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"Die Verwilderung" ist zugleich anrührend und absurd, total abgefahren und sehr vertraut: Martin Lechner gelingt eine atemberaubend wilde Mischung. Marlies ist nicht zu beneiden: Den Sommer vor dem Abitur soll sie bei ihrer verwirrten Oma verbringen, um ihr das Haus als Erbe abzuschwatzen. Seit einer Weile macht sich auch an ihrer linken Hand eine unheimliche Schwellung bemerkbar, die nicht vergehen will. Was wie eine Coming-of-Age-Geschichte beginnt, hebt ab zu einem tragikomischen Roman über Angst und Scham und Selbstbehauptung. Denn als Marlies sieht, dass ihr eine Klaue aus dem Finger wächst, die bald ein unheimliches Eigenleben entwickelt, beginnt eine rasende Suche nach Rettung – und die Ereignisse überschlagen sich. Martin Lechner versteht es, eine rätselhafte Geschichte so mitreißend zu erzählen, dass wir mit dem gefährlichen Mädchen bangen, das sich vielleicht in ein Raubtier verwandelt …
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Seitenzahl: 441
Veröffentlichungsjahr: 2025
Martin Lechner
Roman
© 2025 Residenz Verlag GmbH
Mühlstraße 7, A-5023 Salzburg
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
www.residenzverlag.com
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Thomas Kussin/buero 8
unter Verwendung von Walton Ford: Répresentation Véritable, 2015
(Aquarellfarbe, Gouache, Tinte auf Papier, 266,7 × 153 cm)
Courtesy of the artist, Galerie Max Hetzler and Kasmin Gallery
Lektorat: Jessica Beer
ISBN eBook 978 3 7017 4756 6
ISBN Print 978 3 7017 1811 5
Wir danken für die Unterstützung
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Teil II
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil III
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil IV
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil V
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Teil VI
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Teil VII
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Danke
Einschlafen konnte ich immer erst, wenn der Käfig zugesperrt wurde. Doch das war nie vor Mitternacht der Fall. Zuvor musste ich mich unter der Decke verstecken. Denn wenn Herr Göhrde, der Hausmeister, der aussah, als mache er heimlich Jagd auf Menschen, seine Schließrunde drehte, dann schaffte er alles, was nicht hierhergehörte, rabiat raus. Schon mehrfach hatte ich um kurz vor zwölf gehört, wie er einen der Einkaufswagen, die regelmäßig hier unten strandeten, mit leeren Flaschen füllte, manchmal auch mit abgestelltem Elektromüll, und dann schimpfend die Schräge hoch ins Freie schob. Regelrecht wild wurde er, wenn er einen Obdachlosen erwischte, der in irgendeiner Dreckecke zusammengesunken war, und diesen mit Gebrüll aus der Garage trieb. Dann endlich rasselte das Eisengatter der Einfahrt herunter und krachte auf den Boden. Der Aufschlag dröhnte durch die ganze Tiefgarage bis in die letzte Ecke, wo ich unter einer Decke verkrümmt auf der Rückbank von Mamas Auto lag.
Kaum war der Gatterknall verhallt, zog ich mein Handy hervor, um zum zehnten oder zwanzigsten Mal nachzuschauen, ob Flo sich endlich gemeldet hatte. Aber wieder nichts. Hast du dich zu deiner Oma ins Krankenbett gelegt, tippte ich, oder warum schreibst du mir nicht mehr? Aber nein, falsch, dumm. Ich presste den Daumen auf die Löschtaste, bis der kleine, schwarze Blinkestab alle Buchstaben wieder aufgefressen hatte. Nachts um kurz nach zwölf klang dieser Satz nur nach Verzweiflungsgewimmer. Wahrscheinlich klang er auch mittags um kurz nach zwölf Uhr und überhaupt zu jeder Nacht- und Tageszeit nach Verzweiflungsgewimmer. In Wahrheit klangen alle Sätze so, die ich jetzt noch schrieb, nachdem ich mehrere Wochen lang nichts von ihm gehört hatte und es im Grunde längst egal war, ob ich überhaupt noch mal von ihm hörte. Mit einem Flackern erloschen die Neonröhren an der Decke. Eine klebrige Dunkelheit drückte sich gegen die Fenster von Mamas geschrottetem Golf. Das letzte Licht in der Tiefgarage kam aus meinem Bildschirm. Schließlich schaltete ich aus und lag mit brodelndem Kopf in der Finsternis. Nach ein paar Minuten packte ich das Handy wieder und hackte meine Frage erneut in das kleine Leuchtfeld. Bevor ich es bereuen konnte, hatte ich die Nachricht hinausgejagt in die Nacht, sah sie fast als kleinen Buchstabenschweif durch das Eisengatter gleiten, dann aufsteigen über die Hochhäuser des Weißen Turms und mit Schwung raussausen aus Linderstedt, bis nach Schloss Elkenau, wo sie einmal durch Flos Internatszimmer flog, das aber leer war, wieder leer, sodass sie nach einer enttäuschten Schleife in rasender Geschwindigkeit zurückkehrte nach Linderstedt, dort niederstürzte in Wilschenbruch, unsichtbar durch den Garten der Deitenbeks schwebte und schließlich die Glasfront im ersten Stock durchdrang, hinter der sie sein Telefon fand, das bei ihrer Landung einmal unwillig brummte. Als ich mir vorstellte, wie sich Flo die rotblonden Haarwellen aus dem Gesicht strich und kurz auf sein Telefon guckte, das er aber gleich wieder gähnend zur Seite fallen ließ, strömte mir die Scham wie Säure durch die Adern, und mein Finger, der Zeigefinger, der linke, der seit Wochen angeschwollen war wie eine Wurst, begann erneut zu pochen. Erst ein oder zwei Stunden später, nachdem die Scham und die Wut und hunderttausend dumme Gedanken langsam aus mir herausgedampft waren, rutschte ich auf der schrägen Rückbank langsam abwärts in den Schlaf.
Über Nacht bildete sich aus meinen Atemabgasen ein ranziger Dunst. Morgens war die Luft dick und schmierig und alle Fenster waren beschlagen. Manchmal, so auch heute, hätte ich nichts dagegen gehabt, so lang erlahmt und leblos liegen zu bleiben, bis ich irgendwann, vielleicht nach Tagen oder Wochen, von Herrn Göhrde aufgespürt, von der Rückbank gezerrt, in einen Einkaufswagen geworfen und zusammen mit dem anderen Abfall entsorgt worden wäre. In irgendeiner Müllgrube draußen vor der Stadt. Wo Ruhe geherrscht hätte. Reine, weiße Stille. Wo ich befreit gewesen wäre. Von allen und allem. Von der neuen Schule, wo ich mich so absurd abquälen musste. Von einem in Luft aufgelösten Feigling namens Flo. Von Wolfram, diesem Widerling, genauso wie von Mamas bescheuerter Marburgmission.
Mit geschlossenen Augen tastete ich nach dem Griff. Knarrend schwang die Tür auf. Bleierne Auspuffschwaden drängten herein und vermischten sich mit dem Raubtiergeruch, der über Nacht hier drin entstanden war. Wenn der Wagen wenigstens draußen gestanden hätte statt in der Tiefgarage, dann hätte ich das Fenster öffnen können und die leichte Nachtluft wäre hereingeströmt. Doch Mamas Golf fuhr keinen Meter mehr. Vermutlich würde die Kiste hier unten, in diesem letzten Garagenwinkel, in dem sie nach meiner Unfallfahrt qualmend den Geist aufgegeben hatte, vor sich hin rosten, bis sie irgendwann abgeschleppt und zu einem sinnlosen Metallwürfel zusammengepresst würde. Denn für eine Reparatur hatte Mama kein Geld. Geschweige denn für einen neuen Wagen. Und Wolfram, der gescheiterte Schauspieler, ihr mittelloser Lover, der im Grunde an allem schuld war, erst recht nicht. Der hatte gar nichts. Außer Gelaber und sein Lach-Archiv. So nannte er all die Laute, die er sich aus dem Hals quetschen konnte. Die rasselige Kommissarlache, das ölige Glucksen eines Charmeurs oder auch das idiotisch ironische Hexengekicher, das er gern an seine eigenen Gags anhängte. Am wenigsten Geld aber hatte ich. Denn meine Füße waren einbetoniert in einen Schuldenblock von elftausendsechshundertdreiundvierzig Euro. Mehrmals am Tag sah ich vor mir, wie die Glaswände der Bushaltestelle unter dem Aufprall der Motorhaube zerplatzten und der Splitterregen glitzernd niederging auf die dunkle leere Straße hinter Elkenau.
Aber wie spät war es überhaupt? Um dreizehn Uhr achtundfünfzig fuhr ja schon der Zug. Ich zog das Handy hervor, zehn Uhr drei, wieso zehn Uhr drei? Wieso war es schon so spät? Ich strampelte die Decke weg. Und wieso hatte Flo wieder nicht geantwortet? Egal, wie spät es war, ich musste vor der Abfahrt bei ihm klingeln. Musste ich! Sonst wüsste ich gar nicht, wie es weiterging. Oder ob überhaupt. Dumm, sehr dumm, dass ich das nicht gestern gemacht hatte, saudumm, oder vorgestern. Natürlich ging es gar nicht weiter. Was auch? Da war ja nichts gewesen. Bis auf diese trockene Knutscherei und einen Sack voller Einbildung. Trotzdem! Wahrscheinlich war er längst zurück aus dem Internat. Ich stieg ins Freie und boxte zweimal in die Luft. Blinzelnd erwachten die Neonröhren an der Decke.
Dann zog ich eilig die Leoleggings hoch, für die ich mich gestern Abend entschieden hatte, weil sie nicht nach Schlafkleidung aussahen. Anschließend stieg ich in den schwarzen Rock und rubbelte mir das Gesicht rot, damit ich nicht so nachtblass in die Wohnung getappt kam. Sonst schöpfte Wolfram, der Blödmann, gleich Verdacht und überrollte mich mit einer seiner Brabbellawinen. Dabei war überhaupt nur er schuld daran, dass ich hier unten geschlafen hatte. Seit Wochen immer wieder. Jetzt erneut drei Tage. Vielleicht sollte ich ganz in die Tiefgarage einziehen, wenn ich aus Marburg zurück war. Ich stieß die Füße in die Badelatschen, diese steifen, schwarzen Dinger, die Mama mir von ihrem Istanbultrip mit Wolfram mitgebracht hatte. »Fucci«, stand mit breiter Goldschrift auf den Riemen. Sie dachte, ich fände das lustig, aber das fand ich nicht. Ich rupfte die Decke und das nass geschwitzte Kissen von der Rückbank. Statt die Bettwäsche zurück in den Kofferraum zu stopfen, wo ich sie sonst verstaute, für den Fall, dass es mir in der Wohnung wieder zu dumm wurde oder zu laut und zu eklig, knüllte ich alles zu einem wütenden Haufen zusammen. In Wahrheit wurde es mir, seit sich Wolfram bei uns eingenistet hatte, fast jeden Abend zu dumm und zu laut und zu eklig. Trotzdem hatte es eine Weile gedauert, bis sich der Abscheu derart aufgebläht hatte, dass ich, wenn ich die Wohnung abends nicht verlassen hätte, geplatzt wäre.
Ich drückte das Bettzeug vor der Brust zusammen und trat die Hintertür zu, mit so viel Schwung, dass mir der Latschen vom Fuß flog. Es schallte durch die Tiefgarage. Ich sah mich um, ob jemand da war, der mich hätte anglotzen können, wie in der Schule, wo ich ständig angeglotzt wurde, Herr Göhrde vielleicht, der ausnahmsweise eine Morgenrunde drehte, weil er letzte Nacht keinen Fang gemacht hatte. Aber es war niemand da. Nur die Autos, stumme, dunkle Kisten mit toten Scheinwerfern, standen in ihren Parkbuchten. Einbeinig hüpfte ich zu der violett schillernden Benzinlache, neben der der Latschen gelandet war, und schob den Fuß zurück unter den Riemen. Kurz erblickte ich mich selbst, gespiegelt in der Lache, mein Kopf wellte sich unheimlich, als würde er sich verwandeln. Ich wandte mich ab, schlappte die Reihe der Autos entlang und nach der nächsten Ecke die Schräge hoch. Dabei blickte ich auf meine Füße, die widerlich bleich waren. Zwei Schritte später trat ich aus dem Schatten, den das Betondach auf die Rampe warf. Die Julisonne stach mir in die Augen. Ich löste eine Hand aus dem Deckenknäuel und zog das Handy aus dem Bund der Leggings. Immer noch keine Antwort. Am ersten Ferientag schlief er sicher lang. Andererseits, wenn man eine Funkstille dermaßen hinstreckte wie er, dann musste man doch antworten, wenn die Andere sich erbarmte und erniedrigte und nach tausend totgeschwiegenen Nachrichten doch noch mal schrieb. Auf einmal rutschten mir Decke und Kissen aus der Hand. Kaum war ich in die Hocke gegangen, um alles wieder hochzuraffen, hörte ich ein Auto. Ein schlammfarbener Rentnerwagen stand am Beginn der Schräge und wartete mit gurgelndem Motor, dass ich die Bahn freimachte. Ich riss das Zeug wieder hoch, doch statt stehen zu bleiben, mit vorgebeugtem Kopf und böse glühendem Blick, drückte ich mich an die lackverschmierte Zufahrtswand. Der Opa im Auto, ein dick bebrillter Maulwurf, der sein Kinn über das Lenkrad streckte, rollte vorbei, ohne das siebzehnjährige Mädchen, das sich mit einem gelb geschwitzten Haufen Bettzeug aus der Tiefgarage schleppte, auch nur anzuschauen. Als er vorüber war, sprang ich vom Bordstein zurück auf die Fahrbahn. Das Kissen klemmte ich unter die Achsel. Die Decke warf ich mir über die Schulter. Sie hing bis auf den Boden herunter, aber das war mir egal. Wie eine große, weiße Fahne schleifte ich den Lappen die Betonrampe hoch und weiter über den Plattenweg, vorbei an den Wohnklötzen bis zu unserem Block.
In der Haustür, als hätte sie bloß auf mich gewartet, stand Frau Meisner, ein lilahaariges Wesen, das früher bei Neukauf gearbeitet hatte und direkt unter uns wohnte.
»Lebst du jetzt auf der Straße, würde mich ja nicht wundern«, meinte sie zur Begrüßung, »bei dem Radau, den ihr da oben immer veranstaltet«, ihre ausgeleierten Hundewangen schaukelten, als sie den Kopf schüttelte.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte ich, während ich mich mit den Bettsachen an ihr vorbeidrückte.
»Ich hab’ doch nicht mein Leben lang an der Kasse gesessen«, rief sie, als ich in die vollgekritzelte Blechkabine des Fahrstuhls trat, »damit ich jetzt, wo ich meine Ruhe haben kann, ständig so ein Gebumse über mir ertragen muss«, sie stand in der Haustür, ein Müllbeutelchen in der Hand, das sie drohend in meine Richtung schwenkte.
»Entschuldigen Sie, Frau Meisner, darum kümmere ich mich«, sagte ich und drückte mit dem Knie auf die Zehn, ergänzte aber, kaum dass die zerkratzten Blechtüren zusammengeruckelt waren, »ganz bestimmt nicht!«
Obwohl sie natürlich recht hatte, dachte ich, während der Fahrstuhl sich leise schabend in die Höhe bewegte. Seit Mama Wolfram aufgegabelt hatte, beziehungsweise er sie, im Fumée, einer Kneipe gleich hinter dem Stadttheater, die er nach seinem Rauswurf offenbar als eine Art Notbühne benutzt hatte, wurde es fast jeden Abend laut. Anfangs, im Dezember, hatte ich es noch ertragen können. Da war bloß ein Flüstern aus dem Schlafzimmer gedrungen, ein Hauchen, manchmal ein kleines Gekicher. Auch war er nur ein- oder zweimal pro Woche zu Besuch gewesen. Bald aber, schon im Februar, nach seinem Einzug, waren andere Geräusche zu hören, und nicht erst nachts, sondern auch am Abend, am Wochenende manchmal schon morgens, ein Geschnaufe und Gehechel, das sich bis in die Küche verbreitete, bis in mein Zimmer und mein Bett, wo ich mir die Hände auf die Ohren drückte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich hatte das Gefühl, wenn ich noch einen einzigen Laut hören müsste, irgendein Keuchen oder Quietschen, dann würde ich explodieren, wenn ich nichts sagte. Denn bisher hatte ich, statt etwas zu sagen, nur selbst Geräusche gemacht, Lerngeräusche, Lebensgeräusche, hatte gehustet und geredet, am Telefon, auch wenn niemand dran war, hatte mir zahllose Frösche aus dem Hals geräuspert und gesungen, falsch und laut und fürchterlich, wie eine Komplizin, die Deckung gab.
Aber vor fast zwei Monaten, am Montagabend nach dem ersten Juniwochenende, zwei Tage nach Flos Abschiedsparty, da hatte es mich vor lauter Zorn und Ekel aus dem Bett gefedert. Und mit einem Mal hatte ich in der Wohnzimmertür gestanden. Und konnte für Sekunden den Blick nicht abwenden von diesem vierbeinigen, vielarmigen, zweiköpfigen Wesen, das auf unserer zersessenen Kratzstoffcouch schmatzend die Münder aufeinanderpresste. Die Vorstellung, selbst einmal aus so einem Gegrabbel und Gestöhne hervorgegangen zu sein, wie Mama und Wolfram es da veranstalteten, im grünlichen Licht einer Fernsehserie, an einem Montagabend um zehn, ließ mich erstarren. Ich stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer, hatte eigentlich bloß um Ruhe bitten wollen, auch wenn Ruhe nahezu unmöglich war in unserer höllisch hellhörigen Wohnung, aber jetzt brachte ich nichts mehr heraus, keinen Satz und kein Wort, nicht den kleinsten Laut. Durch das Fenster schaute der Mond herein, das pupillenlose Riesenauge, das hier oben besonders gut sichtbar war. Ringsherum dehnte sich das All, die unfassbare Schwärze, durch die der Erdball kreiste.
»Schau an, Madame ist da«, brummte Wolfram mit seinem heiseren Schauspielerbass. Obwohl er älter war als Mama, vielleicht fünfzehn Jahre älter, ähnlich wie Papa, der sogar noch älter gewesen war, wirkte er jünger, geradezu jungenhaft und dumm. Er hatte einen seiner dünnen, wollig behaarten Schenkel über Mamas Schoß gespreizt und trug eine kurze, gelbe Sporthose. Zunächst erkannte ich ihn gar nicht. Rote Schmierspuren auf den Wangen, Lippenstift, gierig glänzende Augen, feuchte Zähne, wie ein Kojote, der in einer halbtoten Beute herumgebissen hatte. Er hob die Arme in die Luft und spreizte die Finger, vermutlich um anzuzeigen, dass er ein edler Unschuldsknabe war und ich die zickige Sittenpolizei. Seit er letztes Jahr, offenbar wegen irgendwelcher Übergriffigkeiten, aus dem Linderstedter Stadttheater geflogen war und keine Rollen mehr bekam, die er irgendeinem gähnenden Schulklassen- und Altenheimpublikum vorhampeln konnte, benutzte er unsere Wohnung als Ersatzbühne. Angeblich, um sein Comeback vorzubereiten. Jetzt ließ er sich zur Seite sacken, beleidigt und belustigt zugleich, und Mama kam zum Vorschein. Mit aufgefummelter Bluse stemmte sie sich aus den Sofakissen, in die er sie hineingedrängt hatte, und schien ihren Oberkörper, der mir geschrumpft vorkam, erst wieder zu der bekannten Kastenform aufweiten zu müssen. Seit Wolfram bei uns wohnte, seit bald sechs Monaten, schien sie kleiner zu werden, schwächer. Dass sie jetzt noch einmal so bullig für mich eintreten würde wie vor zwei Jahren, als sie meine Mathelehrerin an der Realschule wegen irgendeiner im Grunde vollkommen gerechtfertigten Note zusammengedonnert hatte, ob sie selber Kinder habe, ob sie auch alleinerziehend sei, das war mittlerweile undenkbar.
»Sag mal, Liebi, kannst du«, kurz verstopfte ihr die Peinlichkeit den Hals, sie musste schlucken, bevor sie weitersprechen konnte, »kannst du nicht anklopfen?«, brach es schließlich in doppelter Lautstärke aus ihr hervor.
Könnt ihr nicht bei Wolfram rumgrabbeln, dachte ich, denn seine Wohnung, irgendein verwahrlostes Loch in der Goseburg, gab es ja auch noch, nur leider waren sie nie dort. »Die Tür war offen«, meinte ich und spürte, wie die Ekelstarre in meinem Nacken langsam nachließ.
»Trotzdem«, sie klaubte die Bluse vor der Brust zusammen, vorwurfsvoll, als hätte nicht sie, sondern ich die ganze Wohnung vollgekeucht, »das ist wirklich«, sie rubbelte sich mit der anderen Hand über den Hinterkopf, als könnte sie so eine passende Formulierung hervorreiben. Als das nicht gelang, sprang Wolfram ein.
»Nicht nett«, er blies sich eine seiner angegrauten Goldlocken, auf die er so stolz war, aus der Stirn.
»Nein, nicht nett«, wiederholte Mama blöde, »gar nicht.«
»Okay, tut mir leid, ich geh noch raus«, sagte ich dann zu ihrer Überraschung, aber auch zu meiner eigenen. Denn eigentlich hatte ich nicht raus-, sondern zurückgehen wollen, ins Bett zurück.
»Raus, wieso, wo gehst du denn hin«, Mama strich sich die Haare aus dem Gesicht und wirkte verwirrt, »morgen ist doch Schule.«
»Bloß zu Flo«, sagte ich, ein Fehler, wie ich gleich feststellen sollte, auch wenn ich tatsächlich gern zu Flo gegangen wäre, sogar sehr gern, und nicht nur heute Abend, sondern auch morgen Abend und jeden Abend, in sein elegantes, großes Haus, in das er mich vorgestern, auf dem Waldweg, nach dem öden, langen Lernnachmittag bei Merle, so überfallsartig eingeladen hatte, diese Villa in Wilschenbruch, die wie ein Schiff über die Hecke ragte.
»Was denn für ein Flo«, fragte Wolfram, »wenn ich mal fragen darf«, fügte er mit einem breiten Lächeln an.
»Ja, genau, Liebi, was denn für ein Flo?«, echote Mama.
»Mann«, wieso hatte ich nicht gesagt, dass ich zu Merle ging, »ist doch egal«, das wäre viel leichter gewesen.
»Sie will nicht drüber reden«, raunte Wolfram Mama ins Ohr, »das ist verdächtig, sehr verdächtig«, er ließ seine Stimme knarren wie ein zerknitterter Privatdetektiv.
»Ja, stimmt, das ist verdächtig«, meinte Mama, die offenbar keinen einzigen eigenen Satz mehr zustande brachte und nur noch alles nachquatschte, was der Blödmann ihr vorquatschte.
»Gar nicht«, meinte ich hilflos.
»Ich hätt’ noch eine Frage«, sagte Wolfram und warf seine Füße auf Mamas Schoß, als säße er in einem schummrigen Detektivbüro, wo man die Beine auf den Tisch legen konnte, um die Verdächtige einzuschüchtern, bevor man hundert fiese Fragen auf sie abfeuerte. Weil er aber nicht nur ein schlechter, sondern auch ein sehr ungeschickter Schauspieler war, trat er dabei aus Versehen gegen den Computerbildschirm, den sie zum Seriengucken auf dem Couchtisch aufgebaut hatten.
»Vorsicht, mein Herz!«, rief Mama und griff nach der graugrünen Kiste, die sich taumelnd herumgedreht hatte und fast vom Tisch gefallen wäre. Jetzt, wo das Bild mir zugewandt war, verband sich das angespannte Angstgefiedel, das ich schon zuvor in meinem Zimmer gehört hatte, mit der Nachtansicht eines Hauses, in dem ein Mann, ein knochiger Typ, mit einem wehenden, blauen Bademantel eine Treppe hochfloh.
»Entschuldige, Schätzchen, ist ja nichts passiert«, Wolfram sank seufzend gegen die Seitenlehne, nun nicht mehr Privatdetektiv, sondern schlupflidrig lächelnder Pascha, »außerdem wollte uns deine Tochter gerade erklären, wer dieser Flo ist, ist das wieder so ein Windei wie diese Jungs, mit denen du durchbrennen wolltest«, er schnipste und zeigte auf mein Gesicht, »erzähl mal, das interessiert mich.«
»Freund«, erwiderte ich knapp und hoffte, dass ich nicht mit irgendwelchen neugierigen Nachfragen gequält würde, aber das wurde ich natürlich doch.
»Ein Freund«, fragte Wolfram, indem er die Worte genießerisch dehnte, »oder dein Freund?«
»Also, der ist, der geht, der macht abends immer noch Sport«, warum hatte ich nicht Merle gesagt, »im Fitnessstudio«, weil es keinen Grund gab, abends um zehn noch zu der klugen Nachhilfemaus zu gehen, deshalb, du dämliches Ding!
»Liebi, was bist du denn so aufgeregt«, fragte Mama, die einen von Wolframs gelb gelatschen Füßen ergriffen hatte und nun mit ihren geballten Krankenschwesterkräften durchzukneten begann, »er fragt doch bloß.«
»Ja, und ich antworte bloß«, ich sah auf den Bildschirm, wo eben ein fast zur Gänze mit Fell überwachsenes Mädchen ihr Maul aufriss, weiße Fänge ragten hervor, so lang und spitz, als könnte sie damit von innen das Bildschirmglas durchbeißen, dann jagte sie dem Mann hinterher die Treppe hoch, »was guckt denn ihr da?«, wollte ich wissen.
»Übernachtest du dort?«, fragte Mama, ohne auf mich einzugehen, während sich Wolfram Sekt einschenkte und gleichzeitig mit seinen großen, haarigen Zehen wackelte, damit sie weiterknetete. Warum machte sie das nur? Wo der Typ den ganzen Tag nichts anderes tat, als dumm in unserer Wohnung herumzudackeln, während sie acht Stunden lang in der Station hin und her jagte und sich anschreien ließ, von den Kranken und den Ärzten, den Angehörigen, von allen. Vielleicht war es ähnlich wie mit Papa, fiel mir ein. Ich hatte ihn zwar gar nicht kennengelernt, aber ihren Erzählungen zufolge war er wohl auch hauptsächlich in der Wohnung herumgetigert, zwar nicht als rausgeworfener Schauspielversager wie Wolfram, sondern als buchloser Schreibspinner, wie sie ihn einmal genannt hatte, aber im Grunde, fürchtete ich, war es dasselbe.
»Bitte antworten«, sagte Mama, die Stimme kurz wieder zu voller Kraft entfaltet, »übernachten oder nicht?«
»Ja, nein, mal schauen, kann sein«, ich zog die Schultern zu den Ohren hoch und die Brauen bis zum Haaransatz.
»Aber Liebi«, sie hob einen Zeigefinger, »morgen bist du fit, versprochen?«
»Ja-ha«, machte ich, zog die Wohnzimmertür hinter mir zu, nahm schnell mein Bettzeug aus dem Zimmer und den Autoschlüssel von der Kommode im Flur und ging runter zu meiner ersten Nacht in der Tiefgarage.
»Ping«, zehnter Stock, die Türen gingen auf, leider nur zur Hälfte, weil der Fahrstuhl hier oben schon ewig nicht mehr richtig funktionierte. Ich zwängte mich ins Freie und pirschte durch den schmuddelgrauen Gang bis zu unserer Wohnung. Bevor ich aufschloss, legte ich ein Ohr an die Tür, um zu hören, ob Wolfram schon wach war. Aber noch herrschte Stille. Als ich den Schlüssel ins Schloss schob, mit aufgeklapptem Mund und angehaltenem Atem, kam ich mir vor, als würde ich in eine fremde Wohnung eindringen. Leise schob ich die Tür auf, schlüpfte aus den Fuccischlappen und bewegte mich vorsichtig durch den Flur, an Wolframs Stiefeln vorbei, die er sich wieder irgendwo von den Hacken getreten und liegen gelassen hatte. Sollte ich ihm vielleicht ein paar Reißzwecken reinstreuen, bevor ich gleich zum Bahnhof aufbrach? Ja, sollte ich, sollte ich auf jeden Fall. Zumal er gern mit nackten Füßen in die Stiefel stieg. Würde ich aber nicht machen, natürlich nicht.
In meinem Zimmer begrüßte mich der Schlund des Seesacks, den mein Vater immer zu seinen Reisen mitgenommen hatte, seinen Schreibseltouren und Familienfluchten, wie Mama sie genannt hatte. Decke und Kissen schleuderte ich auf den Boden. Die verrückte Ordnungsfimmelei, die mich befallen hatte, umso mehr, je wüster die Wohnung unter Wolframs Einfluss geriet, spielte keine Rolle mehr. Weder die zentimetergenau ausgerichtete Schulbuchreihe noch die dreifach gefalteten Slips, die eingerollten Socken, der ständig gestaubsaugte Boden, auch die leeren Raufaserwände, an denen nur ein kleines Michelleposter hing, auf dem in verwaschenen Buchstaben stand: I used to be so fragile, but now I’m so wild.
Schnell stopfte ich mein Zeug in den Sack. Schwarze Kapuzenjacke, schwarze Hosen, graue T-Shirts, einen weißen Rock und Laufsachen, dazu Unterwäsche und sogar, weil ich wahnsinnig war, und zwar wahnsinnig dumm, ein paar Schulbücher. Dabei durchzog mich kurz ein Frostgefühl, als bohrten sich Eiszapfen zwischen meine Rippen, dann ging es wieder. Aber ich war erschöpft. Auf der Rückbank schlief es sich schlecht. Außerdem war im letzten Jahr so viel passiert. Nachdem Mama spitzgekriegt hatte, in was für einen verrückten Film ich mich hatte verstricken lassen, von Röhrs und Gehrmann, diesen Affen aus meiner Realschulklasse, mit denen ich in der Zehnten nahezu ausschließlich zusammen gewesen war, hatte sie mich zwei Abende lang angebrüllt, ob sie mich in den Knast stecken solle oder lieber in den Brockwinkel, zu den Bekloppten, wo man mir die Idee, wie ein Gangstertrio einen Juwelier auszurauben und anschließend irgendwo unterzutauchen, gewaltsam wegtherapieren würde. Für die Ferien hatte sie mich dann nach Marburg geschickt, zu Gromi, ihrer Schwiegermutter, der Mama meines Vaters, und den Kontakt zu Röhrs und Gehrmann untersagt, woran ich mich vor Schreck sogar gehalten hatte.
Kaum zurück in Linderstedt, der Kopf summend von sechs mit nichts gefüllten Sommerwochen, war ich auf die Hasenburg gekommen, das Gymnasium oben am Knieberg. Dort hatte sie mich angemeldet, damit ich später studieren konnte, was ich eigentlich gar nicht wollte, schon gar nicht Medizin, dieses grässliche Büffelfach, das sie mir ständig anpries, weil es ihr verwehrt geblieben war. Aber wenn ich nicht gleich wieder runterfliegen wollte von dieser dämlichen Schlaukopfschule, dann musste ich gewaltig was tun. Das war neu. Denn dumm, hatte ich gedacht, war ich nicht. Zumindest nicht im Vergleich mit den anderen Realschulnasen. Tatsächlich waren es außer mir nur zwei gewesen, denen der Wechsel zum Gymnasium gelungen war. Gehrmann, die verklemmte Knutschbacke, der sich einmal, bei den verrotteten Garagen am Bockelsberg, an mich herangedrängt hatte. Und Lennert, ein wachsblasser Typ, der E-Piano spielte und sein gesamtes Leben vermutlich einsam vor einem Bildschirm verschwitzen würde.
In der Hasenburg aber kam es darauf an. Ab Tag eins hatte ich das Gefühl, in ein Gewühl irrsinniger Intelligenzbestien geraten zu sein, die mich, ohne das Gehirn auch nur einzuschalten, geschweige denn voll hochzufahren, jederzeit locker überholen, übertrumpfen, überwältigen konnten. Dass jemand seine Hausaufgaben vergaß, dass jemand keine Antwort wusste, dass jemand nicht den Finger hochschnellen ließ, wenn wieder irgendeine besonders beknackt vertrackte Frage gestellt worden war, die alle Zahnräder des Verstandes kreischend ineinandergreifen ließ, beispielsweise von Herrn Bars, dem stets mastgerade im Raum stehenden Mathelehrer, das kam nicht vor, nicht ein einziges Mal. Nach dem ersten verzweifelt durchgepaukten Halbjahr mit allabendlichen Hausaufgabenkontrollen und Lernermahnungen durch Mama begriff ich, dass die Kampfbereitschaft, die leistungsbesessene Hartleibigkeit, das lachende Gegeneinander, das in der 11 A alle unter Strom setzte, nicht bloß eine Eigenschaft meiner Klasse war, sondern der gesamten Schule. Immerhin hatte ich mich aus dem Feld der Niederlagen, den anfänglich hartnäckig auf mich heruntergehagelten Vieren und Fünfen, hochgemüht ins Dreierfeld, zumindest teilweise. Als ich dann meine erste Zwei zurückbekam, ausgerechnet von dem fanatischen Deutschlehrer, der nie auch nur einen einzigen Punkt, nicht mal einen halben, verschenkte, da kam ich mit einem stolz leuchtenden Triumphgefühl aus dem hässlichen Betonbunker, der jetzt meine Schule war. Ich trug die Arbeit aufgeregt nach Hause und knallte sie Mama auf den Küchentisch, mit einem solchen Schwung, dass das Papier einen Riss bekam. Doch natürlich konnte Mama eine einzige dürre Zwei, die auch nur eine Zwei minus gewesen war, eine Gnadenzwei, wie sie sagte, nicht abbringen von dem Bild, das sie sich vor langen Jahren von mir zurechtgelegt hatte, dem Bild einer gemütlichen Maus, die am liebsten nichts tat, als tatenlos herumzuliegen und den Kopf überschäumen zu lassen, wie sie es nannte.
»Ohne Merle«, sagte sie und hatte recht, »hättest du das nicht geschafft. Ohne Merle hätte dich die Hasenburg in zwei Monaten auf die Straße gespuckt«, sagte sie und hatte wieder recht. Denn auch wenn mich angesichts der Gnadenzwei kurz das Gefühl durchfuhr, dass mir der Leistungskampf vielleicht doch gefiel, hieß das noch lange nicht, dass ich dazu auch in der Lage gewesen wäre. Ich musste lernen wie ein Teufel und nahm die anderen, die mich alle immer so merkwürdig beäugten, bloß als fingerschnipsende, mit gewaltigen Wissensvorsprüngen vollgestopfte Konkurrenzmasse wahr. Wie Flo wirklich aussah, seine rotblonde Haarwelle, die sich schwungvoll über der Stirn wölbte, die Sommersprossenlandschaft, die bernsteinbraunen Augen, das unverschämte Lächeln, all das erkannte ich erst am ersten Juniwochenende, auf dem Waldweg, wo er nach dem Sprung in die Ilmenau so überraschend vor mir gestanden hatte.
Zuvor hatte Merle vier Stunden lang probiert, mir die verfluchten Formeln für die letzte Matheklausur in den Kopf zu klopfen. Auch in anderen Fächern, fast in allen, hatte sie in zahllosen Nachhilfestunden versucht, mir alles irgendwie einzutrichtern. Ohne auch nur einen Cent dafür zu verlangen. Wir seien doch früher zusammen auf die Grimm gegangen, hatte sie gesagt, unsere Grundschule. Deshalb, und weil sie alleine war, ohne eine einzige echte Freundin, wie sie mir gleich zu Beginn gestanden hatte, wollte sie mir helfen. Ich hatte zwar selbst nicht eine einzige echte Freundin, geschweige denn einen Freund, weder in der neuen Klasse, wo ich niemanden kannte, noch in der alten, die sich nach dem Ende der Zehnten so schnell verflüchtigt hatte, als hätte es sie nie gegeben. Die Kontakte von Röhrs und Gehrmann waren gelöscht. Und alle anderen waren in den verschiedensten Ausbildungsstätten verschwunden, beim Autohändler Dannacker, bei Holz Herbst, Tina war sogar Gabelstaplerfahrerin im Hamburger Hafen geworden. Trotzdem wollte ich nicht das Mädchen sein, das niemanden kannte, das bloß verbissen lernte und immer alleine war. Daher hatte ich nach Merles Einsamkeitsgeständnis, als sie mich mit ihren großen, klugen Kuhaugen angeschaut hatte, bloß einmal mitleidig »Oh« gesagt.
Nach dem Lernnachmittag waren wir beide müde gewesen, wie jedes Mal. Um ein paar Schritte zu gehen, begleitete sie mich zurück zur Amselbrücke, einem klappernden Bogen aus Holzbohlen, der aus der Stadt hinüberführte nach Wilschenbruch, wo auch sie wohnte. Wir spazierten los von ihrem düsteren, großen Haus im Eulenweg, machten einen Schlenker am Lausebach vorbei und gingen dann, stumm und erschöpft, durch den mit Lichtflecken und Schattenteichen getupften Wald. Neben uns dahinströmend, lautlos, leicht und blau, die Ilmenau. Plötzlich ein Geschrei. Schon stürmten vier halbnackte Jungs über den Weg. Merle fragte augenrollend, ob im Brockwinkel, der örtlichen Anstalt, heute wieder Ausgang sei, sodass jeder Spinner frei durch die Stadt hopsen dürfe. Aber ich sah nur die braun gebrannten Rücken, die jodelnd umfassten Knie und das zerberstende Wasser, das in blitzenden Diamanten hochstäubte. Kaum hineingesprungen, kamen sie schon wieder heraus, wie nasse Hunde krabbelten die Jungs aus dem Fluss. Ich erkannte nur zwei von ihnen, den Neandertaler Barckow, einen rein aus Muskeln zusammengebackenen Kerl, und Flo, der bis zu den Osterferien in Deutsch neben mir gesessen, aber nie ein Wort mit mir geredet hatte. Da seine Noten in gefährlich abiturfeindliche Tiefen abgesackt waren, hatte seine Mutter ihn kurzerhand bei der Hasenburg ab- und in Elkenau angemeldet, der sogenannten Pinkepenne draußen bei Dahlenburg, einem Bezahlgymnasium für die Kinder reicher Eltern.
Jetzt kam er auf uns zu, auf mich, um genau zu sein, Florentin Deitenbek, rote Haare, blaue Shorts, tropfnass. In der Schule hatte ich immer den Eindruck gehabt, er würde durch mich hindurchsehen, weil ich keine dieser blonden Brittas war, kein Bänkerblusenmädchen und kein Sommerkleidhäschen, mit denen er auf dem Hof meist zusammenstand. Doch ich musste mich getäuscht haben. Denn so, wie er mich jetzt anschaute, wie er mit dem Blick auf mir herumkrabbelte, wie ein unruhiges Tier, erkannte er mich offenbar sehr wohl wieder und sah auch keineswegs durch mich hindurch.
»Wisst ihr was«, hatte er gesagt und sich die feuchten Haare aus der Stirn gestrichen, »ihr seid eingeladen.«
Doch das schien eine Ewigkeit her zu sein. Während ich den Sack zu Ende packte, surrte mir der Abend noch einmal im Zeitraffer durch den Kopf. Die Gartenparty, zu der Flo uns auf dem Waldweg eingeladen hatte und die schon zwei Stunden später beginnen sollte. Mein Sprint nach Hause, das hektische Umziehen, zweimal, dreimal, fünfmal, wobei ich immer nur ein graues T-Shirt durch ein anderes graues T-Shirt ersetzte. Weil ich nur graue T-Shirts hatte. Warum, Herrgott, hatte ich nur graue T-Shirts! Dann das Sitzen im Garten der Deitenbeks. Auf der Hollywoodschaukel neben Merle, die alle fünf Minuten ein hässliches Gähngesicht machte. Mein beiläufiges Hinüberschlendern zu den Jungs, die in engen Polohemden beim Grill standen, dem Exzellenzbrenner, wie Flo mir erklärte, als er mir einen Teller mit Steak reichte. Mein stummes Hineinbeißen in das blutige Fleisch. Das schnelle Nachspülen mit Bier, wobei ich mich verschluckte, worüber irgendjemand lachte. Das Vollgequasseltwerden von Barckow, der gerade die PPL mache, seine Privatpilotenlizenz, wie er mir erklärte, nachdem ich dumm nachgefragt hatte. Die wiederholte Flucht in das dunkelblau gekachtelte Gästebad, das zweimal so groß war wie unser Badezimmer mit der angeschimmelten Duschwand. Die Versuche, mir dort die Unzugehörigkeit aus dem Kopf zu schütteln. Und schließlich, lange nach Merles verfrühtem Abgang, die Verabschiedung der Jungs, die untereinander ein kompliziertes Handabklatschritual veranstalteten, bei dem jeder, der einen Fehler machte, eine Ohrfeige bekam. Und dann hatte Flo sich zu mir umgesehen. Weil die Hollywoodschaukel gequietscht hatte. Weil ich aufgestanden war. Weil ich auch gehen wollte. Wie seine Bernsteinaugen aufleuchteten. Weil ich noch da war. Wie er mich bat, zu bleiben. Auf einen Mitternachtspastis. Weil wir doch gar nicht richtig geredet hätten. Leider wusste ich nicht, was ein Mitternachtspastis war.
»Na, ein Pastis, den man um Mitternacht trinkt«, sagte er mit einem Lächeln, das sich durch den ganzen Garten streckte. Ich wusste zwar auch nicht, was ein Pastis war, sagte aber: »Klar, natürlich, gerne!«
Und schon stiegen wir eine geländerlose, unter den Schritten sanft nachfedernde Holztreppe hoch, ich und Flo, der mir im Grunde vollkommen fremd war und mich gerade deshalb so seltsam anzog. Wir gingen auf Zehenspitzen, damit seine Eltern nichts hörten. Oben öffnete er seine Tür und wies mich mit einem geflüsterten »Tadaa!« hinein. Als ich eintrat, schlug draußen irgendwo eine Glocke. Zwei spitze, kalte Schläge verklangen leise in der Nacht. Ich sah mich um, betrachtete ein langes, weißes Surfboard, das über einer blauen Ledercouch an der Wand hing, daneben ein Glastisch, auf dem eine grüne Flasche stand, ein riesiger, mit zahllosen Stickern beklebter Spiegel, in dem ich sah, wie Flo noch einmal in den Flur hinaushorchte.
Ich könnte heute gar nicht mehr sagen, wie es angefangen hatte, kaum aber, dass die Tür geschlossen war, da klebten unsere Lippen aufeinander. Ich schob meine Zunge über die Zahngrenze, durchbrannt von dem Gefühl, die elenden Liebesgeräusche zu Hause, den Schauspielspinner, den Lernwahnsinn, das Beäugtwerden in der Klasse, in der Schule, einfach alles hinter mir zu lassen. Als ich dann vorstieß in die unerwartet glatte, harte Höhle seines Mundes, kam mir seine Zunge entgegengeschnellt, ein merkwürdig trockenes Stück Fleisch, das mich zurückdrängte und in meinen Wangentaschen herumtastete wie in einem unbekannten Revier. Da klopfte es. Mit einem Schmatzgeräusch zogen wir die festgesaugten Münder auseinander, sahen uns an. Fast hätte ich gelacht. Aber er sah so besorgt aus, dass ich mich beherrschte. Mit einem Tonfall, als käme er aus dem tiefsten Tiefschlaf hervorgetaumelt, fragte er, was denn los sei.
»Der Grill«, sagte seine Mutter vor der Tür, weiter nichts, nur diese zwei grimmig ausgerollten Worte.
»Meine Güte, ich komm’ ja schon!«, rief er, drehte die Augen nach oben und meinte leise, ich müsse gehen, auf der Stelle, schnell und durch die Vordertür.
»Schon?«, fragte ich.
»Ja, leider.«
»Wie schade.«
»Stimmt, geht aber nicht anders.«
»Sehr schade!«
»Ich kann’s nicht ändern, seit sie mich nach Elkenau gesteckt hat, zwingt sie mir alle möglichen Regeln auf.«
»Ich kann doch warten«, schlug ich vor, woraufhin er nur den Kopf schüttelte und dann schnell anhängte, ich könne ihn ja nächsten Samstag besuchen, in Elkenau, oder im Sommer in Südfrankreich oder beides, wie ich wolle, Hauptsache, ich ginge, und zwar jetzt sofort. Und nachdem er mir noch schnell seine Nummer gegeben hatte, weil ich sonst nämlich nicht gegangen wäre, und dann übertrieben laut gähnend die Treppen herunter und hinaus auf die Terrasse gestapft war, wo seine Mutter auf ihn wartete, damit er aufräumte, war ich lautlos nach unten und zur Vordertür hinausgehuscht.
Als mich das Klingeln aus der Erinnerung riss, dachte ich gleich, jetzt ruft er zurück, endlich! Mit geschlossenen Augen legte ich mir das Telefon auf den Bauch und ließ es noch dreimal zittern, bevor ich ranging und im rauchigsten Bardamenton, den ich mir aus dem Hals kratzen konnte, sagte: »Ich dachte schon, du wärst tot.«
»Tot«, hörte ich eine heisere Stimme, die ich kurz gar nicht zuordnen konnte, »noch lange nicht, mein Kind«, das war nicht Flo, »bist du schon am Bahnhof?«, das war Gromi.
»Nein«, sagte ich enttäuscht, »im Bett.«
»Im Bett, wieso, ich dachte, du bist am Bahnhof.«
»Warte«, sagte ich leise, damit Wolfram nicht aufwachte, und schloss die Tür, »erst um achtzehn Uhr drei.«
»So spät«, rief sie empört, »um zehn gehe ich aber nicht noch mal aus dem Haus.«
»Nein, Gromi, nicht um zehn, hast du dein Hörgerät eingeschaltet, um achtzehn Uhr, um sechs.«
»Zehn, acht, sechs«, wiederholte sie verwundert, »was soll das für eine Uhrzeit sein?«
»Ganz einfach, schreib’s …«
»Ganz einfach, von wegen«, rief sie dazwischen, »das ist überhaupt nicht einfach, nein, warte, mein Kind, das kannst du besser dem Mann erzählen.«
»Gromi, halt, hör zu, eins, acht, Doppelpunkt, null, drei«, erklärte ich viel zu laut und viel zu kompliziert, dann war es still, nur das Kratzen ihres Stifts drang durch den Hörer.
»Ach so, jetzt verstehe ich«, sie lachte, als hätte ich einen Scherz gemacht, »also, um achtzehn Uhr dreißig.«
»Ja, fast, welchen Mann meintest du?«
»Na, meinen«, sie stockte.
»Deinen Gärtner, meinst du, Herrn Bellucci?«
»Jetzt bringst du mich durcheinander.«
»Tut mir leid.«
»Trotzdem freue ich mich, dass du mich besuchen kommst.«
»Aber ich komme allein zu dir.«
»Natürlich kommst du allein, oder glaubst du, ich will deine Mutter hier haben, das will ich ganz bestimmt nicht, wenn du die mitbringst, du, dann …«
»Nein, Gromi, vom Bahnhof, ich komme allein vom Bahnhof zu dir, niemand muss mich abholen.«
»Wer muss dich abholen?«, ich sah sie in ihrem Korbstuhl in der Telefonierecke sitzen, den Hörer mit der Ringelschnur an ihr haariges Fledermausohr gedrückt und im Kopf ein anschwellendes Fragezeichen.
»Nein, Gromi, niemand«, ich musste mich zusammenreißen, »ich komme allein!«
Kaum dass ich aufgelegt hatte, war auf dem Flur das Schmatzen von Wolframs Füßen zu hören. Lautlos rollte ich vom Bett, öffnete die Tür und spähte hinaus. Morgens, gleich nach dem Aufstehen, war Wolfram nicht er selbst. In Wahrheit war er auch sonst nicht er selbst. Sogar den Schlaf schien er bloß vorzuspielen, wie ich einmal gesehen hatte, als Mama, die zum Frühdienst gegangen war, die Tür zu ihrem Zimmer aufgelassen hatte. Künstlich schnarchend und mit über die Kante hängendem Kopf hatte sich Wolfram über das ganze Bett gestreckt. Jetzt kraulte er mit den Händen durch die Luft, als tanzte er nachts an einem Tresen vorbei, dann trat er auf den Balkon, einen in die Hauswand eingebuchteten Betonkasten. Wie jeden Morgen führte er die Hände mit einer meditativen Kreisbewegung vor der Brust zusammen und verbeugte sich vor dem leeren, vermüllten Hof, in den er sich vermutlich das vermisste Publikum hinhalluzinierte.
Ich griff mir schnell ein paar Sachen aus dem Schrank, lief ins Bad, strampelte mich aus den Leoleggings, stellte mich in der Wanne hinter die angeschimmelte Plastikwand und versuchte, nicht zu kreischen, als mir der Eisregen auf den Rücken prasselte. Das warme Wasser mischte sich immer erst nach zwei oder drei Minuten dazu. Aber so lange wollte ich nicht warten. Kaum war Wolfram bei uns eingezogen, war nämlich der Schlüssel zur Badezimmertür verschwunden. Mama und ich hatten ihn nie gebraucht, deshalb war es uns anfangs gar nicht aufgefallen. Erst, nachdem Wolfram einmal die Tür geöffnet hatte, als ich gerade aus der Dusche stieg, nass und nackt und starr vor Schreck, hatte ich abschließen wollen. Aber da war der Schlüssel weg gewesen. Wolfram wusste angeblich von nichts, fand aber, dass Abschließen albern sei. Wahrscheinlich ertrug er es nur nicht, dass wir seine Bühne, unsere Wohnung, beschränken wollten. Herrgott, was fand Mama an diesem Mann? Ein erwachsener Typ, der ins Badezimmer latschte, wenn jemand duschte. Ein Schnorrer, der ständig unseren Kühlschrank leerfraß. Der keinen Satz, nicht ein Wort sagen, ja der nicht mal schweigen konnte, ohne dass es falsch wirkte, vorgetäuscht. Sogar wenn er nieste, musste er an die natürlichen Nasenexplosionen noch drei oder vier unüberhörbar künstliche Hatschischreie anhängen. Wieso kicherte Mama über diesen Quatsch? Weil sie den ganzen Tag von zum Tode verurteilten Trauerklößen belämmert wurde? Von lebenden Toten ohne Haare? Von all diesem Elend, dem täglichen Ende, der ewigen Endlichkeit auf ihrer Station?
Ja, ja, ja, kann schon sein, trotzdem war es furchtbar, sich im eigenen Bad so abhetzen zu müssen. Eilig stieg ich aus der Wanne und rubbelte den Oberkörper trocken, bevor ich noch mal angegeiert wurde. Ich wurstelte meine nassen Beine in die enge, schwarze Jeans und die Füße in die Socken, tauchte Kopf voran in das granitgraue T-Shirt mit der verblassten, großen Rose. Und lauschte. Aber nichts. Nur Stille. Ich trat zum Spiegel. Und sogleich sprang mir wieder dieser Fehlgriff von Frisur ins Gesicht, zu dem ich mich hatte hinreißen lassen, zwei Tage bevor ich zum ersten Mal nach Elkenau gefahren war. Ich hatte aussehen wollen wie Michelle in ihrem Partygirlvideo, diesem wunderbaren Strudel aus Schwarzweißbildern, in dem sie hunderte Male eine Treppe herunterkam, zu einem Ball oder Empfang, begleitet von einem glatzköpfigen Bodyguard, den Nacken rasiert bis zum Hinterkopf, die Haare mittig gescheitelt in zwei glänzende, schwarze Wellen. Doch trotz des gleichen Schnitts und fast der gleichen Farbe (dunkelbraun) sah ich damit nur aus wie eine Strubbelhexe, die in eine Steckdose gefasst hatte.
Während ich die Knisterflocken leise in mich hineinlöffelte, stellte ich mir vor, wie ich vom Küchentisch wegschwebte, durch Flur und Wohnzimmer bis auf den Balkon, wo meine Hände vorschnellten und Wolfram in den Rücken stießen, sodass er hinunterstürzte in den Hof, dumpf aufschlug, verrenkt und leblos liegen blieb und Mama nicht mehr umgarnen, sie nicht mehr vollschwatzen konnte mit seinen ständigen Sprüchen, Reden und Plänen.
»Guten Morgen, Madame«, hieß es da plötzlich und vor Schreck hätte ich die Cornflakesfuhre, die ich mir eben in den Mund gelöffelt hatte, fast über den Tisch gespuckt. Wolfram, der selbst herangeschwebt sein musste, hing auf einmal in der Küchentür, in seinem gelben Sporthöschen und einem ärmellosen, schwarzen Trainingshemd.
»’tschuldigung«, murmelte ich, nachdem ich alles eilig kleingekaut und hustend heruntergewürgt hatte. Für eine Sekunde fürchtete ich, ich könnte, wie tief ich auch schwieg, wie starr ich auch dasaß, nichts verbergen im Dunkel meines Kopfes. Weil mir die Gedanken als Leuchtschrift über die Stirn liefen.
»Na, wie war’s bei deinem Flo?«, er sah mich an, als wüsste er alles, weil er heute früh, nachdem Herr Göhrde das Eisengatter hatte in die Höhe rasseln lassen, heimlich durch das Seitenfenster geguckt und gesehen hatte, wie ich schwitzend auf der Rückbank lag.
»Super«, meinte ich, »wieso?«
»Weil, nun ja, hier wär’s auch wieder«, er sonderte einen klebrigen Schmatzlaut ab, »etwas unruhig gewesen.«
»Ich hab’ nichts mitgekriegt«, sagte ich unsinnigerweise, da die widerlichen Liebesgeräusche von Mama und Wolfram unten in der Tiefgarage ja gar nicht zu hören waren, »hast du eigentlich keine Angst?«
»Angst«, er stellte die Füße breit und griff mit beiden Händen je eine obere Ecke des Rahmens, sodass er wie ein X in der Tür stand, »wovor?«
»Na«, ich nickte in Richtung Balkon, »da runterzufallen.«
»Warum sollte ich?«, er pustete sich eine angegraute Goldlocke aus der Stirn.
»Weil ich dich schubsen werde, du dreckiger Fickvogel!«, hätte ich fast geschrien, sagte aber bloß, dass das Balkongeländer ja ziemlich niedrig sei.
»Okay, Madame, hör mir zu«, er räusperte sich die Stimme drei Etagen tiefer, bevor er mit seinem affig knarrenden Bühnenbass weitersprach, »ich weiß, du hattest andere Pläne für den Sommer, die Jugend hat immer andere Pläne für den Sommer«, er warf einen Blick aus dem Fenster, der wahrscheinlich zeigen sollte, wie ihm die sinnlos zerstobenen Sommer seiner eigenen Jugend durchs Bewusstsein zogen, »aber manchmal, Marlies, nicht immer, aber manchmal doch, sind aufgeschobene Träume umso saftiger, wenn du weißt, was ich meine«, ein schmieriges, kleines Gelächel blühte auf in seinem rechten Mundwinkel, »auf jeden Fall ist deine Mission …«
»Musst du das sagen«, unterbrach ich ihn, »ich bin doch keine Agentin.«
»Ja, muss ich, und weißt du, warum?«
»Nein, das weiß ich nicht«, und will es auch nicht wissen, dachte ich und spürte, wie mein angeschwollener Finger noch weiter anschwoll.
»Weil es egal ist, wer du bist.«
»Dir vielleicht, mir nicht.«
»Kann’s aber, weil du sein kannst, wer du willst, Schülerin, Agentin, Mörderin sogar, völlig egal, wichtig ist nur, wie du dich zusammenleimst, mit welchen Worten und Klamotten, zum Beispiel Missoni, mit welchen Gesten und Frisuren, und, am allerwichtigsten, mit welchem Leiden du dich ausstattest«, um die Aussage noch zu betonen, ließ er sein Gesicht erbleichen, als sei er soeben aus einem Sarg gestiegen, weil er in Wahrheit schon tot war oder zumindest todkrank, ein Trick, den er vermutlich in irgendeiner Clownschule gelernt hatte, sofort danach pumpte er die Wangen wieder satt rot auf und wollte weiterreden, doch ich parierte sein Gekasper mit einer derart eisig eingefrorenen Miene, dass er den Ton wieder wechselte, »nicht vergessen, du brauchst die Kohle auch, vor allem du.«
»Brauch ich nicht.«
»Ach, und was ist mit dem Auto?«
»Was kann ich denn dafür?«
»Und der Bushaltestelle?«
»Du hast mir doch das Fahren beigebracht!«, das hatte er tatsächlich, im April, zwei Monate nach seinem Einzug, draußen bei Niedergellersen, wo es niemanden juckte, wenn ich einen Waldweg entlangkroch, das Lenkrad gepackt wie einen Rettungsring und die Hände auf den Positionen zehn und zwei. Mama hatte ihn dazu gedrängt, uns beide, um genau zu sein, damit wir einander besser kennenlernten und uns nicht immer nur so fremd aneinander vorbeischöben in unserer kleinen Wohnung am Weißen Turm. Allein Mama zuliebe, die sich nach all den langen, leeren Jahren, die auf Papas Unglück gefolgt waren, nun festklammerte an dieser Lachnummer von Mann, hatte ich eingewilligt, hatte das Gewitzel ertragen, diese ständigen Rollen, die er wie ein Kettenraucher eine an der anderen entzündete, das unablässige Geschwatze, vom Theater, von den anderen Schauspielern, vor allem den Schauspielerinnen, die alle nichts konnten, nichts wussten, nichts waren, außer neidisch, und zwar auf ihn, sein Talent, seine tierische Transformationsfähigkeit, diese unfassbare, er kurbelte das Fenster herunter, »Verwandlungs! Kunst!«, brüllte er raus in den Wald, durch den ich uns im Schritttempo steuerte. Doch am Ende konnte ich es. Lenken, blinken, rechts vor links, vorwärts, rückwärts, um die Kurve, sogar auf der Landstraße. Es war idiotisch einfach. Bloß beim Schalten gab die Kiste ein gequältes Jaulen von sich, aber das tat sie manchmal auch bei Mama.
»Sehr richtig, Madame«, Wolframs Stimme schnitt mir in die Erinnerung, »das Fahren, aber nicht das Kaputtfahren!«
»Mann, das war doch keine Absicht, außerdem hast du gesagt, ich kann fahren, wohin ich will.«
»BF 17, du denkst vielleicht, das heißt ›Beleidigtes Fräulein‹, aber falsch gedacht, ›Begleitetes Fahren‹ heißt das, be-glei-tet, hörst du, nicht allein.«
»Weiß ich doch selber.«
»Was wolltest du überhaupt da draußen«, er machte eine Pause, um den Namen albern auseinanderzudehnen, »in Dahlenburg?«
»Rumfahren, wie oft soll ich es noch sagen?«, fragte ich, denn dass Flo mein Ziel gewesen war, da draußen in Elkenau, davon hatte ich nichts erzählt, natürlich nicht, sonst hätte Mama womöglich noch mit seinen Eltern telefonieren wollen.
»Du, wer über zehntausend Euro Schulden hat, der kann es auch ruhig dreimal sagen.«
»Rumfahren, rumfahren, rumfahren, reicht das?«
»Nein, tut’s nicht.«
»Mir doch egal.«
»Hey, hast du deine Mutter mal richtig angeschaut in letzter Zeit?«
Wie denn, wenn du ständig auf ihr draufsitzt?, dachte ich.
»Die kann nicht mehr, die ist fertig, die braucht einen Neustart, und zwar einen Lebensneustart«, und so weiter, da hörte ich gar nicht mehr zu, denn mit diesem Gesülze hatte er Mama bereits den Verstand verklebt.
»Kannst du eigentlich hellsehen?«, fragte ich, als er eine Pause machte, »oder woher willst du wissen, dass die Gromi schon so schnell unter der Erde liegt?«, ich starrte ihm ein Brandloch in die Stirn, was nach wenigen Sekunden, in denen sich sein Gehirn vermutlich hilflos im Kreis gedreht hatte, eine wilde Laberlawine auslöste, unzählige Erklärungen und Behauptungen, die ich aber gar nicht hörte, weil ich mir einfach die Ohren zuhielt und in mein Zimmer rannte. Ich sah auf die Uhr. Mist, schon halb zwölf. Ich schnappte den Seesack und stürmte durch den Flur, vorbei an Wolfram, der sofort wieder zu einem langen Rattenschwanz an Gerede ansetzte, den ich aber übertönte, indem ich fünfzig Mal hintereinander »Nein« sagte. Es war eine lange, laute Abwehrschlange von dicht zusammengedrängten »Neineineineineineineins«, die mir aus dem Mund ratterte, während ich meine Boots und meinen Mantel griff und aus der Wohnung jagte. Im Donner der zugeschmetterten Tür galoppierte ich den Gang hinab und quetschte mich in den wieder nur halb geöffneten Fahrstuhl. Unter den verwunderten Blicken des alten Herrn Mehdi, der neben uns wohnte, stieß ich meine Füße in die zerschrammten Boots und zog den Mantel an, den schwarzen, mit falschen Federn gefüllten Puffmantel, den ich gegriffen hatte, da ich eben, noch im Zimmer, wieder von einem Kälteschauer durchrollt worden war.
Ich lief an der Tankstelle vorbei. Das kalte Blau des Dachs über den Zapfsäulen erinnerte mich unangenehm an die drei Nachtschichten, die ich hier abgeleistet hatte. Je acht endlos hingezogene Stunden im Shop. Mit zahllosen, durch das Fenster gelallten Bier- und Zigarettenwünschen. Um die ersten Unfallschulden abzutragen. Ich marschierte durch das Rote Feld, ein Viertel voller geduckter Doppelhaushälften, dann über die Amselbrücke nach Wilschenbruch, an einer zerzausten Weidelandschaft entlang, fast einer Wildnis. Da spürte ich wieder das Klopfen in meinem linken Zeigefinger. Ich hatte die Schwellung lange nicht mehr angeschaut, denn seit ich auf die Hasenburg ging, sahen alle meine Finger fürchterlich aus, jeder Nagel war angenagt und die Haut an manchen Tagen so trocken, dass es aus den dünnen Bruchstellen blutete.
In der nächsten Kurve bog ich ab in den Waldweg, auf dem mich Flo zu sich eingeladen hatte. Eine Woche nach der Gartenparty, am zweiten Juniwochenende, war ich zum ersten Mal zu ihm nach Elkenau gefahren. Und niemandem war was aufgefallen. Kurz vor der Verabschiedung hatte ich noch gefürchtet, ich würde gleich wieder, wie bei meiner ersten Autonacht, einem Verhör unterzogen. Doch als ich den Kopf ins Wohnzimmer gesteckt und stumm die Hand gehoben hatte, waren Mama und Wolfram derart gebannt gewesen von ihrer bescheuerten Fellmädchenserie, dass sie bloß mit schockgefrorenen Gesichtern auf das Filmgeschehen geschaut hatten. Erneut hatte es mich gewundert, wie verändert Mama wirkte, seit Wolfram bei uns wohnte. Trotzdem war ich froh. Froh, nicht wieder ausgefragt zu werden. Und froh, dass sie das Auto, mit dem ich gleich losfahren wollte, heute Abend sicher nicht vermissen würde. Letztes Jahr, noch bis in den Herbst hinein, hätte sie mich am liebsten eingesperrt, damit ich mich nicht noch einmal in irgendwelche Spinnereien verstricken ließe. Von Blödmännern wie Gehrmann und Röhrs. Jetzt hingegen war es ihr egal, alles egal, dachte ich, zog den Kopf zurück, schlich durch den Flur und schloss die Wohnungstür behutsam hinter mir. Es war die zweite Nacht in dieser Woche, die ich nicht zu Hause verbringen würde. Aber auch nicht auf der Rückbank, dieser fleckigen, verschwitzten Dreckfläche, sondern, mit ein bisschen Glück, in Flos Bett in Elkenau.
Vorausgesetzt, ich würde es überhaupt bis dahin schaffen. Immerhin, der Anfang war kein Problem. Ich kurbelte mich aus der Garage und stotterte mich irgendwie durch die Stadt. Auf der langen Landstraße nach Dahlenburg allerdings klammerte ich mich ans Lenkrad und zuckte jedes Mal zusammen, wenn mich jemand anhupte und überholte. Weil ich so langsam fuhr. Aber schneller traute ich mich nicht. Ich war mit meinen paar Waldfahrstunden unter Wolframs Anleitung einfach äußerst ungeübt. Zugleich tanzten mir unzählige Fragen durch den Sinn. Wie der Abend wohl verlaufen würde. Ob ich meine Sonnenbrille aufsetzen sollte, dieses große, schwarze Ungeheuer aus dem Drogeriemarkt, das fast das ganze Gesicht verdeckte. Ob ich’s wagen könnte, einen Arm lässig aus dem Fenster hängen zu lassen, wenn ich gleich auf den Hof der Schule rollte. Und ob dort vielleicht nur irgendwelche überteuerten Sportwagen stünden, sodass unsere rostige, graue Golfkiste unangenehm herausstechen würde. Und ob mir Flo entgegengelaufen käme, mit von der Abendsonne in Brand gesetztem Haar.