in dem er geboren worden war. „Ich habe ihm den rechten Arm gebrochen“, erzählte Gary. „Ich lag auf dem Rücken und er auf meinen Füßen, und ich stieß ihn mit den Füßen in die Luft.“ Kurt war ein ausgesprochen lebhaftes Kind, und so, wie er den ganzen Tag herumrannte, waren die Verwandten ohnehin überrascht, dass er sich nicht öfter etwas brach.

Kurts gebrochener Arm heilte wieder, und die Verletzung schien ihn beim Sport nicht weiter zu stören. Don hatte seinen Sohn zum Baseballspielen angehalten, kaum dass dieser laufen konnte, und deckte ihn mit Bällen, Schlägern und Handschuhen ein. Als Kleinkind hatte Kurt es noch interessanter gefunden, die Baseballschläger als Percussioninstrumente einzusetzen, aber schließlich begann er sich sportlich zu betätigen, erst in der Nachbarschaft, dann in der Mannschaft. Mit sieben spielte er zum ersten Mal in einem Little-League-Team. Sein Dad war der Coach. „Er war nicht der Beste im Team, aber auch nicht schlecht“, erinnerte sich Gary Cobain später. „Ihm lag nicht wirklich viel am Spiel, dachte ich mir immer, so mental, meine ich. Ich glaube, er hat seinem Vater zuliebe gespielt.“

Baseball war ein Beispiel dafür, wie Kurt um Dons Anerkennung warb. „Kurt und mein Vater kamen prima miteinander aus, als er noch klein war“, erinnerte sich Kim, „aber aus Kurt wurde einfach nicht das, was Dad sich von seinem Sohn erwartet hatte.“

Sowohl Don als auch Wendy sahen sich mit diesem Konflikt zwischen dem idealisierten und dem realen Kind konfrontiert. Beide hatten aus ihrer eigenen Kindheit ungestillte Bedürfnisse, und Kurts Geburt brachte all ihre persönlichen Erwartungen zum Vorschein. Don wollte die Vater-Sohn-Beziehung, die er mit Leland nie gehabt hatte, und dachte, wenn sie zusammen Sport trieben, würde sich diese Bindung schon einstellen. Und obwohl Kurt durchaus Spaß am Sport hatte – vor allem, wenn sein Vater nicht dabei war –, verband er intuitiv die Liebe seines Vaters damit, und das sollte ihn fürs Leben zeichnen. Seine Reaktion war mitzumachen, aber unter Protest.

Als Kurt in der zweiten Klasse war, kamen seine Eltern und Lehrer darauf, seine rastlose Energie könne womöglich einen krankhaften Hintergrund haben. Kurts Kinderarzt wurde zurate gezogen und in der Folge darauf geachtet, dass Kurt die Lebensmittelfarbe Red Dye Number Two nicht mehr bekam. Als keine Besserung eintrat, schränkten seine Eltern auch die Zuckerzufuhr ein. Schließlich verschrieb der Arzt Ritalin, das Kurt über drei Monate hinweg einnahm. „Er war hyperaktiv“, erzählte Kim. „Er sprang durch die Gegend wie ein Gummi­ball, vor allem, wenn man ihm Zucker gab.“

Andere Verwandte vermuten, Kurt habe womöglich an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität (ADHS; der deutscheStruwwelpeterist eine Darstellung dieser Störung) gelitten. Mari erinnerte sich, wie sie einmal bei einem Besuch bei den Cobains Kurt mit einer Trommel durchs Viertel laufen und aus vollem Hals schreien sah. Mari ging ins Haus und fragte ihre Schwester: „Was in aller Welt macht der Junge denn da?“ – „Keine Ahnung“, antwortete Wendy, „ich weiß wirklich nicht mehr, was ich noch mit ihm anstellen soll – ich habe schon alles versucht.“ Wendy beruhigte sich damals damit, Kurt würde so einfach die überschüssigen Energien abreagieren, die man als Junge eben so hat.

Die Entscheidung, Kurt Ritalin zu verschreiben, war selbst 1974 umstritten, da einige Wissenschaftler argumentierten, das Medikament könne bei Kindern zu einer Pawlow’schen Reaktion führen und die Suchtanfälligkeit im späte­ren Leben erhöhen. Andere wiederum sind der Ansicht, wenn man hyper­aktive Kinder nicht behandle, würden sie später womöglich eine Art Selbstmedikation mithilfe von Drogen versuchen. Jeder in der Familie hatte eine andere Ansicht bezüglich Kurts Diagnose und ob ihm die kurze Behandlung eher geholfen oder geschadet hat; Kurts eigener Ansicht nach jedoch war das Medikament, wie er Courtney Love später erzählte, durchaus von einschneidender Bedeutung. Love, die als Kind selbstRitalin bekommen hatte, sagte, sie habe das Thema oft mit ihm diskutiert. „Wenn man als Kind ein Medikament bekommt, das einem bestimmte Gefühle verschafft, wo wird man dann wohl als Erwachsener Hilfe suchen?“, fragte Love. „Dieses Mittel versetzte einen als Kind in Euphorie – wie sollte so eine Erinnerung nicht bei einem hängen bleiben?“

Im Februar 1976, nur eine Woche nach Kurts neuntem Geburtstag, ließ Wendy Don wissen, sie wolle die Scheidung. Es war ein Abend mitten unter der Woche, Wendy machte ihre Ankündigung und raste in ihrem Camaro davon – und überließ es Don, die Sache den Kindern beizubringen, etwas, worin er von Haus aus nicht gut war. Obwohl Dons und Wendys Eheprobleme sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1974 noch einmal verschärft hatten, kam Wendys Erklärung für Don doch überraschend, von der übrigen Familie ganz zu schweigen. Don weigerte sich einfach, es zu glauben, und verkroch sich in sich selbst, ein Verhalten, das auch bei seinem Sohn später in Krisenzeiten zu beobachten sein sollte. Wendy war von jeher eine starke Persönlichkeit und neigte zu Zornausbrüchen, trotzdem war Don schockiert darüber, dass sie tatsächlich die Familie auseinander brechen wollte. In der Hauptsache warf sie ihm vor, sich fast nur noch für seinen Sport zu interes­sieren – er spielte gleich in mehreren Mannschaften und war mittlerweile SchiedsrichterundCoach. „Ich glaubte einfach nicht, dass es wirklich dazu kommen würde“, sagte Don später. „Scheidungen waren damals noch nicht so an der Tagesordnung wie heute. Ich wollte auch gar keine. Sie wollte – sie wollte einfach raus.“

Am 1. März zog Don aus und nahm sich ein Zimmer in Hoquiam. Er erwartete, Wendys Zorn würde sich wieder legen und ihre Ehe gerettet, darum mietete er sich jeweils für eine Woche ein. Für Don machte die Familie ein gut Teil seiner Identität aus, in seiner Rolle als Vater fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben gebraucht. „Beim bloßen Gedanken an Scheidung war er am Boden zerstört“, erinnerte sich Stan Targus, Dons bester Freund. Die Trennung war umso komplizierter, als Wendys Familie Don über alles gern hatte, vor allem ihre Schwester Janis und deren Mann Clark, die ganz in der Nähe der Cobains wohnten. Einige von Wendys Geschwistern fragten sich insgeheim, wie sie ohne Don finanziell durchkommen sollte.

Am 29. März bekam Don eine Vorladung und einen Scheidungsantrag zugestellt. Ein ganzer Schwung juristischer Dokument sollte noch folgen; Don reagierte nicht auf alle davon – wider besseres Wissen in der Hoffnung, Wendy würde es sich noch einmal überlegen. Am 9. Juli wurde er beschuldigt, seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen zu sein und nicht auf Wendys Anträge reagiert zu haben. Noch am selben Tag kam es zu einer endgültigen Regelung, die Wendy das Haus zusprach;Don sollten sechstausendfünfhundert Dollar zustehen, sollte Wendy das Haus verkaufen oder wieder heiraten, andernfalls fällig an Kims achtzehntem Geburtstag. Don bekam seinen Ford-Pickup, einen Halbtonner, Baujahr 1965; Wendy durfte den Achtundsechziger-Camaro der Familie behalten.

Das Sorgerecht für die beiden Kinder ging an Wendy, aber Don sollte monatlich pro Kind einhundertfünfzig Dollar Unterhalt zahlen und auch sämtliche Arztkosten für die Kinder tragen. Dafür sprach man ihm Besuchsrecht in einem „vernünftigen Umfang“ zu. Wir sprechen hier von einem Kleinstadt­gericht in den Siebzigerjahren, die Einzelheiten des Besuchsrechts wurden nicht ausdrücklich geregelt, und überhaupt war das Arrangement eher informeller Natur. Don zog zu seinen Eltern in deren Trailer in Montesano. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass Wendy es sich noch einmal überlegen würde, nicht einmal, nachdem die letzten Papiere unterschrieben waren.

Wendy jedoch dachte nicht im Traum daran. Wenn sie mit etwas abgeschlossen hatte, dann interessierte sie das nicht mehr, und nichts hätte sie weniger interessieren können als Don. Es dauerte nicht lange, und sie begann ein Verhältnis mit Frank Franich, einem gut aussehenden Hafenarbeiter, der doppelt so viel verdiente wie Don. Auch Franich neigte zu Jähzorn und Gewaltausbrüchen, und nichts machte Wendy mehr Freude, als dieses Gift gegen Don spritzen zu sehen. Als Dons neuer Führerschein versehentlich an seine alte Adresse geschickt wurde, öffnete jemand die Sendung, rieb Kot auf Dons Passbild, klebte den Umschlag wieder zu und schickte ihn weiter an Don. Dies war keine Scheidung, sondern ein Krieg – ein Krieg, der mit all dem Hass, der Bosheit und den Rachegelüsten einer Blutfehde geführt wurde.