Schriften zur Psychologie - Oskar Panizza - E-Book

Schriften zur Psychologie E-Book

Oskar Panizza

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Beschreibung

Diese Sammlung wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. Oskar Panizza (1853-1921) war ein deutscher Schriftsteller, Satiriker und Publizist. Neben der schriftstellerischen Arbeit hielt ab 1891 Vorträge, darunter das weitgehend von Cesare Lombroso abgeschriebene, dennoch diesen kritisierende Referat Genie und Wahnsinn, einen Aufsatz über Realismus und Pietismus und über Die Minnehöfe des Mittelalters. Fünf Monate vor der Veröffentlichung des Liebeskonzils hatte Panizza in einem Aufsatz über "Volkspsychologie" formuliert, "daß eine erlittene Gefängnisstrafe für eine ideell verteidigte Sache fast der Garantieschein für Popularität in der Masse" sei. Konsequent versuchte er in dieser kurzen Frist, aus der öffentlichen Aufmerksamkeit Nutzen zu ziehen und veröffentlichte im Juli die Schrift Meine Verteidigung in Sachen das "Liebeskonzil". In die Zeit zwischen Prozess und Haftstrafe fällt die einzige philosophische Veröffentlichung Panizzas: Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit. Oskar Panizza adaptierte darin die Philosophie Max Stirners und kritisierte vehement eine einseitig naturwissenschaftliche Sicht auf die Psyche des Menschen. Die Psichopatia criminalis ist deutlich von den anarchistischen und antimonarchistischen Grundhaltungen geprägt, die Panizza während der Haft in Amberg entwickelt und die sich in den Zürcher Exilantenkreisen noch verstärkt hatten. Inhalt: Genie und Wahnsinn Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit Meine Verteidigung in Sachen "Das Liebeskonzil" Psichopatia criminalis Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung

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Oskar Panizza

Schriften zur Psychologie: Genie und Wahnsinn, Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit, Psichopatia criminalis, Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung & mehr

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Inhaltsverzeichnis

Genie und Wahnsinn
Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit
Meine Verteidigung in Sachen »Das Liebeskonzil«
Psichopatia Criminalis
Christus in psicho-patologischer Beleuchtung

Genie und Wahnsinn

Inhaltsverzeichnis

Verehrte Anwesende! Die Pathologie der Seele behauptet gegenwärtig, wie Sie alle wissen, eine hervorragende Stelle in der dramatischen wie erzählenden Literatur. Ich brauche Sie nur an die am letzten öffentlichen Abend hier zum Vortrag gekommene Novelle »Der Muttermörder« von Ola Hansson zu erinnern, oder den Namen Ibsen zu nennen. Der Hauptsatz, der durch all' diese Literatur-Erzeugnisse geht, ist, der Mensch muß so handeln, wie er handelt, auf Grund seiner Vererbung, oder, wenn diese Vererbung eine ungünstige ist, auf Grund seiner Belastung. Die Entdeckung und Ausnützung dieses Satzes war für die Belletristik ein Ereignis allerersten Ranges. Schon das enorme Strafmaterial gab auf Jahre hinaus Stoff für Beschäftigung. – Doch darf nicht vergessen werden, daß die Behauptung von dem Handelnmüssen des Menschen, die heute in der Gesellschaft eine brennende geworden, in Gerichtssälen und Irren-Anstalten längst entschieden und sozusagen zur Ruhe gekommen ist. Schon Anfangs der siebziger Jahre hat Benedict, – um von Gall nicht zu reden, – in seinen »Verbrecher-Gehirne« nicht nur die Meinung ausgesprochen, sondern den Beweis gewagt, daß krankhafte Handlungen auf Grund eines pathologisch veränderten Organs bestehen können, und damit »eine bis über ferne Zonen und Zeiten ausgehende Bewegung« prophezeit. Heute weiß jeder Richter, daß Menschen, besonders Verbrecher, unter Umständen Zwangshandlungen begehen; und kein Schuldig! dürfte heute gesprochen werden, ohne daß der psychiatrische Sachverständige reichlich zu Rathe gezogen. – Hier sind also Juristen und Aerzte einmal der divinatorischen Begabung der Dichter zuvorgekommen. Dieß hindert nicht, daß jetzt, wo die gebildeten Massen von diesem interessanten Problem ergriffen sind, eine nochmalige Durchseiung aller einschlägigen Fragen, stattfinden wird. Und jedenfalls mit großem Nutzen.

Bei dieser Sachlage werden Sie es vielleicht nicht ungünstig aufnehmen, wenn wir heute Abend eine andere Menschen-Classe zum Gegenstand einer Besprechung machen wollen, von der ebenfalls von jeher behauptet worden, daß sie bei Hervorbringung ihrer Werke unter dem höheren Zwang eines Müssens stehn; womit sie natürlich, ebensogut wie der Verbrecher, in das Bereich des Krankseins kamen; und da es sich hier um seelische Vorgänge handelt, in das Bereich der Seelenkrankheit, des Wahnsinns, – nämlich die Genies. Das Genie also, die Art seiner seelischen Verfassung und seine Verwandtschaft zu den Seelen-Erkrankungen, soll uns heute Abend beschäftigen.

Unter Genie hat man zu verschiedenen Zeiten recht Verschiedenes verstanden. Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts gab es eine Zeit der sog. Kraftgenialität, oder der Ur-Genies. Jeder, der mit einiger Keckheit die neuen Forderungen des damaligen Menschheits-Ideals sich zu eigen machte, und mit einer gewissen Verve vortrug, wurde Genie genannt. In Julian Schmidt's Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland findet sich u.a. auf die damalige Zeit angewendet, der Satz: »Eine Reihe munterer Gesellen oder Genies schlossen sich in Frankfurt an den Dichter des »Götz« an ....«. Aehnlich wie später zur Zeit Vogt's und Büchner's jeder junge Mann, der das Bedürfnis fühlte, sich über die Massen zu erheben, damit anfing, sich als »Freigeist« zu erklären, so war damals das emancipirende Wort für die Vorwärts-Strebenden: Genie. Und ich glaube es war Herder, der sich einmal diese bedenkliche Kameradschaft mit den Worten vom Leibe hielt: »Wer mich ein Genie nennt, dem gebe ich eine Ohrfeige.« –

Inzwischen hat die Psychologie den Begriff des Genialen ziemlich eingeengt. Schon immer war man darüber einig, daß die geniale Hervorbringung eine spontane Thätigkeit der Phantasie, des Anschauungsvermögens sei, im Gegensatz zum Intellekt; und da man Anschauungsvermögen im vorigen Jahrhundert zu den sogenannten »unteren Seelenkräften« rechnete, so definirte folgerichtig schon Adelung Genie als »eine vorzügliche Entwickelung der unteren Seelenkräfte.« (»Ueber den deutschen Stil« 1785). Kant sagt, das eigentliche Feld für das Genie ist die Einbildungskraft, weil diese allein schöpferisch (»Anthropologie«). Sehr eingehend spricht sich Schopenhauer über das Genie aus. Er sagt: Die eigentliche Arbeit des Genies geschieht ganz spontan; das innere Erfassen eines Kunstwerks von Seite des Genies ist unabhängig vom Willen; diesem sogar entgegengesetzt; also kein Akt der Willkür; sondern außer unserem Belieben; es ist eine starke Erregung der anschauenden Gehirnthätigkeit; das Talent erfaßt seinen Stoff mit freier Willensthätigkeit; es denkt sicherer, rascher und richtiger als die Andern; das Genie hingegen schaut in eine andere Welt als sie Alle. (»Welt als Wille und Vorstellung«). Jürgen Mayer sagt: das Talent kennt sich selbst; es weiß, warum es zu einer bestimmten Ansicht kommt; das Genie wird sich nie darüber klar; es folgt einem unwiderstehlichen Impuls; nichts Unberechenbareres und Willkürlicheres als eine geniale Idee! (»Genie und Talent«). Maudsley und Eduard von Hartmann glauben, daß die geniale Conception zunächst unbewußt erfolgt und dann plötzlich vor das erstaunte Auge ihres Besitzers tritt. (»Physiology and Pathology of the Mind.« – »Philosophie des Unbewußten«). Jean Paul vergleicht den Moment der Eingebung direkt mit dem somnambülen Zustand. (»Vorschule der Aesthetik«). Und Humboldt sagt: »In dem einzigen Moment, da die Phantasie des Künstlers das Bild in sich geboren, ist das Meisterwerk vollendet, selbst wenn seine Hand in diesem Augenblick erstarrte. Die wirkliche Darstellung ist nur ein Nachhall jenes entscheidenden Moments.« – Aus all diesen Aeußerungen sehen Sie, daß das Eintreten des genialen Augenblicks als etwas Neues, Plötzliches und Fremdartiges aufgefaßt wird, und als etwas vom gewöhnlichen Denken grundsätzlich Verschiedenes. Der geniale Einfall ist ein freiwillig geleistetes Geschenk der betreffenden Geistesanlage, an ihren eigenen Besitzer, unvermittelt, unerwartet, zufällig, wie von außen kommend, so daß der Betreffende selbst überrascht ist. Schon der alte Ausdruck Inspiration vom lateinischen inspirare, einhauchen, deutet an, daß Genies früherer Zeiten ihre Ideen als etwas von außen an sie Kommendes ansahen. Bei allen alten Völkern galt die Dichtkunst als eine Eingebung der Gottheit. Und nicht zufällig ist es, daß der Ausdruck Genius sowohl ein Genie, als einen geflügelten Abgesandten aus dem Jenseits bedeutet. Auch später, als die Verbindung der Dichtkunst mit einem sie verleihenden göttlichen Wesen mehr weniger fallen gelassen wurde, nannten sich die ältesten Dichter des Abendlandes, die Provencalen, Trovatore, Troubadour, vom ital. Trovare, finden, also Finder. Der Begriff finden deutet wiederum an, daß der Gegenstand außerhalb ihres Geistes liegt. – In unseren Tagen haben sich Psychologie und Philosophie im Allgemeinen dahin geeinigt, daß man sagt: der geniale Einfall wird durch Intuition, durch das geistige Anschauungsvermögen, geboren, und ist eine freiwillige, unberechenbare Leistung der betreffenden Geistes-Anlage; während das Talent mehr deductiv arbeitet, durch bewußte Zielrichtung zu seinen Ideen kommt, und seinen Erfolg seinem Fleiß und seiner Anstrengung verdankt. Seit wir wissen, daß ein Teil unserer Vorstellungen unbewußt ablaufen kann, ist der plötzliche Einbruch des genialen Einfalls leichter zu erklären: Nach einer Reihe unbewußter Vorstellungs-Akte tritt mit einemmal der geniale Gedanke bewußt zur Erscheinung, und der Betreffende ist über die Herkunft selbst im Zweifel und nennt es Einfall; das Wort Einfall, von außen hereinfallen, verlegt ja auch die Quelle des Ereignisses nach außen. Dieß ist die eine Erklärungsmethode. Oder es handelt sich beim Genie um das, was man Doppelpersönlichkeit nennt: Unter geringerem oder größerem Einschlafen des Bewußtseins, des Willens, tritt die Einbildungskraft, ähnlich wie im Traum, in volle Wirksamkeit. Und die genialen Einfälle kommen dann mit der Fremdartigkeit von Traumbildern heran. Aber mit dem Unterschied, daß, während der Träumende machtlos ist, das Genie seine traumartig einfallenden Regungen kritisiren, und mit dem Willen ordnen kann. Hier trifft Jean Paul's Vergleich des genialen Menschen im Moment der Inspiration mit einem Somnambulen, vollständig zu. Eine große Anzahl bedeutender Männer scheinen nach ihren Biographien zu bestimmten Zeiten wie Schlafwandelnde gehandelt zu haben. Von Beethoven ist es bekannt, daß er auf seinen Spaziergängen durch Wien oft plötzlich auf der Straße stehen blieb; oft mitten auf dem Fahrdamm; aus seinem ganzen Aeußeren sah man, daß er unter dem Eindruck einer starken inneren Erregung stand; seine Augen glänzten, und gingen, wie bei einem Menschen, der von einem starken Affekt beherrscht wird, irrlichterirend hin und her; er sah dann gar nichts, was sich um ihn ereignete; hörte keine Rufe, auszuweichen u. dergl; wohl aber zog er gelegentlich Papier und Bleistift hervor, die er stets zu diesem Zwecke bei sich trug, machte einige Noten-Notizen, und setzte dann, ruhig und wieder normal geworden, seinen Weg fort. – Also das autochthone Auftreten eines Phantasiebildes oder eines Gedankens ist Bedingung für geniale Begabung. Versuchen wir an einem Beispiel hier in diesem Saal das zu illustriren, was wir im Auge haben: Nehmen Sie an, hier in diesem Saale nähmen Temperatur und Hitze-Grade plötzlich in gefahrdrohender Weise überhand; durch irgend ein elementares Ereignis, wie Platzen eines Heiz-Rohres, nähme die Athmosphäre innerhalb kurzer Zeit einen Charakter an, ähnlich wie in jenem »schwarzen Loch« in Calcutta, wo bei dem großen indischen Aufstande mehrere hundert englische Männer und Frauen von den Aufständischen eingeschlossen in einem engen Raum nur durch den Abschluß der äußeren Luft erstickten; lassen Sie mich auch die Bedingungen in soweit construiren, daß als einziger Ausgang jene große Mittelthüre existirte, die aber, nach innen aufgehend, durch die hinausdrängende Menschenmenge blockirt, nicht geöffnet werden könnte; und nehmen Sie an, im Moment der höchsten Gefahr, nähme Jemand sein Bierkrügl und würfe damit eine jener großen, hochgelegenen, bis an die Saaldecke reichenden Glasscheiben ein, und rettet so, mit dem Eindringen der frischen Außenluft, die Situation, – so wäre das ein genialer Einfall; unter der Bedingung, daß dieser Wurf nicht das Resultat einer in der allgemeinen Verwirrung unmöglichen Discussion, sondern, daß der Betreffende das Bild des gegen die Fensterscheibe fliegenden Krügls, das Splittern der getroffenen Scheibe, das wirbelnde Hereinstürzen der kalten Luft, die starrenden Splitter rings um die entstandene Oeffnung in rascher Reihenfolge vor seinem inneren Aug vorüberziehen sähe, und, wie von einem plötzlichen Impuls gepackt, das Gesehene ausführte. – Nehmen Sie dagegen an, der Wirt, oder sonst Jemand, der mit den Verhältnissen vertraut wäre, ginge in der Absicht, die Menge von der blockirten Mittelthür wegzulocken, auf eine kleine Nebenthür los, die, der Bedingung gemäß verschlossen sein müßte, aber mit dem Ruf: Hier ist ein Ausgang! und brächte durch diese Finte die Leute von der Mittelthür weg, die nun geöffnet werden könnte, so wäre das mehr das Vorgehen eines schlauen, Geistesgegenwart besitzenden, talentirten Kopfes. Das Talent weiß von Haus aus, was es will und sucht nach Mitteln; das Genie weiß außer einer beängstigenden Stimmung nicht, was es will, sieht aber plötzlich die Lösung in einem fertigen Bilde vor sich. – Die aus Zeus' Haupt gewappnet hervorspringende Pallas Athene, mit Schild und Speer, bereit zum Kampf, ist ein glückliches Symbol für das Eintreffen der genialen Idee. Und Archimedes, der plötzlich von der Lösung eines mathemathischen Problems überrascht, aus dem Bad, springt und unbekleidet mit dem Ruf Heureka! Ich hab's gefunden! durch die Straßen Syrakus' eilt, ist ein glückliches Urbild für die spontane Leistung eines genialen Kopfes. – Die geniale Begabung ist, nach der psychologischen Definition, die wir oben gegeben haben, natürlich nicht auf Jene beschränkt, die wir in bewunderndem Sinn, gern allein Genie nennen möchten: auf große Dichter, Künstler, Gelehrte und dergl. Jeder, jede Sparte, jedes Geschlecht kann von dem genialen Funken durchzittert werden: Im vorigen Jahrhundert wurde die Bank von England auf eine unerhörte und höchst merkwürdige Weise bestohlen. Dieses festeste und sicherste Gebäude der Erde, welches ohne Fenster, nur ein großes Mauerquadrat darstellt, glückte einem findigen Kopfe, dadurch anzugreifen, daß er einige hundert Schritt entfernt ein unscheinbares Haus kaufte, und von dem Keller aus, mit monatelanger Arbeit einen Tunnel grub bis unter das Niveau des Bankgebäudes. In einer Nacht nahm er dann die letzte Schicht weg, und beraubte das Institut um einen ansehnlichen Betrag. – Oder nehmen Sie Meyer Anselm Rothschild, der Begründer des Vermögens dieses großen Geldhauses, der nach der Schlacht von Waterloo sich mit Lebensgefahr auf einem Schifferboot über den Kanal rudern läßt, in London die tiefgesunkenen Papiere aufkauft, um nach Eintreffen der Siegesnachricht die ungeheure Differenz einzuziehen! – Und halten Sie damit zusammen jene andere phantastische Reise, die Swift seinen Capitän zu den Liliputanern machen läßt, so dürfte es zweifelhaft sein, welcher dieser drei Operationen der Preis höchster Originalität zukommt. Was weiß die Natur von unsern Schemas und meskinen Einteilungen!? Was weiß sie von unserem Unterscheiden von nützlichen und schädlichen Genies!? Was kümmert es sie, daß wir heute die Schläfe eines Dichters bekränzen, und morgen einem Verbrecher den Kopf abschlagen!? Sie nährt Rose und Schierling mit gleicher Liebe an ihrem Busen. Sie wirft heute Diesem, morgen Jenem den zündenden Funken eines genialen Impulses in die Brust. – Doch bleiben wir bei den Rosen, und bei den angenehm duftenden Blüten der Menschheit!

Die Entscheidung darüber, was genial und was nicht, hat natürlich nicht der Betreffende, nicht der Künstler, sondern der Beschauer des Kunstwerks. Ein gewisser Instinkt sagt uns in vielen Fällen, daß der Künstler nur einen einzigen, plötzlichen Griff in seine Phantasie tat, daß das Kunstwerk, namentlich die erste Skizze, nur eine Momentaufnahme einer glücklichen Constellation seines Seelenlebens gab. Nehmen Sie z.B. einen Gabriel Max. Wer nur einigermaßen geübt ist im Beschauen und Beurteilen von Werken der darstellenden Kunst, wird zu dem Schluß kommen, daß, was Max oft in seinen Bildern bietet, nur die Augenblickserschütterung seines Gemütes war. Aehnliches gilt von den z.Z. ausgestellten Werken Klinger's. Diese Dinge sind zum Teil zu absonderlich, um längere Zeit in der Seele eines Künstlers zu wohnen. Nehmen Sie dagegen Werke, wie die eines Vautier, oder eines Menzel. Hier haben wir mehr den Eindruck, daß der Vorwurf zuerst mit dem Verstand erfaßt, dann mit Liebe ausgeheckt, ergrübelt, gepflegt, durch nachgehendes Naturstudium gefördert und endlich mit unermüdlichem Fleiß ausgeführt worden. Dort war mehr unser Gemüt erschüttert. Hier ist es unser Verstand, der den Zoll der Bewunderung rückhaltslos entrichtet. Jene waren mehr Poeten, denen der Zufall den Stift oder den Pinsel in die Hand gedrückt; der Quell ihres Schaffens liegt weit hinter ihrem Auge; ist das Resultat einer bestimmten Seelen-Anlage; und der Impuls, die Explosion ist oft so heftig, daß die Hand nicht nachkommen kann; und lieber wird die Form vernachlässigt, als ein Teil der Vision preisgegeben. – Diese dagegen sind die eigentlichen Künstler; in ihrem Auge, das sie nur zum Stift befähigte, liegt der Schwerpunkt ihres Schaffens; ihr Gemüt darf nichts mitsprechen beim künstlerischen Hervorbringen und scheint arm zu sein; um so reicher ist ihr unerschöpfbarer Fond an Naturbeobachtung; der Vorwurf ist oft klein und nebensächlich; die Form ist bis in's kleinste Detail und meisterhaft ausgearbeitet. – Ich habe hier mit Absicht nur erste Namen genannt, um gleich den Irrtum zu zerstreuen, als wäre Ingenium mehr als Talent, oder ersteres gar eine Steigerung des letzteren. Genie und Talent sind nicht graduell verschieden. Es sind zwei verschiedene Species, die nichts mit einander zu thun haben. Sie sind verschieden wie zwei Waffengattungen. So wenig man sagen kann, Artillerie ist mehr als Infanterie, so wenig darf man sagen, Genie ist mehr als Talent. Jede dieser geistigen Kampfesmethoden operirt für sich. Wer jeweilig der glücklichere ist, und den Sieg erringt, hängt von den Umständen ab. Das Genie kommt schwer, oft nie zur Anerkennung; das Talent findet leichtere Aufnahme. Nehmen Sie beispielsweise den belgischen Maler Wiertz, dessen unverkäufliche Werke zuletzt in einem eigenen Museum in Brüssel vereinigt wurden, wo sie heute noch eine große Sehenswürdigkeit bilden. Hier ist zweifellos ein Ingenium. Aber die Art der Darstellung, ebenso wie die Wahl der Stoffe, ist so ungeheuerlich, so absurd und fernabliegend, daß die Welt sie nicht goutirt hat. Oder nehmen Sie Jean Paul. Hier haben wir einen bis zur Verrücktheit originellen Künstler. Zu seiner Zeit mit Anerkennung überschüttet, und Goethen und Schillern gleichgestellt, ist er heute fast ungenießbar, und, wie es scheint, für die große Volksmasse definitiv verloren. Oder nehmen Sie Rabelais; einen originellen Kopf, wenn es je einen gegeben hat; aber heimisch ist er in Frankreich nie geworden; und jeder Versuch ihn dem Publikum nahe zu bringen ist ebenso mißlungen, wie, ihn in die Literaturgeschichte einzuschlichten; er steht einsam und verlassen. – Bei dieser Gelegenheit werden Sie es mir gewiß erlauben, einige Worte über unser großes Dioscuren-Paar Goethe und Schiller zu sagen: Schiller und Goethe in einem Athemzug kurzweg als »Genies« zu bezeichnen, halte ich für einen Schlendrian im Denken wie im Reden. Wenn Einer von ihnen ein Genie war, dann war es der Andere gewiß nicht. Denn eine so grundlegende, bis zur Wurzel gehende Verschiedenheit, wie diese zwei Geistesgrößen, ist wohl kaum denkbar. Es ist eine Armut der Sprache, zwei solche Menschen unter einen Begriff subsumiren zu müssen. Wenn aber Einer von Beiden ein Genie war, dann war es gewiß Schiller. Dieser junge Mensch mit seinem mageren Gesicht, dem kecken fast rücksichtslosen Profil, den eingefallenen Wangen, dem fliegenden Athem, und jenem fabelhaften geistigen Elan, wie ihn so viele Lungenkranke aufweisen, war, wenn irgend Jemand, ein Ingenium bis zur letzten Haarzwiebel. Ich appellire an Ihre Empfindung beim Lesen der »Räuber«. Ein kühneres Werk hat vielleicht keine Literatur der Welt zu verzeichnen. Nur ein Jüngling, dessen Geist in Flammen war, konnte so Etwas concipiren. In diesem Jugendwerk finden Sie Stellen, die an eine Türe anklopfen, an die gewöhnliche Menschen, auch Talente, selbst Goethe, nie hinkommen. – Nehmen Sie dagegen Goethe's »Werther«; ein Werk, das gewiß, ich will nicht sagen geeignet, aber werth ist, an den »Räubern« gemessen zu werden. Wer wollte zweifeln, daß die Tragik der Empfindung uns Thränen auspreßt? Daß wir erschüttert und gereinigt von dannen gehen? Aber schließlich sind es doch nur irdische Verhältnisse. Es ist eine Liebesaffaire, wie sie wo anders auch vorkommt. Nur mit ungeheurer Meisterschaft vorgeführt. Der zeitgenössische Kritiker La Harpe sagte damals, als die Franzosen den großen Erfolg des »Werther« in Deutschland nicht begreifen konnten: Es sei natürlich, eine gut erzählte Liebesgeschichte sei in dem betreffenden Land ihrer tiefen Wirkung auf die Gemüter immer gewiß; Aehnliches hätten sie bei sich zu Hause auch; z.B. Manon Lescant. – Gut! Aber eben die »Räuber« hatten die Franzosen nicht. Hier handelt es sich nicht um glücklich dargestellte Typen aus dem Volk, wie im »Werther«. Sondern Franz wie Karl und Amalie sind fast zur Unmöglichkeit hinaufgeschraubte Figuren. Der transcendentale Gehalt der »Räuber« geht weit über sein irdisches Interesse hinaus. Schiller's hyperideales Bedürfnis durchbrach alle Schranken, und schuf sich Personen, die aus Himmel und Hölle gerissen zu sein scheinen. Und das gibt uns den Maaßstab, Schiller's Jugendwerk als genial zu bezeichnen. – Ich berufe mich bei diesen Ausführungen nicht auf Aesthetiker oder Literaturhistoriker, sondern ich berufe mich auf den künstlerischen Instinkt der Massen. Die große Volksmasse wird immer demjenigen am lautesten zujubeln, der sie in einem angeschauten Kunstwerke am weitesten über das Niveau ihrer täglichen Beschäftigung hinausbringt. Ein Reiter, der im Cirkus über die Hälfte der Manege hinweg auf ein anderes Pferd setzt, und dies mit Gefahr von Hals- und Beinbrechen thut, gilt bei der breiten Volksmasse immer am meisten. Ein correcter Schulreiter, der nach allen Regeln der Kunst die Bahn ummißt, interessirt sie weniger. Das ist mehr für den Kenner. – Nun, Schiller war in den Augen des Volkes immer ein solch' waghalsiger Reiter, der den Sturz nicht fürchtet. Und das deutsche Volk sieht sich in seinem genialen Wagemut in Schiller geradezu verkörpert. Ihn hat es in erster Linie als Genie bezeichnet. Denn keckes Vorwärtsstürmen steht ihm doch näher als Sentimentalität, und wäre sie in den Mantel höchster künstlerischer Meisterschaft gekleidet. – Wir werden uns hüten das Urteil des bekannten, amerikanischen Schriftsteller's Cooper uns zu eigen zu machen, der meinte: in jedem ästhetischen Thee-Cirkel konnte unter Umständen ein geistreicher Mann wie Goethe entstehen; aber nur ein Gott konnte die Seele Schiller's erschaffen. Aber die entschiedene Inanspruchnahme Schiller's als Genie, tritt in diesem Urteil des germanisch empfindenden Amerikaners deutlich hervor. – Und noch zu einer anderen Bemerkung möchte ich hier um Ihr geneigtes Ohr bitten: Es gibt eine große Breite in der menschlichen Gesellschaft, die auf Alles, was nach Genie riecht, entschieden ungünstig zu sprechen ist. Alles, was sich im weitesten Sinne conservativ nennt, oder in einer glücklich errungenen Stellung die Ruhe liebt, will sich um keinen Preis durch das freche Anklopfen eines kühnen Neuerers aus dem Geleise bringen lassen. Für solche war und ist ein Stück wie Schiller's »Räuber« ein Gräuel. Während die künstlerische Vornehmheit eines Goethe, die zu Nichts verpflichtet, ihnen als das Höchste in der Kunst erscheint. – Nehmen Sie unsere heutigen Verhältnisse: Viele wollen von Ibsen nichts wissen, weil er sie aus ihrem täglichen Geleise bringt. Ein Kaufmann, der mit Frau und Tochter Abends in's Theater geht, will eine hübsche Emotion haben; aber nach Fallen des Vorhangs will er zu Abendessen, zu Ruhe und Ordnung zurückkehren. Ibsen aber verfolgt die Leute bis in ihre Wohnung, bis unter die Dachkammer, bis in's Comptoir, einen Teil der Woche hindurch. Das will ein solider Mann nicht. Er kennt die Kunst nur von der Seite des Genusses. Aber Ibsen thut weh! – Diesen Widerpart gegen das Genie dürfen wir nicht vergessen, wenn wir begreifen wollen, wie Leute wie Boecklin, Klinger, Nietzsche in Deutschland, Poe in Amerika, Byron in England, einfach sich nicht bis zur Oberfläche durchringen konnten. – Die ungeheure Größe, die Goethe heute erreicht hat, hat er vorzugsweise durch die Gelehrten erreicht, die natürlich alle conservativ sind, und deren Angesicht peremptorisch nach rückwärts gerichtet ist; während, was Schiller uns bis heute geworden, er fast nur durch die Volksguust geworden ist. Ueber »Tasso« und »Iphigenie« ist gewiß hundert mal mehr geschrieben worden, als über »Kabale und Liebe«. Aber lassen Sie »Kabale und Liebe« im Theater aufführen, und jedes Herz erzittert im Zuschauerraum bis unter den Kronleuchter hinauf. – Ich möchte Goethe nichts von seiner Bedeutung nehmen. Und kein Gedanke wäre mir untröstlicher, als wenn Sie die Empfindung von hier hinwegnähmen, ich hätte Goethe herabwürdigen wollen. Aber Schiller, dieser hagere Phthisiker, diese abgehärmte Heldengestalt mit dem plötzlich entstehenden Wangenrot, dem gleich darauf tödtliche Blässe folgt, scheint nun einmal der Inbegriff jener verblutenden Sehnsucht geworden zu sein, die nach dem höchsten Kranze greift, während ihr der Todeskeim schon in der Brust sitzt, wie sie dem Deutschen zu eigen ist, und wie sie in Ernst Schulze, dem Sänger der »Bezauberten Rose« einen anderen Ausdruck gefunden. Während der robuste gesunde Goethe mit seinen sensuellen Neigungen und gelegentlich lüsternen Feinheiten nun einmal eine gewisse, akademische Würde und steife Vornehmheit nicht abstreifen kann. Und diese ist dem deutschen Volke fremd. –

Ich möchte Ihnen gern, wenn es Sie nicht zu lange aufhält, noch einige Beispiele vorführen, die den Unterschied zwischen Genie und Talent recht deutlich beleuchten sollen. Beschränken wir uns einmal auf das Gebiet der Zeichner und Illustratoren. Zunächst einige ältere. Keinem Menschen glaube ich würde es einfallen, z. B. Chodowiecki als Genie ansprechen zu wollen. Hier steht der sorgfältige Naturbeobachter und fleißige Künstler zu sehr im Vordergrund. Anders steht es mit Hogarth, der entschieden geniale Momente besitzt, und in der Häufung allegorischer Anspielungen oft auf einem einzigen Blatt uns auf Gedanken bringt, die nur ein ursprünglicher, origineller Kopf so arrangiren konnte, und die mit Naturbeobachtung zunächst gar nichts zu thun haben. Ich erinnere Sie an jenes kostbare Blatt in der Kirche, wo jeder Zuhörer, vom Prediger herab bis zum Krüppel an der Kirchentüre, seine eigenen Gedanken plötzlich als Action dargestellt, verjüngt in schrecklicher Wahrheit auf dem Betpult vor sich aufgestellt sieht. Das ist zunächst gar keine Naturbeobachtung. Denn das kommt in der Natur nicht vor. Das ist weit mehr der seelische Drang des Künstlers der unsichtbaren Wahrheit im tiefsten Grunde des menschlichen Herzens nachzugehen, und sie um jeden Preis, und mit den gerade parat liegenden Mitteln, an's Tageslicht zu ziehen. – Wer nur die Natur nachzuahmen und wiederzugeben versteht, ohne Eigenes hinzuzuthun, mag erfreuen, mag Befriedigung darin finden, und von anderen geschätzt werden, – Genie wird ihn Niemand nennen.

Wenn ich aus der Reihe der Romantiker und jener Gruppe, die aus den »Nazarenern« hervorgegangen sind, einige Namen nennen darf, so ist es vielleicht Rethel, der Componist des »Totentanzes«, der in uns den stärksten jener Eindrücke erwirkt, den wir mit »genial« bezeichnen; während Führich, Veit, Schnorr v. Carolsfeld, Genelli, Preller, wohl mehr auf der andern Seite liegen dürften; Schwindt erweckt wieder ein Echo in uns, das ihn weit eher mit Rethel verwandt erscheinen läßt, als mit irgend einem der Genannten. Beim großen Cornelius überrascht uns oft eine erschreckliche Verstandeskälte. Und bei Kaulbach ist es wieder jene große Dosis Sarkasmus, die uns nur mit Vorsicht uns ihm anvertrauen läßt. – Soll ich aus neuester Zeit noch ein paar Namen hinzufügen, so möchte ich am liebsten auf jenen eigentümlichen Gegensatz hinweisen, wie ihn zwei Zeichner aus dem auch bei uns viel gelesenen »Journal amusant« darbieten, auf jene beiden, die mit ihrem nom de guerre Stop und Mars heißen. Ein glücklicheres Beispiel für den Unterschied zwischen Genie und Talent dürfte für die heutige Zeit auf dem Gebiete des Blei- und Kreide-Stiftes wohl kaum zu treffen sein: Mars, ein vollendeter Zeichenkünstler, liefert jene oft über-pikanten Schildereien und Situationen aus dem Pariser Boulevard-Leben, die seinen Namen auch außerhalb Frankreichs berühmt gemacht haben. Seine Mache ist bestrickend. Er ist das geborene Zeichen-Talent. Auch der größten Banalität könnte er durch seinen Stift zum Beifall verhelfen. Er geht nie über die aller-oberflächlichsten Vorwürfe hinaus. Und seine liebste Staffage bilden Kleider, Schürzen, Stöcke, Schuhe, Hüte und Modegarnituren. Aber wer dürfte sich mit ihm im Zeichnen-Können so rasch vergleichen?! – Und nun nehmen sie dagegen Stop. Einen größeren Zeichen-Stümper hat es vielleicht in diesem Metier nie gegeben. Wenn er nur ein ein bischen oberflächliches oder ihm nicht zusagendes Thema vor sich hat, so kann man keck behaupten, jeder Sonntagsschüler wird ihn im Zeichnen in wenigen Wochen erreichen. Aber welche Originalität in den Ideen! Welche burlesken Wendungen! Welche verrückte Anwandlungen! Und wie ändert er die Menschen in dem Kaleidoskop seiner Seele zu einem neuen, unerhörten Geschlecht um! So ist er denn auch der Begründer einer ganz neuen parodistischen Kunst geworden; jener nämlich, durch die Säle einer Gemälde-Ausstellung, z.B. des Pariser »Salon«, zu wandern, und wie durch ein schief-geschliffenes Augen-Glas, dessen Stop aber nicht bedarf, an den ausgestellten Bildern die unglaublichsten Verrenkungen, Verzerrungen, und komischen Situationen zu entdecken, eine Manier, die nur zu bald Nachahmer gefunden hat. – Doch weßhalb gehen wir nach Frankreich, um ein zeichnerisches Genie zu entdecken, nachdem wir in unsern Mauern ein solches, vom ausgesprochensten und stärksten Timbre besitzen? – Wer kennt nicht Oberländer?! Hier trifft sich zufällig Popularität und ungemessene Anerkennung mit genialer Veranlagung beisammen, was bei Stop gewiß nicht der Fall ist. Aber das ist gewiß kein Maaßstab. Nein, was Oberländer unbestritten als Bürger aus Genie-Land erkennen läßt, ist wieder jener unerklärliche, tiefe Untergrund der Seele, aus dem seine Entwürfe heraufsteigen, angethan mit einem Mantel, den andere nicht tragen. Wir stehen vor Oberländer's Zeichnungen oft paff, im Innersten getroffen, und vergessen ganz die komische Situation. Wer nur die heitere Seite seiner Darstellungen kennt, der hat diesen tief-ernsten Künstler nie erfaßt. Oberländer bietet uns komische Verwicklungen und Vorgänge, die aber oft nur mit einem Hauch an die Wirklichkeit, an die Möglichkeit erinnern; das Uebrige ist sein Eigenthum, gewagt konstruirt, absonderlich, grotesk, unerhört. Und von ihm gilt das Wort Schopenhauer's vom Genie: Er schaut in eine andere Welt als sie alle. –

Wir müssen noch eine Gruppe psychologisch eigengearteter Menschen betrachten, von denen es nach der gegebenen, eng-umschriebenen Grenze dessen, was man Genie nennt, zweifelhaft ist, ob man sie dazurechnen soll oder nicht. Moleschott hat besonders darauf aufmerksam gemacht, und es unter die Anzeichen der Genialität gerechnet, wenn gewisse Leute, Denker, Forscher durch unscheinbarste Reize aus der Außenwelt zu Schlüssen, Folgerungen, Weiterungen, Perspectiven gebracht werden, die in ihrer Größe, Großartigkeit oder Heterogenität den ursprünglichen Reiz, den Auslösungshebel für die ganze Gedankenkette, als winzig und gegenstandslos erscheinen lassen. So kam z. B. Galilei durch Betrachten der an langen Schnüren aufgehangenen Kirchenampeln und ihrer fast unmerklichen Oscillationen auf das Gesetz der Pendelschwingungen; Newton kam durch Beobachtung eines vom Baum fallenden Apfels in seinem Garten in Woolsthorpe, als er auf der Bank saß, auf die Idee des Gravitations-Gesetzes und der Anziehungskräfte zwischen Weltkörpern und ihren Trabanten; John Watt kam durch Beobachtung des spontan sich hebenden Deckels einer siedenden Theekanne auf die Idee der Benützung des Dampfes als Motor. Der französische Componist Auber fand beim Schaumschlagen zum Rasieren die Melodie des bekannten Marschtempos in der Ouvertüre zu seiner »Stumme von Portici«. Archimedes fand beim Einsteigen in's Bad das Gesetz der spezifischen Schwere der Körper. Der Astronom Leverier kam durch Beobachtung der Störungen in den Bewegungen des Planeten Uranus auf die Idee der Nähe eines anderen Himmelskörpers, berechnete diesen nach Größe und Stellung, und gab so Veranlassung zur Entdeckung des Planeten Neptun. – Hier haben wir eine Reihe von Geistestaten fast ausschließlich allerersten Ranges vor uns. Es scheint aber zweifelhaft, ob wir ihre Urheber unter die Genies rechnen sollen. Vom Genie verlangen wir, daß es in dem, was Geniales in ihm steckt ohne Anknüpfungspunkte mit seinen Zeitgenossen oder Vorgängern sei. Ein rein schriftstellerisches Genie soll, was Wortverbindungen, Satzstellung und die allgemeine Wirkung der Sprache angeht, unerhört sein. Dieß gilt z.B. im vollsten Maaße von der Sprache Luthers und Klopstocks. Ein coloristisches Genie, wie es Makart war, lehnte sich nicht etwa an Rubens, Titian, oder die Venetianer an, sondern erfand seine eigenen Töne. Die Malweise eines Max, das was man bei einem Maler den Vortrag nennt, war absolut neu, und wirkte auf ihre ersten Betrachter wie eine Offenbarung. Was man auch über Wagner's dramatisches Talent, seine Instrumentirung und Compositionsweise gesagt haben mag, scheint doch jenes scharf abgegrenzte Gebiet der Harmonisirung seine Haupt-Originalität auszumachen; Beweis: die fast unverkürzte Wirkung Wagner'scher Musik durch Wiedergabe auf dem Klavier, wo alle die obengenannten Momente wegfallen, und die Harmonie (nicht die Melodie) in ihr volles Recht tritt. An Wucht der orchestralen Mittel hat Wagner an Meyerbeer, an Melodiefindung in Weber, an rücksichtsloser Sprengung der überkommenen musikalischen Form an Berlioz ebenbürtige, zum Teil überlegene Rivalen; aber in der Harmonisirung, besonders in der enharmonischen Behandlung der Tongebilde, in der Verwendung der gewagtesten Dissonanzen hat Wagner Ausdrucksformen geschaffen, die man früher nicht kannte, die zum Teil unanalysirbar sind, die sich nur mit seinem Namen decken; und soweit ist Wagner Genie. –

Noch einer letzten Gruppe genialer Menschen müssen wir hier gedenken, denen gegenüber man fast zu der Annahme verleitet werden könnte, daß ein glücklicher Zufall sie zu dem gemacht hat, was sie geworden. Alles was bei Anderen in Form sich wiederholender Eingebungen, Stimmungen, Anregungen, Inspirationen über das ganze Leben wie ein Auf- und Abgehen gleichmäßig bewegter Wellen vertheilt ist, erscheint bei ihnen als ein plötzlicher seelischer Stoß von unerhörter Gewalt, dessen Nachzittern das Gemüth nicht mehr zur Ruhe kommen läßt; ein einziger Moment von fast hellsehender Kraft entscheidet für die ganze Lebenszeit; und ein seelischer Prozeß, der vielleicht in weniger als einer halben Stunde abspielt, bringt Lösung und Arbeitsplan für ein halbes Säculum. Das merkwürdigste Beispiel nach dieser Richtung ist wohl Descartes. Descartes