Der Implex - Dietmar Dath - E-Book

Der Implex E-Book

Dietmar Dath

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Beschreibung

Morgen wird alles besser: An dieser Parole erkennt man seit der Aufklärung die Anhänger des sozialen Fortschritts, während die der Finsternis bellen, daß früher alles besser gewesen sei. Die einen setzen auf Wissenschaft und Technik, damit Freiheit, Wohlstand, Bildung und Schönheit sich mehren, die anderen auf Tradition, Blut, Boden, Familie, Vaterland und sonstigen Urväterhausrat, damit alles nicht noch schlimmer werde, als es ohnehin schon ist. Dieses Buch behauptet, daß jede Zeit, jede Handlung, jeder Gedanke tatsächlich mehr Möglichkeiten der Selbstverbesserung enthält, als man auf den ersten Blick sieht. Den inneren Zusammenhang dieser verborgenen Freiheitsgrade nennt das Buch »Implex«. Das Wort bezeichnet ein Modell, mit dem man erklären kann, wie Fortschritt in den Mühen tatsächlicher Menschen verwirklicht wird. Es macht verständlich, warum nur Epochen, die sich bestimmte Irrtümer erlauben, auch bestimmte Wahrheiten finden können, und es zeigt, daß die Aufklärung der Gegenwart Werkzeuge der Emanzipation vererbt hat, von denen sie selbst gar nichts wußte. Es verdeutlicht schließlich, was an dieser Lehre und anderen praktischen und theoretischen Hinterlassenschaften der historischen Linken wertvoll bleibt – bis heute. Auf dem Weg zu diesen Resultaten unternimmt das Buch Reisen durch realistische Forschung und phantastische Kunst, stellt bekannte und unbekannte Revolutionen, Kriege, Formen des Unrechts und des Widerstands dar und öffnet die Sicht auf Zeitabschnitte, von denen gar nicht so leicht zu entscheiden ist, ob sie Zukunft sind, Vergangenheit oder Gegenwart.

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Dietmar DathBarbara Kirchner

DER IMPLEX

Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Dietmar Dath / Barbara Kirchner 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-78290-3

www.suhrkamp.de

Für Kathrin Ristau

INHALT

Vorab: Zu Aufbau, Methode, Sprache

EINS – DIE WAHRHEIT DER FREIHEIT

I. Globale Gefängnisgebete

II. Naturrecht: Freiheit von Natur

III. Naturbestimmung: Gibt es Nichtgemachtes?

IV. Wie die Bürger ihre Welt schufen

V. Kann die Aufklärung wahr sein?

VI.Verum, Factum, Implex

VII. Rückwärtsvorhersagen, theoretische und praktische Spekulation

ZWEI – FEINDSCHAFT BEI DER ARBEIT

I. Arbeit schlägt Raub (Raub schlägt zurück)

II. Aufklärung übers Soziale: in Deutschland unbekannt

III. Was ist Klassentheorie, wann und wo greift sie, was leistet sie?

IV. Lohnarbeit: Hexis und Praxis

V. Hexis als friedliche Gewalt

VI. Klassenaufklärung: Vom Sinn der combinations

VII. Einige Widerreden (und Antworten darauf)

DREI – FEMINIMA MORALIA

I. Performative Neuroplastizität

II. Die Nichtöffentlichkeit ist eine Frau

III. Pulsare, Entgeltgefälle, Müllweiblein

IV. Die Gesinnungen der toten Geschlechter

V. Das Walgespür für Krill

VI. Genossin Luxemburg und die Unrechtsgründe

VII. Feminogironde, rechte Frauen und HeLa-Zellen

VIER – MASSA HUND UND DIE MENSCHENRASSEN

I. Die feine und die grobe Art

II. Subjektiver Haß und objektives Unrecht

III. Geschichte nennen wir etwas, das Hitler bestritten hätte

IV. Linker Internationalismus: Eine Tragikomödie

V. Trübe Völker unterm Diktat der Handelserpressung

VI. Was die Aufklärung dafür kann (und was nicht)

VII. Edle Wilde zwischen Oroonoko und Avatar

VIII.Love Song for Aphra Behn: Ein biographischer Exkurs

IX. Sieg und Niederlage der Emanzipation: Solidarität als strategischer Implex

FÜNF – EFFECTING ALL THINGS POSSIBLE

I. Das Atombombenomelett in der Teflonpfanne

II. Soziales Lernen unter Warenproduktionsdruck

III. Des Rätsels Lösung: Natur ist zwecklos

IV. Wheelers choreographisches Gleichnis

V. Wahrheit, als Versprechen aufgefaßt

VI. Zweck schlägt Menschennatur (Menschennatur schlägt nicht zurück)

SECHS – OH L’AMOUR

I. Hippies im Mietrückstand

II. Ein Kommunistenzwist um Liebe

III. Was dran ist: Macht über Glück in Geschichte und Kulturindustrie

IV. Nenn Liebster mich, so bin ich neu getauft: Romy und Julio

V. Katechismus, Turlupiner, Hipparchia: Diskursküsse

VI. Der Philosoph und das Handtuch

VII. Schänderspiele: Objektwahl und Herrschaft

VIII. Menschen- und Engelszungen

SIEBEN – VOM FORUM UND SEINEN FORMEN

I. Immer ästhetischer, immer pragmatischer: Die Hölle

II. Was das Gemeinwesen meint

III. Wie man da rauskommt: Richterstühle

IV. Der Implex allgemeiner und spezifischer Urheberei

V. Soziale Objektivitäten: Meinungsfreiheit und Wissenschaft

VI. Wie man die Wahrheit lügt: Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit

VII. Das Geld, an alle: Ihr seid mein Markt

ACHT – CONTES FANTASTIQUES

I. Schneller (Erweiterungen und Eingrenzungen)

II. Die Beharrlichkeit verjagter Feen

III. Auf welche Weise der Implex innen größer ist als außen

IV. Weltgeburtsweisen von (und in) Fantastika

V. Eskapismus

VI.Magicks und Klares Bewußtsein

VII. Das Novum

VIII. Adornos verfrühter Abschied

IX. The oldest game in the world

X. Tauto-Ontologien des Stimmigen

XI. More geometrico: Genres in Fantastika

XII. Davidsons Metaphernlehre

NEUN – VOM UMSTÜRZEN UND VOM UMFALLEN

I. Aufstandsnominalismus

II. Träge Hexis und Conceptual Breakthrough

III. Verstand und Affekt: Kleine Psychoökonomie des Umsturzes

IV. Eifer des Gefechts: Spontan prophetisches, paradox langfristiges Wissen

V. Stille Feldpost der Revolution: Permanenz und Unterbrechung

VI. Erweiterte Kaputtmachbarkeit

VII. Technomaterialistisches Scherzo

VIII. Wen braucht eine Revolution?

IX. Kein Dampfkessel

ZEHN - L’ÉTAT ET NOUS

I. Untaten in Unstaaten

II. Seelenadel, Polizeigeistlichkeit, Urzustände

III. Schmitt, Marx, Smith: Politische Geschicke der Arbeitsteilung

IV. Geteilte, tote, gespeicherte Arbeit und die Folgen

V. Herr Poulantzas und die Ideale

VI. Herr von Mises und die Wirklichkeit

VII. Emanzipation und andere Verschwörungen im staatlichen Kontext

VIII. Bonapartismus revisited

ELF – FREUNDSCHAFT BEI DER ARBEIT

I. Eine frappante Geschichtslücke

II. Sancta Johannas schiefes Schlagwort

III. Stolze Widerrede und eroberte Symmetrie

IV. Hilft nur Organisation, wo Organisation herrscht?

V. Werte, Tugenden, Taten

VI. Nach den Niederlagen

VII. Teamsters & Turtles & Treehuggers

ZWÖLF – VON DEN FELDZÜGEN

I. Homo homini lupus: Nicht alle – nicht immer – gegen nicht alle

II. Linke Kriegsgegnerschaft: Am Kalten Krieg gestorben?

III. Was ist, woher kommt und wohin will »linker Bellizismus«?

IV. Militärische und antimilitärische Kompetenz

V. Die Erfindung des Soldatenbürgers

VI. Die Terminatorepoche des Kriegshandwerks: Afflicted Cyborgs

VII. Yet another moral calculus

DREIZEHN – NACH DEN SPIEGELN: STATT EINER KRITIK DER PHILOSOPHIE

I. Fortwährende Nochnichtabschaffung

II. Vom Probehandeln Einzelner (und vom Handeln aller)

III.Conceptual Engineering

IV. Eine kleine politische Vernunftzeitgeschichte

V. Stimmiger Unfug

VI. Rorty als Reemtsma als Wieland als Aristipp: Eine Mehrfachverwechslung

VII. Lob des Zungenredens; Warnung vor der Geschichte

VIERZEHN – AM JONBAR-SCHARNIER RÜTTELN

I. Ja, mach nur einen Plan

II. Wer nicht alles weiß, weiß nichts: Eine negative ökonomische Theologie

III. Wer wird John Barr gewesen sein?

IV. Was für wen warum nicht geht

V. Intellektuellenoptionen: Marx, Wells, Schmitt et alii

VI. Freihandel im Weltall

VII. Ich und Ich als Netzeffekte; peer-to-peer als neues Gemeinschaftsmodell

FÜNFZEHN – WICHTIGE NICHTFAKTEN

I. Menschliche Verhältnisse als Gegenstände moralischer Überlegungen

II. Marxismus – Philosophie sans phrase?

III. Was Handeln will

IV.Love Song for Henry Sidgwick: Ein theoriegeschichtlicher Exkurs

V. Lust, Schmerz, Macht, Kalkül

SECHZEHN – EINE WETTE AUF DAS WISSEN

I. Persönliche und vergesellschaftete Kenntnisse

II. Bürgerliche Wissenschaften: Kein Nachruf

III. Pyrrho, der skeptische Wiedergänger

IV. Was es alles (nicht) gibt

V. Was die Aufklärung versprochen hat

VI. Entzaubern, Widerlegen, Finden, Simulieren

SIEBZEHN – SINNLICHE UNWIRKLICHKEIT

I. Geschichten von Bedeutung

II. Maßgaben, Mottenlicht, Metaphysik

III.Love Song for Stan Brakhage: Ein mediengeschichtlicher Exkurs

IV. Wie man Bedeutung behauptet

V. Kritische Kunstspießer und eine Fabrik namens Dickens

VI. Fernsehen als Erzählproblem

VII. Was macht das novum aus den Künsten?

ACHTZEHN – DER EXPLIZITE IMPLEX

I. Die Wirklichkeit der Möglichkeit

II. Selbstexplikation des Historischen: Fortschritt ohne Ideal

III. Informationsthermodynamik

IV. Gesichtskreise des Fortschritts

V. In Freiheit

VI. Alles Vergängliche (noch ein Gleichnis)

Dank

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Sachregister

»It only ends once. Anything that happens before that is just progress.«

Jacob

Vorab:Zu Aufbau, Methode, Sprache

Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Monographie, kein Manifest, keine philosophische Abhandlung. Es geht uns allein darum, ein paar Aussichten und Ansichten zu bündeln, die man im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert häufiger zu sehen und zu hören bekam als heute, von denen wir aber meinen, daß man sie bald wieder brauchen wird.

Die Kernfrage lautet, ob so etwas wie sozialer Fortschritt gedacht und, wichtiger, gemacht werden kann. Man könnte sagen, daß das Buch eine Art Roman in Begriffen ist: Es begleitet die Schicksale von Versuchen, die Welt besser einzurichten, als die neuzeitlichen Menschen sie vorfanden, als sie anfingen, neuzeitliche Menschen zu sein.

Wir besuchen verschiedene abstrakte und konkrete Schauplätze solcher Versuche, von den Staaten, ihren Kriegen und ihrem Wirtschaften, über die Wissenschaften und Künste, bis zur Ethik und Erkenntnistheorie. Wie in jedem historischen Roman kommt auch hier die Liebe vor. Held des Buches ist aber ein Begriff, den wir bei Paul Valéry gefunden und dann für andere Zwecke als seine angereichert und verändert haben: der Implex. Was er bei uns bedeutet, wird nicht langwierig erklärt, sondern auf den genannten Schauplätzen gezeigt, in freier Wildbahn und in Aktion.

Viele Dinge, die auf diesem Weg zu sagen waren, sind politisch.

Da das Buch von zwei Köpfen stammt, konnte dabei nicht immer vollständige Einigkeit erzielt werden. Wo immer zwei oder drei Menschen im Namen irgendeiner politischen Sache beisammen sind, muß ja gestritten werden, sonst wäre die Sache eben nicht politisch. Einer der beiden Köpfe, die sich das Buch zusammen ausgedacht haben, wäre nicht beleidigt, wenn man ihn einen sozialdemokratischen Kopf nennen würde. Der andere bevorzugt jüngere und verrufenere Namen. Da diese beiden nun aber herausfinden durften, daß sie einander näher sind, als sie dachten, und sich beispielsweise herausstellte, daß das, was der sozialdemokratische der beiden Köpfe unter Sozialdemokratie versteht, jedenfalls wenig mit dem zu tun hat, was die SPD tut und will, ist das Bündnis während der Arbeit nicht zerbrochen, sondern gefestigt worden.

Das Buch hat ein paar sprachliche Besonderheiten, die nicht allen, die es lesen, gefallen werden. Die meisten davon haben gute Gründe; was für welche das sind, mag ein Beispiel verdeutlichen: Soweit es um größere Menschengruppen oder beispielhafte Einzelnamen (»der Deutsche als solcher«) ging, haben wir uns weder für die überkommene Selbstverständlichkeit des männlichen Geschlechts (»die Hylozoisten sagen bekanntlich …«) noch für dessen pauschale Ersetzung durchs weibliche (»die Hylozoistinnen …«) noch für das große Binnen-I (»HylozoistInnen …«) entschieden, sondern mal für dies, mal für das, mal für jenes, je nach Kontext, je nach Griffigkeit – wir halten das sprachliche Problem nicht für abschließend gelöst und glauben, daß das daran liegt, daß darunter ein praktisches Problem lebt, das jedenfalls auch nicht abschließend gelöst ist (ein paar Hinweise, wo die Lösung zu finden sein könnte, versuchen wir trotzdem zu geben). Solche Offenheit an Stellen, die man offen halten muß, weil sie in Arbeit sind, war uns ebenso wichtig wie umgekehrt die größtmögliche Klarheit an anderen: Wenn wir zum Beispiel Worte wie »Fortschritt« benutzen, für deren Gebrauch man sich heute vielerorts gewunden zu entschuldigen genötigt wird, dann sehen wir von dieser Entschuldigung ab und sagen lieber deutlich, wie wir den heiklen Gegenstand definieren.

Am meisten werden dem Buch zweifellos diejenigen entnehmen können, die unsere Zielsetzungen bereits teilen und sich bloß von den Wegen dahin anregen lassen, die wir vorschlagen – sei es, weil man sie übernehmen kann, sei es, weil man bei ihrer Zurückweisung gezwungen ist, eigene Ideen zu entwickeln, zu überprüfen, zu schärfen. Daß Leute, die das Ziel ablehnen, das hier verfolgt wird, weniger zu gewinnen haben, ist ein bißchen ungerecht, aber nicht zu ändern: Kompromisse am falschen Ort hätten das Buch nur länger gemacht.

Es ist so lang, wie wir verantworten können; nichts, das uns wesentlich war, fehlt.

BK/DD

EINSDIE WAHRHEIT DER FREIHEIT

I. Globale Gefängnisgebete

Sind vor der Unvernunft des Gegebenen alle Gebete gleich?

Es könnte den Menschen weniger elend gehen. Wenn sie an eine innerweltliche oder jenseitige Instanz glauben, die dafür sorgen könnte, bitten sie darum.

Wenn nicht, leiden sie stumm.

Die Hartnäckigkeit der Vorstellung von einer anderen Welt, in der alles besser wäre, geträumt von Sklaven auf antiken Großbaustellen wie von Erwerbslosen im Internetcafé, ist das dem Leben der Leute Allgemeine, sofern sie überhaupt sprechen, denken, sich etwas vorstellen können. Die Not, die sie jeweils leiden, ist ihr mäßig Besonderes. Zwischen diesen beiden spielen sich die traurigen Geschichten ab, von denen der Sozialrealismus seit Zola erzählt: kurzes Leben, vergeudete Kraft, Herzen im Streit mit sich selbst, unleserliche Liebe, am Schluß das flache Grab auf dem erdballgroßen »Friedhof gescheiterter Pläne, erlittener Wirklichkeit und gestutzter Flügel«, von dem Cesare Pavese schrieb.

Ist das Besondere vermeidbar; und könnte sich, wenn man es denn änderte, das ersehnte Allgemeine, die Gerechtigkeit fürs gesellschaftlich realisierte Gattungswesen, erfüllen? Ein Tagtraum ohne Folgen, denn was dem entgegensteht, ist der Lauf der Dinge selbst, sagt der gut abgehangene Opportunismus des Alltagsverstandes: Nicht alle Menschen essen und trinken eben ausreichend, geschweige gut; sehr wenige werden medizinisch so versorgt, wie das heilkundliche Wissen der jeweiligen Epoche, in der sie leben, zuließe; ein sehr kleiner Teil der Weltbevölkerung wohnt in hellen Räumen mit nützlichen, gar nicht zu reden von schönen Möbeln; nicht überall können Personen, wenn sie sich verlieben, miteinander anfangen, wozu sie Lust haben, solange daraus niemand ein Schaden entsteht; nur wenige kleiden sich zweckmäßig, geschweige nach einem eigenen Geschmack; kaum jemand kann sich überhaupt aussuchen, wann andere auf ihre oder seine Bedürfnisse, Wünsche oder Ansichten achten.

Selbst im von materiellen Interessen scheinbar sauber zu sondernden Ideellen sieht es trübe aus: Schon der Zugang zu den Gegenständen der Neugier, vom Klatsch übers wissenschaftlich Erhärtete bis zur hinreißenden Spekulation und endlich der genußfähigen Betrachtung naturgegebener oder menschengemachter Schönheit ist begrenzt durch Bestimmungen, über die niemals von denen abgestimmt wurde, die ihnen unterworfen sind.

Es hat historische Abschnitte gegeben, in denen diese Bestimmungen sich für die Einzelnen schon veränderten, wenn man Gebietsgrenzen zwischen Herrscherdomänen überschritt, nicht erst solche zwischen Herrschaftsweisen. Seitdem ist die gedachte »ganze Welt«, von deren Grenzenlosigkeit Erlösungsreligionen, größenwahnsinnige Machthaber und schließlich die neuzeitlichen Wissenschaften stets ausgegangen sind, immerhin zur wirklichen ganzen Welt geworden – ein Vorgang, den man »Globalisierung« genannt hat, weil es auf Schönheit der Ausdrücke nicht ankommt, wo aus einer Tautologie (die Welt ist die Welt) plötzlich ein Prozeß wird. »Globalisierung« bedeutet einfach, daß selbst die Reichsten und Mächtigsten plötzlich in der Falle sitzen, die, nach einem Wort von Hermann Peter Piwitt, jetzt mit ihrem Geld zwar überall hinkommen, aber nicht mehr raus.

Was sich Menschen unter Fortschritt vorstellen, hat im Vollzug jener Weltwerdung ihrer Welt eine Wandlung erfahren, die in Gegenrichtung zur Vereinheitlichung der Bestimmungen, unter denen die Teilhabe am Reichtum steht, überall in Myriaden Kämpfe und Choreographien auf unübersehbar zahlreichen Schauplätzen zersplittert ist. Wer heute ein halbes Jahrhundert alt ist, hat die letzte Etappe dieses Prozesses, in der die polyfokalen sozialen Kämpfe der weltwerdenden Welt anfingen, sich selbst zu verzehren, erlebt: Als in den reichen Ländern in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht nur unter dem Eindruck einer Energie-, das heißt: Ölkrise, die keine technischen, etwa förderungsleistungsabhängigen, sondern politische, im engsten Sinn bereits geostrategische Ursachen hatte, die ersten sozialen Bewegungen auftraten, die den Zweifel an der Übersetzbarkeit wissenschaftlicher und technischer Zugewinne in soziale in die Parlamente und die Massenmedien trugen, dauerte es noch Monate, bis Rohstoffpreissteigerungen auf dem Energieträgermarkt ihre Folgen von Industrie zu Industrie weitergegeben hatten – die damals vielberufene »Lohn-Preis-Spirale« drehte sich in beiden Richtungen mit geologischer Langsamkeit. Heute aber, am Ende der Etappe, schlägt eine Irritation dieser Art in Millisekunden durch: Computermodelle des Gesamtproduktionsprozesses und Marktgeschehens steuern Käufe und Verkäufe mit Elektronengeschwindigkeit.

Je größer unter diesen Bedingungen die Reichweite derjenigen Wirtschaftsweise wird, die als alternativlos gilt, weil sie das Gros der warenförmigen Reichtümer hervorbringt, von denen tatsächlich alle leben, je mehr also die Welt der kapitalistischen Produktion und Distribution territorial, strukturell, dynamisch und historisch zusammenfällt mit der ersten wirklichen Weltgesellschaft, desto mehr Leute werden von diesem ebenso übermächtigen wie äußerst störanfälligen Umschlag ungeheurer Quantitäten zu neuen Gesellschaftsqualia in eine große Vergleichsmaschine gesaugt, die alle Unterschiede macht, von denen noch irgendwer weiß, und keinen mehr, den irgendwer begreift. Je größer der Abstand zwischen der mutagenen und proteischen Gewalt transnationaler Produktionsumstellungen, Verteilungsregularien, Verkehrswegverkürzungen einerseits und der Enge und Alternativlosigkeit des Entscheidungsspektrums für abgehängte Menschenmillionen andererseits, desto unplausibler wird für jeden Versuch politischer Kritik am unvernünftig Gegebenen jeder Versuch, die Armut ohne den Reichtum oder den Reichtum ohne die Armut zu untersuchen. Lokal handeln, global denken: Die schöne Parole zerbricht in der Praxis schon am naiven Bürgerinitiativenfuror etwa einer norddeutschen Arbeitsgruppe gegen die Gefahren der Gentechnik in der Landwirtschaft, bei der vor lauter Sorgen um Natur und Mensch niemand etwas weiß von Sachverhalten wie dem, daß zwischen 1970 und 2001 die Produktivität des durchschnittlichen Beschäftigten in der afrikanischen Agrarwirtschaft um zwanzig Prozent gesunken ist, aus keineswegs naturgegebenen Gründen. Die reichen Protestbastler und Bedenkenträgerinnen können sich ihr »globales Denken« am Buffet der guten Zwecke zusammenstellen, ohne mit ihren Besorgnissen jemals auch nur ein Promille der Reichweite der Kausalketten abzudecken, in denen die Anliegen festhängen.

Instrumentelles und operatives Wissen, Technik, sozial organisierter Naturzugriff: Wie immer man den Komplex nennen will, man hat ihn in den reichen Gegenden innerhalb einer Menschengeneration rasanter erweitert als in jedem voraufgegangenen Geschichtsabschnitt – und ahnt dort gerade unter denen, die den Folgen dieser Erweiterung skeptisch gegenüberstehen, zugleich nichts davon, wie dieser Umstand mit der Paradoxie vermittelt ist, daß in armen Gegenden umgekehrt, siehe oben, etwa der Pro-Kopf-Ertrag der Landbebauung schwindet statt sich mehrt und noch ganz andere Werte, statt als Profit realisierbar zu sein, schlichtweg vernichtet werden.

Wie nennt man so einen Zusammenhang? Ist er mit Kategorien wie »Ausbeutung« oder dem komplementären »Entkopplung« zu fassen? Herrscht Unterdrückung, oder quält Anomie? Sind die Tatbestände, die diese Kategorien meinen, eventuell enger verschränkt, als sowohl die Brot-für-die-Welt-Barmherzigkeit einiger weniger Restchristen unter den Wohlstandsbürgern wie der klassische Antiimperialismus der Linken bislang verstehen können? Was hat sich geändert, seit die Schläger der East India Company den Webern von Bengalen die Hände zerbrachen und deren Webstühle zerstörten, um die indische Baumwolle vom Rohstoff einer Regionalwirtschaft in ein Tauschgut für äußerst einseitige Weltmarkttransaktionen zu verwandeln? Ist die Veränderung, die das Werden der Weltgesellschaft gebracht hat, nur eine des Umfangs der Raubzüge und der zunehmenden Brutalität der sie absichernden Maßnahmen oder eine der grundsätzlichen Beschaffenheit der Verwertung des Werts? Braucht man eine neue Theorie, um das, was sich an diesen Zuständen mit politischen Mitteln ändern ließe, vom historisch Invarianten zu sondern, oder liegen bereits Theorien herum, die man nur anders lesen lernen müßte, damit die herrschenden Zustände ihnen die verwundbaren Seiten offenbaren? Braucht man überhaupt irgendwelche Theorien, um das, was ist, an seiner Vergänglichkeit zu fassen zu kriegen, oder kann man, was nottut, an den Tatsachen selbst ablesen?

»Globalisierung«, was immer das Wort sonst bedeuten mag, heißt jedenfalls nicht: Vereinheitlichung der Ansichten der Menschen über die gerechten und ungerechten Zusammenhänge, in denen sie stehen. Die Teepflückerin im Punjab, der Fahrradkurier in Kalifornien und die Soziologieprofessorin in Tschechien nehmen an dem, was ihnen das Leben verdirbt, auf sehr unterschiedliche Weise Anstoß. Sie halten ganz verschiedene Aspekte ihres jeweiligen Unglücks für entweder überflüssig oder unvermeidlich. Man kann das Kulturdifferenz nennen; dann denkt man der logischen Form nach so, wie Ronald Reagan dachte, als er auf den Hinweis, eine große Anzahl seiner Landsleute gehe abends hungrig zu Bett, die Erwiderung wußte, freilich, die machten eben eine Diät. Die Kultur der Todkranken, würde so ein Radikalkulturalist sagen, ist das Sterben.

Die Teepflückerin hat aber nicht deshalb keinen Internetzugang, weil Hindus so etwas nicht wollen, sondern weil sie, anders als ihr Cousin in Mumbai, auf der Plantage statt im Callcenter arbeitet.

II. Naturrecht: Freiheit von Natur

Je nach Bildung, Neigung und Talent zu ausgefuchsten Folgerungen werden Teepflückerin, Fahrradkurier und Universitätsprofessorin, wenn sie darüber reden, daß es den Menschen besser gehen könnte, einen Unterschied machen zwischen der Ungleichheit und dem Unrecht: Daß auch beim besten Willen, unterm besten König, der warmherzigsten Stammesmutter oder in der entwickeltsten Demokratie nicht alle alles haben können, sehen selbst die wildesten Gracchen ein. Aber die verschiedenen Ungleichheiten, die man beobachten kann, sind selbst wieder untereinander durchaus ungleichartig. Daß die Güter und Möglichkeiten des Lebensgenusses, wenn schon nicht gleichmäßig, so doch wenigstens jemals nach einem Schlüssel verteilt worden wären, der die gesellschaftlichen Ressourcen (Wohnungsnot gibt es nur, wo nicht gebaut wird) ebenso erschöpfend nutzt wie die natürlichen, und damit das Gerechtigkeitsempfinden zufriedenstellt, hat man noch nirgends gehört.

Es waren niemals die Klügsten, die auf das meiste Lernmaterial Zugriff hatten; nie die Tüchtigsten, die sich an den besten Mahlzeiten freuen durften; nie die Schönsten, deren Liebe die wenigsten Verbote ertragen mußte; nie die Edelsten, denen man die wenigsten Steine in den Weg legte. Das ist eine Evidenzwahrheit, deren Augenschein desto deutlicher wird, je tiefer man mit analytischem Werkzeug in die Geschichte eindringt. Ihr Fluch hat bewirkt und sorgt weiter dafür, daß zu allen Zeiten nicht nur die Zurückgesetzten, Übervorteilten und Benachteiligten, sondern auch einige gar nicht so übel versorgte Leute mit Muße zum Nachdenken und Geschick beim Kritisieren auf die vorherrschenden Vorstellungen betreffend das rechte Maß der Belohnung für Klugheit, Tüchtigkeit, Schönheit und Adel schlecht zu sprechen waren und sind.

Zum Glück für alle, die ihren Mitmenschen Gutes wollen, ist die Idee von der Eigengesetzlichkeit der Naturvorgänge erst sehr spät in die Köpfe gelangt; sonst hätte man wahrscheinlich früh von Kanzeln und anderen Lehrstühlen herab gelehrt, daß Leiden, Unglück und Unbehagen unhintergehbare biologische Notwendigkeiten seien, die den Organismus in auf tieferliegende Zufälle irreduzibler Weise dazu anhalten sollten, sich um sein Auskommen gefälligst selbst zu kümmern. Der positivistisch lackierte Raubtiernihilismus postaufgeklärter Bioliberaler, die das Marktgeschehen um Angebot und Nachfrage mit dem evolutionären Selektionsdruck unter Pflanzen und Tieren verwechseln, ist die bösartigste Variante der Prädestinationslehre, die je erfunden wurde.

Menschen früherer Zeitalter dachten nicht, daß die Natur keinen Sinn habe und daß man dem, was keinen Sinn hat, nur gehorchen könne, weil das, was sich nicht befragen läßt, auch keinen Widerspruch erlaubt. Den allerersten Leuten, die über dergleichen nachgrübelten, war die Natur vielmehr beseelt, der Unterschied zwischen ihrem Gemütshaushalt und dem von ihnen bewohnten Biotop noch ungeläufig. Aus dem, was ihnen diese ungenaue Betrachtungsweise als Inventar der Welt entdeckte, folgerten sie, daß ihr ständiges Mangelempfinden nur von der tatsächlichen Möglichkeit eines besseren Lebens rühren konnte: Wäre alles richtig so, wie es ist, würde es mir dabei ja nicht schlecht gehen; es muß also eine Instanz geben, die mich, indem sie mich leiden macht, auf etwas hinweisen will und bei der ich, wenn ich mich gelehrig, anstellig, demütig zeige, um eine Verbesserung meiner Lage einkommen kann – daher Gott, Göttin, Götter, Gebete.

Daher auch – als abstraktes Prinzip, in dem das Göttliche als die erste Adresse für Beschwerden wider das Zivilisationsganze gedacht werden kann – der Universalismus, selbst der rationalistische.

Vom Plantagensklaven, der seinen Klagegesang anstimmt, über den protestantischen Geistlichen, der nachts nicht schlafen kann, weil der Plantagensklave leidet, bis zum Jakobiner, der durch Errichtung eines Vernunftstaats die Verkehrsformen abschaffen will, unter denen der Plantagensklave überhaupt einer ist, eint die Unzufriedenen aller Epochen vor der Erfindung des Sozialdarwinismus die Überzeugung, daß es im Menschenwesen etwas geben muß, das von Ungleichheit, Unfreiheit und Unrecht beleidigt, vergewaltigt, geschändet wird. Es könnte, sagt diese Denktradition, den Getretenen, Ausgebeuteten, Beraubten, Ausgeschlossenen nicht nur besser gehen, es müßte überhaupt und insgesamt alles anders sein; Leiden ist Indikator eines verrutschten, verkehrten, vom Richtigen abgekommenen Zustands; wir sind gleichsam runde Klötze, die irgendwer in eckige Öffnungen gehauen hat oder umgekehrt. Wären die Klötze in der richtigen, ihnen gemäßen Öffnung, könnten alle aufatmen. Ob dieser Argumentationsgang im einzelnen theologisch, anthropologisch oder soziologisch entfaltet wird, immer ist der Grund dafür, daß etwas geändert (nämlich: wiederhergestellt) werden soll, einfach der, daß »der Mensch ein Mensch ist« (Brecht), nämlich je nachdem Gottesgeschöpf, denkender Primat oder zoon politikon, aber eben nicht Sklave, Hure, Werkstück oder zur Vernichtung – wenn schon sonst zu nichts – bestimmter Untermensch: kein Ding also.

In seltenen Augenblicken des Geschichtsverlaufs, dann nämlich, wenn Machtgeschichte und Vernunftgeschichte einander plötzlich auf Augenhöhe begegnen, wird immer wieder versucht, diese Art Begründung des Rechts auf Lebenssicherheit und Lebensglück mit Gesetzeskraft zu segnen: 1215 muß König John in der Magna Carta seine nichtadeligen Engländer dem allzu freien Zugriff der von Geblüt herrschenden Klasse entziehen, 1542 läßt sich ein spanischer Monarch von einem Mönch aus verwickelten Gründen dazu bewegen, dem Indioquälen in der Neuen Welt Grenzen zu setzen, 1679 wird, wieder in England, mit dem Habeas Corpus-Gesetz jeder, der – »weil der Mensch ein Mensch ist« – auch einen Menschenkörper hat, vor Polizeiwillkür mit strengen Ausführungsbestimmungen geschützt, das achtzehnte Jahrhundert schließlich setzt von Amerika über Frankreich bis Preußen Menschenrechtserklärungen auf, die über ihr spätes Pastiche, das staatsrechtsordnende Dokument der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, bis zu der Zeit, in der wir dieses Buch schreiben, die Grundlage neonaturrechtlicher Politik in der einzelstaatlichen Binnengesetzgebung wie bei der zwischenstaatlichen Kriegsführung der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt zur »Neuen Weltordnung« transformierten Verhältnisse bildet.

Im achtzehnten Jahrhundert, in Frankreich und Amerika nämlich, wurde die Naturrechtslehre, geboren in der Scholastik, geadelt von der apollinischen Eleganz des Thomismus, kühn angeeignet vom Bürgertum in der Aufklärung, von einer hübschen Idee, die bislang nur okkasionell zum Herrscherwillen paßte, zur politischen Gewalt, zum Grundriß einer neuen Sorte Subjektivität, Legitimität und »Gouvernementalität« (Foucault).

Die Bürger konnten sich das leisten.

Reichtum schafft immer Spielraum für Schönheit, Größe und Güte. Wenn die glücklichere Menschenart, die dabei zu sich selbst kommt, ihren Blick jedoch zurücklenkt auf die Bedingungen, unter denen jener Reichtum entstanden ist, erschrickt sie. Schon die athenische Demokratie, die ionische Naturphilosophie, die Kunst der antiken Klassik, also seltene Schönheit, Größe und Güte, verdanken sich der Sklavenhalterei. An Schönheit, Größe und Güte dieses Griechentums sind Maßstäbe gewonnen worden, die den besonderen Weg, auf dem sie damals errungen wurden, fragwürdig machen und dazu nötigen, die Reichtumsquellen, denen sie entsprangen, zu verurteilen – dazu nötigen, aber eben auch: dazu ausrüsten. Das europäische Bürgertum des sechzehnten, siebzehnten, achtzehnten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung schärfte den eigenen Blick, um die Legitimität des Feindes ins Visier zu nehmen. Auf die geschichtlichen und soziologischen Voraussetzungen des Bürgertums selbst zurückzublicken, gehörte nicht ins Programm – die Naturrechtslehre ermächtigte zum Blick in die hypothetische Vorgeschichte aller Gesellschaften, nicht in die Geschichte derjenigen Gesellschaft, die gerade wurde. Was man in der gedachten Vorgeschichte fand, taufte man »Naturzustand«. Aus seiner Betrachtung und unter Verarbeitung deontisch-normativer Programmparameter der bürgerlichen Standesemanzipation wurde die Legierung zweier Hauptzüge des damals jüngstvergangenen Abschnitts der Vernunftgeschichte geschmiedet; eine Verbindung, die jahrhundertelang halten sollte und erst im zwanzigsten Jahrhundert brüchig wurde: einerseits der Vorstellung vom richtigen Leben als dem authentischen, menschennaturgemäßen (wir wollen sie, ihrem berühmtesten Explikator zu Ehren, den »rousseaueanischen Zug« nennen) und andererseits der Idee vom Glück als dem konstruktiven, schöpferischen, produktiven Dasein (die wir analog den »spinozistischen Zug« taufen). Richtiges Leben ist selbsterarbeitetes Glück ist Naturrecht: Die Formel schließt die bürgerliche Legitimität in toto auf.

III. Naturbestimmung: Gibt es Nichtgemachtes?

Naturrecht: Das Wort scheint auf den ersten Blick ganz unsinnig.

Recht wird gemacht, Natur aber, wenn das Wort überhaupt etwas bedeuten soll, ist etwas, das Leute nicht machen können, sondern vorfinden müssen. Es umfaßt Quasare, Leuchtkäfer, ionische Flüssigkeiten, Berge, Krankheiten, Edelgas, aber keine Gedichte, Eisenbahnschienen, Bratenrezepte – oder Rechte. Die Menge der Naturerscheinungen, will man sie von derjenigen des Menschenmöglichen trennen, wird dabei allerdings – man ist versucht zu sagen: natürlich – das, was die neuere Mengenlehre fuzzy set nennt. Konstruktivismusorientierte historische Wissenschaftssoziologien, wie sie Thomas S. Kuhn oder Paul Forman vorgeschlagen, skizziert und in Teilen auch ausgearbeitet haben, belehren die Menschheit darüber, daß Galilei sich nicht nur im Weltall, sondern auch in der italienischen Gesellschaft seiner Zeit orientieren mußte, um die Bewegungsgesetze der von ihm studierten Körper zu erkennen, und darüber, daß die Kausalitätsskepsis der Erfinder der Quantenmechanik viel mit der geistesgeschichtlichen Lage der Weimarer Republik zu tun hatte, die wiederum auf soziale und politische Realien der Zeit zurückzuverfolgen nicht schwerfällt. Was bei Alfred Sohn-Rethel, wo dieser etwa die logische Geographie der neuzeitlichen Exaktheitsauffassung in Kunst und Wissenschaft aus den besonderen Kompetenzanforderungen der Renaissancestadtstaaten an ihre Schöpfer herleitet, noch eine große Wahrheit war, weil der gelernte Dialektiker Sohn-Rethel nicht nur weiß, welchen Anteil das Soziale an der Erkenntnis hat, sondern dabei auch im Blick behält, was die Erkenntnis mit dem Sozialen anstellt, wird bei den platten Wissenssoziologen, die Marx vergessen wollen und Hegel nie zur Kenntnis genommen haben, zur schieren Entlarvungsautomatik: Was ihr da rausgefunden habt, Weißkittel, das hat euch doch nur eure Zeit eingeflüstert, euer Wahrheitsanspruch ist Selbsttäuschung. Die so auftrumpfen, machen viel Aufhebens von einem Umstand, den man seit Giambattista Vico mit dem Merkwort verum et factum convertuntur kennzeichnet – das Wahre ist, for all intents and purposes, das Gemachte.

Je später der Zeitpunkt, an dem sie mit ihrer Metabetrachtung der wissenschaftlichen Objektivierungsarbeit ansetzen, desto eher finden sie Schaustücke, die in den Beweisordner passen. Die Sonolumineszenz zum Beispiel, die Umwandlung von Schall in Licht, ist zwar ein Naturvorgang, wurde aber im Labor erschaffen, bevor man sie je irgendwo in freier Wildbahn beobachtet hatte. Der Physiker Felipe Gaitan fand an der Universität von Mississippi in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Phänomen der Anregung einzelner Luftblasen in einem wassergefüllten Gefäß durch ein stehendes Ultraschallfeld: Die Blasen fingen an zu leuchten, und Gaitan riet richtig, daß hier ein bislang in der Literatur nicht behandelter Effekt thermischer Strahlung vorlag. Der Argumentationsgang führte zur Theorie der Volumenemitterstrahlung, die erfolgreich vormals weit auseinanderliegendes Gedankengut aus der Hydrodynamik, Akustik, Chemie und der Physik ionisierter Gase erklärend zusammenführte. Der springende Punkt an dem Vorgang ist aber nicht die Kippfigurdialektik zwischen Entdecken und Erschaffen, aus der die Konstruktivisten ihren Nektar saugen, sondern die statistisch-thermodynamische Datenverteilung erstens in der Gesamtmenge der Naturtatsachen und zweitens in von dieser nur durch teilmengenbezogene operative Schließung auf dem Weg geregelter Kommunikation gesonderten sozialen Einrichtungen wie der Naturwissenschaft: Die Gelegenheiten, Sonolumineszenz in natura zu erleben, sind zwar derart rar, daß sie ohne Gaitans Versuchsanordnungen vielleicht noch jahrhundertelang, untouched by human hands, verborgen geblieben wäre; die schulmäßige Sozioepistemologie aber muß unterschlagen, daß Menschengeschaffenes als zufälliges Naturprodukt keineswegs unmöglich, sondern nur sehr unwahrscheinlich ist. Selbst das bei Kreationisten beliebte Beispiel der Taschenuhr wird ohne menschliches Zutun keineswegs »niemals« zustande kommen, sondern nur sehr, sehr lange nicht (spätestens die siliziumlebendigen Xümuerls auf dem Planeten Gikhna im Hysenstirz-System, Naturkinder so gut wie wir, hätten sich der Sache angenommen, wenn unsere eigenen Uhrmacher ausgeblieben wären), denn eine Wahrscheinlichkeit von null für irgendeine in beliebiger Zeit anzutreffende Kombination tatsächlich vorhandener Dinge läßt sich überhaupt nicht denken.

Daß freilich fürs menschenlose Entstehen mancher Welttatsachen, die wir inzwischen hergestellt, zusammengebracht, zusammengedacht haben, die bisherige (und vielleicht sogar die vermutbare zukünftige) Lebensdauer des Universums nicht hinreicht, steht auf einem anderen Blatt – demjenigen nämlich, auf dem notiert ist, daß Wahrscheinlichkeit in diesem konstruktiven Zusammenhang nicht viel mehr besagt, als daß komplexere Sachen eben seltener auftreten als weniger komplexe, der Erbgang kulturell und zivilisatorisch vermittelter Welttatsachen aber notwendig die einfachen als tote Erkenntnisarbeit vorangegangener Generationen sedimentiert und so zu einer nicht etwa mysteriös orthogenetischen, sondern einfach durch menschliche Erkenntnisarbeitsökonomie vorgegebenen allmählichen Komplexitätszunahme der von uns geschaffenen Welttatsachen führt – wenn das Rad schon erfunden ist, kommt die schwierigere Kutsche dran.

Solange also bei einer Herleitung von irgend etwas aus seinen nicht logischen, sondern wissenshistorischen Voraussetzungen die Bedingung gewahrt bleibt, daß die jeweils nächstniedrigere Voraussetzung beim Weg rückwärts durch die Kausalkette häufiger auftritt als die darauffolgende (einfache Dinge oder Einsichten werden mehrmals erfunden oder entdeckt, in verschiedenen Kulturkreisen, Zivilisationen, Staaten, Sprachgebieten, schwierigere dagegen seltener, ihr Transfer läuft nicht mehr diachron, sondern über Import und Export), geht alles mit rechten Dingen zu, und übernatürliche Eingriffe sind nicht erfordert. Die Naturgeschichte und die der menschlichen Überlieferungen bilden also ein Kontinuum miteinander, aber eines, in dem Sprünge vorkommen. Ein Kohlenstoffatom ist wahrscheinlicher als besagte Taschenuhr; es gibt mehr Sonnen ohne Planeten, die Leben erlauben, als solche mit; es gibt mehr Planeten, auf denen Leben möglich wäre, als solche, auf denen es tatsächlich existiert; es gibt mehr belebte Welten als mit denkenden Geschöpfen belebte; es gibt mehr denkende Geschöpfe als solche, die eine Taschenuhr bauen können.

Die beiden Mengen der natürlichen und der künstlichen, das heißt: menschlichen Sachverhalte sind somit in jedem denkmöglichen Fall einer Definition der Domänen gegeneinander nicht absolut steril rein voneinander zu scheiden; die entsprechenden Wahrscheinlichkeitsverteilungen bleiben abhängig von Zusammenhängen und Unterschieden, die man stets wieder je und je auf einer der beiden Seiten der Unterscheidung zuordnen muß.

Diese Unreinheiten rühren im Kern daher, daß der in allen Scheidungsversuchen eingenähte Dualismus als solcher verkehrt ist – man handelt sich, sobald man prinzipiell, das heißt ontisch, zwischen Natur und Menschenwelt unterscheiden will, sofort lauter in wachsende Abwegigkeit verstrickte Stütz-Dualismen ein, wie die Ideengeschichte zur Genüge belegt.

Ein rechtschaffener Aristoteliker etwa könnte sich auf den Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung versteifen und sagen, daß zwar Gaitans Experiment menschengemacht sei, dies aber nur ein akzidentielles Faktum, nachrangig gegenüber den Essentialien, Entelechien, Immanenzen, die dafür sorgen, daß die beschallten Bläschen leuchten – sozusagen die »Wahrmacher« der Volumenemitterstrahlungstheorie, wie der stark aristotelisch geprägte tapfere Neo-Materialist David Armstrong sagen würde. Cartesianer, sollte es noch ein paar geben, würden es einmal mehr mit dem Unterschied zwischen res cogitans und res extensa versuchen (Gaitans Versuchsanordnung und Erkenntnisgewinn sind geistiger Art, der beobachtete Vorgang dagegen ist weltimmanent, nicht transzendierbar diesseitig), der sich zwar selbst wieder nicht restlos in die Mensch-Natur-Binarität schmiegt, aber gebraucht wird, um zu zeigen, was von beidem jeweils dem andern vorausgehen muß, um die qualitativen Unterschiede zwischen dem im Labor Geschaffenen und dem von der Natur Bereitgestellten ausmitteln zu können.

Heideggerianer würden die ganze Natur-Menschenwelt-Differenz für einen verzerrten Höhlenwandschatten der Nichtidentität von Sein und Seiendem halten; der Kritischen Theorie könnte man die Ansicht entnehmen, das Menschengemachte sei selbst nach (und wegen) der Aufklärung dem Verblendungszusammenhang, der Ideologie und der Instrumentalität verfallen, während die Natur das Andere dieses Verhängnisses darstelle, mit dem man sich allerdings nicht ohne Reflexion versöhnen könne; die Luhmannsche Theorie sozialer Systeme würde die Einheit der Differenz von Menschenwelt und Natur in die fraktal selbstähnliche unendliche Reproduktion von allerlei System-Umwelt-Unterscheidungen verfolgen, bis sie in semantischen Tautologien verschwindet; und die völlig Verbohrten der lunatic fringe im Betrieb der sich als kritisch mißverstehenden »Science Studies« der Gegenwart würden die für die meisten praktischen Zwecke historischer Wissenssoziologie als epistemische Erdung in der Forschungs- und Technikwirklichkeit völlig ausreichende These, das Menschengeschaffene sei einfach eine Untermenge des Naturwirklichen, kühn auf den Kopf stellen und die ganze Natur in Bausch und Bogen zur menschlichen Mache erklären.

Alle diese Spielarten der begrifflichen Dualwirtschaft sind erstens undialektisch (die wechselseitige Durchdringung naturhafter und gesellschaftlicher Bestimmungen wird zugunsten metaphysischer Vereindeutigung preisgegeben) und zweitens antimaterialistisch (man hantiert mit metastofflichen Zusatzannahmen, das heißt, man postuliert Entitäten – die aristotelische Essenz, die platonische Idee, die cartesische res cogitans, Heideggers Sein und so weiter – über das von Gaitan praktisch Erschlossene hinaus. Antimaterialistisch, das bedeutet: In allen diesen Modellen soll es mehr und andere Arten von Sachen geben als diejenigen, die man vom Baron d’Holbach bis zu Lenins Streit mit den Erfahrungsbezweiflern »Materie« genannt hat). Das wäre an sich noch kein Beinbruch – wir sind weit davon entfernt, aus irgendeiner unfruchtbaren Orthodoxie, wie sie die marxistische Literatur seit spätestens dem Tod von Friedrich Engels entstellt, nur das Dialektische und das Materialistische gelten lassen zu wollen; wenn alternative Ansätze der Welterschließung in irgendeinem Gegenstandsbereich triftiger wären, müßte man sich von Dialektik und Materialismus eben verabschieden oder sie entsprechend modifizieren.

Ohne vorwegzunehmen, ob wir das wollen und werden, möchten wir das Gestrüpp der Differenzen zwischen Natur und Kultur sowie der Folgeprobleme, die man sich einhandelt, wenn man diese Differenzen undialektisch und antimaterialistisch zu entfalten versucht, auf dem einfachsten Weg verlassen, nämlich indem wir festhalten, daß Unterscheidungen auch dann nützlich sein können, wenn sie bei höherer Problemauflösung zergehen oder sich im Gröberen nicht mehr durchhalten lassen. Die Ansicht, es könnte überhaupt Unterschiede geben, bei denen die Zurechenbarkeit beliebiger Daten auf einer der beiden Differenzseiten in alle Ewigkeit gewährleistet ist, gehört dem Platonismus und verwandtem Spuk an, wie jeder Abstecher in die Empirie unmittelbar einsichtig macht – der Unterschied zwischen wilden und domestizierten Tieren zum Beispiel: Ob ein Lebewesen zu einer der Mengen gehört, hängt vom Kulturstand der jeweiligen Menschenzivilisation ab, läßt sich aber trotzdem je und je herauskriegen und – zum Beispiel für die Verhaltensforschung – nutzbar machen.

Auf die Differenz zwischen Natur und Menschenwelt ganz zu verzichten, würde dem, was wir begrifflich hier vorhaben, rasch hinderlich; die oben berührten Varianten der näheren Bestimmung dieser Differenz aber taugen für unser Unternehmen aus den genannten Gründen ebenfalls wenig – wir helfen uns daher nominalistisch aus der Klemme, indem wir »Natur« nicht mehr als »das nicht von Menschen Gemachte«, sondern – vorläufig und offen für Revisionen im Gang der Argumentation – als »das der Veränderung durch Kommunikationsakte nicht Zugängliche« definieren.

Den Geltungsbereich dieser Bestimmung machen Beispiele deutlicher als Behelfserläuterungen: Das Scheidungsrecht, die Theateraufführungspraxis oder das Rezept für »Rote Linsen auf bengalische Art« können sich ändern, wenn die Menschen, die diese Welttatsachen handhaben, darüber anders miteinander reden, neue Verabredungen treffen, neue Befehle ausgeben und befolgen etc. – die Bläschen aber, die Gaitan gesehen hat, leuchten so oder so, gleichgültig, wie wir darüber reden. Ein Eingriff etwa ins Genom ist nach dieser Auffassung also einer in die Natur, auch wenn es sich ums Genom des Menschen handelt statt dasjenige der Maispflanze. Die Menschentatsachen aber werden bei uns, ganz wie im mechanischsten französischen Materialismus, wieder zur Teilmenge der Naturtatsachen, einfach, weil es sehr viel weniger Dinge gibt, die sich durch das Darüberreden ändern lassen, als solche, die das nicht kratzt: ein Häufigkeits-, in letzter Instanz also wieder ein statistisches, ein Wahrscheinlichkeitsargument.

IV. Wie die Bürger ihre Welt schufen

Der moderne, heute gern auf Thomas Bayes zurückgeführte Wahrscheinlichkeitsbegriff, der uns in die Lage versetzt, solche Abwägungen zu vollziehen, war zur Zeit der Entstehung der bürgerlichen Varianten der Naturrechtslehre, die uns hier interessieren, freilich weder hinreichend entwickelt noch bei den philosophes auch nur im Ansatz verbreitet genug, die Grenzfluktuationen zwischen Natur und Menschengeschaffenem in ihrer unübersichtlichen Ausgefranstheit und dynamischen Abhängigkeit von der Entwicklung der Produktivkräfte zu beschreiben.

Unter »Naturgemäßheit« einer Sozialtheorie verstand man deshalb zwei Spielarten von Wahrheitsbedingungen, eine der Kohärenz und eine der Korrespondenz, die wiederum den beiden Grundzügen aufklärerischer Sozionormativität entsprechen, die wir oben den spinozistischen und den rousseauanischen Zug genannt haben.

Der spinozistische ist der rationalistische, der rousseauanische ist der empiristische. Der spinozistische stützt sich aufs Deduktive, der rousseauanische aufs Induktive. Der spinozistische hebt auf die innere Stimmigkeit der Konstruktion ab, der rousseauanische auf ihr Authentisches. »Richtig« ist im spinozistischen Modus der Aufklärung, was auf korrekte Weise, more geometrico, aus unanfechtbaren Axiomen herausdeduziert werden kann. »Richtig« ist im rousseauanischen Modus der Aufklärung, was der Menschennatur (die man nicht einmal »gut« nennen muß wie Rousseau, um in diesem Modus folgern und begründen zu können) paßgenau frommt, statt sie zu schänden.

Der spinozistische Gedanke ist, wie jeder aus der großen, würdigen und vielfach windigen Tradition des Rationalismus, eine verborgene Tautologie, deren Richtigkeitsverständnis leer bliebe ohne (latent immer mitgemeinte) normative Hintergedanken. »Gut und schlecht«, so mathematisch binarisiert Spinoza sie in der Ethik miteinander verrechnet, werden bei ihm doch immer an einer Größe gemessen, die er ohne weitere Begründung setzen muß, nämlich an ihrem Nutzen oder eben Nachteil für die Vermehrung des Tätigkeitsvermögens – das Produktive ist das Gute, was bei Spinoza bis in die Naturordnung selbst durchgreift: Lust ist nur gut, weil sie Kräfte weckt, Unlust schlecht, weil sie dieselben hemmt.

Der Rousseausche Gedanke wiederum ist, wie jeder aus der ernsten, betriebsamen und betrugsgefährdeten Tradition des abendländischen Empirismus, schuldig der von Hume aufgedeckten ernsten logischen Schwäche, daß man aus einem Sein nun mal kein Sollen ableiten darf, wenn man es nicht mit der Willkür halten will. Befunde sind nun mal kontingent, deontische Sätze aber bindend oder nichtig, es gibt dazwischen keine Brücke.

Die ideengeschichtliche Pointe der Juxtaposition dieser beiden Denkstränge im Werden und Wirken der Aufklärung ist indes die, daß erst aus ihrer Verbindung die Unwiderstehlichkeit der Gesamtdynamik »Aufklärung« hervorgeht: Was Spinoza sagt, kann gar nicht falsch sein, ist aber trivial ohne die Beimengung dessen, was Rousseau zu denken aufgibt, obwohl dies, da es einfach die Setzung vornimmt, um die sich die spinozistische Formel drückt, weder wahr noch falsch sein kann. Das rechnend Objektive, als das der Spinozismus dem Geflecht aus ontischen und deontischen Elementen der Sozialgeschichte zu Leibe rückt, und das authentisch Subjektive, das Rousseau in Stellung bringt, um die Unabhängigkeitserklärung der Unterdrückten von ihren Bedrückern mit einem Argument zu bewaffnen, durchdringen einander im Begründungsgeflecht des bürgerlichen pursuit of happiness unauflöslich, einzeln nicht zu fassen, gemeinsam nicht zu widerlegen. Die beiden Igel Rousseau und Spinoza lassen den Hasen Plato sich zu Tode hetzen.

Die Einführung dieses Begründungsgeflechts für die Setzungen der droits de l’homme inklusive der wirtschaftlichen (Besitz, Kauf, Verkauf) war der größte Neuerungsschub und Schock seit den Zerfallsbeben der Spätantike. Alles änderte sich – nicht etwa nur deshalb, weil, wie die Gelehrten bis auf den heutigen Tag unermüdlich aufzeigen, beweisen und herleiten, damit eine neue Sorte Subjektivität in die Welt kam samt einer neuen (man sagt meist: säkulare, innerweltliche, entzauberte) Kosmogonie und Kosmologie, sondern weil die Bürger dieses Begründungsgeflecht, statt es allein propagandistisch gegen Religion und Ständegesellschaft zu wenden, sich an ihm tatsächlich orientierten, als sie mit ökonomischen und politischen Waffen von größter Durchschlagskraft die Produktion, das Recht, den Staat umgestalteten und unter die Bestimmungen ihrer Klassenprogrammatik stellten.

Dies, nichts anderes, bedeutet unser bei Marx und Engels geborgter Ausdruck, jenes Geflecht sei in der bürgerlichen Aufstiegszeit »zur materiellen Gewalt geworden« – bei diesen beiden Autoren nämlich bezeichnet »Materialiät«, »das Materielle« und der in ihrer Nachfolge scheußlich zerredete (dialektische, historische etc.) »Materialismus« immer die Orientierung des Denkens an menschlicher Praxis und deren gesamter irdischer Domäne, also nicht einfach das Reich der Ursachen und Wirkungen aus Steinen, Holz, organischer Materie und so weiter, sondern das Reich begründeter und begründbarer Handlungen und alles, was darin vorkommt.

Im sechzehnten und siebzehnten europäischen Jahrhundert, unmittelbar bevor besagte materielle Gewalt entbunden wurde, hatte zunächst das holländische Bürgertum aus calvinistischen Warenproduzenten und Händlern dem spanischen Absolutismus und damit der zur Weltordnungsmacht aufgestiegenen Feudalität sowie ihrer ideologiepolitischen Hauptstütze, dem Katholizismus, raumpolitische Grenzen gesetzt. Während die alten Mächte noch ihre Mühe hatten, mit dieser Veränderung zurechtzukommen, begann bereits der Aufstieg Englands, dessen Bürgerklasse schließlich den beiden Hauptstützen der Niederlande, Handel und Kolonialismus, die neue Wertschöpfungstechnik verwissenschaftlichter kapitalistischer Produktionsoptimierung zugesellte und damit der kontinentalen Konkurrenz bald den Rang ablief.

Alles, was per Erzeugung im Lohnarbeitsverhältnis und Verkauf als Ware auf dem Weltmarkt umgesetzt werden konnte, nach neuen, wissenschaftlichen, also aus der Verbindung von Beobachtung, Hypothese und logischer Verknüpfung aller daraus zu folgernden Propositionen hervorgegangenen Prinzipien tatsächlich herzustellen und zu verkaufen, erwies sich als Schlüssel zum tatsächlich sowohl richtigen wie authentischen, nämlich geschichtswirksam selbstgemachten Leben für diejenigen, eben Bürger, die das Zeug (im physischen wie moralischen Sinn) dazu hatten, auf diese Weise zu wirtschaften.

Die Auffassung, das Menschenglück ganz allgemein werde auf diese Weise gemacht, verbreitete sich rasanter als jedes andere Eudaimoniekonzept in der Geschichte.

Prinzipiell alles Brauchbare und Schöne für prinzipiell alle herstellen, verkaufen, verschiffen zu können, unabhängig vom Wegerecht und anderen Ständeprivilegien: Das war die erste praktisch durchzusetzende Universalie der neuen Erzeugungsweise, und ihrer Universalität entsprach dann alles, was in deren Umkreis gedacht wurde – das Erkenntnisideal (zuerst von Bacon formuliert: Prinzipiell alles erforschen, alle Erkenntnis ordnen, mit derselben Methode prinzipiell allen Problemen zu Leibe rücken, die sich überhaupt formulieren lassen) so gut wie das soziale (prinzipiell alle Menschen sind gleich, zunächst noch vor Gott, dann vor dem diesen bald ablösenden »Richterstuhl der Vernunft«).

Die Bürger wirtschafteten anders (vor allem erfolgreicher, produktiver, spinozistisch gesehen also: richtiger) als die Feudalen; und ihre Denker dachten anders (wenn auch nicht unübersetzbar anders) als die Scholastiker (die Linksscholastik hatte da allerdings vieles vorbereitet, der Weg von Ockham zu Bacon ist nicht allzuweit). Das neue Denken war aber nicht einfach eine andere Sicht auf bekannte Dinge, sondern ein Explizitmachen ihrer Potentiale für das, was die Bürger wollten und bereits tatsächlich taten: Die Veränderung der Welt gemäß einem neuen Normensatz. Zu viele Ideengeschichtler des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts neigen dazu, den entscheidenden nichtdiskursiven Unterschied zwischen der Ideenwelt der aufsteigenden Bürgerklasse und der Ideenwelt ihrer Gegner aus den Augen zu verlieren: Eine große Anzahl Welttatsachen verhielt sich, wie die Heliozentristen, Mechaniker, Maschinenbauer sagten, auch wenn sie’s nicht sagten; allerlei ethnostrukturale Kruditäten, vorwissenschaftliche Konstrukte wie die Alchimie, die starren Ontologien des chinesischen Beamtenkosmos (der dann Klassifizierungen von in der Natur Vorfindlichem hervorbringt, wie sie sich Jorge Luis Borges für seine berühmte satirische Taxonomie, welche die Fauna nach »Tieren, die dem Kaiser gehören, einbalsamierten, gezähmten, Sirenen, Fabeltieren, herrenlosen Hunden« ordnet, zum Vorbild genommen hat) sollen einander nach dem Willen von Figuren wie Paul Feyerabend, radikalen Lesarten der Ideen von Kuhn oder Lakatos und Foucaultianischer Wissensarchäologie einerseits inkommensurabel sein, andererseits aber eben deshalb irgendwie transzendental gleichwertig, da qua Unvergleichlichkeit der hierarchisierenden Bewertung entzogen. Tatsächlich liefern diese Weltmodelle einander ausschließende Maßstäbe für richtig und falsch, der Witz an der bürgerlichen Naturerschließung, deren von Bacon kodifizierter Methodenlehre und dem metanarrativen Rahmen der Aufklärung ist aber, daß diese drei einen Maßstab identifizieren, an den sich die Gegner im Umgang etwa mit den Gezeiten, der Navigation auf See oder der Landwirtschaft längst hielten – wo es dem Herzog und dem Domprobst was bringt, denkt er nicht anders als der französische Materialist, nur fürs Soziale hat er eine Sonntagslehre aus göttlicher Legitimität und fraglos zu akzeptierender Tradition ersonnen, die von der Aufklärung als überflüssig weggekürzt werden konnte. Das Denken der Bürger brachte behauptete Welttatsachen als überflüssige Zusatzannahmen zum Verschwinden; es war also nicht einfach eine neue Art, die vorhandenen Daten zu gruppieren, sondern ein Verfahren, die Menge der Kriterien zu reduzieren, an denen man die Daten maß. Weil uns das, da wir es samt den Erfolgen, die es ermöglichte, und den Reichtümern, die es schuf, geerbt haben, gleichsam sozialintuitiv einleuchtet, kommen uns umgekehrt die Debatten, die man führte, als es erst durchgesetzt werden mußte, heute weniger inkommensurabel als vielmehr wie Zeitverschwendung vor: Gegen Galileis Entdeckung der Jupitermonde wurde noch im frühen siebzehnten Jahrhundert vorgebracht, sie verstoße aufgrund ihrer Veränderung der Sonnenbegleiterindizes gegen die im Makro- (die damals bekannten Metallsorten, irgendwelche Tierordnungen etc.) wie Mikrokosmos (etwa beim Abzählen der Öffnungen im menschlichen Kopf) allein maßgebliche Siebenzahl. Ob etwas existierte und wie es funktionierte, darüber entschieden bei den zugelassenen Intellektuellen der Sklavenhalter- und Feudalepochen nicht Beobachtung, Aufstellen von Sätzen, Probe und Gegenprobe, sondern die Freiheitsgrade des vorausgesetzten Weltmodells. Agencements von Ideen wie die christliche Religion, der Hinduismus oder Konfuzianismus rechtfertigen existierende soziale Arrangements (wenn das auch, vulgären Ideologietheorien zum Trotz, längst nicht alles ist, was sie leisten), das bürgerliche Denken aber war geeignet, dabei zu helfen, ein solches Arrangement zu zerstören: Das ist, über die oben angeführte Ausnutzung des Widerspruchs zwischen Alltags- und Sonntagsweltsicht der Gegner hinaus, der zweite entscheidende Unterschied zwischen den Ressourcen und Leistungen der Aufklärung einerseits, der zweite wichtige Unterschied zwischen dieser und beliebigen weitverbreiteten Denksystemen andererseits.

Weil die europäischen Bürger eine Rede- und Schlußweise entwickelt hatten, die ihnen die Koordination ihrer Taten untereinander und den produktiven gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur massiv erleichterte, mußten schließlich sämtliche Gesellschafts- und damit auch symbolische Weltaneignungsordnungen, die der Expansion der Träger jener Ideenkomplexe im Weg standen, unter Anwendung ökonomischer, politischer, relativ selten auch: physischer Gewalt weichen. Jahrhunderte, bevor Marx verlangte, man solle die Welt nicht länger bloß verschieden interpretieren, sondern verändern, machte die Aufklärung mit der Überführung von Erklärungs- und Voraussagekraft weit ausgreifender Theorien über Natur und Gesellschaft in politische Gestaltung ernst.

V. Kann die Aufklärung wahr sein?

Wie schon bei Schönheit, Größe und Güte der griechischen Antike machen die Maßstäbe, die man gewinnt, wenn man die bürgerlichen Stärken verallgemeinert, indem man von ihrer historischen Gewaltgrundlage (Stichwort »ursprüngliche Akkumulation«: Die Lohnarbeiter mußten erst gemacht werden, die Kleinbesitzer enteignet, dabei gingen die Bürger durchaus nicht immer zartfühlend vor) abstrahiert, den besonderen Weg, auf dem sie geschichtswirksam wurden, fragwürdig. Am gefährlichsten fürs Behagen und die Selbstgewißheit des bürgerlich-liberalen Bewußtseins ist dabei der Wahrheitsbegriff der Aufklärung (seine Baconschen, spinozistischen, Rousseauschen Aspekte haben wir kennengelernt, das Buch wird sie um weitere, präzisierende ergänzen): Während vor und jenseits der aufgeklärten Ideenwelt das Wahre Offenbarungs-, Reflexions- oder Traditionscharakter hat, sich also an keiner Praxis, keinem procedere von Probe und Gegenprobe bewähren muß, denkt die Aufklärung erstens empirisch-protopragmatistisch (wie später bei Dewey und Rorty ist wahr das, was funktioniert) und zweitens, in dialektischer Spannung hierzu, rationalistisch-probabilistisch (für die Aufklärung kann ein Gedanke durchaus erfolgreich sein, ohne wahr zu sein: Das Erbe des Aristotelismus, die Unterscheidung Wesen/Schein, hat man im Entstehungsprozeß der neuzeitlichen Weltsicht in ideologiekritischer Absicht gegen alle religiösen, philosophischen und sonstigen Ideenbauten gekehrt, die nicht nach Bacons Regeln errichtet waren). Nur weil die Aufklärung somit dialektisch denkt: »Was der Praxis hilft, mag dennoch falsch sein, was ihr aber schadet, kann niemals wahr sein«, besitzt der Bürger einen Begriff vom Fortschritt: Unsere heutige Praxis muß weiter optimiert werden, damit wir diejenigen verkehrten Ansichten loswerden, die wir noch nicht entlarven konnten, weil sie in den Grenzen dessen, was wir jetzt tun, richtig zu sein scheinen. Das Bessere ist der Feind des Guten, und das »Ding an sich«, dessen zutreffender Auffassung sich die Forschung incrementally und approximativ nähert, ist die notwendige Leerstelle der Verbesserbarkeit der Welterschließungstechniken, die wir besitzen; das Eschaton der Nichtoffenbarung.

Wer in diesem Wahrheitsbegriff erzogen wurde, kann dank seiner sogar erkennen, daß die zentralen Begründungszusammenhänge, die für das bürgerliche Zeitalter das Sein und das Sollen, Erkenntnis und Interesse zusammenbringen möchten, nach denselben Kriterien im Grunde fadenscheinig sind, die seine transzendentale Axiomatik ausmachen.

Die ersten Wahrheiten des neuen Systems der Wahrheitengewinnung sind gar keine, das mittels der Insistenz auf der Verbindung von Beobachtung und zwingenden Folgerungen eskamotierte Normative, das hinter Vernunftbestimmungen und Datenerhebung zum Verschwinden gebracht werden soll wie der Zauberer von Oz hinter seinem Wandschirm, liegt nach der Selbstaufklärung der Aufklärung, Unterwerfung des Gedachten unter die Kritik, so unbegründbar zutage, wie es immer war, vergleichbar dem kategorischen Imperativ, der sich aus nichts folgern läßt, ohne den Humeschen Einwand zu verletzen, und aus dem weder auf induktivem noch auf deduktivem Weg etwas folgt, was nicht einfach Dezision ist (ich will so handeln, daß die Maxime meines Willens jederzeit zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden kann, oder ich will dies nicht). Der von der Aufklärung erzeugte Schein, ihre Verknüpfungen ethischer Postulate mit wahren Aussagen seien ihrerseits wahre Aussagen, zerriß nicht, weil die christlich-feudale Wissenskultur samt ihren platonischen und neuplatonischen Beimengungen aus der Antike den öffentlichen Gedankenaustausch mehr als anderthalb Jahrtausende lang daran gewöhnt hatte, Ontisches, Deontisches und Logisches in systematischen Kategorienfehlertransaktionen ineinander kollabieren zu lassen – dergleichen Kategorienfehler sind das tägliche rhetorische Brot gerade anspruchsvoller Erlösungsreligionen, im Gegensatz etwa zu animistischen oder stärker am Ritual als am Dogma interessierten.

Die logischen und eristischen Sitten und Unsitten in den betreffenden, nach allen Richtungen und auf allen Ebenen streng regulierten, restringierten, polizierten Kleinstöffentlichkeiten wurden von der Aufklärung länger in Ruhe gelassen und freundlicher geschont als je irgendein konkreter Kanzelsatz. Die lumières konnten ihnen immer wieder erliegen, weil die Konkurrenz ihr das wegen eigener, weit gröberer Vergehen auf diesem Feld schwerlich zum Vorwurf machen konnte. Mehr noch: Sie hatten subjektiv wohl keine Wahl, sie mußten die schlechten Gewohnheiten der voraufgeklärten Philosophie mitschleppen, weil sie derselben Konkurrenz sonst zuviel wertvolles Terrain hätten überlassen müssen.

Der Kampfverlauf erzwang symptomatisch kompromiß- und importförmige Formen der Auseinandersetzung mit voraufgeklärten Denk- und Argumentationsmustern, die man in langer geistesgeschichtlicher Aufarbeitung für naturgegeben zu nehmen gelernt hat, die das aber keineswegs sind. Einige Beispiele:

1. Die Enzyklopädie, zur ersten neuzeitlichen literarischen Kunstform der Wahrheit veredelt von Bayle, Diderot, D’Alembert, ward gemodelt nach dem fatalen Vorbild eines Buchs der Bücher und sollte dieses ausstechen. Noch die besonnensten Texte der enzyklopädischen Gattung kranken an der Suggestion der Abschließbarkeit, die dem wissenschaftlichen Gestus der open inquiry nach Baconschem Rezept im Innersten widerstreben müßte.

2. Die »Gewißheit«, nach der Descartes strebte und die ihre Spuren bis zu Leuten wie David Hilbert und den Wiener Neopositivisten hinterließ, also Leuten, die jedem Obskurantismus und jeder Metaphysik denkbar fernstanden, ist ein reichlich unaufgeklärtes Forschungsziel und wird doch immer wieder für eine notwendige Bedingung jeglicher Exaktheit ausgegeben, mit der sie methodologisch in Wirklichkeit überhaupt nichts zwingend verbindet.

3. Das Kritikmodell der Entlarvung (auf Lehrer-Neudeutsch: »Hinterfragen«), das nicht die immanenten Widersprüche einer zu begreifenden Sache entfalten und damit diskutierbar machen will, sondern um jeden Preis hinter jeder wie auch immer gearteten Sache zwanghaft eine wesenhaft andere, wahre, von der phänomenalen nur verdeckte freilegen muß, ist ein fatales, nur äußerst oberflächlich säkularisiertes Erbstück aus den Archiven des Leib-Seele-Dualismus. Neben anderen Mißlichkeiten, die an ihm kleben, verführt es Köpfe, die unzureichend auf seine Schwächen reflektieren, immer wieder zum borniertesten Patzer zahlreicher vor allem im zwanzigsten Jahrhundert von kritischen Amokläufern praktizierter Spielarten der Ideologiekritik, wonach man bei Aussagen, die einem nicht schmecken, das Recht habe, zunächst einmal zu fragen, was diejenigen, die sie machen, von ihnen haben, und erst später, wenn überhaupt, ob sie eigentlich wahr sind. Wer sich Kritik nur als Entlarvung vorstellen kann, vergißt bald, daß Aussagen manchmal einfach das bedeuten, was sie sagen, und nicht immer etwas anderes, das man mithilfe der analytischen Vokabulare Marxens oder Freuds ans Tageslicht zerren muß.

4. Bacons »Wissen ist Macht« inspirierte ein fatales Bild, das von der Beherrschung der Natur. Es stammt aus dem feudalen Privilegiensystem: Der Leibeigene wird vom Herrn beherrscht, weil jenem der Boden gehört, er herrscht also über beide. Stimmt das? Natürlich nicht. Etwas, das keinen Willen hat, nichts plant und keine Ziele setzt, kann niemand beherrschen, denn Herrschaft bedeutet immer die tendenzielle Negation eines wirklichen oder potentiellen Willens durch einen anderen, in letzter Instanz die Möglichkeit der Brechung von Widerstand dagegen, daß ein willensfähiges Wesen unter die Bestimmungen eines Willens gesetzt wird, der nicht sein eigener ist. Was die wissenschaftlich möglich gemachte Technik, auf die es das falsche Bild von der Naturbeherrschung abgesehen hat, tatsächlich erlaubt, ist nicht die Herrschaft über die Natur, sondern den Verkehr mit ihr in Form von Arbeit statt bloß von Jagen und Sammeln.

5. Der Freiheitsbegriff der Aufklärung ist nicht so aufgeklärt, wie sie glauben macht. Freiheit, subjektiviert zur Willensfreiheit als anthropologischer Prämisse aller im aufgeklärten Denkrahmen möglichen ethischen Kalküle, ist ein der Freiheit zur Sünde, dem zunächst aus dem Humanismus bezeugten, dann für den Protestantismus wesentlichen Begriff von den Optionen der einzelnen unsterblichen Seele nachgebildeter oberster politischer Welt, dessen opake Beschaffenheit das bürgerliche Selbst, in dem ein secretum meum (Petrarca) lebt, auf ein universales Gattungsniveau abstrahieren soll. An dieser Freiheit finden in den polemischen, im engsten Verständnis politischen Phasen der Aufklärungspublizistik sogar andere, scheinbar basale Naturrechtskategorien ihre Grenze – »Give me liberty or give me death« ist eine Kamikazelosung, die bis ins zwanzigste Jahrhundert (vor allem dessen zweite Hälfte, das American Century) politische Fakten setzen sollte und sich erst langsam (und unter Schmerzen sowie Rückfällen in verhängnisvoll Vorbürgerliches) wieder verliert. Noch der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt versuchte in seiner berühmten, von Norman Rockwell mit einem ikonologisch zu uferloser Ausdeutung einladenden Bilderquartett illustrierten State of the Union-Address vor dem Kongreß am 6. Januar 1941 den durch allerlei kleine und große Betriebsunfälle der Geschichte lädierten und verzettelten Katalog der Menschenrechte nicht etwa auf vier Grundwahrheiten, vier Grundgesetze oder vier Grundforderungen, sondern vier Grundfreiheiten zu reduzieren: Freiheit der Rede, Freiheit des Glaubens, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht. Eine solche Wesensbestimmung der politischen Grundrechte, die »Freiheit« zur anthropologischen Essenz erklären muß, halst sich einen seit spätestens der Französischen Revolution immer wieder erbittert ausgefochtenen, jahrhundertelangen Streit zwischen den beiden Normativpolen »Freiheit« und »Gleichheit« auf, der leicht zu vermeiden wäre, wenn man die dieser Binarität zugrundeliegende Opposition – hier Individuum, hier Kollektiv – als scheinhaft erkennen würde: Wo die Freiheit der Einzelnen durch den Gleichheitsnutzen bedroht erscheint, wird schlicht ausgeblendet, daß Freiheit selbst eine sozialrelationale, keine individualontische Kategorie ist: Robinson Crusoe ist, bis Freitag eintrifft, eben nicht frei, sondern bloß von anderen unbelästigt. Er hat mit der Naturnot zu kämpfen; Freiheit im neuzeitlichen, bürgerlichen Sinn jedoch setzt Muße voraus – schon die Luxusgüter »freie Rede« (eine Meinung artikulieren also, die man sich erst einmal gebildet haben muß), das Wählen und Sichwählenlassen, also die basalen liberaldemokratischen staatsbürgerlichen Funktionsrechte, setzen eine hochgradig arbeitsteilige, der übelsten Naturnotwendigkeit durch kollektives, nicht mehr vom Ernteglück allein abhängiges Wirtschaften enthobene Vergesellschaftungsform voraus. Die Frage an Liberale, die dies nicht einsehen wollen, muß lauten: Wieviel von dem, womit du deine Freiheit und Individualität leben kannst, von der Kleidung und Nahrung über die Mittel deines Erwerbs bis zu den sublimsten Dispositiven kultureller Erfahrungen, hast du selbst hergestellt? Wie autonom ist deine Freiheit einerseits und wie weitreichend andererseits Resultat eines Menüs, das kollektive Produktion nicht nur von lebensgestalterischen Optionen voraussetzt?

Alle diese Irrtümer – der invertierte Bibelglaube der Enzyklopädisten, die Verdinglichung des Erkenntnisprozesses zum Automaten für die Herstellung von Gewißheiten, das Mißverständnis von Kritik als Überführung der einen Sorte Substanz in die andere, die falsche Bestimmung der Technik als Instrument der Naturbeherrschung, die Fehllektüre der Forderungskataloge des Naturrechts als Selbstverwirklichungsregister individueller Freiheitsoptionen – sind auf höherer Gesellschaftsstufe als derjenigen, in der die bürgerliche Emanzipation durchgesetzt werden mußte, erkennbar und korrigierbar, damals aber waren sie notwendig, weil nur sie, in der seinerzeit von erfindungsreichen Leuten zur intellektuellen Kriegsmaschine gegen die alte Ordnung montierten Konstellation, der denkerischen Unruhe, welche die schönste Tugend der Aufklärung ist, den nötigen Anfangszustand bereitstellen konnten, von dem sich abzustoßen die vieldiskutierte, oft beklagte und selten mit angemessener Dankbarkeit gewürdigte Entzauberung der Welt bedeutete.

VI. Verum, Factum, Implex

Daß man, als die Neuzeit zu sich kam, glaubte, etwas freizulegen – eine menschliche Natur, eine prima philosophia, eine neue Sorte Gewißheit –, weil man nicht sehen durfte und wollte, daß man in Wahrheit etwas erschuf, gehört zu den Latenzen, die das Menschenhirn zu allen Zeiten davor beschützen, vor lauter Wahlmöglichkeiten an sich selbst als der Instanz irrezuwerden, die da wählt. Wie bei einer Psychotherapie die Blockaden, die Hindernisse auf dem Weg zur Erlangung und Entfaltung der Fähigkeit zu lieben, zu lernen und zu arbeiten beseitigt werden, indem mittels »praktisch-poietischer« (Cornelius Castoriadis) Tätigkeit ein »ich« über die Freilegung der stattgehabten Lerngeschichte des betreffenden Hirns mindestens so sehr konstruiert wie rekonstruiert wird, haben die Aufklärerinnen und Aufklärer den Menschen ermöglicht, den sie freilegen wollten. Daß man nie wird entscheiden können, ob die Kindheitstraumata und anderen Seelenmeilensteine, die in der Therapie ausgegraben werden, sich wirklich so zugetragen haben (selbst wenn äußere Dokumente die Befunde stützen, ist bis zur Entwicklung einer Sorte Hirnscanning, die solche Anamnesen dahingehend plausibilisiert, daß sich wirklich »ältere Schichten« von Denk- und Erfahrungsprozessen auffinden und datieren lassen, nicht zu gewährleisten, daß das Erinnerte wirklich so erlebt wurde), ist gar kein Beinbruch, der Vernunft ist es egal, ob sie wiedergefunden oder neu geprägt wird. Freuds Forderung »Wo Es war, soll Ich werden« ist nicht darauf angewiesen, daß das Ich irgendeinem rousseaunischen »erkorenen Butzemann« (Adorno) korrespondiert, ein neu synthetisiertes erfüllt denselben Zweck, dem Individuum die Chance zur Liebe, zum Lernen, zur Arbeit zu öffnen. Der ganze Vorgang »Aufklärung« ist zutiefst unnatürlich, weil schon Wahrheit, das also, worauf er abzielt, keine Eigenschaft von Sachverhalten, sondern von Sätzen, menschengemachten Propositionen ist.

Das Naturrecht, die Enzyklopädie, das secretum meum der Gewißheit über die Vorgänge im eigenen Hirn, die Kritik, die Naturbeherrschung: Linksscholastik, Renaissance, Humanismus, Reformation hatten Zutaten vorbereitet, die im Medium der bürgerlichen Emanzipation explizit machten, was ihnen allen gemeinsam war – eine neue Art Gesellschaft, ins Werk gesetzt von Leuten, die in ihr eine neue Art Menschen wurden. Das Naturrecht wurde wahrgemacht unter paradoxen Voraussetzungen: Man mußte glauben, es sei bereits etwas Gegebenes, um den Mut aufzubringen, es zu etwas Gegebenem zu machen. Die produktiven Potenzen dazu waren im Schoß der alten Gesellschaft gewachsen; die neue war ihnen implizit – sie war, wie wir das in diesem Buch nennen wollen, ihr Implex. Der Wortgebrauch trägt mehrere Bedeutungen: eine formallogische (Implex ist, was expliziert werden kann), eine genealogische (in der Ahnenforschung bezeichnet das Wort den Ahnenverlust, das heißt die Erscheinung, daß in der Ahnenliste einer Person bzw. eines Lebewesens Ahnen mehrfach auftauchen, so daß die Anzahl der tatsächlichen (verschiedenen) Ahnen niedriger ist als die bei den meisten Lebewesen theoretisch mögliche Anzahl der n-ten Potenz von 2 in der n. Generation) und eine poetisch-metaphorische (von Paul Valéry ausgestaltete: Implex ist der Anteil eines Musters, der weder von dem Wort »Form« noch von dem Wort »Inhalt« hinreichend erfaßt wird und der nicht-detektivischen, nicht-reduktionistischen, nicht-entlarvenden Hermeneutik bedarf, um zu erscheinen), alle meinen wir mit: Die formallogische spielt in unseren Versuch, »Fortschritt« ohne Orthogenese und Entelechie, also ohne die Garantie einer systemisch vorgegebenen Höherentwicklung irgendwelcher Gesellschaftsformen zu denken, also ein Geschichtsbild zu entwickeln, das von der Hegelschen ein paar Bewegungsgesetze erbt, aber nicht die Illusion der Gerichtetheit; die genealogische des Ahnenverlusts erinnert uns daran, daß Möglichkeiten real sind auch da, wo sie nicht realisiert werden, ja wo ein geschichtliches Startfenster geradezu verpaßt wird (daß der Sozialismus nicht in dem von Marx und Engels geahnten Zeit- und Ereignisrahmen aus dem Kapitalismus hervorging, heißt nicht, daß es nicht so hätte sein können – selbst Skeptiker werden zugeben müssen, daß es qualitative Unterschiede zwischen dem Nichteintreten jener Vorhersage und etwa dem Ausbleiben des von irgendwelchen Sektierern aufgrund von Engelsstimmenhalluzinationen erwarteten Weltendes für den 1. Januar 1999 gibt; diese Unterschiede, die uns aus bestimmten, im weiteren zu entwickelnden Gründen sehr interessieren, fassen wir dann kategorial mit der Feststellung, bestimmte nicht unwahrscheinliche Folgelagen seien ein Implex einer spezifischen Ausgangslage gewesen, andere nicht); die poetische wird uns beschäftigen, wo uns die Untersuchung der jüngeren Vernunftgeschichte, die wir uns vorgenommen haben, dazu nötigt, Fragen der Transparenz oder Intransparenz von Denk- und Sprachbildern überhaupt zu untersuchen.

VII. Rückwärtsvorhersagen, theoretische und praktische Spekulation

Folgt man unserer Betrachtungsweise, so tun die Menschen des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts das Richtige mit falschen Begründungen, weil zunächst, da die Leute noch mitten im Falschen stecken, keine richtigen zu haben sind.

Diese Konstellation aber überlebt ihre Voraussetzungen: Noch ein so später (und in seinem Beharren auf Enlightenment values grundsympathischer) bürgerlicher Liberaler wie John Rawls kommt in seiner 1971 (also mitten im schönsten kulturrevolutionären Atmosphärendonner des 68er Rousseau-Revivals) nicht um den Rückgriff auf die Erkenntniskrücke einer »Urzustandshypothese« herum, dessen teleologische Zirkularität – der spekulative Urzustandserforscher findet dauernd Ostereier, die er selbst versteckt hat – ihm allerdings immerhin bewußt gewesen zu sein scheint.