Der Irrweg - Martin Lechner - E-Book

Der Irrweg E-Book

Martin Lechner

0,0

Beschreibung

Mit "Der Irrweg" ist Martin Lechner erneut ein abgründiges und lustvolles Verwirrspiel der Sonderklasse gelungen. Sprachgewaltig, komisch und ausdrucksstark erzählt Martin Lechner vom Schulabbrecher Lars, der seinen Zivildienst in den Werkstätten einer psychiatrischen Anstalt ableistet. Nur im "Brockwinkel" findet Lars Zuflucht vor seiner Mutter, deren Übergriffe schlimmer sind als jeder tobende Patient. Hier begegnet Lars auch der Insassin Hanna, die ihn aus dem Nichts in die herrlichsten Handgreiflichkeiten verwickelt, deren Kompromisslosigkeit jedoch bald bedrohliche Ausmaße annimmt. Ist sie es, die das Auto des Werkstättenleiters abgefackelt hat? Und werden die Flammen ihrer Liebe bald auch den durchs Leben stolpernden Lars verbrennen? Und kann, wer auf dem Irrweg ist, je zurückfinden in ein geordnetes Leben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 306

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Lechner

Der Irrweg

Roman

© 2021 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.com

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4642 2

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1730 9

Inhalt

Beschäftigungsstätte

Kasino

Dienst

Treppenlauf

Schule

Niedergellersen

Fumée

Direktorenzimmer

Schulhof

Macht

Besuch

Angst

Autowäsche

Komet

Burg

Bockwürstchenabende

Niemann

Schmitz

Baggersee

Rache

Fox

Geschenk

Feuer

Verhör

Erscheinungen

Helms

Waldlauf

French Film

Irving

Strafe

Boulder

Nase

Joppel

Leistungsknick

SMS

Angriff

Dieter

Rückkehr

Fäuste

Genesung

Waschmaschine

Schwimmbad

Wandsitzen

Rückkehr

Begrüßungsessen

Eleanor

Stillstand

Rotengrund

Leistungskurs

Flaschenlager

Gang

Schwimmunterricht

Brücke

Küche

Parkplatz

Phineas

Besprechung

Brand

Gartentrunk

Rückfahrt

Axt

Mutter

Pausenhof

Flaschenknecht

Vergeltung

Vulkan

Koje

Klippe

Ende

Quitt

Start

Beschäftigungsstätte

Lars, der sich vor zehn Monaten albernerweise für den Zivildienst in der Psychiatrischen Anstalt am Stadtrand von Linderstedt gemeldet hatte, betrat die Beschäftigungsstätte pünktlich um halb acht. Herr Lehm saß bereits in seinem engen, nach Achselschweiß und Ärger riechenden Kabuff, glücklicherweise, denn viele Wortwechsel zwischen dem Leiter der Arbeits- und Beschäftigungstherapie und dem ihm unterstellten Zivildienstleistenden endeten damit, dass Lars die Augenbrauen so weit herunterzog, dass der obere Teil seines Sichtfeldes, in den Lehms verbeult wirkender Kopf hineinragte, dunkel weggeblockt wurde. Das wirkte zwar, als hätte er die Kontrolle über sein Gesicht verloren, aber er konnte den Mann, der seinen Auftrag darin sah, den lädierten Seelen erneute Leistungsbereitschaft einzudrillen, nicht leiden. Da half es auch nichts, dass dieser ihm gleich am ersten Tag erzählt hatte, dass ihn seine Frau vor einem Jahr im Stich gelassen habe. Nach fünfundzwanzig solide absolvierten Ehejahren, wie er mit einem verlangsamten Kopfschütteln angefügt hatte, bei dem ihm vermutlich das ganze öde Eheelend im Zeitraffer durchs Bewusstsein gerattert war.

Lars hustete zur Begrüßung und bezog Posten in der Küche. Zunächst musste er das Wasser zehn Minuten lang laufen lassen. Über Nacht lagerte sich Blei in den Rohren ab. Polternd rauschte der Strahl ins Spülbecken und verströmte einen stechenden Metallgeruch. Als Nächstes kam der sogenannte Cofachtherapeut Rupp. Stumm steckte er den Kopf in die Küche, sonderte seinen morgendlichen Brummlaut ab und verfügte sich dann in sein Reich, das Kabuff am anderen Ende des Werkraums, so dass zwischen ihm, Rupp, und Lehm, seinem Vorgesetzten, die größte Distanz herrschte, die innerhalb des Hauses möglich war. Die Feindschaft der beiden Arbeitstherapeuten ging zurück ins Dunkel der Zeit vor dem Dienstbeginn von Lars. Leider hatte es nicht lange gedauert, in Wahrheit sogar bloß wenige Stunden, bis er zum Spielball der beiden Therapeuten geworden war. Stets gab der eine ihm Aufträge, die dem jeweils anderen missfielen. Beorderte ihn Lehm zu Botengängen durch das ganze Gelände, beispielsweise, um bei Bruns, dem Anstaltshausmeister, einen Schlüssel abzuholen, den man in Wahrheit gar nicht brauchte, weil man ihn in Wahrheit längst hatte, zur Sicherheit aber bitte ein zweites Mal haben und gleich nach Erhalt im Gewirr des Kabuffs wieder verbaseln wollte, so kommandierte Rupp ihn als Kommunikator an einen der Tische ab, vorzugsweise an den depressiven Mitteltisch, wo schweigend nach Abgas stinkende Gummis in Schellen gepresst wurden. Anstatt nun aber Lehm und Rupp gegeneinander auszuspielen, wie es vernünftig gewesen wäre, ließ sich Lars zwischen den beiden zerreiben wie ein Haferkeks, erledigte also den ihm von Lehm aufgetragenen Botengang im Galopp, um sich anschließend schnell einen Stuhl zu schnappen und an den Tisch zu schieben. Kaum hatte er versucht, die sechs leer vor sich hinlächelnden Düsterlinge aufzuheitern, zum Beispiel, indem er eine Schelle auf der Stirn balancierte, eine Kinderei, die das tischweite Schweigen zu Recht ins Bodenlose vertiefte, schickte Lehm ihn schon ins Hauptgebäude mit einer bereits schriftlich übermittelten und auch schon beantworteten, bloß noch auf den verschlungenen Wegen des anstaltsinternen Postsystems herumirrenden, überdies völlig überflüssigen Botschaft für den behandelnden Arzt eines Insassen. Die höchste Reibung erreichte der Kleinkrieg zwischen den beiden Therapeuten allerdings zur Mittagspause. Wollte nämlich Lehm den Kaffee leicht, um seinen dünnhäutigen Magen zu schonen, schimpfte Rupp über die wässrige Lorke und forderte ein Minimum von drei hoch gehäuften Löffeln pro Tasse, was wiederum zu einer säureartigen Teertunke führte, die Lehm den Magen bluten ließ. Bis Lars endlich darauf kam, statt einer einfach zwei wunschgerechte Kannen zu kochen, waren schon drei lächerliche Monate verstrichen.

Jetzt kam Gustav, ein kompakter, knapp einsfünfzig großer Kerl, dem, laut Lehms Diagnose, auf einer Baustelle die Sicherung durchgebrannt war. Er stellte sich breitbeinig in die Küchentür.

»Zivi«, begann er mit dunkel anschwellender Stimme, »ich hab’ die Pille ausgekotzt.«

»Zur Kenntnis genommen«, erwiderte Lars mit laut herausgeknacktem K. Er musste gleich zu Beginn Kernigkeit demonstrieren. Denn wenn Gustav das Medikament, das er zur Dämpfung seiner oft gefährlich ausgepegelten Stimmungszustände zum Frühstück serviert bekam, nicht intus hatte, dann sprach er ihn nicht, wie gewöhnlich, mit »Stift« an, dem bauhierarchisch niedrigsten Rang, der auch optisch gut passte, schließlich nahm sich Lars nicht nur im Vergleich zu Gustav, sondern auch zwischen den beiden Kartoffelsackgewichten Rupp und Lehm tatsächlich dünn aus wie ein Bleistift, sondern, wie eben, mit »Zivi«. Rupp und Lehm hingegen durften sich täglich der höchsten Baustellentitel erfreuen, die es gab, Vorarbeiter und Polier. Lars aber musste aufpassen. Wurde er Zivi genannt, war Gustav noch schlechter gelaunt als gewöhnlich, und schon gewöhnlich war er oft dermaßen katastrophal schlecht gelaunt, als wäre die Station 3 b, in der er nachts eingeschlossen wurde, eine Unterabteilung der Hölle. An diesen zornig ausgespuckten Zivitagen konnte es passieren, dass Lars auf den Wegen zwischen Lehm und Rupp den Stiefeltritten des mangelhaft betäubten Gustav ausweichen musste, der ihm, dem aus der Bauhierarchie ins Nichts gerutschten Wicht, zeigen zu müssen meinte, wer hier was zu sagen hatte und wer nicht. Schon jetzt, um sieben Uhr zweiundfünfzig, stand Gustav lauernd vor ihm da. Ohne den Blick zu senken, griff Lars hinterrücks nach einem Handtuch und drehte es zu einer Schlagwurst zusammen. Auch wenn er natürlich viel zu feige war, damit tatsächlich zuzuschlagen. Doch da kam schon Jana, die Teilzeitkraft, die bloß an zwei Tagen in der Woche auftauchte, sie legte Gustav eine ihrer warmen, weich gepolsterten Hände auf die Schulter, was ihn besänftigte und schließlich davonbrummen ließ.

»Gottchen, Lars, ich hab’ so keine Lust«, sie rollte die Augen nach oben, so dass kurz nur das feucht glänzende Weiß zu sehen war, das an gepellte, hart gekochte Eier erinnerte. Dann schlenkerte sie hinüber zu Lehms Kabuff. Lars ließ den linken Mundwinkel, den er zu einem halbherzigen Mitleidslächeln angehoben hatte, wieder absinken. Die Lippen zu öffnen und das Gebiss zu zeigen, vermied er, so gut es ging. Vor einigen Jahren nämlich hatten sich zwei überzählige Schneidezähne aus seinem oberen Zahnfleisch herausgebohrt, zwei wunderbar brutal wirkende Raubtierhauer, die er stets hinter der Jalousie seiner Oberlippe verbarg, aus Sorge, bei jedem Lächeln angeekelt ausgelacht zu werden. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen, sein Gesicht in jeden auf ihn niederprasselnden Spott zu strecken, um sich abzuhärten. Dafür, dass Jana ihm jedes Mal, wenn sie sich begegneten, ihre frisch geweißten Zähne zeigte und ihn dadurch nötigte, seine Lippen zwanghaft zusammenzudrücken, um die hässlichen Hauer nicht durch ein Reflexlächeln zu entblößen, hätte er sie zum Feierabend gern einmal die Treppe heruntergestoßen. Jetzt sah er ihr nach, wie sie mit ihren großen, runden Oberschenkeln, die so glatt waren wie die einer Comicfigur, zu Herrn Lehm ins Kabuff wackelte. Zur Begrüßung würde sie sich sicher wieder seufzend vorbeugen und ihre Euter im Ausschnitt schaukeln lassen, damit Herr Lehm sie den Rest ihrer ohnehin verboten kurzen Arbeitszeit in Ruhe nach Klamotten surfen ließ. Da kam Hagen reingeschlurft, zusammen mit Erika, die ihr mehlweißes, von Medikamenten verquollenes Gesicht kurz in die Küche streckte und zweimal »ßenk, ßenk« flüsterte.

»Geburtstag dauert noch«, meinte Lars.

»ßenk!«, sagte sie wieder.

»Geschenk gibt’s später«, sagte er über die Schulter. Kaum dass sie fort war, trat Hagen auf ihn zu und erklärte, dass er, wenn er nicht augenblicklich einen Kaffee bekäme, leider sehr laut schreien müsste.

»Dich sollte man wegsperren«, kommentierte Gustav aus dem Werkraum, »dann würdest du sehen!«

»Aber wenn ich keinen Kaffee kriege«, begann Hagen wieder und holte tief Luft.

»Die schlagen dich!«, dröhnte Gustav aus dem Werkraum, »und zwar mit einem Gummischlauch!«

»Das dürfen die nicht!«, rief Hagen mit vor Dringlichkeit zitternder Stimme.

»Das machen die aber!«, schrie Gustav. Da drohte Lars, dass sie beide eine Woche lang kein Frühstück bekämen, wenn sie sich nicht augenblicklich an die Arbeit machen würden, und war froh, als seine in Wahrheit kaum durchzuhaltende Drohung Wirkung zeigte.

Trotz dieses kleinen Sieges lag die schiefe Stimmung ungut in der Luft und hatte gegen Mittag, als Lehm seinen Gang zur Poststelle machte und Rupp, der den ganzen Vormittag über nicht richtig aufgewacht war, bereits wegzudämmern begann, die gesamte Beschäftigungsstätte erfasst. Und so dauerte es nicht lange, bis Dieter, dessen Platz an der Wand mit einem gepolsterten Lederstoßfeld für seine gelegentlich unkontrolliert nach vorn gerammte Stirn ausgestattet war, seinen bloß halb so großen Kollegen Viktor, den er stets nur Hektor nannte, als wäre er sein Hund, quer durch den Raum mit Schellen bewarf. Viktor, der den Angriff für ein Spiel hielt, begann erfreut zurückzufeuern. Der depressive Mitteltisch schien die über seine Köpfe sausenden Geschosse kaum zu registrieren. Umso mehr die Forensischen, all jene, die mit jählings erloschenen Bewusstseinslichtern irgendeinen strafbaren Unsinn angestellt hatten, oft unter Einfluss von Alkohol. Sie waren, das hatte Lars schnell begriffen, die hellsten Köpfe in diesem zusammengestoppelten Haufen und erkannten sogleich die Gelegenheit, den in der Luft liegenden Rabatz zu einer Revolte hochzustacheln. Schon bald jagte Lars im Hagel der Schellen, Gummis und Schrauben zwischen den Tischen hin und her und versuchte die zusammenbrechende Ordnung aufrechtzuerhalten, indem er die aufgeregt aus den Sitzen schnellenden Schellendrücker zurück auf ihre Stühle zog. Statt sie anzubrüllen, dass ihnen die Ohren abfielen. Oder die neben der Kaffeemaschine bereitliegende Schlagwurst einzusetzen. Als ihn eine der scharfkantigen Schellen an der Schläfe traf, verzog er sich in die Küche. Die anschwellende Saalschlacht im Rücken blickte er nach draußen auf die Wiese. Ein weißes, aus Gehwegplatten zusammengefügtes H zeigte die Landestelle für den Rettungshubschrauber an. Dahinter senkte sich die grüne Fläche hangabwärts zu dem aus groben Sichtbetonblöcken zusammengesetzten Hauptgebäude. Je länger er da stand und hinausschaute, desto stärker spürte er, wie ihn eine honigdunkle Müdigkeit durchquoll. Vielleicht hätte er gestern nicht so lange mit den anderen auf den staubigen Sofaungeheuern herumsitzen sollen. Obwohl, gestern hatte er gar nicht so lange mit den anderen auf den staubigen Sofaungeheuern herumgesessen, das war ja vorgestern gewesen. Gestern hatte Philipp sein blödes Wohnzimmerworkout gemacht und nachdem er Lars zum dritten Mal einen seiner schweißnassen Muskelarme um die Schultern gelegt, »kleines Titti« gesagt und ihn dabei in die Brust gekniffen hatte, war Lars in sein Zimmer gegangen und früh im Bett gewesen. Darum war er heute eigentlich ausgeschlafen und hätte, als um Viertel vor sechs der Handywecker piepte, seine faulen Füße in die Laufschuhe schieben können. Doch leider hatte ihn nicht das angekündigte Sommerunwetter begrüßt, auf das er sich beim Einschlafen schon gefreut hatte, sondern bloß dieser seidenblaue Tag. Ohne scharf über den Himmel gezackte Blitze, ohne ein Geprassel murmelgroßer Tropfen, ohne verschlammte Äcker, die jeden Tritt gierig ansaugten, bis man hinschlug und sich erdbraun, tropfnass, sackschwer wieder hochraffen musste, mit gefletschten Zähnen weiterjagte und endlich, mit kalt gehechelten Lungen und einem fiebrigen Klopfen in den Schläfen, wieder zurückkehrte auf das Gelände der Anstalt, lohnte es sich angeblich nicht, überhaupt loszulaufen. Weil nämlich, wer bloß bei schönem Wetter lief, ein Schönwetterläufer war. Wer hingegen nur bei Schlechtwetter lief, bei Unwetter und Weltuntergangswetter, Biss und Matschbereitschaft zeigte und sich vorkommen durfte wie eine leinwandreife Kampfmaschine. Klang gut, war aber falsch. Weil ja der Schönwettersportler in Wahrheit viel häufiger trainieren musste als der Unwettersportler. Weil auch im Heidekreis viel häufiger kein Unwetter herrschte, sondern, wie heute, der allerschönste Sonnenschein. Fast wäre er der undurchdachten Begründung seiner Lauffaulheiten auf die Schliche gekommen, wäre nicht genau in diesem Moment, in dem er gedankenvernebelt aus dem Fenster blickte, jemand ins Bild getreten. In einem übergroßen, schwarzen Kapuzenpulli, unter dem weißblonde, grob zusammengeknotete Haare leuchteten, in silbernen Discoleggings und schwarzen Stiefeln, stand ein Mädchen, das er noch nie gesehen hatte, vermutlich eine Insassin der Villa Macklich, wie die jugendpsychiatrische Abteilung im Brockwinkel genannt wurde, unter seinem Küchenfenster. Sie winkte ihm zu wie einem seit Jahren vermissten Geliebten. Automatenhaft hob er eine Hand, doch bevor er zurückwinken oder gar das Fenster öffnen und sich lächelnd hinausbiegen konnte, hörte er Lehm die Treppe hochstampfen. Er wandte sich so abrupt vom Fenster ab, dass ihm, während Lehm die Eingangstür aufriss und wieder zuknallte, die Geliebte, Quatsch, die Bekloppte noch als flackerndes Nachbild über die Netzhaut geisterte. Jetzt rappelte sich auch Rupp aus seinem Kabuff, kam nach vorn geeilt, als hätte die Saalschlacht eben erst begonnen, und mit einem doppelstimmigen Kommandogewitter donnerten die beiden Therapeuten den Werkraum zurück auf die Plätze.

Kasino

Nachdem die Ordnung im Werkraum wiederhergestellt worden war, baute sich Lehm in der Küche auf. Wie es sein könne, begann er, dass er, Lars, sich in die Küche wegschleiche, wenn nebenan die arbeitsscheue Mannschaft aus den Sitzen fahre? Ob er vielleicht selbst von Arbeitsscheu befallen sei? Nicht ungefährlich, junger Freund! Denn Faulheit führt zu Fäulnis. Und verfaulte Menschen braucht man nicht! Während die Belehrungsrede über ihn hinbrauste, hantierte Lars stumm an den Kaffeemaschinen herum. Als der leitende Fachtherapeut wieder in sein Kabuff marschiert war, stellte Lars die Lehm’sche Kanne Lorke und die Rupp’sche Kanne Tunke bereit und ging zum Mittagessen. Auf dem Weg zum Kasino dampfte ihm der Widerspruch, der sich bei dem Vortrag in seinem Kopf diffus zusammengebraut hatte, aus den Ohren. Schließlich stand er erschöpft im Geklapper an der Essensausgabe, suchte sich einen Platz an der Wand, wo er niemandem gegenübersitzen, niemanden ansehen, mit niemandem sprechen musste, und zwang sich dann, das lebendig zitternde Stück Presskopfsülze, das heute Essen 1 war, Bissen für Bissen herunterzukauen. Diese Regel, immer Essen 1 zu wählen, hatte er sich gleich zu Beginn seiner Zeit in der Anstalt auferlegt. Als Maßnahme gegen seine ihn manchmal für Minuten, manchmal ganze Monate lang lahmlegende Entscheidungsschwäche. Dadurch glaubte er, des unaufhörlich am Bewusstsein saugenden Problems Herr zu werden. Er schloss die Augen, da er fürchtete, die glänzenden Gelatinebrocken, in die eine Salve pinker Speckstücke eingeschossen war, könnten ihm den Hals wieder hochkriechen, wenn er sie zu lange anschaute. Drei Minuten später, nachdem er den Teller leergegabelt und die Lider mit einem erleichterten Atemstoß wieder aufgeschlagen hatte, saß plötzlich neben ihm, den Kopf vorgeschoben, als wollte sie an ihm riechen, das Mädchen von der Wiese. Ohne sich vorzustellen oder zu fragen, ob sie hier sitzen dürfe, erzählte sie sogleich, dass neulich auf der Nachbarstation, der so genannten Babyklappe, wo die Kinder sechs bis dreizehn Jahre alt seien, fünf kleine Kloppis versucht hätten, sich das Leben zu nehmen. Statt sie anzuschweigen, bis sie wieder verschwand, meinte er bloß, dass das ja schrecklich sei.

»Der Patrick«, erklärte sie und stieß mit ihrem Silberschenkel an sein Jeansknie, »indem er sich von der Rutsche gestürzt hat, und der Ferdi, indem er versucht hat, sich den Hals aufzustechen, aber nur mit einem Plastikmesser, und Nilüfer, indem sie mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen ist, und August«, sagte sie, »indem er sich auf die Straße gelegt hat, damit ihn ein Auto überfährt, und Leon«, da musste sie Luft holen, weil sie so schnell gesprochen hatte, »der wollte sich mit den Ketten der Schaukel erwürgen.«

»Haben alle überlebt?«

»Ja, aber weißt du, was sie so verrückt gemacht hat?«

»Vermutlich«, begann er, obwohl er gar keine Vermutung hatte, aber da ließ jemand ein Tablett fallen und das Geräusch der am Boden zerschlagenden Teller und Gläser klang, als würde das ganze Kasino zersplittern. Erschrocken sah er sich um, doch im Gewoge der Leute war nicht zu erkennen, wer den Lärm verursacht hatte. Sie gab die Antwort selbst: »Ein Mädchen war verschwunden!«

»Auch eine«, begann er, zog dann aber das Wort »Insassin«, das er fragend hatte nachschieben wollen, geräuschvoll die Nase hoch, weil es ihm für sie, die ihm fest in die Augen sah und dabei immer wieder den Knoten ihrer hochgesteckten Haare zusammendrückte, plötzlich nicht mehr passend schien, »eine von euch?«, fragte er dann.

»Ja, aber hör zu, sie war drei Tage fort, dann kamen ihre Eltern.«

»Nach drei Tagen erst?«

»Siehst du, das habe ich auch gesagt, aber weil keiner wusste, wo sie war, sind sie vor lauter Verzweiflung zu einer Wahrsagerin gegangen, und weißt du, was die gesagt hat, in die Höhe müsst ihr schauen, hat sie gesagt, an den Bäumen hinauf, und dann sind sie zwischen den Bäumen von Gut Wienebüttel herumgelaufen und haben in die Höhe geschaut, so lange, bis sie schon aufgeben wollten, und da haben sie sie plötzlich gesehen, die Tochter, im Nachthemd, an einem Baum, erhängt mit einem Laken.«

»Kanntest du sie lang?«, fragte er und lehnte sich vorsichtig zurück, da sie mit jedem Satz wieder näher herangerückt war.

»Nein, überhaupt nicht«, sagte sie gleich, »wie findest du meine Ohren?«

»Schön«, hörte er sich sagen, nachdem sie ihm eines ihrer schmalen, spitzen, schräg nach hinten wegfliehenden Öhrchen zudreht hatte, »bist du traurig?«, fragte er dann, weil er sich schämte für die Schmeichelei.

»Gar nicht, ach so, wegen dem Mädchen«, sagte sie, »meinst du, sie hat sich aus Rache erhängt?«

»Kann sein, vielleicht, ich kannte sie ja nicht.«

»Weißt du, was ich an ihrer Stelle getan hätte?«, fragte sie, »ich hätte all die, wegen denen ich mit dem Laken in den Wald gegangen wäre, heimgesucht, nächtelang.«

»Wie meinst du das, als Gespenst?«

»Rache hält lebendig«, sie tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Brust.

»Das wusste ich nicht«, erwiderte er langsam.

»Dann hast du was gelernt, ist doch schön, aber schau mal«, sie zog ihr Handy aus den Leggings, der Bund schnappte scharf gegen den Bauch. Sie hackte mit dem Daumen vier Mal auf die Zwei, um den Bildschirm zu entsperren, dann hielt sie ihm ein Foto vor die Augen, das ein schwarzweiß geschminktes Mädchen zeigte, das mit winterblau gefärbten Haaren durch einen Vorgarten stakste.

»Bist du das?«, fragte Lars.

»Hinschauen«, sie zeigte auf eine dünne Galgenschnur, die das Fotomädchen wie eine Kette um den Hals trug.

»Oh, hatte ich gar nicht gesehen.«

»Gefällt sie dir?«

»Vielleicht.«

»Bist du auch so ein Festlegungsfeigling?«, sie blickte ihn streng an.

»Gar nicht«, sagte er gleich, »wieso auch?«

»Nicht so wichtig, weißt du, wer mir gefällt?«, Betonung auf mir, »du gefällst mir«, Betonung auf du, »eine Weile schon«, schob sie hinterher, »eine ziemlich lange Weile sogar.«

»Ich bin übrigens Lars«, sagte er unvermittelt und geradezu so, als wollte er sein gesamtes albernes Wesen mit vier Worten unter Beweis stellen. Denn diese Bemerkung, dass er ihr gefalle, und zwar seit einer ziemlich langen Weile schon, obwohl er sie doch erst seit vier Minuten kannte, so etwas zu übergehen, anstatt zu fragen, ob sie ihn beobachtet habe, und wenn ja, wie lange schon und wo und wann und warum, das war nur möglich, wenn einem das Gehirn zusammengeschrumpft war auf die Größe einer Kartoffel. Da fiel sein Blick auf die Kasinouhr über der Kasse: »Mist, ich muss los!«

»Weißt du, wen ich hasse?«, sie hatte sein Handgelenk gepackt.

»Keine Ahnung, deinen Papa?«

»Den auch, nein, deinen Chef.«

»Den Lehm?«, er spürte ihre Fingernägel an seinem Gelenk, »kennst du den denn?«

»Weil du pünktlich sein musst.«

»Das muss ich leider«, er schob den Stuhl mit dem Hintern zurück.

»Obwohl wir uns zum ersten Mal unterhalten«, Finger für Finger öffnete sie den Griff.

»Wir laufen uns sicher wieder über den Weg«, meinte er und war schon aufgestanden.

»Wann?«, die Muskeln in ihren Wangen spannten sich.

»Keine Ahnung, bald.«

»Ich warte auf dich«, erwiderte sie, er nickte und drückte sich durch das Gedränge davon. Nachdem er sein Tablett auf das überfüllte Transportband gesetzt hatte, blickte er noch einmal über die Schulter. Sie hatte sich erhoben und sah ihm nach. Die Kapuze, die sie sich über den Kopf gezogen hatte, verdunkelte ihr Gesicht. Wie hieß sie denn eigentlich, das hatte er gar nicht gefragt. Mit einem plötzlichen Ruck stand eine Gruppe von Pflegern auf. Die Metallbeine der Stühle kreischten über den gekachelten Boden, und das Mädchen war hinter einer Wand aus grünen Kitteln verschwunden.

Dienst

Kaum dass die Kantinentür hinter ihm ins Schloss gefallen war, zitterte das Handy in der Hose. Natürlich wieder Mama. »Kannst du bitte pünktlich sein«, schrieb sie, »wir machen einen Ausflug.«

»Nein, das kann ich nicht«, sagte er und stopfte das kleine Folterwerkzeug zurück in die Tasche. Ihm war übel. Von der widerlichen Sülze. Er durfte gar nicht daran denken. Und die Selbstmordgeschichten zum Nachtisch waren ihm auch nicht gerade gut bekommen. Und dann wieder dieses SMS-Gedrängel. Den ganzen Vormittag über hatte er nicht daran gedacht. Doch jetzt neigte sich der Tag langsam auf den Mittwochabend zu, diesen unausweichlichen Termin, an dem er nach dem Dienst noch einmal zum Dienst musste. Immerhin hatte er die Einsatzfrequenz von anfangs drei Mal pro Woche, am Montag, am Mittwoch und am Freitag, manchmal war sogar noch ein Wochenendtermin dazugekommen, auf diesen blöden letzten Mittwoch reduziert. Und wenn er in der Lage gewesen wäre, zu mehr als nur zu einem Bruchteil Herrschaft auszuüben über sich selbst, dann hätte er auch diesen Termin noch gestrichen und wäre nach dem Ende seiner Zeit im Brockwinkel vielleicht gar nicht mehr zurückgekehrt nach Kaltenmoor. Stattdessen nahm er sich in der Küche Rupps nur halbgeleerte Kanne und ließ sich eilig drei Tassen der lauwarmen Gerbsäure den Hals herunterrinnen. Es dauerte keine zehn Minuten, bis der vor einigen Monaten entdeckte, nun fast täglich herbeigeführte Effekt einsetzte. Der beißende Kaffee führte nämlich zu einem ballonartigen Anschwellen seiner Eingeweide, die zügig auf eine meist explosionsartige Entladung drangen. In Windeseile schloss er sich in der Toilette ein, einem fensterlosen Kämmerchen neben Lehms Kabuff, und lauschte dem Gewitter in der Schüssel unter sich. Für eine gute halbe Stunde saß er da, erschöpft, entleert, erlöst, und zockte nebenbei eine Runde Mangiami, ein lebensfeindliches, grafisch sehr kastiges Spiel aus der Steinzeit aller Computerspiele, bei dem man einen müden Haufen Pixelzombies so lange reizen musste, bis sie endlich geruhten, einen anzufallen und aufzufressen.

Treppenlauf

Um sechzehn Uhr fünfzehn, nachdem er die Stühle hochgestellt und den hereingelatschten Dreck in wilden Staubwolken zur Tür herausgefegt hatte, verließ er die Beschäftigungsstätte und hätte sich am liebsten bis zum nächsten Morgen im Bett beerdigt, statt zum Wohnheim zu rennen, das Rad aus dem mit zahllosen Zivirädern und Radleichen verstopften Keller herauszukämpfen und sich auf den Weg zu machen nach Kaltenmoor. Im hellsten Julilicht fuhr er hinunter in die Stadt und durchquerte den englischen Park, an dessen Seiten sich der Boden gefährlich abgesenkt hatte, eine Folge des jahrhundertelangen Salzabbaus. Falls das ermüdete Erdreich Linderstedt demnächst zur Gänze verschlingen sollte, Lars hätte es nicht gestört. Er jagte mit seinem altersschwach rasselnden, betonschweren, froschgrünen Fahrrad über das Kopfsteinpflaster am Sande, wobei ihm das Gehirn im Kopf zu rütteln begann und die Welt in verzitterten Doppelbildern erschien, die sich, kaum zurück auf dem glatten Asphalt, wieder sanft übereinanderlegten. Anschließend quälte er sich die Stadtbrücke hinauf und hatte, je höher die Wohnblöcke über das Stadtwäldchen ragten, eine immer stachligere Laune. Mit einem Grausen, das ihm unter die Haut fuhr wie das Kreischen von Fingernägeln auf einer alten Kreidetafel, sah er die Anstaltszeit auf ihr Ende zuschrumpfen. Nicht mehr lang und ihm würde nicht bloß ein Abend pro Woche, sondern wieder jeder Abend einer jeden Woche und eines jeden Monats und Jahres weggefressen werden von seiner eingebildeten Aufräumpflicht, Aufpasspflicht, Abschirmpflicht. Wenn auf eine von Mamas so genannten Sektnächten ein Tag voller Sofasiechtum und Gewimmer folgte, kröche ihm wieder die quälende Vorstellung den Rücken hoch, dass er sich um ihre Entschuldigung bei der Nordpflege kümmern müsste, dem Altenpflegedienst, der sie noch immer nicht gefeuert hatte, dass er den Wagen holen müsste, falls sie ihn nachts irgendwo stehengelassen hatte, dass er einkaufen, abwaschen und sich Erklärungen ausdenken müsste für nachts wachgelärmte Nachbarn.

Punkt siebzehn Uhr, als er auf die Betonplatten des Parkplatzes vor dem zwölfgeschossigen Wohnturm rollte, sah er gleich, dass sie zu spät war. Der senfgelbe ehemalige Postgolf mit der moorbraunen Beifahrertür, der kaum durch den nächsten TÜV kommen würde, stand noch nicht da. Warum konnte sie nicht pünktlich sein?, kläffte es in seinem Kopf. Statt sich zu fragen, wieso er selber pünktlich war. Beziehungsweise überhaupt erschien. Ärgerlich schloss er das Rad bei den eingegitterten Müllcontainern an den Pfahl einer totgetretenen Laterne und setzte sich auf die Treppen vor dem Haus. Noch eine Runde Mangiami? Aber schon heute Mittag hatten die Untoten nur sehr unwillig einige wenige Stückchen Fleisch von seinen Knochen gebissen. Nein, er hatte eine bessere Idee. Er stieß die Haustür auf, beidhändig, was ein Gefühl von Entschlusskraft aufflammen ließ, und betrat das unten nach Desinfektionsmitteln, in den mittleren Stockwerken nach Schokolade und Windeleimern sowie weiter oben nach einer Mischung aus Haarlack, Bratwurst und Langeweile riechende Treppenhaus. Er holte einmal tief Luft, dann stürmte er, so schnell er konnte, hoch in den zehnten Stock. Das Lauffeuer, das heute Morgen gefehlt hatte, schien jetzt in seinen Beinen zu brennen. Oben angekommen, rannte er bis ans Gangende und klatschte einmal ab an ihrer Wohnungstür. Mit einem Trommelwirbel in der Brust jagte er erneut hinab ins Erdgeschoss. Die Hände auf die Knie gestützt, versuchte er seine flatternde Atmung wieder einzufangen. Eine der alleinstehenden, abgelebten Damen aus den unteren Geschossen, die auseinanderzuhalten er sich schon immer geweigert hatte, weil sie alle gleich aussahen mit ihren dunklen Modermänteln und den eingestürzten Bittermienen, drückte kopfschüttelnd den Fahrstuhlknopf. Schon hastete er erneut hinauf in den zehnten Stock, trat einmal gegen die Tür und sprang, ans Geländer gekrallt, wieder hinunter. Nachdem er sich zu einer dritten, nur noch mit Blei in den Beinen ausgeführten Runde gezwungen hatte, tappte er zuletzt mit verschwommener Sicht und dunkel durchgeschwitztem Hemd vor die Haustür, wo er entkräftet auf die Stufen sank. Leider nicht, um sich die Unsinnigkeit dieser unregelmäßigen, in Wahrheit heute erst zum zweiten Mal absolvierten Treppenläufe vor Augen zu führen, die sich schon darin offenbarte, dass er sich zu der mütterlichen Wohnung, von der er doch loskommen wollte, nur immer wieder hinaufkämpfte, sondern nur, damit Mama gleich als Erstes bemerkte, wie fertig und vernichtet er aussah durch das Pünktlichkeitsgehetze, zu dem sie ihn mittags angestachelt hatte. Wie unglaublich viel lieber hätte er diesen blauen Juliabend im Wohnheim verdöst. Vielleicht hätte sogar das namenlose Gespenstermädchen angeklopft, dem er angeblich schon seit einer Weile gefalle, wie sie gesagt hatte, seit einer ziemlich langen Weile sogar.

Schule

Schließlich rollte der alte Postgolf gemütlich und ohne das geringste Anzeichen von Eile auf den Parkplatz.

»Ich warte schon«, sagte er, als Mama in ihrem fliederfarbenen Poloshirt und den weiten, weißen Hosen ausstieg.

»Geht gleich los«, sie lächelte, Falten furchten sich in die Haut um ihre Augen, dann schlüpfte sie aus den rosa Crocs, griff, während er auf ihre graugelben Füße starrte, beidhändig seinen Kopf und drückte ihm ein Begrüßungsküsschen auf die Stirn.

»Kannst du das lassen, bitte?«, fragte er und wischte die feuchte Spur ihrer Lippen schnell wieder weg.

»Ich darf das«, sagte sie, ließ sich in der offenen Tür auf den Beifahrersitz nieder und zog die Hose hinunter.

»Gott, Mama, was ist los mit dir«, rief er, kaum dass er ihre butterweißen Schenkel gesehen hatte, und lief zur Fahrerseite hinüber. Den Blick steif in den Himmel gerichtet, auf eine langsam zerflockende Wolke, wartete er, bis sie endlich fertig war.

»Ich lade dich zum Essen ein«, rief sie über das Autodach zu ihm hinüber, während sie sich die Jeans über den Hintern zog, »freust du dich gar nicht?«

»Nein«, dieses schöne, für Lars so verzweifelt schwierige Wort, das er eben so überraschend umstandslos herausgeblafft hatte, hallte in mehrfacher Wiederholung von den Wohnblöcken wider, bis es schließlich, aller Konsonanten entkleidet, als leise verebbendes ei, ei, ei von der Stille verschluckt wurde.

»Was bist du denn so muffig?«, fragte sie, als er steif hinter das Steuer rutschte, »bloß, weil ich ein paar Minuten zu spät bin?«

»Fünfunddreißig.«

»Du bist aber auch ein Pingelfritze«, sie knallte die Beifahrertür zu.

»Wohin?«, fragte er, den Blick starr geradeaus auf die Mülltonnen gerichtet.

»Zur Wassermühle.«

»Weil?«, er rammte den Schaltknüppel in den ersten Gang.

»Weil wir da schon lange nicht mehr waren«, sagte sie, was sogar stimmte, das letzte Mal hatten sie vor acht Jahren dort gegessen, bei seiner Konfirmation, »los, beeil dich, ich hab Durst!«

»Musst du grad sagen«, er ließ die Kupplung so langsam kommen, dass der Keilriemen laut kreischte.

»Ich freu’ mich einfach«, sagte sie, als er den Zubringer zur Ostumgehung herunterfuhr, »und zwar so sehr«, sie schloss die Hände zu Fäusten, »das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

»Ach was«, mehr sagte er nicht. Rechts und links der Landstraße wellten sich wandhohe Maisfelder. Sie passierten eine namenlose, aus drei Höfen bestehende Örtlichkeit, die im Schatten eines kahlen, vermutlich aus Müll zusammengebaggerten Bergs kauerte. Dann stand wieder der Wald vor den Fenstern, ein dichtes Regiment schwarzer Stämme, zwischen denen sich die Straße in großen Bögen dahinwand. Er kniff die Augen zusammen zu Schlitzen gegen das auf der Windschutzscheibe flackernde Licht.

»Kannst du nicht wenigstens so tun, als würdest du dich freuen?«, fragte sie und tastete, während sie aus dem Fenster schaute, einhändig den Sitz ihrer silberblonden Stachelfrisur ab.

»Worüber denn?«

»Ach, du bist aber auch blöde«, sagte sie.

»Ich versuch’s ja«, erwiderte er, doch das stimmte nicht. Der Backsteinbau des Rotengrunds, das Gymnasium, in das er nach dem Sommer zurückkehren würde, ragte bedrohlich auf in seinem Kopf. Noch viel bedrohlicher als zu Beginn, als ihn bloß die Sorge zerfressen hatte, dass die Schüler hinter diesen dicken roten Mauern einer anderen Intelligenzklasse angehörten, dass ihre Gehirne größer waren, dass sie schneller lernten, schöner schrieben, schlauer rechneten und bloß Sekunden brauchten, um eine Lösung auszuspucken. Er würde, hatte er damals gedacht und damit gar nicht mal falsch gelegen, alles geben müssen, wozu er in der Lage war, alles und noch hundertmal mehr, falls er nicht nach drei Wochen wieder vor die große, grüne Tür gesetzt werden wollte, vor sich nichts als die traurige Kopfsteinpflasterstraße, die nirgendwohin führte als nur in irgendein grässliches Arbeitsleben. Bald hatte es ihm dann gedämmert, dass es nicht etwa eine andere Intelligenzklasse war, die dort in der Elften mit ihm zusammensaß, sondern vor allem eine andere Art Lehrer. Während er zu Realschulzeiten tagtäglich dazu verdonnert gewesen war, all das an die Tafel gekrakelte Zeug in die Hefte abzupinseln, ohne Fragen und Bemerkungen, so saß er nun im Physikunterricht eines Herrn Gause, der beispielsweise zu Beginn einer Stunde darauf hinwies, dass Dinge, die man losließ, auf die Erde fielen, statt aufwärts in den Weltraum zu schweben. Als er die Schüler dann überraschend dazu aufforderte, eine Formel zu entwickeln, mit der man dieses Problem beschreiben könnte, hatte sich Lars gefragt, warum er die dumme Formel nicht einfach selbst an die Tafel schrieb, dann hätten sie sie abgekrickelt, dreimal ächzend angewendet und fertig war die Laube, fertig war der Lack.

Es hatte fast vier Monate gedauert, bis er begriff, dass er in dieser Schule nicht als mit Stoff zu stopfender Abschreibeautomat behandelt wurde, sondern, wer hätte das gedacht, als Person mit Sinn und Verstand. Natürlich darf man nicht denken, dass er, bloß weil er als Person mit Sinn und Verstand angesprochen wurde, sich tatsächlich auch als Person mit Sinn und Verstand erwiesen hätte, zumal mit mathematischem Sinn und Verstand. Denn er blieb doch, was er war, ein Schüler nämlich, dessen Kopf von Zahlen und Formeln umkreist wurde wie ein Planet von den hilflos blinkenden Trümmern einer zerstörten Weltraumstation. Genauso wie die ganze Klasse übrigens. Mit Ausnahme zweier Sonderlinge. Wenn Herr Gause, wie zu Beginn jedes neuen Themas, erklärte, dass er sich heute leider von all jenen verabschieden müsse, die nicht mathematisch denken könnten, dann setzten sich Stiethenrot und Fahlenbach und Helms und einfach alle lotrecht hin, um, wenn schon keine Kenntnis vorhanden war in ihren fesch frisierten Hohlköpfen, zumindest Denkwillen vorzuschützen. Mit Ausnahme jener zwei, Tim und Julius, die sich meist nicht einmal die Mühe machten, sich zu melden, weil sie wussten, dass Gause am Ende, wenn er vier oder fünf mathematisch Dünnpfiffige an der Tafel gezwiebelt hatte, doch wieder sie drannehmen würde mit der Forderung, bitte endlich die Lösung zu verraten, bevor er noch aus dem Fenster springen müsse vor lauter Verzweiflung.

Da tauchte zwischen den schwarz über die Straße geneigten Bäumen, lichtgrün glitzernd, die Wassermühle von Niedergellersen auf.

Niedergellersen

Mama vorneweg und Lars hinterher, so überquerten sie die Restaurantterrasse, gingen an drei Rentnerinnen vorbei, die ihre ernsten Hamstergesichter über eine rissige Weltkarte beugten, an einem sackförmigen Herrn, der eine haarige Tatze auf seinem roten Mofahelm abgelegt hatte und sich mit der anderen sein bereits in mundgerechte Würfel zersägtes Schweinemedaillon in den Mund gabelte, und schließlich an einer schwitzenden, stumm die Karten auf den Tisch hauenden Skatrunde. Anders als damals wählten sie keinen Platz in der Terrassenmitte, sondern den hintersten Tisch, halb verdeckt von zwei einander qualvoll umschlingenden Bäumen, die sich aus einem in die Holzbohlen gesägten Quadrat hoch in den Himmel reckten. Das weiße Plastiktischtuch war mit einem schaukelnden Gewirr grüner und blauer Schatten betupft.

Kaum dass sie saßen, begann Mama, einen Abriss ihres Tages herunterzurattern. Wieder war es ein Tourensprint gewesen. Mit hektisch getakteten Einsätzen und zeitfressendem Dokumentationsgeklicker. Mit leblos im Bett liegenden Blödmännern, die ihre Windel nicht ausziehen wollten. Mit unerwarteten Waschnotfällen. Mit Greisinnen, die in ein ton- und tränenloses Schluchzen ausbrachen, wenn die Zeit zum Vorlesen wieder nicht reichte, so dass dann natürlich doch noch vorgelesen wurde. Mit geldgierig im Wohnzimmer lungernden Enkeln. Mit von ihrer Vergesslichkeit verschlungenen Herren, die die Tür nicht öffneten, weil sie Mama nicht wiedererkannten, so dass diese durch ein offen stehendes Kellerfenster einsteigen musste. Kurz und gut, mit derart vielen Gründen für einen quälend in der Kehle brennenden Durst, dass Lars, einen watteweichen Augenblick lang, fast verstehen konnte, dass sie nicht länger warten wollte, bis die Bedienung endlich angetrödelt kam. Kaum fertig mit dem Tagesbericht, marschierte sie von dem schattengrünen Tisch zu dem tatenlos am Tresen lehnenden Kellner, schnippte einmal vor seinem Gesicht, als müsste sie ihn aufwecken, und lachte dann ihre schreckliche Lärmlache. Davon aufgeschreckt verfolgten die drei Rentnerinnen mit reglosen Gesichtern Mamas Gang zurück zum Tisch. Nur eine Minute später wurde eine frisch aus dem Kühlschrank gezogene Flasche Riesling auf den Tisch gestellt.

»Auch eins?«, der Kellner zeigte mit dem Daumen auf Lars, nachdem er, eine Hand in der Hosentasche, Mamas Glas gefüllt hatte.

»Der Fahrer bleibt trocken«, erwiderte sie, »für mich die Schlachteplatte.«

»Die Grützwurst«, meinte Lars geschwächt. Während der Kellner davonschlenderte, beobachtete er, wie Mama das Glas bis zum Rand auffüllte. Mit jedem ihrer Glucks- und Schluckgeräusche spürte er, wie sein Magen schärfer zu brennen begann. Für gewöhnlich versuchte er, diese Wut- und Verzweiflungssäure, die ihm eines Tages noch ein Loch in die Magenwand fressen würde, mit Wasser zu verdünnen. Jetzt aber hörte er sich fragen, und seine Stimme klang so dumpf dabei, als entweiche sie einer dick gepolsterten Gummizelle, ob sie das Wohnzimmer schon angegangen sei. Er wusste, das war nicht der Fall. Er hatte den Hügel der Schande gerade vor ein paar Wochen erst gesehen. Aus Versehen, denn schließlich hatte er sich letzten Sommer im Badezimmerspiegel ins Gesicht geschworen, erst dann wieder ins Wohnzimmer zu schauen, wenn sie fertig war, vorher nicht. Doch seit er seinen Auszug angekündigt und sie daraufhin eine Renovierung der gesamten Wohnung versprochen hatte, damit alles wieder in Ordnung sei, wenn er zurückkomme, war nichts geschehen. Am Tag vor seinem Auszug hatte sie dann in einem überstürzten Arbeitsanfall alle Wohnzimmermöbel in der Mitte des Raumes zusammengerückt, Kisten und Tüten, Zeug und Quatsch, alles daruntergestopft und den ganzen unsinnigen Haufen mit einem alten Laken abgedeckt, um zu zeigen, wie ernst sie ihr Versprechen meinte.

Sie setzte das Glas ab und schenkte sich, obwohl sie erst zur Hälfte ausgetrunken hatte, noch einmal nach, dann nahm sie einen kräftigen, alles in einem Sturz leersaugenden Schluck.

»Du hast es nicht leicht, was?«, sie schaute ihn fest an mit ihren blassblauen, aschgrauen Augen. So, wie er daraufhin die Lider aufriss, hätte man fast meinen können, dass er ihrem Blick, der einen sekundenlang scharf anstrahlen konnte, doch einmal standhalten wollte. Doch schon nach dem ersten Blinzeln flatterte ihm der Blick zur Seite wie ein Schmetterling.

»Ich frage bloß«, sagte er und fixierte den krötengrünen Teich, »weil ich ja bald wieder einziehe.«

»Nachdem du ein Jahr lang fortgewesen bist«, sagte sie und klopfte drei Mal auf den Tisch. Einer der Skat-Opas echote mit einem Zungenschnalzen im gleichen Takt.

»Aber. Ich war doch mehrmals in der Woche da.«

»Soll ich mal lachen?«

»Mindestens einmal.«

»Erst sagst du mehrmals, dann einmal, in Wahrheit meinst du keinmal.«

»Nein, das stimmt nicht, außerdem komm ich doch, komm ich doch«, er stockte, »bald zurück«, sagte er schließlich. Bald. Als er begriffen hatte, mit was für einer Lichtgeschwindigkeit diese letzte Zeit im Wohnheim dahinjagen würde, war ihm, als glitte ein Eiszapfen in sein Gehirn.