Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit: Skizze einer Weltanschauung - Oskar Panizza - E-Book

Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit: Skizze einer Weltanschauung E-Book

Oskar Panizza

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Beschreibung

In die Zeit zwischen Prozess und Haftstrafe fällt die einzige philosophische Veröffentlichung Panizzas: Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit. Oskar Panizza adaptierte darin die Philosophie Max Stirners und kritisierte vehement eine einseitig naturwissenschaftliche Sicht auf die Psyche des Menschen. Damit war eine deutliche Kritik an der hirnanatomisch-neurophysiologischen Psychiatrie ausgesprochen, wie sie von Gudden vertrat. Panizza formulierte die Überzeugung, dass es keine geistigen Normen gebe und nur die radikalen Taten und Ideen Einzelner die Weltgeschichte lenkten. Für den Einzelnen existiere die Außenwelt nur als Projektion in seinem Kopf, Halluzinationen seien für ihn dagegen unabhängig von der wirklichen Welt real. Diese Überzeugung ist eine deutliche Reaktion auf die latente geistige Störung Panizzas, die später zum Ausbruch kommen sollte und die der erfahrene Nervenarzt als solche diagnostizierte. Die Kluft zwischen realer Außenwelt und innerem Welterleben gehört zu den erzählerischen Leitmotiven im Werk Panizzas. Bereits das Liebeskonzil hatte nicht Gott, sondern das Gottesbild der Katholiken zum Gegenstand – ein Unterschied, den Panizzas Richter und die Geschworenen nicht nachvollziehen konnten. Wohl am stärksten thematisiert die 1894 geschriebene und 1896 als Sonderdruck veröffentlichte, stark autobiographisch geprägte Erzählung Die gelbe Kroete die Diskrepanz zwischen der objektiven und der subjektiv wahrgenommenen Welt. Oskar Panizza (1853-1921) war ein deutscher Arzt, Schriftsteller, Satiriker und Publizist.

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Oskar Panizza

Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit: Skizze einer Weltanschauung

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort
I. Der Illusionismus
II. Der Dämonismus
III. Der Individualismus
Anmerkungen

Motto:

„Quapropter effigiem Dei formamque quaerere imbecillitatis humanae reor. Quisquis est Deus, si modo est alius, et quacumque in parte, totus est sensus, totus visus, totus auditus, totus animae, totus animi, totus sui.“

Plinii major., Histor. natur. II. 5.

„Ich glaube, jeder Mensch lebt sein eigenes Leben und stirbt seinen eigenen Tod, das glaub’ ich.“

Jens Peter Jacobsen.

„If we say in the language of St. John and his Platonic and Gnostic predecessors ’In the beginning there was the

Logos

’, we use human language. But if we know that all human language is metaphorical we shall never attempt to force these words into a narrow literal meaning. To do so is to create mythology. What lies behind the curtain of these words is, in fact, the realm of Agnosticism. But all that lies on this side of the curtain is our domain, that domain of language and science, which in the chaos of phenomena has discovered a hidden Kosmos, or the reflex of that

Logos

. Call that Power the Father, or call it a Person, and you neither gain nor lose anything, for these words also are metaphorical only, and what constitutes the personal element in man or any other living being is as unknown to us as what constitutes the personal element in the author, the thinker, the speaker, or creator of the

logoi

. All I maintain is, that if we ever speak of a

Logos

and of

logoi

, and understand clearly what we mean by these words, we can no longer say that in the beginning there was protoplasm, and that the whole world was evolved from it by purely mechanical or external agencies.“

Max Müller, Why I am not an Agnostic. – Nineteenth Century, Dec. 1894.

„Es ist etwas in der Seele, das nicht erschaffen ist und nicht erschaffen sein kann.“

Meister Eckhart.

Dem Andenken Max Stirner’s. (Kaspar Schmidt aus Bayreuth) 1806—1856.

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Ich war immer der Meinung, dass es, um in filosofischen Dingen das Wort zu ergreifen, eines gewissen Kauderwelsches von ausländischen Termini bedürfe, einer vertrakten Geberde, die dem Beschauer so fürchterlich erscheine, dass er ein für allemal auf alles eigene Denken vergässe, eines gewissen steifen Nimbus, wie er sich um Universitäts-Kateder als undurchdringliche Schicht lagert und in dem Lokenrest zerzauster und halbnakter Professoren-Köpfe ruht; – da las ich Stirner; Stirner, diesen Lazarus unter den Filosofen, der plözlich wieder auferstanden ist, und uns gezeigt hat, dass Denken unter Umständen mehr ist, als Mikroskopiren, Schädelmessen, Gehirne-Wiegen und experimentelle Psichologie-Treiben; Stirner, der Schriftsteller, der in seiner knappen, konzisen, flinken und oft burschikosen Form bewiesen hat, dass Leichtigkeit und Flüssigkeit des Vortrags ein Vorteil sei für die Behandlung abstrakter Disziplinen gegenüber dem zähen Asfalt-Brei aus dem Munde patentirter Sanskritisten. – Ihm verdanke ich vor Allem die Aufmunterung zu der vorliegenden Schrift. Und deswegen habe ich in Dankbarkeit seinen Namen dem Werkchen vorgesezt.

Dass ich auch inhaltlich in manchen Dingen von Stirner beeinflusst worden bin, wird der Kundige bald erspähn.

Im Uebrigen möchte ich hier den prinzipiellen Unterschied des Ausgangspunktes in beiden Sistemen betonen: Stirner seufzte unter dem elendigen Joch der Reakzion der Vierziger Jahre. Und seine formellen Lehrmeister im Denken waren: Hegel, Fichte, Ludwig Feuerbach. Wir Heutigen und Jüngeren kennen diese Grossmeister vom Stuhl der reinen Begriffe kaum mehr als lebenden Geistesgehalt. Wir stehen, nach der Richtung der Erforschung des Menschen, unter dem Zeichen der Naturwissenschaft und der biologischen Disziplinen. Und hier im speziellen Fall ist der Ausgangspunkt die Psichiatrie, das patologische Denken, das kranke Sensorium, die psichologische Selbst-Beobachtung. Und was die politische Maxime anlangt, die sich in solche Darlegungen ohne unser Zutun einschleicht, so wird sie Der, der Augen hat zu sehen, schon finden.

Noch ein Wort über die „Naturwissenschaft“, unter deren ausschliesslichen und nüchternen Bann, man kann sagen, alles moderne Denken seit bald einem halben Jahrhundert steht. Diese schneidige Kämpferin und stolze Siegerin, die in den Fünfziger Jahren ihrem Widerpart, der „Naturfilosofie“, mit glattem Hieb den Kopf vom Rumpfe trente, sie weiss heute sehr gut, dass es mit ihrer Herrschaft dem Ende zugeht, und dass, wenigstens was die Geisteswissenschaft anlangt, es mit ihrer Göttlichkeit gründlich vorbei ist; und die deutsche Spekulazion wieder in ihre Rechte tritt. Nicht nur die Büchner, Vogt und Moleschott sind heute Makulatur – das wolte wenig besagen – auch die neueren und neuesten Erklärer des „menslichen Cheistes“, wie jener Westfale sagte, dürfen getrost ihre Erzeugnisse auf Holzpapier druken, um ihren mutigen Verlegern nicht allzuviel Kosten zu verursachen. Man muss sie hören die Herrn von den lezten materjalistischen Funden, die Wundt, Herzen, Münsterberg u. a., man muss sie gedrukt lesen und die verzweifelten Purzelbäume beobachten, wenn sie schreiben, dass „keine bewusste Vorstellung ohne begleitende Muskelbewegung“ zu Stande komt, dass „Raum- und Zeit-Anschauung nichts weiter als Empfindungs-Unterschiede von Muskelspannungen“ sind; oder, dass „Ideen aus Gruppen und Reihen von Muskelzusammenziehungen bestehen“ (Herzen, A., Grundlinien einer allgem. Psychophysiologie. Leipzig, 1889, p. 11). Man muss sie beobachten, wenn sie, um die Materjalisirung des Denkens um jeden Preis zu retten, eine ihrer kostbarsten Errungenschaften wissenschaftlicher Empirie, das Gesez der Erhaltung der Energie, preisgeben, und sogar den Grundpfeiler jedes wissenschaftlichen Gebäudes, das psichisches oder fisisches Dasein konstruiren will, das Kausalgesez, zu unterwühlen und zu lokern suchen: Bis sie auf dem Gerüst auf dem sie ihre gewagten Künste produziren, endgültig zusammenbrechen und mitsamt ihren Aparaten in der Tiefe versinken.

Nach den Tories kommen die Whigs, und nach den Whigs die Tories! Das ist ein alter Grundsaz, nicht nur auf parlamentarischem, sondern auch auf wissenschaftlichem Gebiet. Auch die beste und erfolgreichste Links-Liberale Regierung wird nach einer überlangen Zeit das Land ermüden, und dann wird sie von einem Punkte aus, dessen Schwäche man bis dahin übersehen, angegriffen und aus den Angeln gehoben werden. Man nent das Abwirtschaften. Die naturwissenschaftliche Richtung hat, wenigstens was den Punkt der Erklärung des menschlichen Denkens anlangt, so unerhörte und horrende Sünden angesammelt, dass sie sich heute, wo ein Funke Gemüts wieder mehr gilt, als die beste Verstandes-Teorie, nicht wundern darf, wenn man ihr zuruft: Apage! Fort mit dir!

München, Februar 1895. Panizza.

I. Der Illusionismus

Inhaltsverzeichnis
§. 1

Der Materjalismus war eine schöne Zeit! Der Mensch war, was er ass; „er ist, was er isst“; sein Gehirn produzirte die Gedanken, wie die Leber die Galle; und sein Geist war das Resultat seines Magens. Wie frohlokten wir auf den Schulbänken, als wir endlich wussten, was der Mensch war, allen spiritualistischen Kram aus unseren Schulranzen hinauswarfen und dem Religionslehrer, der uns den Thomasius’schen Sünden-Begriff erklären wolte, frech die Zunge entgegenstrekten! Denn was gab uns den Halt? Wir hatten eine radikale Formel. Wir wussten, dass der Himmel nicht mehr existirte, und dass wir allein auf der Welt waren. Das war das Grosse am Materialismus, dass er mit schlankem Beilhieb den transzendentalen Kopf vom fisischen Rumpf löste und nichts zurückliess, was sich zu einem Schlangenköpfchen Lernäischen Razionalismuses hätte entwickeln können.

§. 2

Seitdem ist es schlimm und schlimmer geworden. Zuerst kamen die Fechner’schen Tränen über das verlorengegangene Jenseits; man wagte die Gründung einer neuen Disziplin, der „Psicho-Fisik“, und – richtig! die Seele war wieder da, hereingeschmuggelt auf dem denkbar unglaublichsten Wege; alle Luken hatte man verstopft, und mit der – Fisik kam sie. Es folgten die Iammerlaute deutscher Fisiologen und ihr „Ignoramus!“ (Um jene Zeit fielen die Werke des Naturfilosofen Schelling bei Cotta von M. 122.– auf M. 40.–). Und seither ist es kläglich zu sehen, wie die Psichologen und Fisiologen, der psicho-fisische Materjalismus, die Vertreter der experimentellen Psichologie auf materjalistischer Grundlage und jener auf hipnotistisch-psichologischer Grundlage, die psicho-fisischen Parallelisten und filosofisch-materjalistischen „Monisten“ um die arme Seele sich abmühen, nach ihr haschen und sie wieder loslassen, sie haben möchten, aber doch ihrer eigenen materjalistischen Vergangenheit nicht untreu werden wollen. – „Sie aber werden zerdroschen werden wie Stroh zerdroschen wird und wie Koth.“ Jesaia 25, 10. – Die Halbheit ist das Schlimste. Das Geschwäz um eine unsichere Sache, statt der Tat, das Erbärmlichste. Psichik und Fisik. „Eat a cake and have a cake“, wie der Engländer sagt: den Kuchen essen, und ihn doch noch haben wollen. Erst die Seele fisisch konstruiren, und sich dann sagen müssen, dass man sie doch nicht hat. Das ist die Signatur der gegenwärtigen Psichofisiker. Und ich sehe schon den deutschen Meister kommen, der die Seele wieder an ihre Stelle sezt, und Euch Alle so gründlich in dem Zauberkessel der täuschungsreichen Maya untertauchen wird, dass Euch Hören und Sehen vergeht.

§. 3

In der Tat, die Behandlung, die man seit der Oberherrschaft des Materjalismus dem Denken hat angedeihen lassen, macht den denkbar komischsten Eindruck. Spencer erklärt das Denken für „gehemte Hirn-Reflexe“, ohne uns sagen zu können, wie denn aus einem Reflex, einer sinlich perzipirten Bewegung, ein – Gedanke, aus Materie – Bewusstheit entstehen solle; und ohne sich an Descartes zu erinnern, der uns gelehrt, dass Denken und Ausdehnung Geistiges und Körperliches, unvereinbare Dinge seien, deren Ineinander-Uebergehen für das Denken – und dieses macht doch die Filosofie – eine schlechterdings unmögliche Annahme sei. Spencer hat dies auch bis zu einem gewissen Grad gefühlt, indem er „Bewusstsein eine im Grunde ganz überflüssige Begleiterscheinung zentraler Gehirn-Prozesse“ nante. Aber das ist nicht genug. Er, und mit ihm jeder echte Materjalist, müsste das Denken überhaupt läugnen, wofern er im mechanisch verlaufenden, materjellen Gehirn-Reflex das gesamte geistige Dasein des Menschen beschlossen sieht; und wofern der Name „materjalistischer Monist“ nicht eitel Betrug und Selbsttäuschung ist. Denn entweder glaubt er an die Möglichkeit des Uebergangs, des Entstehens von Gedachtem aus Körperlichem, dann wirft er den oben genanten Descartes’schen Saz um, und komt als nicht auf der Höhe filosofischer Bildung stehender, nicht ausgereifter, Denker nicht in Betracht. Oder er giebt die Unmöglichkeit des Entstehens von Psichischem aus Fisischem zu, bringt aber Gedächtnis, Bewusstheit und dergl. mit materjellen Gehirnvorgängen in Konnex, dann ist er Dualist, er mag sich wenden, wie er will, aber nicht Materjalist, und noch weniger Monist! – Hic Rhodus, hic amice salta! – Hier, in der Tat, kommen alle naturwissenschaftlichen Filosofen zu bösem Fall. – Die ältere Richtung von Vogt, Büchner, Moleschott