Zahlen sind Waffen - Dietmar Dath - E-Book

Zahlen sind Waffen E-Book

Dietmar Dath

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Beschreibung

Vier Menschen treffen sich in einem Besprechungszimmer: "Können wir noch das Licht dimmen?" – "Das ist Licht wie bei einem Verhör." – "Gleich implodiere ich. Komm, frag mich irgendwas." – Jens Balzer und Lars Weisbrod stellen also Fragen, und Sibylle Berg und Dietmar Dath geben Antworten. Infrage stellen sie dabei nicht nur die Dystopie als Begriff, der letztendlich nur davon zeugt, dass man weder über die Zukunft nachdenken will, noch über die Gesellschaftsordnung. Und den Literaturbetrieb. Und die Literaturhausliteratur. Die Befindlichkeit usw. Zwei Einzelgespräche vertiefen anschließend die Themen und weiten den Horizont. Mit Maja Beckers und Thomas Vašek spricht Dietmar Dath über Karl Marx und den Fortschritt, über Fantastik und Sozialismus und darüber, warum man Geschichten erzählen muss, um zu denken. Und Sibylle Berg erläutert, warum es trotz der Dummheit der Welt noch nicht angebracht ist, an ihr zu verzweifeln. Wie Berg und Dath die Gegenwart zerpflücken, regt nicht nur zum Denken an, es ermutigt auch zum Lachen, ein Dialog im besten Sinne: pointiert, literarisch, scharfzüngig, nach dessen Lektüre man sich am liebsten selbst mit jemandem unterhalten will. Genau darüber.

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Zahlen sind Waffen

Fröhliche Wissenschaft 176

Sibylle Berg, Dietmar Dath

Zahlen sind Waffen

Herausgegeben von Jens Balzer, Maja Beckers,Thomas Vašek und Lars Weisbrod

Mit

Sibylle Berg (SB)

Dietmar Dath (DD)

Jens Balzer (JB)

Maja Beckers (MB)

Thomas Vašek (TV)

Lars Weisbrod (LW)

Inhalt

»Zahlen sind Waffen«

Sibylle Berg und Dietmar Dath im Gespräch mit Jens Balzer und Lars Weisbrod

»Freiheit ist etwas Gesellschaftliches«

Dietmar Dath im Gespräch mit Maja Beckers und Thomas Vašek

»Albernheit ist der Motor, der mich gut gelaunt durch mein Restleben führt«

Sibylle Berg im Gespräch mit Jens Balzer und Maja Beckers

Textnachweise

»Zahlen sind Waffen«

Sibylle Berg und Dietmar Dath im Gespräch mit Jens Balzer und Lars Weisbrod

LW: Wir wollen über die Zukunft reden.

SB: Ich kann gar nicht so gut reden.

JB: Das geht uns genauso.

SB: Ich kann eigentlich nur denken, während ich schreibe.

DD: Ich habe im letzten März aufgehört mit dem Denken, seitdem rede ich.

JB: Ich rede immer schneller, als ich denke.

SB: Bei mir ist es umgekehrt. Ich denke schnell, aber ich rede ziemlich langsam, was zu einer Rückkopplung und Implosion führt.

LW: Aber dafür bist Du ja im Gegensatz zu anderen Schriftstellern sehr telegen! Im Fernsehen funktionierst Du toll, zum Beispiel bei aspekte.

SB: Nur weil ich so brillant aussehe.

LW: Auch weil Du so einen Vibe hast. Du bist so …

SB: … so langsam.

DD: Ja, das hat ein bisschen was Cooles. Wie bei Norman Mailer. Der hat sich in den härteren Fällen hingesetzt, hat sich die Frage angehört, dann auf den Boden geguckt und gesagt: »Ja, aber was Sie hätten fragen sollen …«. In so ganz mitleidigem Ton.

LW: Wollen wir mit dem Interview anfangen?

SB: Können wir vorher noch das Licht dimmen? Oder meinetwegen auch ausmachen?

LW: Gute Frage.

DD: Also draußen hatten wir zwei Schalter entdeckt, aber keinen für die Lampe hier.

SB: Warum hängt man so eine schreckliche Lampe hier überhaupt hin? Können wir mal mit dem Eigentümer reden?

LW: Das ist nicht unser Besprechungszimmer.

SB: Wessen Besprechungszimmer ist es denn? Fangen wir doch mal so an.

DD: Das ist Licht wie bei einem Verhör.

SB: Ich würde auch gern noch einen Kaffee bekommen, bevor es losgeht.

LW: Ich habe hier noch einen unangerührten Kaffee, den ich mir auf dem Weg am Hauptbahnhof geholt habe …

SB: Nein, den finde ich einfach viel zu bitter.

LW: Bitter?

SB: Gleich implodiere ich. Komm, frag mich irgendwas.

LW: Sibylle, in Deinem Roman GRM zeichnest Du eine düstere Zukunft: Du erzählst, wie Großbritannien in einen futuristischen Überwachungsstaat umgebaut wird, ein Faschismus der Drohnen und Daten. Eine Dystopie haben das viele genannt. Kannst Du mit dem Wort etwas anfangen?

SB: Ich habe das Gefühl, mit dem Etikett wollen Menschen, die ihr Haus – oder auch ihr Inneres – kaum verlassen, die Realität von sich weglabeln. Was heißt Dystopie? Kannst Du mir das mal ordentlich wie ein Mensch erläutern?

JB: Ich versuch’s mal andersrum. Dietmar, Du schreibst selbst Science-Fiction-Romane und Du schreibst über Science-Fiction, im Herbst 2019 hast Du ein tausendseitiges Werk namens Niegeschichte veröffentlicht, eine Theorie der Science-Fiction. In der Betriebsliteratur wird Zukunft gerade vor allem als Bedrohung empfunden. Mit Betriebsliteratur meinen wir …

DD: Literaturhausliteratur.

JB: Ja.

SB: Was ist das?

JB: Sagen wir mal: das, was im Feuilleton besprochen wird.

SB: Aber im Feuilleton besprechen die doch oft keine Literatur, sondern eher Heimatkunde, oder?

LW: Heimatkunde?

DD: Na ja, so Bücher über: Wie schlimm waren die Nazis? Die Eltern sind krank, was nun?

SB: Romantische Ideen von Innerlichkeit.

DD: Diese Sachen, die im Imperfekt irgendwelche Zustände von Kleinbürgern schildern und deren Sorgen: Geht das alles in Zukunft auch noch gut? Also das, was in Deinem Buch die Professoren lesen, die am Ende nur noch auf einer Mülltonne sitzen. Diese abgetakelten Professoren, die Joyce-Übersetzungen übersetzen. Das hat mir irre gefallen. Übersetzungen übersetzen, das ist überhaupt das Geilste.

SB: Ja, das müsste viel mehr gemacht werden.

LW: In diese Welt der Literaturhausliteratur scheint uns neuerdings etwas einzubrechen, was man vielleicht den Hang zur Dystopie nennen könnte, also zur Beschäftigung mit der Zukunft unter dem Zeichen der Apokalypse. Warum ist das so, warum gibt es gerade so viele Dystopien?

SB: Können wir bitte wirklich erst mal den Begriff klären? Ich habe das Gefühl, der wird pauschal überall draufgeklatscht, wo es kein Happy End gibt. Was heißt Dystopie?

DD: Ich kann’s auch nicht leiden, wenn immer von Dystopien geredet wird. Das liegt ja zum einen daran, dass der Literaturliteraturbetrieb und das Mainstream-Feuilleton nie ein Interesse für Science-Fiction besessen haben; was Zukunftsliteratur eigentlich bedeutet und welche Rolle die Zukunft darin spielt, davon hat es in diesen Kreisen nie einen Begriff gegeben, man hat das alles immer möglichst weit von sich ferngehalten. Der einzige Autor, der da akzeptiert wurde, war George Orwell. Den hat man während des Kalten Krieges irgendwann als Klassiker zugelassen, weil er in 1984 so schön erklärte, warum das, was die Russen machen, eigentlich dasselbe ist wie bei Hitler. Das war so schön handlich, und darum ist da dieses Dystopie-Backförmchen entstanden.

JB: In der Dystopie kommt die Zukunft also nur als etwas vor, das man verhindern muss.

DD: Ja, und das ist der andere Grund für die Beliebtheit dieses Begriffs. Es gibt diese Neigung bei allem, das nicht diese Befindlichkeitsund Sozialkunde-Literatur ist, unbedingt einen Kunstzweck zu erraten: Was wollen die Bücher? Die Bücher wollen warnen, die Bücher wollen mahnen, die Bücher wollen aufbauen, irgendwie so was. Und das reduziert alles auf Kinderliteratur. Da mag es ja stimmen, dass die Autoren möchten, dass Kinder sich besser verstehen und sich nicht immer hauen, wenn zu wenig Kuchen da ist. Aber bei Erwachsenenliteratur? Dazu kommt: Science-Fiction oder Dystopie definiert das Literaturhaus nach Kriterien wie »da gibt’s Überwachung« oder »da gibt’s Roboter«. Nach Requisiten, nach Motiven, nach Apparaten. Aber niemand würde sagen: Der historische Roman ist Ritter und Nazis. Niemand würde sagen: Der psychologische Roman ist, wenn eine Frau weint –

LW: Aber –

SB: Nicht ihn unterbrechen, jetzt rollt er gerade so schön los! Er ist richtig gut erregt! Mich stört das nämlich auch so wahnsinnig. Diese Einordnungen und dieses Gerede von Dystopien. Ich denke mir immer: Kinder, verlasst Ihr euren Arbeitsplatz nicht? Es geht doch nur darum, sich für die Welt zu interessieren. Und zwar die Welt außerhalb von uns selbst. Und die ist –

LW: Schlimm?

SB: Ja.

JB: Dietmar, warum gibt es Dystopien?

DD: Man kann auf zwei Arten von einer Welt erzählen, die die Leser nicht erleben, nicht kennen. Die eine Art: Du erklärst die Welt einfach. Dann hast du info dumps, mal so zwei Absätze lang nur irgendwelche Namen nennen und beschreiben, wie irgendwas funktioniert. Da muss man dann aber so cool sein wie Sibylle Berg in ihrem Buch, damit das nicht nach Volkshochschule klingt. Und die zweite Möglichkeit, wie ich über etwas reden kann, das die Leute nicht kennen: Ich mach es kaputt. Und habe deswegen einen Grund, zu erklären, wie es funktioniert. Oder warum es nicht mehr funktioniert.

JB: Das ist dann die richtig verstandene Dystopie?

DD: Ja. Die Kritikerinnen und Kritiker verstehen etwas falsch, wenn sie sagen: In der Dystopie wird gewarnt und gedroht und gemahnt. Es geht da um die pure Freude daran, zu sagen: Ein Teil von dem, was ich hier erfinde, ist Scheiße und kaputt!

SB: Ich glaube, mein Buch ist in der Science-Fiction-Sparte ganz falsch. Teile spielen ja in der Gegenwart oder sogar in der nahen Vergangenheit, manches ist sogar schon wieder überholt. Beim Schreiben habe ich viel weggelassen, was vermutlich beim Erscheinen schon wieder überholt gewesen wäre.

DD: Mir gefällt das gerade. In Deinem Buch steht der geilste Satz überhaupt, ich hätte mir echt die letzten vierhundert Seiten meines Buches sparen können, wenn ich den schon gekannt hätte: »Nach dem Brexit war ein wenig Ruhe gewesen.« Das ist super wegen der Zeit, die hier durcheinandergebracht wird. Das liest jemand zu einem Zeitpunkt, als noch gar kein Brexit war und als noch völlig unklar war, ob einer kommen würde. Es ist eine Erinnerung an etwas, das vielleicht gewesen hätte sein können, aber nicht gewesen ist. Das ist Science-Fiction: Diese Kompliziertheit der Zeitverhältnisse, die eben nicht so sind, wie irgendein lineares Arschloch das gerne hätte …

LW: Sibylle, wenn Du keine Dystopie schreiben wolltest, was hat Dich überhaupt daran gereizt, Dir den Verfall der westlichen Welt auszumalen? Ist das Angstlust?

SB: Nein, ich habe nicht viel Angst. Aber Freude daran, zu zeigen, was sonst zugedeckt wird mit romantischem Scheißdreck. Das Verdeckte macht mir Angst! Mich schaudern zum Beispiel Männermassen in Anzügen. Da denke ich immer, was versteckt ihr unter dieser Kleidung und hinter diesen Gesichtern, die alle gleich aussehen? Und ich entspanne mich erst, wenn jemand das anspricht und zeigt: Wir sind in Wirklichkeit fast alle gierige, eklige Viecher, die zusammengehalten werden von einer Moral, auf die wir uns geeinigt haben, und von Gesetzen. Aber wie schnell all das wegbricht, das sehen wir jetzt. Deswegen machen mich auch viele Bücher so wütend, das ist alles Verdeckungsliteratur, was so besprochen und gefeiert wird. Alles wird verdeckt hinter Schwurbelsätzen. Könnt ihr mir folgen?

DD: Als Marxist würde ich Dir an dieser Stelle jetzt widersprechen und sagen: Die Leute sind gar nicht tief drin unten irgendwelche Bestien und schlimm und so – das waren immer die Stellen in Deinem Buch, wo ich dachte: Ich weiß nicht genau. Ich würde eher sagen: Niemand ist viel schlimmer, als sie oder er glaubt, sein zu müssen – und da liegt das Problem. Was Du über Verdeckungsliteratur sagst, kann ich aber gut nachvollziehen: In der Literaturhausliteratur darf man über all diese Sachen nur reden, wenn man dann gleich in die Dritte Welt geht oder ins Problemviertel, wo es ganz schlimm ist, aber alle sind letztlich genauso versöhnungsbedürftige Kleinbürgerherzen wie wir, bloß in dreckig. Da bricht für mich der Unterschied zwischen Tröstung und Trost auf. Tröstung ist, wenn irgendein Nikolaus kommt und sagt: Das ist ja alles nicht so schlimm. Trost ist: Ja, so schlimm ist es. Dann weiß ich wenigstens: Endlich wird mal nicht gelogen in diesem Zimmer für fünf Minuten.

SB: Ja, vielleicht geht’s um das.

DD: Harlan Ellison hat mal geschrieben –

SB: Wie merkst Du Dir das denn alles? Wer da irgendwas geschrieben hat …

DD: It’s my life, it’s all I am.

SB: Oh my God.

DD: Jedenfalls hat der Science-Fiction-Autor Harlan Ellison mal gesagt, diese Fiktionen, wo vor Schreck die Leute weglaufen, der verrückte Poe unter Drogen, der Baudelaire: These are the only moments of truth in a life of endless lies.

SB: Das ist wunderbar, jetzt weiß ich, warum mir das so gefällt.

LW: Dietmar, Du schreibst in Deinem Buch über Science-Fiction, die wisse, »was ich als kleiner Junge lernte, sobald mir auffiel: Meine Ängste vor dieser oder jener Zukunft sind zumindest insofern nicht ernst zu nehmen, als es zwar manchmal schlimm kommt, manchmal schlimmer, aber nie wie ausgemalt.« Schreibt und liest man Dystopien, weil man hofft, dass es dann so nicht kommt?

DD: Das war noch die Kinderidee, ich habe inzwischen eine pubertäre, die ist ein bisschen weiter. Es geht nicht darum, dass das, was ich in der Kunst machen kann, nicht passieren wird, sondern dass ich weiß: Immerhin kann ich noch Kunst machen. Ich bin nicht im Luftschutzbunker, solange ich einen Roman über einen Luftschutzbunker schreibe. Selbst wenn ich drin sitze, im Schreiben kann ich mir was dazudenken und was wegdenken. Es ist Freiheit.

SB: Ich freue mich auch täglich, wie wunderbar es ist, dass ich noch irgendwas machen kann und nicht im Keller eingesperrt bin. Du hast in Deiner Jugend Science-Fiction gelesen, ich in meiner Kindheit Edgar Allan Poe. Ich wollte immer wissen, was kommt. Was bei uns allen kommt, ist der Tod. Und der Weg dahin kann unterschiedlich unangenehm sein. Eine demütigende Überforderung, dieses Wissen um das sichere Ende – auch bei GRM ging es mir darum: eine Einordnung der Überforderungen, die wir gerade erleben. Die digitale Revolution mit der Möglichkeit unbegrenzter Überwachung, die Naturkatastrophen, die schwindenden Ressourcen, der blühende Faschismus. Gelingt es mir, zwischen diesen Punkten eine Verbindung herzustellen, auch wenn sie eventuell falsch ist?

LW: Und gibt es so etwas wie ein revolutionäres Subjekt? Das ist auch eine Frage, die Du in GRM