Erzählungen Schriften und Satiren - Oskar Panizza - E-Book

Erzählungen Schriften und Satiren E-Book

Oskar Panizza

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Beschreibung

Das Buch enthält die Erzählungen "Das Wachsfigurenkabinet", "Der Stationsberg", "Die Menschenfabrik" und "Eine Mondgeschichte". "Das Verbrechen in Tavistock-Square" ist ein ironischer Protest gegen die prüde Sexualmoral der damaligen Zeit. "Aus dem Tagebuch eines Hundes" wirft durch einen philosophischen Dackel ein spöttischen und kritischen Blick auf die Menschen. Im zweiten Teil findet sich die psychologische Abhandlung über "Genie und Wahnsinn", die wie eine vorweg genommene eigenen Diagnose wirkt. "Psichopatia criminalis" ist eine Anleitung um die vom Gericht für notwendig erkannten Geisteskrankheiten psychiatrisch zu eruieren und wissenschaftlich festzustellen. Sie stellt im Stile einer wissenschaftlichen Abhandlung eine Satire auf die gesellschaftlichen Zustände dar. "Christus in psycho-pathologischer Beleuchtung" untersucht die psychische Gesundheit von Jesus Christus. Er wird dort als ein psychopathologischen Fall und Paranoiker diagnostiziert.

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OSKAR PANIZZA

Selbstbiographie

Erzählungen

Das Wachsfigurenkabinet

Der Stationsberg

Die Menschenfabrik

Eine Mondgeschichte

Das Verbrechen in Tavistock-Square

Aus dem Tagebuch eines Hundes

Schriften und Satiren

Genie und Wahnsinn

Psichopatia criminalis

Christus in psicho-patologischer Beleuchtung

Moorwolf Verlag

Impressum

Oskar Panizza: Erzählungen, Schriften und Satiren

Moorwolf Verlag, 2024

Kontakt: [email protected]

Titelbild: Oskar Panizza um 1895 (gemeinfrei)

Vertrieb: epubli

Made in Germany

ISBN: 978-3-758490-08-8

©Moorwolf Verlag

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie

http://www.dnb.de

Inhalt

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Selbstbiographie

Erzählungen

Das Wachsfigurenkabinet

Der Stationsberg

Die Menschenfabrik

Eine Mondgeschichte

Das Verbrechen in Tavistock-Square

Aus dem Tagebuch eines Hundes

Abschied von München

Schriften und Satiren

Genie und Wahnsinn

Psichopatia criminalis

Vorwort

Der Tipus der psichopatia criminalis

Paralisis cerebri, die Gehirnerweichung als häufigster Symptomenkomplex der psichopatia criminalis

Mania – die Tobsucht als zweiter Symptomenkomplex der psichopatia criminalis

Melancholia – Melancholie als dritte Form der psichopatia criminalis

Paranoia – Verrücktheit als letzte Äusserungsform der psichopatia criminalis

Schlusswort

Christus in psicho-patologischer Beleuchtung

 

Vorwort des Herausgebers

Von Oskar Panizza wird folgender Satz am häufigsten zitiert:

Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.

Auch wenn diese Erkenntnis ursprünglich vom Begründer der „modernen Irrenheilkunde“ Maximilian Jacobi stammt, wer könnte das besser wissen als Oskar Panizza!

Er, der blitzgescheite Schriftsteller, Satiriker, Verleger, Nervenarzt und später selber unter Halluzinationen und Verfolgung leidend.

1853 wurde er in Bad Kissingen als sechstes Kind eines Hoteliers und einer schriftstellerisch tätigen Mutter geboren und katholisch getauft. Als er zwei Jahre alt ist, stirbt der Vater, und die Familie wird nach dem Willen der Mutter protestantisch. Die Familie flieht nach München vor der katholischen Kirche, die einen Vormund einsetzen will. Er erhält dort eine streng religiöse Erziehung. Nach der Schule, die er ohne Abitur verlässt, folgt eine Lehre im Bankhaus und später seine Entlassung wegen schlechten Benehmens. Es folgt ein freiwilliger Dienst im Bayrischen Infanterie-Regiment. Danach besucht er philosophische Vorlesungen und holt schließlich sein Abitur nach. Anschließend beginnt er ein Medizinstudiums in München, wird Assistenzarzt in der Oberbayerischen Kreisirrenanstalt, bekommt aber Depressionen und kündigt. Er lebt von einer Rente aus dem Familienerbe, welche ihm die Möglichkeit gibt, literarische Studien zu betreiben. Es folgen Aufenthalte in London, Berlin und Italien, wo er italienische Sprache und Literatur studiert. Er beginnt zusätzlich journalistische Tätigkeiten und wird Mitglied der naturalistischen „Gesellschaft für modernes Leben“. Er schreibt Erzählungen, Satiren und unter Pseudonym kirchenkritische Schriften wie Die unbefleckte Empfängnis der Päpste. Für seine Schrift Das Liebeskonzil - Ein Himmelstragödie in fünf Aufzügen wird er 1895 zu einem Jahr Gefängnis wegen Gotteslästerung verurteilt. Nach seiner Entlassung verlässt er München und zieht nach Zürich. Es folgt die Ausweisung aus der Schweiz und der Umzug nach Paris. Seine Gedichtsammlung „Parisjana. Deutsche Verse aus Paris“ wird wegen Majestätsbeleidigung in Deutschland beschlagnahmt und löst eine internationale Fahndung aus. 1900 wird Oskar Panizza wird mittellos, da die bayrischen Behörden sein Vermögen beschlagnahmen. Er fühlt sich schweren Belastungen ausgesetzt und bekommt erste von ihm selbst diagnostizierte Halluzinationen. 1901 kehrt er nach München zurück und stellt sich den Behörden, die ihn verhaften. Durch ein ärztliches Gutachten wird er als unzurechnungsfähig erklärt und freigelassen. Er kehrt nach Paris zurück. Seine Halluzinationen verschlimmern sich. Er glaubte, dass Bismarck eine Nebenregierung führt und einen geheimen Kampf gegen Wilhelm II., bei dem er die entscheidende Figur ist, weil seine Kritik vom Kaiser gefürchtet wird. 1904 begibt er sich nach starken Halluzinationen freiwillig für einige Tage in eine private Nervenklinik. Er hat Selbstmordabsichten und läuft nur mit einem Hemd bekleidet durch München, um seine Einweisung in eine Nervenklinik zu provozieren. 1905 wird er in die Bayreuther Heilanstalt St. Gilgenberg eingewiesen und entmündigt. Dort setzt er bis 1906 seine schriftstellerischen Tätigkeit fort. 1908 erfolgt die Einweisung in das Luxussanatorium Herzogshöhe bei Bayreuth, wo er 13 Jahren später an einem Schlaganfall stirbt.

Wie sich aus dieser Kurzbiographie erkennen lässt, hatte Oskar Panizza ein recht bewegtes Leben.

Was war er aber für ein Mensch?

Sein Bekannter Hannes Ruch aus der „Gesellschaft für modernes Leben“ schildert ihn als einen Menschen mit ungewöhnlichem Gedächtnis, das wie ein Nachschlagewerk war, welches „man niemals vergeblich um Auskunft fragte.“ Er schreibt weiter: „Sein glattrasiertes, sympathisch-offenes Gesicht, das manchmal fast apathisch und nichtssagend dreinschauen konnte, belebte sich wunderbar, wenn eine Idee ihn anregte, wenn er im Gespräche nach Ausdruck rang. Die hellen blauen Augen konnten einen dann verteufelt klug anblitzen, und das fast unausgesetzte, jesuitische Lächeln seines Mundes stand in einem seltsamen Kontrast zu den unglaublichen Derbheit und Aufrichtigkeiten, die er vom Stapel ließ, wenn es ans Diskutieren ging. Seine Anwesenheit verbreitete stets eine behagliche Stimmung; man hatte das angenehm-prickelnde Gefühl, neues, kulinarisch reizvoll Tolles vorgesetzt zu bekommen. Dieser erzgescheite Mensch mit dem scharfen Blick geistiger Überlegenheit und großer Welterfahrung, mit dem vitalen Gehirn, dem Hautgout einer dekadenten Weltanschauung und den blasphemischen Kühnheiten übte auf uns denselben Reiz aus, wie die verbotene Lektüre eines Boccaccio oder Casanova, Anno dazumal, als wir noch die Schulbank drückten.“ „Dieser genialische Kopf besaß nicht nur den durchdringenden Blick des Psychiaters und die unerbittliche Logik des Philosophen, er war auch ganz besonders begabt mit einer ungeheuren Phantasie. Sein Gehirn war ein Land unbegrenzter Möglichkeiten. Seinen unwiderstehlichen Hang zum Zynischen milderte rührende Aufrichtigkeit und gaminhafter Humor.“

„Diesem seltsamen Menschen fehlte zum Wissenschaftler der eiserne Wille und die Gründlichkeit – doch wusste er unendlich viel mehr wie hundert Gelehrte, die mit Ausbeutung eines Spezialgebietes, zu dem ihre Begabung hinneigte, sich einen klingenden Namen und allgemeine Achtung erzwangen. Zum Künstler fehlte ihm das göttlich Naive, das Harmlose des Produzierens und vor allem die Sehnsucht nach dem Schönen“, so Hannes Ruch.

Er beschreibt auch seine Veränderungen durch die Haftzeit: „Aus dem Denker war ein Grübler, aus dem Wissenden ein Zweifler, aus dem Lachenden ein Grinsender geworden.“

Doch die Tragödie ging weiter: Er wurde in Paris ein von Verfolgungswahn und Halluzinationen geprägter und leidender Mensch. Als ihn ein Freund besuchte, meint er in ihm einen Geheimpolizisten der Berliner Regierung zu erkennen und sah sich als Opfer einer weitreichenden Verschwörung von Kaiser Wilhelm II. Isolation, Geldnot und Anklagen verschlimmerten seinen Zustand, der schließlich Entmündigung und Aufenthalte in Heilanstalten bis zu seinem Tod zur Folge hatte. Seine Familie unterstütze ihn nicht, weil sie durch ihn ihren gesellschaftlichen Ruf verloren zu haben glaubte. Sie weigerte sich auch einen Grabstein für ihn zu setzen und vernichtete anscheinend einen großen Teil seines unveröffentlichten Nachlasses.

Oskar Panizza hat zwei Jahre bevor er aufhörte zu schreiben, eine Selbstbiografie geschrieben.

Diese Selbstbiographie wird an den Anfang des Buches gestellt, damit der Leser sein Leben aus eigener Feder kennenlernen und dadurch seine Schriften besser einordnen kann.

Im ersten Teil finden sich Erzählungen von ihm in chronologischer Reihenfolge.

Beginnend mit dem Buch Dämmerungsstücke, welches1890 in Leipzig bei Wilhelm Friedrich erschien. Es enthält die Erzählungen Das Wachsfigurenkabinet, Der Stationsberg, Die Menschenfabrik und Eine Mondgeschichte.

Ein Jahr später erschien Das Verbrechen in Tavistock-Square, welches ein ironischer Protest gegen die übertrieben prüde Sexualmoral seiner Zeit war. Es wurde nach Veröffentlichung sofort konfisziert und der Autor wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit angezeigt.

Wiederum ein Jahr später veröffentlichte der große Hundefreund Panizza Aus dem Tagebuch eines Hundes, worin ein philosophischer Dackel einen spöttischen und kritischen Blick auf die Menschen wirft.

Seine Replik Abschied aus München– Ein Handschlag wurde 1897 in Zürich veröffentlicht, nachdem er München verlassen musste, weil er steckbrieflich gesucht wurde.

Im zweiten Teil finden sich psychologische Abhandlungen wie auch im Stile psychologischer Studien geschriebene politische Satiren, die von anarchistischer und antimonarchistischer Grundhaltung geprägt sind.

Er beginnt mit seinem Vortrag über Genie und Wahnsinn. Dieser ist keine Satire, sondern scheint eher seine eigene spätere Diagnose vorweg zu nehmen.

Es folgt mit der Psichopatia criminalis eine „Anleitung um die vom Gericht für notwendig erkannten Geisteskrankheiten psychiatrisch zu eruieren und wissenschaftlich festzustellen - Für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister“. Dort schildert er u.a. am Beispiel der Märzrevolution, wie man durch ein „mässig grosses Irrenhaus zwischen Neckar und Rhein, etwa von der Größe der Pfalz die kriminelle Bewegung, ich wollte sagen: die epidemische Psichose" im Keim hätte ersticken können.

In Christus in psycho-pathologischer Beleuchtung, die er 1898 in seinem Verlag Züricher Diskussion veröffentlichte, untersucht er die psychische Gesundheit von Jesus Christus. Er diagnostiziert ihn als einen psychopathologischen Fall und als Paranoiker.

Die Orthographie ist bis auf wenige heute unverständliche Wörter unverändert übernommen worden.

Knut Heinzel

Selbstbiographie

Oskar Panizza, Schriftsteller, geboren 12. XI. 1853 in Bad Kissingen, stammt aus belasteter Familie. Onkel litt an partiellem religiösem Wahnsinn und starb nach 15jährigem Irrenhausaufenthalt in der Irren-Abt. des Würzburger Juliusspitals. Ein anderer Onkel begieng in jugendlichem Alter Selbstmord. Eine Tante starb an Schlaganfall, eine andere Tante noch am Leben, ist psychisch sonderbar, teils gemacht geistreich, teils schwachsinnig. Alle diese Verwandtschaftsgrade beziehen sich auf die mütterliche Seite. Die Mutter noch am Leben jährzornig, energisch, starke Willensperson, fast männliche Intelligenz. Vater starb an Typhus, war von italienischer Abstammung, leidenschaftlich, ausschweifend, jährzornig und gewandter Weltmann, schlechter Haushalter. Von den Geschwistern des Patienten sind die zwei jüngeren, wie Patient selbst in früheren Jahren melancholischen Zufällen ausgesetzt gewesen. Jüngere Schwester begieng zweimal Selbstmordversuch (vielleicht kompliziert mit Hysterie). In der ganzen Familie besteht prävalierende Geistestätigkeit mit Neigung zur Diskussion religiöser Fragen. Mutter und Patient schriftstellern. Patient selbst litt an den üblichen Kinderkrankheiten, Masern, Keuchhusten, lernte sehr schwer lesen, zeigte keine Begabung, hatte bei seinen Geschwistern den Beinamen »der Dumme«, kam auf dem Gymnasium schwer vorwärts, war bei fruchtloser, üppiger Phantasie und steter Insich-Versunkenheit unfähig, die Notwendigkeit einer geregelten, systematischen Vorbereitung für einen Lebensberuf zu begreifen, wandte sich vorübergehend der Musik zu und absolvierte endlich in vorgerückten Jahren, 24 Jahre alt, das humanistische Gymnasium. Während seiner Masernerkrankung hatte er mit circa 12 Jahren einen leichten somnambulen Anfall: er verließ bei Tag in unbewußtem Zustand das Bett, lief im Krankenzimmer umher und wurde schließlich betend vor seinem Bette kniend gefunden und aus seinem Trans gerettet. Wandte sich nach absolviertem Gymnasium mit großer Liebe und Eifer dem medizinischen Studium zu, wurde Coassistent bei Ziemßen, arbeitete unter demselben auf dem klinischen Institut, promovierte 1880 mit summa cum laude und erhielt noch in demselben Jahre die Aprobazzion. Als Student infizirte er sich mit Lues, die, obwohl lege artis Jahre hindurch behandelt, noch heute in Form eines mächtigen gemma an der rechten tibia manifest ist und jeder noch so energischen Behandlung durch Jodkali spottet. Nach Absolvierung seiner militärischen Dienstpflicht als Unterarzt im Militärlazaret und Ernennung zum Assistenzarzt II. Classe der Reserve ging Pazient, von Ziemßen mit zahlreichen Empfehlungen versehen, nach Paris, besuchte aber nur wenig Spitäler, sondern wante sich dem Studium der französischen Literatur, besonders der dramatischen, zu, für die ihn die Kenntnis der französischen Sprache, die im Elternhause in Folge hugenottischer Abkunft der Mutter stets gepflegt wurde, besonders geeignet machte. Im Jahre 1882 nach München zurückgekehrt, trat er als IV. Assistenzarzt in die Oberbairische Kreis-Irrenanstalt unter Gudden ein und servirte daselbst, inzwischen zum IV. (?) Assistenzarzt vorgerückt, während zweier Jahre. Beeinträchtigung seiner Gesundheit und wissenschaftliche und andere Differenzen mit seinem Schef ließen ihn 1884 diese Stelle aufgeben, und er wante sich nun, abgesehen von kleinen vorübergehenden medizinischen Dienstleistungen als prakt. Arzt, definitiv der Literatur zu, die seit Paris nicht mehr aus dem Auge verloren war. Teils unter Nachwirkung einer in der Irrenanstalt aufgetretenen gemütischen Depression, die fast ein Jahr anhielt, entstand das lirische Gedichtbuch »Düstre Lieder« (Leipzig 1885), das unter Heineschem Einfluß steht. Durch diese literarische Entlastung wesentlich gehoben und erfrischt, besuchte er noch im gleichen Jahre England, welchem Besuch eine intensive Beschäftigung mit der englischen Sprache und Literatur unter Mrs. Callway vorausgegangen war und woselbst er ein volles Jahr auf dem British Museum sich literarisch beschäftigte. Als Frucht dieses Aufenthaltes entstanden »Londoner Lieder« (Leipzig 1887). Im Herbst 1886, nach vorübergehendem Aufenthalt in Berlin, Rückkehr nach München, 1888 erschien »Legendäres und Fabelhaftes«, Gedichte, zum Teil die Frucht der Beschäftigung mit den altenglischen Balladen. In den folgenden Jahren Erlernung und Studjum der italjenischen Sprache und Literatur unter Sgra Luccioli in München, da intensive Beschäftigung mit fremden Sprachen und literarische Produktzjon als das beste Ableitungsmittel für allerlei psichopatische Anwandlungen sich herausstellte. Wiederholte Reisen nach Italien. Vom Jahre 1890 an erschienen in Folge Bekanntschaft mit M.G. Conrad eine Reihe von teils wissenschaftlichen, teils literarischen und künstlerischen Aufsätzen in der »Gesellschaft«, deren Begründer und Leiter M.G. Conrad war. Im Jahre 1899 waren schon »Dämmerungsstücke«, eine Sammlung fantastischer Novellen, die teilweise unter dem Einfluß des amerikanischen Novellisten Edgar Poe stehen, erschienen. Durch M.G. Conrad in die »Gesellschaft für modernes Leben« in München eingeführt, hielt Pazient daselbst einige Vorträge, unter Anderem »Schenie und Wahnsinn« (München, Pößl 1891), die die Aufmerksamkeit der Behörden, die Feindschaft der ultramontanen Presse: »Sozialdemokraten im Frack« und Remonstrazzionen des Landwehr-Bezirks-Kommandos zur Folge hatten. Von letzterem Kommando zum Austritt aus der »Gesellschaft für modernes Leben« aufgefordert, weigerte sich Pazient und wurde in Folge dessen aus einem Militär-Verhältnis, in dem er inzwischen zum Assistenzarzt I. Classe vorgerückt war, mit »schlichtem Abschied« entlassen.

Ein Aufsatz des Pazienten »Das Verbrechen in Tavistock Square« (eine englische Erinnerung) im »Sammelbuch der Münchner Moderne« (München, Plößl, 1891) führte zu einer Erhebung der gerichtlichen Anklage wegen »Vergehens gegen die Sittlichkeit«, die aber von der Strafkammer des Amtsgerichts München I eingestellt wurde. Im Jahre 1892 erschien ein Tragi-Humoristikum »aus dem Tagebuch eines Hundes«, illustriert von Choberg in Leipzig. Im folgenden Jahr »Visjonen«, eine Novellensammlung, wieder zum Teil im fantastischen Stil und Auffassung Edgar Poe's. 1893 erschien »Die unbefleckte Empfängnis der Päpste« (Zürich, Schabelitz), ein in anscheinend serjösestem Stil durchgeführter teologischer Versuch, das von Pius IX. im Jahr 1894 proklamierte Dogma der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria auf die Päpste auszudehnen mit allen embriologischen, antropologischen und teologischen Konsequenzen, die Pazient nach dem Titelblatt aus dem Spanischen übersetzt hatte. Diese Schrift wurde in Folge Denunzjation in Stuttgart gerichtlich beschlagnahmt und im sogen. objectiven Verfahren für das ganze Deutsche Reich verboten. Heftige Kritiken von Seite der katolischen wie protestantischen kirchlichen Presse sowie öffentliche Warnungen vor Ankauf schlossen sich an. Im Jahre 1894 erschien »Der teutsche Michel und der römische Papst« mit Vorwort von M.G. Conrad, worin die gravamina Deutschlands gegen Rom in Tesenform tendenzjös, aber auf Grund geschichtlicher Nachricht und unter ausgiebiger Quellenangabe, zusammengefaßt waren. Dieses Werk wurde 1895 ebenfalls in objectivem Verfahren, d.h. nach Ablauf der zur Erhebung der Anklage und strafrechtlichen Verfolgung abgelaufenen Zeit, beschlagnahmt. 1894 erschien außerdem »die Himmelstragödie das Liebeskonzil« (Zürich, Schabeliz), in dem, unter Benützung eines Ulrich von Hutten'schen Zitats, das Erscheinen der Sifilis in Italien zu Ende des XV. Jahrhunderts, als in Folge des lasterhaften Treibens am päpstlichen Hofe unter Alexander VI. erfolgt, in Form eines mittelalterlichen Misterjums unter moderner Beleuchtung durchgeführt ward. Dieses Buchdrama brachte den Pazienten im Frühjahr 1895 vor die (!) Münchner Asisen, wo er nach § 166 R.-Str.-G.-B. zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt wurde, ein Urteil, das bald darauf das Reichsgericht in Leipzig bestätigte. Patient verbüßte seine Strafe im Gefängnis zu Amberg, woselbst auf nachträgliche Geltendmachung des Einwurfs des Verteidigers auf Geisteskrankheit (ohne Befragen des Gefangenen) eine summarische Untersuchung desselben quoad psychen intactam erfolgte – »Sind Sie geisteskrank?« – »Nein.« –, die zu einem negativen Resultat führte. Nach verbüßter Strafe verabschiedete sich Pazient von München mit der kleinen Broschüre »Abschied von München« (Zürich 1896), die Beschlagnahmung und steckbriefliche Verfolgung des inzwischen nach Zürich übersiedelten Verfassers zur Folge hatte. Noch im gleichen Herbst veröffentlichte Pazient die sittengeschichtliche Studje »Die bayrischen Haberfeldtreiben« (Berlin, G. Fischer), in welcher auf Wunsch des ängstlich gewordenen Verlegers einige Stellen des Textes wie auch einige Verse der im Original mitgeteilten »Haberer-Protokolle«, die wenige Jahre vorher vom Pazienten in einem Aufsatz der »Neuen Rundschau« (im gleichen Verlage) anstandslos veröffentlicht worden waren, durch Punkte in dem bereits druckfertigen Saz ersetzt wurden.

Pazient hatte inzwischen das bayrische Indigenat aufgegeben, in der Absicht, nach zweijährigem Aufenthalt in Zürich das schweizerische Bürgerrecht zu erwerben. Im folgenden Jahre gründete Pazjent, da nun auch Schabeliz in Zürich Schwierigkeiten machte, seinen eigenen Verlag unter dem Titel der gleichzeitig gegründeten Zeitschrift »Züricher Diskussionen« und veröffentlichte die im Gefängnis zu Amberg entstandenen »Dialoge im Geiste Huttens«, in denen die Besprechung öffentlicher Zustände in dem frischen und unschenirten Stil der Streitschriften zu Beginn des XVI. Jahrhunderts versucht ward. Im folgenden Frühjahr 1898 schrieb Pazjent die politische Satire »Psichopatia criminalis« (Zürich, Verlag Zür. Diskussionen) über die Verfolgungswut der deutschen Staatsanwälte, unter Aufstellung einer eigenen politischen Geisteskrankheit, die das deutsche Publikum ergriffen habe, persiflirt ward. (Falsche Satzstellung!) Ihr folgte das auf rein historische(n!) Studjen aufgebaute Drama »Nero« (Zürich 1898). Im gleichen Spätherbst wurde Pazjent angeblich wegen Verkehrs mit einer puella publica, die just das 15. Jahr erreicht hatte – in der Schweiz ist der geschlechtliche Verkehr mit Mädchen unter 15 Jahren unter Strafe gestellt, außerdem war durch Volksbeschluß die Duldung der Prostituzzion im Kanton Zürich aufgehoben – polizeilich ausgewiesen, als »Schmutziges Subject« in schweizerischen Blättern gebrandmarkt, und ihm auf der Züricher Polizei-Direktion auf erhobene Beschwerde gleichzeitig eröfnet, daß mit dieser Ausweisung aus dem Kanton Zürich seine Ausweisung aus der gesammten Schweiz identisch sei. Pazjent antwortete auf diesen Gewaltakt in der nächsten Nummer der Züricher Diskussionen unter ofner, rückhaltlosester Aufdeckung des Sachverhalts, der die eigene Person und ihren begangenen Fehl ohne Weiteres blosstellte, gleichzeitig aber auf die höchste Stelle in Berlin hinwies, deren Einflußnahme Pazjent bei dem ganzen Verfahren verspürt zu haben glaubte. In Paris, wohin Pazjent inzwischen verzogen war, wurden die Züricher Diskussionen trotz ihres jetzt widersprechenden lokalen Titels in verschärfter Tonart, besonders auf politischem Gebiet, fortgesetzt, und um Weihnachten des folgenden Jahres erfolgte als Frucht zurückgezogensten Lebens und unter Verwertung der frischesten, besten und unmittelbarsten Eindrücke der französischen Hauptstadt, die Gedichtsammlung »Parisjana«, in der der persönliche Widersacher des Verfassers, Wilhelm II., zum öffentlichen Feind der Menschheit und ihrer Kultur hingestellt, und wobei Gedankenfolge und Ausdrucksform an Schärfe bis zur äußersten ästhetisch läßigen Grenze ausgenützt wurden, Die Schrift wurde, wie vorausgesehen, in Deutschland beschlagnahmt, gegen den Verfasser erneuter Steckbrief erlassen, gleichzeitig aber, was nicht vorauszusehen war, das in Deutschland hypotekarisch festgelegte Vermögen desselben unter der geschraubtesten Motivierung – derselbe habe die Flucht ergriffen – konfiszirt. Pazjent sah sich nach einjährigem Ausharren in der peinlichsten Lage gezwungen, sich demjenigen Gerichte, welches den Steckbrief erlassen, München, auszuliefern – April 1901 – wurde hier in Haft genommen, nach 4 Monaten zufolge Beschlußes der Strafkammer auf 6 Wochen in die oberbairische Kreis-Irrenanstalt behufs Untersuchung seines Geisteszustandes übergeführt, und dann in einigen Wochen nach Rücklieferung ins Gefängnis ohne jede Bekanntgabe eines gerichtlichen Beschlußes in Freiheit gesetzt. Nach Zeitungsnotizen und einer mündlichen, nicht weiter kontrollirbaren Aussage des I. Staatsanwaltes am Amtsgerichte München I, Freiherrn von Sartor, an eine Privatperson war das Verfahren gegen den Pazienten zufolge Gutachtens des Oberarztes der Münchner Kreis-Irrenanstalt Dr. Ungemach wegen Geisteskrankheit eingestellt worden. Pazjent veröffentlichte, nach Paris zurückgekehrt, noch einige Nummern Züricher Diskussionen (bis Nr. 32) und stellte dann, seit November 1901, zwar nicht seine schriftstellerische, aber, mangels eines Druckers, seine publizistische Tätigkeit ein. – Im November 1903 begannen gegen den Pazjenten, der in absolutester Zurückgezogenheit lebte, eine Reihe von Schikanen, die bei der Umfänglichkeit der Qurazjonen (quere-la?) auf das Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Detektivs schließen ließen. Und da das französische Gouvernement dem Pazjenten, wenn nicht sichtliches Wolwollen, in keinem Fall irgendwelche Feindseligkeit bewiesen hatte, so konnte nur an ausländische Detektivs gedacht werden, respective an eine im Ausland gegebene ordre, durch an Ort und Stelle geworbene französische Privat-Detektivs dem Pazjenten das Leben in Paris zu verleiden. Da derselbe, wie bereits erwähnt, seit 2 Jahren nichts mehr publiziert hatte, so mußte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß von anderer Seite, die den Ansichten des Pazjenten mehr weniger (!) freundlich gegenüber stand, dessen Manuscripte heimlich überwacht, vielleicht kopirt und, soweit sie den Ansichten der neuen Partei entsprachen, schließlich publizirt wurden, am Ende gar unter Benützung von Titel, Firma, Druck und Papier der eingegangenen Züricher Diskussionen. Nur so waren die neuen Feindseligkeiten gegen den Pazjenten, den man an gewisser Stelle jedenfalls für den Autor und verantwortlichen Herausgeber der suponirten Publikatzionen hielt, zu erklären. Denn daß die 2 Jahre vorher in München erfolgte Irren-Erklärung für ernst zu nehmen sei – so daß jedwelcher, freundlich oder feindlich ihm gegenüberstehende politische Partei sich gehütet hätte, sich um dessen Manuscripte zu bemühen – daran dachte Pazjent um so weniger, als auch in seiner Umgebung weder Franzosen noch Ausländer im Entferntesten daran dachten, ihn nicht für völlig geistig gesund zu erachten. Die Schikanen aber bestanden im Wesentlichen, unter Umgehung von Kleinigkeiten, wie Auslöschen des Herdfeuers, Verstopfung des Kamins, Abschneiden des Wassers, Beschädigung der Wohnungsschlösser (!!) in rafinirten, auf peinlichste Verletzung des Nervensistems berechneten Pfeifereien, Molestirungen mit allen möglichen die Gehörsnerven empfindlichst treffenden Instrumenten, die teils von einem Haus vis-à-vis in der rue des Abbesses, teils auf der Straße, ja sogar stellenweise im Wald von Montmorency, wohin Pazjent regelmäßig jeden Sonntag sich begab, auf denselben einwirkten. Daß es sich hier um keine Gehörstäuschungen handelte, ergab der einfache Umstand, daß das Pfeifen in dem Augenblick verstummte, in dem Pazjent die Ohren zuhielt, was sicher nicht der Fall gewesen wäre, wenn dasselbe zerebralen Ursprungs gewesen wäre. Auch wurden jene Pfeifereien, die Pazjent als gegen sich gerichtet ansah, später in München, wo dieselben fortdauerten, von einwurfsfreien Zeugen, Ludwig Scharf und Comtesse zu Reventlow, bestätigt und nur hinsichtlich ihrer Bedeutung einigemale in Zweifel gezogen. Aber in Betreff dieser letzteren war an eine Misdeutung nach 3/4jährigem Dulden und Ausharren kaum noch zu denken. – Neben diesen mit voller Zielsicherheit ausgeführten Angriffen schien eine kleinere, weniger gefährliche, sicher nur in unmittelbarster Umgebung und in untergeordneten Händen von Concierges oder femmes de chambre sich abspielende Operation zu gehen (Satzbildung!) – eine Operation, der wol kein alternder Junggeselle entgeht – die der Verheiratung des Pazjenten. Sobald derselbe die Bewegung erkannte, fertigte er die lokalen Klatschbasen kurz ab und schrieb dann gelegentlich seiner in München lebenden Mutter, deren Verbindung mit gewissen Pariser Kreisen immerhin nicht ganz unmöglich war, daß bei der derzeitigen finanziellen Lage ihres Sohnes an eine Verehelichung gar nicht zu denken, derselbe auch weder Lust noch Zeit zu einer Ehe habe, am allerwenigsten, sollten die mitgeteilten Pfeifereien und sonstigen Schikanen am Ende mit diesem Projekt in Verbindung stehen, was ihm fast unmöglich erscheine, derselbe sich durch solch infame Mittel zur Wahl einer Ehegesponsin werde zwingen lassen. Auf dies hin erloschen die Eheintriguen, während die andern Molestirungen ihren Fortgang nahmen. Da die ersteren später in München, und zwar in groteskester und skurrilster Form wieder ans Tageslicht traten, so darf nicht übergangen werden, daß Pazjent die schwerwiegendsten Gründe gegen Eingehung einer Ehe aus Schonungs- und Schicklichkeitsgründen im Briefe an seine Mutter verschwiegen hatte. Die immerhin nicht gering zu nehmende Belastung von mütterlicher Seite, die noch immer manifeste Lues in Form einer gemma an der tibia dextra würden es heute, wo man gesetzlich den Geisteskranken, Ftisikern und Sifilitischen das Eingehen der Ehe zu verbieten vorgeschlagen hat, als ein Verbrechen, gar von Seite eines Arztes, erscheinen lassen, frivoler Weise eine dekrepite Descendez zu erzeugen. Es kommt hinzu, daß Pazjent zur Ausübung seiner literarischen Tätigkeit den weitaus größten Teil des Tages in absolutester Einsamkeit und Abgeschlossenheit, bei guter Witterung auf ausgedehnten einsamen Spaziergängen, verbringen muß, Gewohnheiten, die sich immerhin mit einer Ehe nicht vertragen. Und sollten selbst die Produkte dieses literarischen Schaffens vom Publikum und Kritik geringst angeschlagen werden, für den Pazjenten sind sie nicht der Ausdruck einer Laune oder einer Willkür, sondern absolute Notwendigkeit behufs Entlastung des Gehirns. Er muß also den sicheren Weg gehen und behufs Aufrechterhaltung des psichischen Gleichgewichts im alten, erprobten Geleise weiter schreiten, und nicht Fantasmen nachjagen, die andern vielleicht höchst zweckmäßig, dem, den es angeht, aber als eine Gefährdung seiner Gesundheit erscheinen.

Nach mehr denn halbjähriger Fortdauer der oben geschilderten Molestirungen, die den Pazjenten schließlich auf seine Wohnung konzentrirten und mitten im Sommer auf die so notwendige Bewegung in frischer Luft verzichten ließen, entschloß sich derselbe, nachdem durch die intensive Beschäftigung mit wißenschaftlichen Arbeiten nicht die nötige Ablenkung erzielten, ziemlich plötzlich zur Abreise, und verlies am 23. Juni mit dem Abend-Schnellzug vom Lyoner Bahnhof aus Paris und kam über Dijon am folgenden Mittag in Lausanne (Schweiz) an. Zu seiner größten Verwunderung waren auch in Lausanne die Pfeifereien, wenn auch nicht entfernt in dem Mase, zu vernehmen. Es ergab sich daraus der zwingende Schluß, daß Paris nicht der einzige Herd der Feindseligkeit gegen den Pazjenten war. Was nun der eigentliche Grund dieser Manifestazionen war, blieb demselben verborgen. Derselbe erholte sich am Genfer See und in den umliegenden Wäldern, woselbst er, im Gegensatz zu Paris, niemals belästigt wurde, wesentlich, reiste aber nach 8 Tagen, da der Versuch, eine bescheidene Landwohnung zu finden, fehlschlug, über Bern, Zürich, Lindau nach München ab. Da hier ebenfalls die Molestirungen begannen, so präsentirte sich derselbe in der Kreisirrenanstalt München mit der Bitte um Aufnahme, um sich und Andern den Beweis zu liefern, daß er sich in seiner Auffassung, daß es sich um äußere, planmäßige Feindseligkeiten gegen seine Person handle, nicht getäuscht habe; wurde aber angeblich wegen Ueberfüllung abgewiesen. Er lies sich von Direktor Vokke bereden, in die Privat-Irrenanstalt Neu-Friedenheim einzutreten. Doch führte die Erkenntnis, daß er hier in nicht mißzuverstehender Weise schikanirt wurde, zu einer scharfen Auseinandersetzung mit dem Direktor Dr. Rehm, im Verlauf welcher der letztere den Pazjenten aufforderte, die Anstalt zu verlassen. Pazjent mietete sich darauf in der Feilitzschstraße 59/II. rechts in einem bescheidenen Zimmer ein, abwartend, was kommen werde. Während des nun folgenden 1/4 Jahres, Juli bis Oktober, mied Pazjent vollständig die Stadt, ging fleißig im Engl. Garten und den umliegenden Gebieten spazieren, besuchte mit Eintritt der ungünstigen Jahreszeit am Vormittag die Staatsbibliothek, hielt sich aber in Uebrigen vollständig reservirt und pasiv, unter Erkenntnis, daß ein Wechsel seiner äußeren Situazzion nur durch seine Gegner, wie von ihm selbst, (?) herbeigeführt werden könne. Seine auf der Reise und in München entstandenen literarischen Arbeiten in Prosa wie gebundener Form, die nicht wenig umfangreich sind, würden, wenn Pazjent sich nicht sehr täuscht, bei keinem literarischen oder psichjatrischen Sachverständigen die Meinung krankhafter Expektorazjonen hervorrufen. Eine Verschärfung der Lage war insofern eingetreten, als jetzt im Gegensatz zu Lausanne und selbst zu Paris, auch Nachts schwere Belästigungen durch weittragende Pfeifen und Flöten metallischen Charakters und intensivster Beleidigug des Gehörorgans erfolgten. Nachdem schon in Paris einmal, einmal in Lausanne und einmal in Neufriedenheim Selbstmordneigung aufgetreten, (!) erfolgte am 9. Oktober in einem raptus von Verzweiflung und Hofnungslosigkeit (!) nach rascher Niederschrift eines Testaments der Beginn der Ausführung einer Selbstmord-Absicht durch Erhängen an einer einsam gelegenen Stelle des englischen Gartens. Doch Mutlosigkeit lies im letzten Moment den entscheidenden Sprung von dem bereits erkletterten Baum mislingen und mit tiefster Beschämung kehrte Pazjent, der 24 Stunden keine Nahrung zu sich genommen, in seine Wohnung zurück. Am 19. October griff Pazjent zu einem letzten im Verhältnis zu dem bereits voraufgegangenen, lächerlich dummen, aber vielleicht in seinen Konsequenzen doch wirksamen Mittel. Nachdem er an diesem Tag bereits sechsmal auf seinem Weg in die Staatsbibliothek und dann auf seinem einsamen Spaziergang durch Oberföhring und Umgebung, in nicht miszudeutender Weise angepfiffen worden war, ging er nach Hause, kleidete sich bis aufs Hemd aus, benutzte die milde Witterung und lief Nachmittag um 5 Uhr im Hemd durch die Sterneck-Maria-Josefa-Straße in die Leopoldstraße, in der Absicht, abgefaßt und auf Geisteskrankheit verdächtig in eine öffentliche Anstalt gebracht und dort von Sachverständigen untersucht zu werden: so das erreichend, was er 3 Monate vorher in der oberbairischen Kreisirrenanstalt vergeblich erstrebt hatte. Der Coup gelang. Ergriffen und in ein nächstes Haus geführt, gab er dem herbeieilenden Schendarm einen falschen Namen, Ludwig Fromman, Stenograf aus Würzburg, an. Es wurde ein Sanitätswagen requirirt und Pazjent auf die Polizei gebracht, wo derselbe nach kurzem Examen durch den Herrn Bezirksarzt, auf die Irrenstation des städtischen Krankenhauses I/J überführt wurde

Oskar Panizza, 17. November 1904

 

Erzählungen

Das Wachsfigurenkabinet

Pour bien connaître les choses divines d'une religion, il faut se les figurer dans une forme tout-à- fait humaine.

(Um die göttlichen Dinge einer Religion richtig zu erkennen, muss man sie sich in einer ganz menschlichen Form vorstellen.)

Renan

Abendmahl

Es war im alten Nürnberg. Ich war auf der Reise und hatte etwas Eile. Wir mochten um Anfang Oktober sein. Auf dem Marktplatz war ein großer Jahrmarkt aufgeschlagen, oder »Dult«, wie dort die Leute sagen. Es war schon gegen Abend und bei der vorgerückten Jahreszeit schon etwas dunkel. Trotzdem war der Verkehr zwischen den Buden noch ein ziemlich reger. Nach Abschluß meiner Geschäfte führte mich mein Weg über den Marktplatz, und ich war eben im Begriffe nach Hause zu gehen, als ich auf einer der Schaubuden, vor der im Gegensatz zu allen anderen zu meiner Verwunderung kein Ausschreier stand, die Überschrift las: »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi.« – Ich bin von Haus aus allen religiös-theatralischen Vorstellungen abgeneigt, und ich wollte mich mit Abscheu von der Idee abwenden, einen so heiligen Stoff mitten in diesem Jahrmarkts-Getriebe fest, plastisch oder beweglich, mit Draht- Puppen, gemalt, geformt, geschnitzt oder gar tragiert dargestellt zu sehen. Gleich drauf kamen aber in meinem Kopf Schlagwörter wie »Nürnberg,« – »Spielwaren,« – »Puppen,« – »Figuren auf Lebkuchen« zum Vorschein. Ich erinnerte mich des großen Rufes, den die Nürnberger Arbeiten der Art genießen, und mehr aus Interesse für den mechanischen Apparat, mehr aus Neugier für die Marionetten-Künste kehrte ich um und schritt auf die Bude zu. – »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi« – las ich noch einmal auf der gemalten Überschrift.

Nur einzelne Leute standen vor der sehr primitiv gehaltenen Barake. Und diese gafften, wie das so Usus ist. Der Preis schien mir etwas höher als bei den andern künstlerischen Veranstaltungen. Ich trat ein. Ein segeltuch – überspannter, mit Lampen etwas düster beleuchteter Raum, in dem sich ein Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts und aus allen Ständen des Volkes befand. »Sie kommen gerade recht«, – sprach mich der Budenbesitzer, der ein Sachse war, an – »soeben beginnt die Vorstellung.« Im Hintergrund der Bude, wohin Alles erwartungsvoll blickte, befand sich ein erhöhtes Gerüst, eine Art Bühne, die aber geschlossen war. Doch sah man an den durchschimmernden Lampen, daß sich dort etwas vorbereite. Und eben, als der Budenbesitzer die obigen Worte gesprochen hatte, ging der Vorhang auf, und Alles drängte nun vor bis zur Rampe.

Auf einer Estrade, die einige Fuß über dem Erdboden erhaben, und ringsum mit Soffiten-Werk entsprechend verkleidet war, befand sich eine große Gruppe dunkler, steifer Gestalten, sitzend, bunt gekleidet, zum Teil mit höchst pathetischem Gesichtsausdruck, aber regungslos, die einen schief, die andern gerad, die dritten buckelig, glotzend, stierend, lächelnd, entrüstet, vor Wehmut zerfließend, wie es gerade der Moment oder der Schauspiel-Part erheischte, an einem Tisch zusammen vereinigt. Es war kein Zweifel, es sollte das die Abendmahlszene vorstellen. Das Arrangement war das wie auf dem bekannten Bilde von Leonardo da Vinci: Eine nach vorn offene, weiß gedeckte Tafel; die Brüche im Tischtuch von der Büglerin stark prononciert, damit das Tafeltuch als unzweifelhaft neu erscheint, wodurch der Begriff des Feierlichen erhöht wird. Die ganze hintere Front gegen den Zuschauer zu mit Jüngern und Christus in der Mitte dicht gepfropft besetzt, aber doch so, daß auf den zwei schmalen Seitenkanten noch zwei bis vier Jünger Platz nehmen, die ja das Publikum noch immer von der Seite sehen kann, und, damit auch die Tafel nicht zu lang werde. Meistens nimmt man zwei untergeordnete Apostel, den Bartholomäus oder jüngeren Jakobus, für diese Seitenkanten, da ja das Hauptinteresse sich doch der Mitte zuwendet, wo Christus sitzt; und gewöhnlich begnügt man sich ein paar gut-profilierte Köpfe, die in nicht zu schreienden Kaftanen stecken, hier an die Enden des Tisches zu placieren, damit das Publikum hier zwar einen wohlthuenden Abschluß finde, aber ja nicht mit der Aufmerksamkeit abgelenkt werde.

Es ist klar, daß die späteren Apostel Paulus und Matthäus hier bei der Einsetzung des Abendmahls noch keine Verwendung finden können. Denn Paulus ist eigentlich Extraordinarius, hat mit der Zwölf-Zahl gar nichts zu thun, und hat so zu sagen auf eigene Verantwortung die Apostelgeschäfte ausgeübt, und Matthäus wurde an Stelle des später ausgeschiedenen Judas Ischariot gewählt. Dieser letztere ist aber hier noch von der größten Wichtigkeit, und wird, wie der Leser bald sehen wird, eine imposante, eine imponierende, Alles elektrisierende Rolle spielen. Die ganze Gesellschaft war durch sechs am Boden durch ein Brett gegen das Publikum hin gedeckte Lampen aufs grellste beleuchtet. In der Mitte Christus mit einer fein gearbeiteten, blonden Perrücke; er hat die größte Ähnlichkeit mit einem englischen Lord, wie man sie bei uns auf dem Theater in komischen Stücken darstellt; nur ganz bartlos; die gleiche blasierte Langweile auf dem regungslosen Gesicht; man erwartet jeden Moment, daß er den Mund zum Gähnen öffnet; der Blick, regungslos blau den Beschauer anstarrend, hat etwas Lammfrommes, Trauriges, Kindlich-Unbewußtes; der bleiche, glatte Unterkiefer ragt etwas zu weit vor, und fordert zu Vergleichen mit Repräsentanten aus dem Tierreich auf; der Wachsguß ist etwas zu fettig ausgefallen; man meint Christus schwitze Fett, was nicht zur Heiligkeit beiträgt. Vor ihm auf einem zinnernen Teller liegt ein Karpfe aus dem Bach Kidron; auf dem Tisch verteilt stehen in Glasschaalen Brode und einige Äpfel mit auffallend roten Backen. Christus streckt mit brünstiger Geberde die beiden lang-gefalteten Hände über den Fisch aus; doch ist es offenbar, er kann zu keiner Verteilung der Speisen, oder zu einem Brechen der Brode schreiten, denn beide Hände sind vorn an den Fingerspitzen zusammengepappt. – Das Publikum und ich waren beschäftigt, die einzelnen Gruppen und Persönlichkeiten in der Weise durchzumustern: und es herrschte eine lautlose Stille, als der Budenbesitzer plötzlich mit weinerlich-sächsischem Pathos laut die Worte in's Publikum rief: »Wahrlich, ich sage Euch, Einer unter Euch wird mich verraten!« – Nun ist es klar, daß diese Worte als aus dem Mund Christi hervorgehend gedacht waren. Sei es nun, daß der Sprach-Mechanismus dieser Hauptfigur nicht in Ordnung, oder durch vieljährigen Gebrauch ausgelaufen, oder daß er ihn gar niemals besessen, in jedem Falle konnte Christus die ihm zukommenden Worte nicht sprechen; er bekräftigte aber das eben Gehörte durch ein eigentümliches, norddeutsch klingendes und etwas schnarrendes »Nja!« –

Dieses »Nja« war so sonderbar prononciert, daß ich es dem Leser etwas analysieren muß: zuerst kam ein schnurrendes Geräusch, dann hob sich die Oberlippe und zeigte zwei Reihen vortrefflich eingesetzter Zähne fest aufeinandergebissen; da die Holzpfeife, welche das schnurrende Geräusch hervorbrachte, ziemlich dicht hinter den Kiefern saß, so wurde der Ton jetzt bei geöffneten Lippen heller, hatte aber gleichzeitig einen gaumigen, holzigen Clarinettentimbre, der übrigens, wie ich glaube, beabsichtigt war; nun sprang der Unterkiefer auf, die Mundhöhle wurde sichtbar; die gleiche Feder, die dies bewirkte, mußte auch noch ein anderes Register öffnen, denn im gleichen Moment, und direkt anschließend an das schnurrende »N«, sprang ein helles, tönendes, frisches »ja!« heraus, welches insofern vortrefflich konstruiert war, als jetzt der Mund durch das etwas Offen-bleiben der Lippen einen zufriedenen, heiteren Ausdruck annahm, was doch mit dem bejahenden Charakter der Partikel »Ja!« durchaus im Einklang steht. – Nun kommen aber die Fehler hintennachgehinkt: Nachdem die Kiefer sich wieder geschlossen, blieb die Oberlippe viel zu lang oben, da Lippe und Kiefer getrennte Mechanismen hatten; die obere Zahnreihe mit ihren breiten, wie mit dem Meißel abgehackten Zähnen, gab dem ganzen Gesicht etwas peinlich Lustiges, etwas Lachendes; und als endlich die Oberlippe sich langsam herabsenkte, bekam der Mund einen solchen Ausdruck des Müden, des plötzlich Erstarrenden, Leichenähnlichen, wie ihn der Künstler gewiß nicht beabsichtigt hatte.

Gleichzeitig mit dem »Nja!« aber begann Christus Kopf und Arme ruckweise in die Höhe zu heben und die wächsernen Hände wie segnend über den Karpfen vor ihm auszustrecken. Dann sank er wieder zu der halb geknickten und resignierten Positur, die er anfangs eingenommen hatte, herab. Dieser Aktus hatte eine vehemente Wirkung auf das Publikum. An der veränderten Atmungsweise aus dem Dutzend oder wie viel Leute, die wir beisammen waren, konnte man dies deutlich abnehmen. Das blaue Christus-Auge, welches bei etwas veränderter Kopfstellung nun aus einer schrecklich breiten, wächsernen Apathie herausstarrte, blieb fast gerade mir gegenüber stehen und schaute mich an. Kinn, der rechts im Guß zusammengeflossene rote Mund, Nase und die massigen Fleischteile waren zweifellos auf größere Entfernung berechnet; aber wie schön war dieses blaue Auge! Wenn der Blick des wirklichen Heilandes nur halb so innig war, dann mußte er alle Frauen Jerusalems in dem Maße entzücken, daß sie nach Hause zu ihren Männern liefen, und unter Androhung der Entziehung aller weiblichen Gnadenmittel erklärten, ein Mensch mit so schönen blauen Augen dürfe nicht hingerichtet werden. – Der Budenbesitzer hatte nach den schwerwiegenden, Christi Mund entnommenen Worten: »Einer unter Euch wird mich verraten!« offenbar dem Publikum Zeit gelassen sich zu orientieren. Er mußte aber auch warten, bis der Sinn dieser Worte in die Wachsköpfe der Jünger eingedrungen war. Und dieß schien nun wirklich der Fall gewesen zu sein. Denn als der artistische Leiter, ich meine der Budenbesitzer, noch einmal mit kräftigem Dresdener Dialekt, eindringlich, und mit echt protestantischer Verve betont hatte:

»Wahrlich, ich sage Euch, Einer unter Euch wird mich verraten!« – und Christus wieder mit zerschmelzendem Rythmus das breite Lords-Gesicht erhoben, die prachtvoll-weißen Hände über den Fisch ausgestreckt, und ein klingendes »Nja!« herausgestoßen, begann sofort eine wächsern-glänzige Revolution unter den Jüngern. Jakobus (der Ältere) und Andreas, ersterer in einem schottisch-karrirten Überwurf, die beide an der, vom Publikum aus betrachtet, linken äußersten Tischecke einander zugewandt saßen, und von denen der letztere bis dahin konstant in die rechte Soffite, Jakobus dagegen auf eine vor ihm stehende Schaale mit roten Äpfeln geblickt hatte, begannen nun beide mit bedenklicher Miene die Köpfe hin und her, von den Jüngern zum Publikum und vom Publikum wieder zu den Jüngern, zu drehen, als wollten sie sagen: »Das ist ganz unmöglich! Diese Geschichte mit dem »»Verraten«« ist ganz unmöglich; wirklich ganz unmöglich!« – Einige Leute im Publikum fröstelnd getroffen von den schwarz lackierten Augen des Jakobus (des Älteren), räuspern verlegen und schauen vorsichtig um, ob sich der Verräter unter den Zuschauern befinde. Die ruhelos schnurrenden Köpfe der beiden Jünger bleiben schließlich dicht einander gegenüber stehen, und durchbohren sich gegenseitig mit glänzigstarrenden Blicken, als röchen sie mit den Augen gegenseitig auseinander heraus, wer von ihnen heute noch »den Herrn« verraten werde.

Zweifellos war auf der andern Seite des Tisches eine ähnliche Serie von Entrüstungen vor sich gegangen, ohne daß ich sie beobachten konnte; ich schloß dies daraus, daß die oben schon genannten Bartholomäus und jüngerer Jakobus, von denen der letztere einen gelbseidenen Kaftan an hatte, und die zu Anfang ruhig und gelassen dort saßen, nun mit Händen und Oberkörper zum Tisch hineingelümmelt waren, und trotzig und wie herausfordernd zu Christus hinüberschauten. Der artistische Arrangeur hatte hier offenbar ein große Schwierigkeit zu überwinden und wäre durch diese Gruppe beinahe zu Fall gekommen. Zum Glück hatte der jüngere Jakobus, der eine von den beiden etwas ungeschlachten Jüngern, die hohlgemachte Hand am Ohr, so daß man sah, er horchte, und, was ihre wulstigen, dicken Lippen frugen, war etwa: »Was ist da gesagt worden von »»Verraten««? Haben wir recht gehört? Wer verraten? Wie verraten? – Beim »»Verraten«« müssen wir bitten, unsere Namen auszuschließen!« – Eine sehr gute Geste hatte sich Matthäus einstudiert, der als späterer Evangelienschreiber seinen Platz gleich links vom »Herrn« hatte, und der mit der rechten Hand immer in bestimmten Pausen an die Stirne fuhr, als besänne er sich, ob denn ein ähnlicher Verdacht früher schon ausgesprochen worden sei, im Üebrigen aber in der maßvollen Zurückweisung desselben mit seinen Genossen gleichen Sinnes war. Daß Thomas, der später durch seinen Unglauben soviel Aufsehen gemacht, und der wiederum links von Matthäus saß, ungläubig sein Haupt – nun schon seit fünf Minuten – schüttelte, war vom Mechaniker dieser Gruppe zu erwarten gewesen, und da in diesem Falle der Akteur – Thomas – von jedem Übertreiben sich fern hielt, also beim Schütteln auf der Höhe der Exkursion nicht jeweilig mit dem Blick das Ohr seines Nachbarn zur Rechten oder Linken (dort saß Philippus) streifte, so war sein ewiges Verneinen durchaus im Rahmen des Protestes der Andern.

In all dieser fleißigen Bewegung, diesem Fragen, Besinnen, Kopfschütteln, Entrüstet-Thun ec. war aber Christus, dieser schöne Mann in der Mitte, vollständig apathisch, und so zu sagen stocksteif; er kümmerte sich nicht im Geringsten um die Vorgänge um ihn, sondern blickte ruhig auf seinen Fisch. –

Nun aber ging es auf der linken Seite wieder mit verstärkter Vehemenz los. Petrus, ein Mann in den Sechziger, mit grauem, spitzig zulaufendem Vollbart und resoluten Gesichtszügen, der, zur Linken von seinem Bruder Andreas placiert, die ganze Zeit mit verdutztem Kopfe dortgesessen war, wurde plötzlich lebendig, hob den Kopf gegen das Publikum, zog ein mit Silber-Papier überzogenes, sensenartiges Messer hervor, und fuhr mit kopfabschneidenden, kräftigen Bewegungen hoch über seinem Haupt etwa fünf bis sechs mal hin und her, wobei der dicht neben ihm (in der Richtung zu Christus zu) sitzende Judas Ischariot eine deutliche, ruckartige Bewegung machte und an seinen Hals langte, während im Publikum tiefe, Entsetzen verratende Atemzüge hörbar wurden, und ein Zuschauer zu meiner Linken, wie ich sah, seinen Rockkragen hinaufschlug. In der That, diese energische Handlung Petrus' machte den besten Eindruck; wie überhaupt auf dieser linken Seite (rechts vom »Herrn«), wo außer den schon genannten noch der agitatorisch angelegte Simon der Zelote saß (neben Judas), sich, wie man sofort erkannte, die älteren, reiferen und kritik-begabteren Elemente vereinigt hatten; während auf der andern Seite (links vom »Herrn«) man sich mit zweifelsüchtigen Mienen, Mundwinkel-Zucken und Augen-Zwinkern begnügte, aber keine großartig-theatralische Bewegung, Messerführung, oder resolutes Sich in den Bart-Greifen das Vorhandensein eines tiefer angelegten Räderwerks in den betreffenden Geistesmaschinen verriet. Aber weder hier Ruhe und Gleichgültigkeit, noch dort Aufgeregtheit und Petrus mit seinem Blank-Ziehen, vermochten das zu bewirken, was jetzt am allernötigsten gewesen, um die Sache vorwärts zu bringen, nämlich Christus aus seiner Lethargie aufzumuntern, oder ihn zu veranlassen, etwas darüber zu sagen, wer denn eigentlich der »Verräter« sei. – Christus hatte seine langen Hände auf dem Fisch und sein Gesicht war auf die Hände gerichtet und über dem Gesicht hing die prachtvoll- blonde englische Perrücke in unlösbarer Steifheit herunter über Gesicht, Fisch und Hände. – »Einer unter Euch wird mich verraten!« – Diese Worte aus dem Munde des »Herrn« muß ich statt des Budenbesitzers hier noch einmal dem Leser in's Gedächtnis zurückrufen; diese Phrase hat all die Aufregung in dieser wächsernen Gesellschaft hervorgerufen; alles Messer-Ziehen und Sich-an-den-Kopf-langen bezieht sich auf sie; und es wird keine Ruhe unter diesen ehrenwerten Männern eintreten, bis der Verräter bekannt ist. – Als demnach Christus jeden Versuch von Seiten der Apostel, sich näher zu äußern, trotzte, wandte man sich an Johannes, von dem bekannt war, daß er alle Gedanken des »Herrn« wußte. Alle Köpfe wandten sich also jetzt – erst am Tisch und dann im Zuschauerraum – dem rechts neben dem »Herrn« placierten jugendlichen Johannes zu, gleichsam mit der Frage, was er zu der schrecklichen Anklage meine. Dieser Johannes war ein blutjunger, liebenswürdig-schöner Mensch mit vollen Mädchen-Wangen, blauen, unverdorbenen Augen, süßem, rotem Mund, trug ein rosafarbiges, bauschiges Kleid mit weiblichem Schnitt, das mit einem blendendweißen Kragen den jungfräulichen Hals abschloß; eine blonde Lockenfülle, die bis auf den schneeweißen Kragen niederfloß, ergänzte dieses bausbäckige Gesicht zu einer so verführerischen Erscheinung, daß die jungen Mädchen, die sich zu zwei oder drei im Zuschauerraum befanden, flüsternd zusammenrückten und sich mit dem Ellbogen anstießen, auch von diesem Moment an keinen Blick mehr von dem prächtigen jungen Menschen verwandten. Seine geheime Konstruktion erlaubte ihm, die Arme flügelähnlich vom Körper auf und nieder zu heben, und als er dies zum Zeichen der Bejahung, oder der Meinung, daß er an dem Wort des »Herrn« nichts zu ändern habe, etwa fünf bis sechs mal hintereinander mit luftiger Geschwindigkeit that, wurden plötzlich die Mienen aller Apostel bleich und käsig, bleicher fast als Wachs, und die zwei Hineingelümmelten, von denen ich oben sprach, am äußersten Ende des Tisches, Bartholomäus und der jüngere Jakobus, zogen sich von der Tischplatte zurück, wie durch die Geste des jungen Johannes gleichsam vergewissert, daß also wirklich der »Verräter« da sei; der jüngere Jakobus ließ die hohle Hand vom rechten Ohr niedersinken, als habe er genug gehört; Thomas stellte sein ungläubiges Schütteln ein; Matthäus schlug sich nicht mehr mit der Hand vor die Stirn; und auch drüben auf der linken Seite ließen Alle die steifen, teils zur Abwehr, teils staunend und fragend, erhobenen Arme fallen, und eine allgemeine resignierte Abspannung gab sich durch die Reihe der schwergetroffenen Jünger kund.

Nun darf der Leser nicht vergessen, was es für eine Bewandtnis damit hat, daß diese elf Apostel, alles bejahrte, ergraute Männer mit ernsten Gesichtszügen, durch diese kleine, fast flatterhafte Meinungskundgebung des jungen Johannes so im Innersten getroffen wurden. Johannes war eben der erklärte Liebling Jesu, er »lag an der Brust des ›Herrn‹«, wie es im Evangelium von ihm heißt, und wußte dessen Gedanken; Christus muß dem jungen Johannes wiederholt Dinge mitgeteilt haben, von denen die Andern erst viel später Kenntnis erhielten; dies erklärt die apodiktische Sicherheit, mit der jedes Wort und jede Geste von dem letzteren aufgenommen wurde; und dies erklärt auch den Umstand, daß der junge Fant den Ehrenplatz rechts neben Christus einnimmt, und zwar auf einer Seite des Tisches, wo die Charakterköpfe der ältesten und wichtigsten Apostel den größten Gegensatz zu einem Milchgesichte bilden mußten, dessen Gesichtszüge zwar Unschuld aber auch vollständige Unerfahrenheit, verrieten. Denn auf dieser Seite, ihm zunächst, folgte – um noch einmal die Reihe zu nennen – der entflammte Zelot Simon (der Kananiter), dann der verwegene und zielbewußte Judas Ischariot (der, wie das gebildete Publikum wohl größtenteils weiß, der »Verräter« ist); dann der gleich vom Leder ziehende, stets bewaffnete Petrus; dann dessen nicht minder entschlossener Bruder Andreas; und schließlich der mürrisch und finster dreinschauende, jeden falls sorgengequälte ältere Jakobus in seinem schottischen Anzug. Der Kontrast kam noch in anderer Weise zum Ausdruck: während nämlich alle Apostel sich so zu sagen von dem gedeckten Tisch losgelöst hatten, als hätten sie kein Recht mehr an dem heiligen Mahl Teil zu nehmen, und – durch geschickte Machination der unter dem Sitz befindlichen Hauptschraube jedes Einzelnen – mit freiem Oberkörper dort saßen, war Johannes neben Christus der Einzige, der, – wenn der Ausdruck verständlich ist – den Tisch belegt hatte. Aber wie belegt! Denn während Christus in seiner stereotypen Haltung, Hände und Gesicht in unerbittlicher Apathie über den Karpfen gebeugt, nach wie vor verharrte, lag der junge Johannes mit den beiden Armen über die ganze Tischplatte hereingelümmelt, das Kinn am Tischtuch, und die apfelblütigen Wangen hinaus in's Publikum gerichtet, wo er mit seinen naiven Unschuldsaugen ein junges Mädchen anguckte, die zitternd und erregt neben ihrer Mutter stand. Letztere war eine Postoffizials-Witwe, wie ich zufällig wußte, da ich sie draußen zwischen den Buden schon einmal hatte anreden hören. Und sie schien nichts gegen dieses gegenseitige Angucken der jungen Leute zu haben. – Nun will ich gerne zugeben, daß der Künstler den jungen Johannes zu jugendlich, zu läppisch gebildet hatte, vielleicht gerade um dem Publikum die Stelle begreiflich zu machen, in der es von ihm heißt, daß »ihn der »»Herr«« lieb hatte«, – und daß er an der Brust des »Herrn« ruhte, – aber das Alles hindert nicht, daß die alten Apostel von dem jungen Menschen in der unwürdigsten Weise abhingen, auf jedes seiner Worte lauschten, und daß dieses unnatürliche Verhältnis hier in der schroffsten Weise seinen Ausdruck fand. –

Eine bleierne, trübe Stimmung lag nun auf der ganzen Versammlung. Der Heiland impassibel in seiner früheren Haltung. Die Apostel tief in Gedanken versunken. Der junge Johannes mit seinem bausbäckigen Lächeln schien von der ganzen Sache gar nichts zu verstehen. Auch im Publikum war eine gewisse trostlose Gedrücktheit zu bemerken. Ein schallendes »Nja!« entfuhr noch einmal den Lippen des Heilandes, – und zwar diesmal, ohne daß er aufsah, – und schien zum Überfluß noch einmal zu bekräftigen: »So ist's, wie ich gesagt habe. Und da wird Nichts d'ran geändert!« – Für mich war damit, nebenbei bemerkt, entschieden, daß der »Nja« – Mechanismus mit der Bewegung des den Kopf-Aufrichten's, des Fisch-Segen's nichts zu thun hatte. – Nun aber änderte sich plötzlich die Szene: Judas, der während der letzten Minuten sich mit dem schottisch-gekleideten Jakobus, – über den Tisch hinüber, – leise unterhalten hatte, und zweifellos des Englischen mächtig war, war plötzlich aufgesprungen, und indem er mit dem goldgestickten, gefüllten Beutel, den er in der Hand hatte, ein paarmal tüchtig auf den Abendmahls-Tisch einhieb, schrie er: »What's the matter?« dreimal mit so schneidender, inquisitorischer Stimme, daß alle heftig erschraken, und sogar Christus in leise zitternde Bewegung geriet. – »What's the matter? – What's about »»wird mich verraten««? What's the matter?« Dabei warf er den wunderschönen, von schwarzem, hohenpriesterähnlichen Vollbart umrahmten, funkelnden Kopf heftig nach links und rechts, im Vorübergleiten den Heiland fest in's Auge nehmend. Er war ein prächtiger Mann, mit rassigem, scharfgeschnittenem Gesicht; eine kühne Adlernase gab dem ganzen Kopf etwas Siegreiches, Ideelles. Zweifellos war er der Bedeutendste der ganzen Gesellschaft. Von imponierendem Äußern. Gewiß hatte er längst die jede echte Genialität erstickende Gefahr der sanften, unscheinbaren Heilandslehre erkannt, die alle Menschen gleichmachen wollte. Er verband mit der Schärfe des Denkens die Entschlossenheit des Handelns. Und nur das Herz fehlte ihm. Sein Plan der Unschädlichmachung der neuen Lehre war korrekt in Konzeption und Ausführung. (Die paar Silberlinge waren gar kein Gegenstand). Nur vergaß er, daß der blonde Heiland auch zum Sterben bereit sei. Ein süßer Herzenswahnsinn hatte in Letzterem längst Platz gegriffen, als er sich entschloß nach Jerusalem zu reisen. Eine fatalistische Schwelgerei ließ ihn innerlich lächeln über die Spieße und Stangen der Pharisäer, und die Mordtaktik des Judas. Aber dieser, wie gesagt, war ganz korrekt. Er war ein guter Schüler cäsarischer Berechnung und Rücksichtslosigkeit, welche er ja durch die römische Herrschaft täglich vor Augen hatte. Nur vergaß er, daß mit dem Tod Christi nicht Alles vorbei sei. Diesen blutigen Schachzug hatte er aus dem so milden, guten, thränenreichen Antlitz des Heilandes nicht herausgelesen. – Das Publikum konnte nicht umhin seiner Freude über die dramatische Kühnheit des Judas Ausdruck zu geben. Sie waren plötzlich fast Alle auf seiner Seite. Ein angenehmes Grausen über die schroffe Manier des schönen »Verräters« überkam Alle. Besonders die Weiber waren entzückt. Viele fanden den schwarzen Schnurrbart göttlich. Nur ein altes Weib neben mir, mit einer Zahnlücke auf der rechten Seite, pfiff und zischte aus dieser Lücke so vehement heraus, daß man ihr die Entrüstung anmerkte, ohne hinzusehen. Sie war jedenfalls bibelfest. – Vielleicht Protestantin. –

Judas trug prächtige Kleidung. Offenbar standen ihm bedeutende, hohepriesterliche Mittel zu Gebote. Die dreißig Silberlinge kamen nicht in Betracht. Schon der scharlachrote Überwurf, der mit goldnen, sich ringelnden Schlänglein bestickt war, konnte um diese Summe nicht hergestellt werden. Wie zur Sänftigung war das Untergewand aus merlinfarbenen matten Pers hergestellt. Der Kopf drehte sich vorzüglich. Er machte immer eine ganze halbe Wendung, vom Heiland hinüber zum Andreas, ohne das Publikum zu würdigen. – Die Direktion wußte, daß dieser Moment das Publikum auf's tiefste errege, und ließ zu Gunsten des Bekleidungsfonds für die Apostel einen Teller herumgehen.

Pause

Während der Sachse mit dem Teller herum ging, fiel zu meiner größten Ueberraschung der Vorhang plötzlich über die Abend-Mahl-Szene. Auf den Moment, wo Christus Judas den Bissen reicht, schien also der Verfertiger der Gruppe, wohl wegen der großen mechanischen Schwierigkeiten, Verzicht geleistet zu haben. »Sogleich beginnt der zweite Akt!« rief der Budenbesitzer mit lauter Stimme jenem Teil des Publikums zu, welches sich nach Fallen des Vorhangs etwas in den Hintergrund des Zuschauer-Raums zurückgezogen. Er war wohl besorgt, es möchten Einige das Theater verlassen. Offenbar wurde noch einmal gesammelt. Ich suchte durch ein etwas größeres Geldstück die Aufmerksamkeit des Teller-Trägers auf mich zu lenken, da ich verschiedene Fragen zu stellen hatte. Auf der Bühne verdunkelten sich jetzt die Lampen und aus dem Rumoren und Poltern merkte man, es werde eine neue Szene aufgeschlagen. – »Sie haben da vortreffliche Figuren!« sprach ich den Sachsen an, der im Zuschauer-Raum die Herrschaft führte. »»Ja, – meinte er, – seit wir den neuen Christus haben, geht es besser.«« – »Hatten Sie früher einen andern Christus?« – »»Ja, – der war geschnitzt, – aber ganz schlecht, – und schon ganz schwarz; – der nahm sich unter den schönen Wachsköpfen wie der Teufel aus; – wir haben ihn verkauft.«« – »Allerdings, der neue Christus ist vortrefflich.« – »»Oh, ich sag' Ihnen, der ist so schön, so sanft, – wissen Sie, das blonde Haar, das blaue Auge, – ich sag' Ihnen, die Leute haben oft geweint.«« – »Spricht er denn nicht die Worte: Wahrlich, ich sage Euch... ec.?« – »»Nein, der hat nie gesprochen, das käm' zu teuer; das »Ja!«, welches er spricht, haben wir hier in Nürnberg erst machen lassen, das kostet uns allein über achtzig Gulden.«« – »Dieses »Nja!« scheint aber selbst wieder sehr kompliziert zu sein?« – »»Ja, es hat zwei Pfeifen und ein Schnarr-Register.«« – »Sagen Sie ein mal: Warum spricht der Judas englisch?« – »»Den haben wir von einer englischen Truppe gekauft.«« – »Ja, aber gerade die inhaltsschweren Worte, die er zu reden hat, die versteht ja kein Mensch!« – »»Oh, das macht nichts; im Gegenteil, es wirkt ungeheuer; die Leute sind ganz paff; – diesen Judas gäben wir für keinen andern her, – nicht einmal für einen hannoveran'schen, – der ist unsere beste Figur!«« – »Was ist das, ein »hannoveranischer Judas«?« – »»Pst!«« machte der Sachse und deutete auf den Vorhang, der sich soeben erhoben hatte.

Kreuztragung

Eine weite kahle Heide. Auf dem Boden hie und da etwas buschiges Gras, dessen breite, prachtvoll grüne Halme, wie mir schien, in Schweinfurter-Grün getaucht und mit Silber-Puder bestreut waren. Keine Seele auf der weiten Fläche. Ob dieses Feld in der Nähe von Jerusalem war, ob der Zug nach Golgatha hier vorüber mußte, ob voraussprengende römische Kriegsknechte jeden Moment zu erwarten waren, oder ob es das Stelldichein einer friedlichen Szene werden würde, ob die schöne Magdalena hier vor dem Publikum ihre blonden Flechten auseinanderwickeln werde, um sie mit ihren Thränen zu waschen, – das Alles wußte kein Mensch, da ja im Vorausgehenden die Direktion bewiesen hatte, daß sie sich unmöglich, weder in der Aufeinanderfolge der Scene, noch in den Einzelheiten des jeweilig Dargestellten, wortgetreu an den Text der synoptischen Evangelien halten könne. Aber Stimmung machte schon diese weite, grünumflossene Ebene, die von den acht Lampen hinter der Verschaalung grell beleuchtet wurde. – Und plötzlich näherte sich aus der rechten Koulisse eine große Maschine, deren Schatten die Soffiten-Beleuchtung zu früh auf der hinteren Szenen-Wand zu Gesicht brachte. Man wußte noch nicht, was es war. Es schien nur ein kolossales Ding. Jetzt kam es näher. Und plötzlich erschien ein Balken, der hinunter ging; dann kam ein Balken der hinaufging; dann die Vereinigung der beiden Balken; und dann ein Kopf. Ein wachsbleicher Kopf mit wunderschönen blonden Haaren, die auf dem Scheitel geteilt waren. Es war wieder der weiße Lord. Es war Christus, der in ein großes bauschiges, helles Gewand gehüllt, unter dem Kreuz zusammengeknickt, auf der Szene vorüberzog. Doch bewegte er die Füße nicht. Im Gegenteil, alles war starr und steif. Und dieses vermehrte noch das Eindrucksvolle. Offenbar wurde durch einen Bühnen-Einschnitt über die ganze Breite der Bühne hin die im Souterrain genügend befestigte Figur hindurchgezogen. Der Rücken war wohl gekrümmt, und überhaupt die ganze Gestalt so tragisch und gebrechlich wie möglich hingestellt; trotzdem war der Kopf in einer ganzen Viertelsdrehung nach links zum Publikum hinaus gedreht, und außerdem noch so weit zur Schulter hinauf gehoben, daß die Augen fast wagerecht zu liegen kamen; und schaute nun so mit gespenstig-bleichen, wie erstarrten, wie bei einer andern milden Gelegenheit gefrornen Gesichtszügen, aus denen jeder Schmerz und jede Anstrengung gewichen war, direkt aus der Bühne heraus; eine Kombination von Pose und Affekt, die in der Natur gar nicht möglich wäre, die aber hier die kolossalste Wirkung hervorbrachte. Es war nicht derselbe Christuskopf wie beim Abendmahl. Der dort war englischer, breitkiefrig, fleischig und die Perrücke glatt gestriegelt. Der hier war idealer, deutscher, etwas hohlwangig, ein feinfühliges Kinn, und wunderschöne blonde Locken flossen auf die Schulter hernieder. Langsam, starr, lautlos und stete zog dies gepeinigte Christusbild wie eine Vision quer über die Bühne. Es war jetzt beiläufig in der Mitte. Der Sachse sprach kein Wort. Dies war auch gar nicht nötig. Jedermann, das kleinste Kind, wer nur aus dem Publikum jemals einen Schulkursus in deutschen Landen mitgemacht hatte, oder einmal ein Bild von einem Franziskaner-Pater geschenkt bekommen hatte, der wußte, das ist Christus unter dem Kreuz. Dieser stumme Religions-Unterricht hatte die ungeheuerlichste Wirkung unter den Zuschauern, und setzte sich in ihrer Fantasie wie eine gewaltige Macht fest. Und ich war froh, als der weiße Mann endlich zwei Drittel der Bühne zurückgelegt hatte. Denn auf Momente hatte ich die Empfindung, das vor Entrüstung fassungslose Publikum möchte hinausstürmen und irgend Einen zwischen den Buden ergreifen und als »Verräter« halb totgeschlagen hereinschleppen. Denn was das blonde bleiche Antlitz da droben nicht sprechen konnte, das sprach wie mit Stentorstimme im Gewissen des Publikums: »Wer hat das angerichtet? Wer ist Schuld an dieser Marter? Wer ist der Teufel, der es zu verantworten hat, daß dieser wunderbare Mensch da droben so leidet?« – Wie es bei Vorüberführen von so fest-gegossenen Bildnissen geht, die Augen schauen, in welcher Stellung auch immer, stets den Beschauer an. Und als der Heiland sich der linken Soffite näherte, schauten seine wasserhellen, blauen Augen mit einem schmerzlichen, vorwurfsvollen Ausdruck zurück in's Publikum, als sprächen sie »Folge mir nach!« so daß einzelne Mädchen entsetzt von der äußersten Rampe, bis zu welcher das Publikum vorgehen konnte, zurückwichen. Und in der Fantasie eines solchen, der leichter entzündbarer ist, als Andere, mochte jetzt der Gedanke entstehen, es könnte Einer von dem zurückschauenden Blick des Heilands verwirrt und seiner Umgebung vergessen, mit einem einzigen Satz über Rampe und Lichter hinweg auf die Bühne springen, um zerknirscht dem bleichen, wächsernen Bild zu Füßen zu sinken. Aber Gott sei Dank, Alles blieb still, wie durch ein Blei-Gewicht in der Brust hingefesselt, starr, fasziniert. – Jetzt war die lichtumflutete, gewaltige Erscheinung dicht bis an die linke Soffite gekommen. Eine Verzögerung schien zu entstehen. Das Bild machte Halt. Hinter ihm nach folgte, wie eine schwarze Schlange, der riesige Kreuz-Balken. Aber vorn schienen die kleinen Balken-Enden, die über die Schulter hereinhingen, nicht zur Soffite hineinzukönnen. Das Bild schwankte jetzt hin und her. Der Sachse ging vor und schaute in die Soffite. Nur jetzt keine Katastrophe, – dachte ich mir, – und Menschen, die diese weiße Gestalt bis in ihr spätestes Alter mit sich in der Fantasie herumschleppen werden, noch ein Ärgernis bereiten. – Doch jetzt ging's wieder vorwärts. Noch ein einziger, langer, blauer Blick über die ganze Versammlung, und das blonde Haupt verschwand hinter der Soffite, und der Vorhang fiel. – Ein einziger großer Atemzug im ganzen Publikum löste die Anwesenden wie von einem lange ertragenen Alp. »Zum Besten des Maschinisten!« – sagte der Sachse, und ließ einen Teller herumgehen.

Pause

Während noch Alles still dastand, Einige flüsterten, Niemand aber die feierliche Stille zu unterbrechen wagte, hörte man plötzlich von hinter der Bühne her einen schallenden Klatsch und gleich drauf in norddeutschem Dialekt an Jemanden zornig die Frage gerichtet: »Wie können Se man so dämlich sein und Christus an die Wandverkleidung anrennen lassen?« – Obwohl diese barbarische Unterbrechung, welche mit einem Schlag das ganze Komödiantenwesen aufdeckte, die feierliche Stimmung in's Gegenteil zu verkehren geeignet war, so zeigte sich doch im Publikum keine Neigung auf die Komik des Vorgangs einzugehen. Die Macht der weißen Christus-Erscheinung, die mit ihren hellen kolossalen Umrissen in der Fantasie nachzitterte, war doch stärker wie diese Lappalie. Nur der Sachse lachte verstohlen in seinen Teller hinein. Er kannte offenbar den Schlingel, der die Christusfigur im letzten Moment ihres Verschwindens, als sie in's Wanken kam, schlecht dirigierte, oder die Soffite nicht richtig gestellt hatte. – »Sie scheinen stark auf die Nerven Ihres Publikums zu rechnen!« – sagte ich zum Sachsen, als er zum Einsammeln zu mir kam, indem ich durch eine Silbermünze seine Aufmerksamkeit mir auf's Neue zu sichern suchte. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich, daß seine Ernte an Geldstücken eine ganz überraschend reiche war. – »»Wir müssen darauf halten, – antwortete er, – mit dem Entrée könnten wir knapp die Platzmiete bezahlen!«« – »Sind während der letzten Nummer noch keine Unfälle vorgekommen?« frug ich weiter. – »»Manche bekommen ihre hinfallende Krankheit, – aber in England thut man ja noch vielmehr!«« – »?« – »»Die englischen Figuren sind viel derber und ungenierter; – sie hauen auf den Tisch und machen sich Fäuste, als wollten sie boxen; – einen englischen Christus habe ich gesehen, der Ihnen wunderschönes Blut schwitzte; – und die Truppe, von der wir den Jakobus in dem schottischen Kleid haben, brachte eine Nummer vor der Kreuzigung, in der sich Judas in einem Obstgarten an einem verdorrten Baum erhängt, – aber da, sage ich Ihnen, da fliegen die Sovereigns, und der Strick wird in zehn bis fünfzehn Teile geteilt, und für 'ne Christuslocke wird fünf Pfund geboten!«« – »In Deutschland ist dies Alles wohl verboten?« – »»Ach, die Behörden haben ja gar kein Verständnis für diese Dinge; bei uns steckt noch Alles in den Kinderschuhen, nur unsere Köpfe sind besser.«« – Diese Unterredung wurde halblaut zwischen uns geführt, und ich wollte mich nur noch betreffs des »hannoveranischen Judas« erkundigen, als hinter der Bühne ein Zeichen gegeben wurde, womit sich der Sachse entfernte, und alsogleich ging der Vorhang auf.

Golgatha