Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys - Christiane Hoffmans - E-Book

Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys E-Book

Christiane Hoffmans

0,0

  • Herausgeber: SuKuLTuR
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Joseph Beuys polarisierte wie kaum ein anderer Künstler im 20. Jahrhundert. Denn Beuys verstand sein Handeln politisch. Er wollte nicht im stillen Kämmerlein Werke für die Wohnzimmer von Sammlern und die Schauräume von Museen schaffen. Seine Kunst, seine Mission, brauchte den öffentlichen Raum. Sein Ziel war: möglichst Alle zu erreichen. Sein Wunsch war es, in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die noch von den Auswirkungen der Diktatur des Nationalsozialismus geprägt war, Impulse zu setzen für die Entwicklung einer humaneren Zukunft. Dieses Buch gibt einen kompakten und gut verständlichen Einblick in Leben, Werk und Theorien des Aktionskünstlers, damit sich – ganz im Sinne von Beuys – viele Menschen mit seinem Wirken vertraut machen können. Die Einführung wird ergänzte durch Interviews mit Sonja Mataré, der Tochter von Beuys' Lehrer Ewald Mataré, mit dem Verleger Klaus Staeck, mit dem frühen Sammler und Freund Franz Joseph van der Grinten, dem Künstlerphilosophen Bazon Brock, dem Politiker Lukas Beckmann, der Fotografin Ute Klophaus und Beuys' langjährigem Taxifahrer Karl Heß.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 174

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CHRISTIANE HOFFMANS

DER JAHRHUNDERTKÜNSTLER JOSEPH BEUYS

EINFÜHRUNG IN LEBEN UND WERK

ZEITZEUGENINTERVIEWS MIT

LUKAS BECKMANN, BAZON BROCK,

KARL HEß, UTE KLOPHAUS,

SONJA MATARÉ, KLAUS STAECK,

FRANZ JOSEPH VAN DER GRINTEN

1. Auflage Mai 2021

Gestaltung: Volker Pecher

© K-West Verlag, Essen 2021

Alle Rechte vorbehalten

eISBN: 978-3-948365-19-6

INHALT

VORWORT

DIE LEGENDE: EIN KÜNSTLER, DER VOM HIMMEL FIEL

ZWISCHEN HITLERJUGEND UND FREIHEITSDRANG KINDHEIT, SCHULZEIT UND KRIEG

STUDIUM UND KRISE

DER „VERRÜCKTE“ PROFESSOR: DIE REVOLUTIONIERUNG DER KUNST

JEDER MENSCH EIN KÜNSTLER? BEUYS UND DIE STAATSGEWALT

UNBEQUEM DER POLITIKER

DER GESCHÄFTSMANN UND DER ANTI-IMPERIALIST

ENDE EINES TRAUMS UND BEGINN DER WELTKARRIERE

DER SCHMERZRAUM DAS FINALE

»ICH WAR DIE EINZIGE, DIE IHM DIE HAARE SCHNEIDEN DURFTE.« SONJA MATARÉ IM INTERVIEW

»BEUYS WAR EINE ART KRIEGER.« FRANZ JOSEPH VAN DER GRINTEN IM INTERVIEW

»ER HATTE DIE QUALITÄT EINES WÜSTENHEILIGEN.« BAZON BROCK IM INTERVIEW

»ICH GLAUBE, DASS BEUYS EINSAM WAR.« UTE KLOPHAUS IM INTERVIEW

»JAJA, DER KLAUS STAECK IST MEIN POLITISCHER GEGNER.« KLAUS STAECK IM INTERVIEW

»AUS HEUTIGER SICHT WAR DAS ECHT ABENTEUERLICH.« LUKAS BECKMANN IM INTERVIEW

»FÜR MICH WAR ER IMMER HERR BEUYS.« KARL HEß IM INTERVIEW

ANHANG

BIOGRAFIE

ANMERKUNGEN

LITERATUR

DANK

BILDNACHWEIS

VORWORT

Über Joseph Beuys ist unendlich viel gesagt und sehr viel geschrieben worden. Bis in den letzten Winkel haben Wissenschaftler, Kunstkritikerinnen, Politiker und Museumsleute Aspekte der Werke und Aktionen, die Joseph Beuys seit seinem Start als Künstler Mitte der 1940er-Jahre bis zu seinem Tod 1986 geschaffen hat, erforscht, analysiert, interpretiert und bewertet. Es gibt wohl kaum eine Seite von Beuys, die nicht untersucht wurde. Das reicht von seinem Verhältnis zu Pflanzen, Tieren, Steinen über sein Engagement in Politik und Gesellschaft, seine Haltung zur Wirtschaft bis hin zu seinen Theorien. Auch sein Lebensabschnitt als Soldat im Zweiten Weltkrieg und seine Rettung durch die Tataren nach einem Flugzeugabsturz, den er gern mystifizierte, war und ist immer noch Gegenstand von Diskussionen.

Doch Beuys entwickelte seine Kunst nicht (nur) für Wissenschaftler, deren Bücher die Regale von Universitäts- und Museumsbibliotheken füllen. Er wollte eine breite Öffentlichkeit erreichen. Sein Wunsch war es, in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die noch von den Auswirkungen der Diktatur des Nationalsozialismus geprägt war, Impulse zu setzen für die Entwicklung einer humaneren Zukunft. Daher sprach er auch in jedes Mikrofon und posierte er vor jeder Kamera.

So ist es kein Wunder, dass fast jeder Joseph Beuys kennt. Der großgewachsene Mann mit dem Hut polarisierte wie kaum ein anderer Künstler im 20. Jahrhundert. Denn Beuys verstand sein Handeln politisch. Er wollte nicht im stillen Kämmerlein Werke für die Wohnzimmer von Sammlern und die Schauräume von Museen schaffen. Seine Kunst, seine Mission, brauchte den öffentlichen Raum. Sein Ziel war, möglichst Alle zu erreichen.

Dieses Buch macht es sich zur Aufgabe, einen kompakten und gut verständlichen Einblick in Leben, Werk und Theorien des Aktionskünstlers zu geben, damit sich – ganz im Sinne von Beuys – viele Menschen mit seinem Wirken vertraut machen können.

Um seinem rasanten Leben und seinem geheimnisvoll anmutenden Werk möglichst nahe zu kommen, habe ich viele Gespräche mit Beuys’ Weggefährtinnen, Schülern, Galeristen, Kolleginnen und Politikern geführt, – mit Sonja Mataré, der Tochter von Beuys’ Lehrer Ewald Mataré, mit dem Verleger Klaus Staeck, mit dem frühen Sammler und Freund Franz Joseph van der Grinten, dem Künstlerphilosophen Bazon Brock, der Fotografin Ute Klophaus und Beuys’ langjährigem Taxifahrer Karl Heß. Die Interviews erscheinen in dieser Einführung zu Leben und Werk anlässlich von Beuys’ einhundertstem Geburtstag 2021 erstmals in voller Länge. Im Zusammenspiel mit Beuys’ Biografie bilden sie ein aufschlussreiches Fundament für die Beschäftigung mit dem Jahrhundertkünstler.

Christiane Hoffmans, im März 2021

DIE LEGENDE:EIN KÜNSTLER,DER VOMHIMMEL FIEL

Der elfjährige Joseph Beuys mit seinen Cousins und Cousinen Gertrud, Hubert, Hildegard, Hugo, Margarita (von links), 1932.

Am 16. März 1944 stürzte Joseph Beuys mit einer Ju 87 ab. Das Sturzkampfflugzeug sei von einem russischen Geschoss getroffen worden, berichtete Beuys später.1 Der Höhenmesser versagte und als dann auch noch ein Schneesturm einsetzte, konnte Pilot Hans Laurinck die Maschine gerade noch 200 Meter hinter die Kampflinie östlich von Freifeld (Snamenka) auf der Krim2 bringen, dann prallte sie auf. Laurinck war tot. Beuys wurde aus der Maschine geschleudert. Er lebte. Gerettet wurde der bewusstlose Soldat von Tataren, die ihn neben den Trümmern der Ju 87 fanden. »Die haben mich dann in die Hütte genommen«, erinnerte er sich.3 Acht Tage lang hätten Mitglieder des Nomadenvolks den Verwundeten versorgt. Sie wickelten ihn in Filz, damit er warm werde und Wärme speichern könne. Seine schweren Wunden hätten sie mit tierischem Fett gesalbt.4

Die ungewöhnliche Rettungsaktion gehört wohl zu den weltweit populärsten Künstlergeschichten und sie führte dazu, dass Beuys für die breite Öffentlichkeit zum Fett-und-Filz-Künstler wurde und es immer noch ist. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, dass die Beuys’sche Wahrheit nicht der Wirklichkeit entspricht. So kann der junge Soldat von den Tataren nicht mehrere Tage gepflegt worden sein, denn schon am Tag nach seinem Absturz wurde er in das Feldlazarett 179 in Kruman-Kemektschi eingeliefert.5 Staffelkapitän Heinz Georg Kempken erinnert sich an das schlechte Wetter an dem Märztag des Beuys’schen Absturzes im Jahr 1944. »Wir hatten unsere Bomben über Sewastopol abgeworfen, und als wir zurückkamen, war eine Wolkenbank aufgezogen.«6 Die Maschine, in der Joseph Beuys als Bordfunker saß, sei nicht beschossen worden. Vielmehr sei allein »fliegerisches Unvermögen« Schuld am Absturz gewesen. Schon wenige Stunden nach dem Unfall besuchte Kempken seinen Kameraden im nahe gelegenen Feldlazarett. Dieser habe eine leichte Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Nasenbein gehabt.7 Glaubt man Kempken, dann hatte Beuys auch keinen doppelten Schädelbasisbruch erlitten, wie häufig behauptet wird, und ein Edelmetallimplantat wurde dann wohl ebenfalls nicht in seinen Kopf eingesetzt.8

Beuys selbst trug nicht dazu bei, seine Absturzgeschichte zu relativieren. Vielmehr erzählte er kurz nach dem Krieg Sonja Mataré, der Tochter seines Lehrers Ewald Mataré, dass er eine silberne Platte im Kopf habe. Verheilte Narben hat Sonja Mataré aber nicht gesehen, wenn sie dem jungen Studenten die dünnen Haare schnitt.9 Seine engen Freunde Hans und Franz Joseph van der Grinten halten die Tataren-Darstellung für wahr: »Beuys hat uns seine Kriegserlebnisse während seiner Depression 1957 erzählt, und das war vor der Zeit, als er an seiner Legende gearbeitet hat.«10 Beuys selbst beharrte sein Leben lang auf der Version: »Das Hantieren mit dem Käse und dem Fett und Milch und Quark – so wo die mit hantieren, das ist praktisch so in mich eingegangen; ich habe das wirklich erlebt.«11 Dass die Interpretation seines komplexen künstlerischen Werks dadurch häufig stark vereinfacht wurde – frei nach dem Motto: Der Künstler verarbeitet mit Fett und Filz sein Kriegstrauma –, nahm er einerseits in Kauf, andererseits setzte er sich aber auch dagegen zur Wehr: »Ich habe ja nicht diese Filzsachen gemacht, um etwas darzustellen von den Tataren.«12

Doch egal wie simpel manche Erklärungen für seine Kunst klingen: Nie gab es einen Künstler, dessen Werk zu Lebzeiten so heftig angegriffen wurde und noch bis heute so umstritten ist. Schon Mitte der 1960er Jahre, also kurz nachdem er seine ersten wichtigen Aktionen gemacht hatte, stand für viele fest: Beuys ist der Fetteckenguru, der Scharlatan, der Schamane. »Pervers wie Beuys«, hetzte 1967 Richard W. Eichler. Und der reaktionäre Autor fand ferner, dass Beuys’ Tun für Psychologen, sicher auch für Psychiater, interessanter sei als für den Kunstfreund.13 Ähnlich bösartigen Angriffen waren auch Freunde und Sammler von Beuys’ Werken ausgesetzt. Stella Baum, Beuys-Sammlerin der ersten Stunde, erinnerte sich, dass sie und ihr Mann stets mit »viel Spott bedacht wurden«. Und als sie den »Fettstuhl« kauften, seien sie als »verrückt« abgestempelt worden.14 Auch Angehörige seiner eigenen Familie wurden häufig auf den »verrückten« Beuys angesprochen.15

Beuys, der große, hagere Mann mit dem Hut, machte vielen Menschen Angst, weckte Aggressionen. Seine geheimnisvolle Kunst, seine eindringlichen Aktionen, seine grüne Politik, seine anthroposophische Weltanschauung, sein unendlicher Kampfgeist waren und sind auch heute noch für viele schwer nachvollziehbar. »Doch die Schwierigkeiten mit Beuys muss man meistern«, fordert sein ehemaliger Meisterschüler Johannes Stüttgen.16 Damit spricht er auch die Tataren-Geschichte an. Es habe für Beuys keinen Grund gegeben, sie zurückzunehmen: »Man muss den Bericht nur richtig einordnen. Wenn man sich in einem todesähnlichen Zustand befindet, wird unter Umständen aus einem Tag plötzlich eine ganze Woche. In einer Grenzsituation verändert sich der Zeitbegriff. Und Beuys ist ein Grenzgänger. Er hat in der Kunst eine Schwelle übertreten. Er hat mit der Moderne abgeschlossen. Warum sollte er mit den traditionellen Zeit- und Erlebnisbegriffen arbeiten?«17

Beuys war ein gebildeter, intellektueller Künstler. Ihm war bewusst, dass Künstler seit dem 15. Jahrhundert ihre Werke nicht mehr allein zum Lob Gottes schufen, sondern dass sie, überspitzt formuliert, dem Allmächtigen Konkurrenz machen. »Künstler sein heißt, ein neues Legitimationsverfahren einführen, nämlich die Legitimation durch die Autorität des Autors«, erklärt der Philosoph und Künstler Bazon Brock, der Beuys Ende der 1950er-Jahre kennenlernte.18 Oder wie Beuys das ausdrückte: »Der Schöpfer kann mich mal — der Mensch ist der Schöpfer selbst.«19 Bazon Brock sagt: »Alles, was man von den Aussagen verlangt, ist Wirksamkeit. Denn wenn die Leute keine Wirksamkeit spürten, würden sie auch nicht hingehen.«20 Und dazu gehörte auch, dass es keine Trennung zwischen Kunst und Leben, zwischen »Öffentlichkeit und Privatheit«21 geben könne. Die Erschaffung eines persönlichen Künstlermythos gehörte für Beuys dazu. Er arbeitete und lebte nach dieser Devise und dehnte und streckte die Definition von Kunst in Richtungen, die bis dahin undenkbar schienen. Denken, Reden und Diskutieren waren für Beuys Kunst, gehörten zu seinem erweiterten Kunstbegriff. Das macht seine Kunst, sein Leben so einzigartig vielschichtig und spannend.

ZWISCHENHITLERJUGEND UNDFREIHEITSDRANG

KINDHEIT,SCHULZEIT UNDKRIEG

Joseph Heinrich Beuys wurde am 12. Mai 1921 — sehr zu seinem Leidwesen — in Krefeld geboren. Wäre es nach dem Künstler gegangen, hätte diese erste Aktion seines Lebens in Kleve stattgefunden, jener Stadt am linken Niederrhein, in der Beuys aufwuchs und deren Geschichte und Landschaft ihn nachhaltig geprägt haben. Doch da seine Eltern, Johanna Maria Margarete geb. Hülsermann (1889–1974) und Joseph Jakob Beuys (1888–1958), zur Zeit seiner Geburt in Krefeld am Alexanderplatz 5, einer vornehmen Wohngegend, lebten, erblickte Joseph im Dampfmühlenweg22 das Licht der Welt.23 Vielleicht wurde er aber auch in Geldern in einer Unterführung auf einem Feldweg geboren. Das jedenfalls erzählte Beuys einem befreundeten Künstler.24 Wie dem auch sei: Vertraut man dem Melderegister der Stadt Krefeld, musste Beuys noch vier Monate warten, bis seine Eltern endlich nach Kleve zogen.25

Seinen Geburtsort Krefeld ignorierte Beuys zeit seines Lebens, schließlich sei seine Geburt dort »rein zufällig«26 gewesen. Überhaupt hatte er es nicht gern, wenn »biographische Dinge […] in einer konventionellen Form«27 behandelt wurden. Alles, was er erlebte, konnte zum Kunstwerk erklärt werden. Konsequenterweise verfasste er 1964 seinen »Lebenslauf/Werklauf« ganz nach seiner Vorstellung. Hierbei entschied er sich für eine theatralisch-literarische Form, die er aus Passionsspielen oder Märtyrerdramen kannte. Station eins im Lebensdrama des Joseph Beuys: »1921 Kleve Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde«.

Beuys’ Vater Joseph war Kaufmann. Er arbeitete in der Futtermittelfirma seines Bruders in Hau, einem Nachbardorf von Kleve.28 Später leitete er die Filiale des kleinen Betriebs seines Neffen im acht Kilometer entfernten Rindern. Die junge Familie lebte in der Anfangszeit in Kleve, später in Neu-Rindern.29 In Kleve besuchte Beuys von 1927 bis 1932 die Katholische Volksschule, anschließend das Hindenburg-Gymnasium. Er sei ein waghalsiger Junge gewesen, erinnert sich seine Cousine Gertrud Beuys. Ständig hätten die Lehrer seinen Vater in die Schule zitiert, um ihn über die Streiche seines Sohns zu informieren. Mit dem Fahrrad die Treppe des Gymnasiums hinunter zu flitzen, machte Beuys diebische Freude.30 Auch sonst war er abenteuerlustig. Nach dem Motto »Was können wir jetzt anstellen?«,31 stachelte er seine zehn Cousinen und Cousins, die in Hau wohnten, zu Streichen an. Beuys kletterte die Dachrinne hinauf, um durch das Dachfenster in das Haus zu gelangen, oder balancierte auf dem oberen Steg der Schaukel. Mit Jüppken, wie ihn damals alle nannten, paffte Gertrud ihre erste Zigarette. Dennoch war Joseph Beuys kein lebenslustiger Spielgefährte. Er sei nicht wie die anderen Kinder gewesen, erinnert sich seine Cousine. Er sei ein »adiges« Kind, habe die Großmutter einmal über ihren Enkel gesagt, was niederrheinisches Platt ist und »sonderbar« bedeutet.32

Aber vielleicht war es für Gertrud und ihre Geschwister gerade deshalb interessant, wenn Jüppken nach der Schule zu ihnen kam. Er kannte alle Pflanzen mit ihrem lateinischen Namen. »Manchmal habe ich dann zu Hause nachgeschaut, ob er uns beschummelt hatte. Aber es stimmte immer.«33 Gemeinsam mit anderen Kindern ging der kleine Biologe auf Exkursion. Kriechtiere, Kaulquappen, Käfer, Fische, Mäuse und Ratten wurden gesammelt und später präsentiert.34 Beuys’ Interesse an Botanik, aber auch an Zoologie, Technik und Naturwissenschaften war schon in frühen Jahren da und verließ ihn nie mehr. Im elterlichen Haus richtete er ein Labor ein und beim Nachbarn Johannes Sanders durfte er zuschauen, wie der Wäschereibesitzer mit allen möglichen Apparaturen — Dampfkesseln, Heizungsanlagen, Bügel- und Schleudermaschinen mit ungeheuren Schwungrädern — »experimentierte«. »Das hat mich als Junge natürlich fasziniert, denn es war phantastisch und grotesk zugleich«, sagte er später.35

Vielseitig begabt war Beuys. Und wie in einer gutbürgerlichen Familie damals üblich, erhielt er Klavierunterricht — manchmal gemeinsam mit seiner Cousine Gertrud. Am 22. März 1931 trat er mit drei kurzen Stücken das erste Mal als Solist bei einem Schülerkonzert auf. Von 1938 bis 1941 spielte er im sogenannten Bannorchester der Hitlerjugend Cello.36 Seine musikalische Ausbildung legte den Grundstein für seine späteren Aktionen. Klavier, Flügel und Stimme waren Beuys’ bevorzugte Instrumente und die Hauptdarsteller vieler seiner Werke. In der Aktion »Sibirische Symphonie« (1963) spielte er auf dem Flügel ein selbst komponiertes Stück und eines von Erik Satie. In dem Werk »Infiltration Homogen für Konzertflügel« (1966) überzog er das Instrument mit Filz. Übrigens war Erik Satie Beuys’ Lieblingskomponist. »Manchmal kam er zu uns, und wir hörten gemeinsam Saties ›Messe des Pauvres‹«, erinnert sich Maritha Richter, die Beuys 1948 kennenlernte und in deren elterlichem Haus in Meerbusch-Büderich der Student zwei Jahre lang lebte.37

Bildende Kunst hingegen wurde im Hause Beuys wenig gefördert. Dabei gab es in der Geschichte der Familie Beuys einige Maler. Der bekannteste war Johann Heinrich Brey (1872–1960), ein regional gefragter Porträt-, Landschafts- und Kirchenmaler aus Geldern. Breys Halbschwester Theodora war die Urgroßmutter von Joseph Beuys.38 Auch in der Schule wurde Kunst unterrichtet, und Beuys’ Arbeiten waren so gut, dass er eine Serie seiner Landschaftsaquarelle im Treppenhaus des Gymnasiums aufhängen durfte. Nur eines davon, »Landschaft bei Rindern«, ist noch erhalten.39 Drei Jahre vor seinem Abitur lernte er den belgischen Bildhauer Achilles Moortgat (1881–1957) kennen, der noch ganz in der Tradition von Spätimpressionismus und Jugendstil stand.40 Beuys besuchte Moortgat von Zeit zu Zeit in dessen Klever Atelier.

Diese ersten Erfahrungen mit einem Künstler waren sicher spannend für den Schüler, doch prägend wurde für Beuys die Begegnung mit einer Skulptur Wilhelm Lehmbrucks (1881-1919) — zunächst allerdings nur als Schwarz-Weiß-Foto in einem Heftchen. Doch der Eindruck, den die Figur auf Beuys gemacht hat, muss atemberaubend gewesen sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass der Schüler in jenen Jahren von Naziarchitektur und Naziskulptur umgeben war. Lehmbrucks Skulptur war die Initialzündung für Beuys’ Beschäftigung mit Bildhauerei. Das zumindest erklärte der Künstler in seiner Rede zur Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises, die er am 12. Januar 1986, nur elf Tage vor seinem Tod, hielt. Lehmbruck gab ihm den entscheidenden Anstoß, Plastik nicht ausschließlich als dreidimensionales, festes Materialgebilde zu betrachten. Für Beuys bedeutete Plastik sehr viel mehr — und diese erste Begegnung mit Lehmbruck enthielt für Beuys bereits den Keim zu seinem »erweiterten Kunstbegriff« und seiner »sozialen Plastik«, die er seit der Mitte der 1960er-Jahre entwickelte.

Trotz Naturerlebnissen, Schülerkonzerten und Treppenhaus-Ausstellungen — Beuys’ Kindheit und Jugend waren kein Idyll. Für die Eltern war es wohl schwierig, den intelligenten Jungen mit der schnellen Auffassungsgabe nach ihren ländlich-bürgerlichen Vorstellungen zu erziehen. Beuys selbst sagte, das Verhältnis zu seinen Eltern könne man nicht als »eng« bezeichnen.41 Das scheint noch freundlich formuliert zu sein. Verwandte und enge Bekannte erzählen, dass besonders seine Mutter sehr streng gewesen sei, ihren Sohn »mit fester Hand«42 erzogen und wenig Verständnis für ihr »überintelligentes Kerlchen«43 aufgebracht habe.44 Kein Wunder, dass das Einzelkind gern bei seinen Cousinen und Cousins war. »Hier hatte er ein Stück Freiheit.«45

In der Hitlerjugend glaubte der Teenager Beuys, den Fesseln seines Elternhauses zu entkommen: »Man muss ja zugeben, dass […] damals die Situation für die Jugendlichen in gewisser Weise ideal war, um sich auszuleben. […] ansonsten fühlten wir uns frei und unabhängig«, erklärte er später pragmatisch und, wie es scheint, wenig reflektiert.46 Zwar herrschte in der Hitlerjugend militärischer Drill, zugleich förderte diese Organisation aber auch die Auflehnung der Jugendlichen gegen ihr Elternhaus. Skrupel, 1936 am Adolf-Hitler-Sternmarsch nach Nürnberg teilzunehmen, hatte Beuys selbst daher keine, die hatten aber seine Eltern.47 Irritierend war für den naturwissenschaftlich Interessierten nur, dass bei der Bücherverbrennung, die auf dem Klever Schulhof im Mai 1933 stattfand,48 möglicherweise Bücher verbrannt wurden, die ihn faszinierten. Später sagte er, er habe aus dem brennenden Haufen einiges Beiseite geschafft, unter anderem Systema Naturae des schwedischen Naturforschers Carl von Linné.49 Allerdings stand Linné nicht auf dem Index der Nazis. Beuys war damals gerade einmal zwölf Jahre alt. Als einen bewussten, heroischen Akt des Widerstands wird man diese Geschichte, sofern sie sich überhaupt so zugetragen hat, auf keinen Fall werten dürfen. Über die Gräueltaten der Nationalsozialisten, die es natürlich auch in Kleve gab — 1938 brannte auch hier die Synagoge —, hat Beuys später nie gesprochen.

Ein Jahr vor dem Abitur entsprach der uniformierte Drill der Hitlerjugend nicht mehr dem Freiheitsdrang des Teenagers. Beuys suchte daher sein Glück beim Zirkus. Ein »Zirkusmädchen« hatte ihm den Kopf verdreht.50 Er riss aus und schloss sich der fahrenden Truppe an. Diese nahm den jungen, kräftigen Mann mit — als Plakatausträger, Handlanger, Tierpfleger. Das Intermezzo währte jedoch nicht lange, wie sich Gertrud Beuys erinnert. Am Oberrhein fing der Vater seinen Sohn wieder ein. Für Beuys ging die Geschichte glimpflich aus. Zwar wollten seine Eltern, dass ihr Sohn die Schule verließ und in einer Margarinefabrik in Kleve Prokurist würde, doch blieb es bei der Androhung. Beuys durfte wieder auf das Gymnasium gehen und schloss nach einer Ehrenrunde seine Schulkarriere 1941 ab.51

Es gibt nicht viele Künstler, deren Werke so substanziell von Kindheits- und Jugendeindrücken gespeist sind wie die von Beuys. Spezifische Eigenschaften der Menschen und der Landschaft des anarchistischen Mikrokosmos Niederrhein haben sich tief in Beuys’ Leben und Werk eingegraben. Hier wohnen seit Generationen Menschen, die widerspenstig und melancholisch, erdverbunden und spirituell, aber auch neugierig und idealistisch sind, deren Sprachklang mehr dem Niederländischen als dem Deutschen verwandt scheint und deren Satzgebilde ausufernd weit und ungeordnet sind wie die Landschaft; und die eigentlich schon in der Schule lernen konnten, wie man die Freiheit bis zum Tod verteidigt. Anacharsis Cloots (1755–1794), ein niederländisch-preußischer Baron, Kämpfer für die Menschenrechte während der Französischen Revolution, ist ein Vorbild dafür. Er wurde in Kleve geboren. Auf dem Weg zur Schule radelte Beuys an dem ehemaligen Schloss dieses Revolutionärs und Atheisten vorbei. Daran knüpfte der erwachsene Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg an, indem er manchmal mit »Anacharsis Cloots Beuys« oder »Anacharsis-Beuyscloots« oder »Cloots-AnacharsisBeuys« unterschrieb.52 Das Leben des Revolutionärs Cloots stand vermutlich nicht auf dem Lehrplan der Nationalsozialisten. Sonst hätte Beuys sich möglicherweise anders zu deren menschenverachtendem Regime verhalten. Instruiert und konditioniert durch die Teilnahme an der Hitlerjugend sei Beuys am letzten Schultag — das Notabitur in der Tasche — direkt zum Wehrmeldeamt gegangen und sofort in die Luftwaffe eingetreten, erinnerte sich ein Klassenkamerad.53 Die vage Vorstellung, Kinderarzt zu werden, verfolgte Beuys nicht weiter. Im Nachhinein erklärte er seinen Wunsch, zur Luftwaffe zu gehen, durch sein »starkes naturwissenschaftlich-technisches Interesse«.54

Eine solche Aussage lässt sich als Sieg nationalsozialistischer Erziehung und Propaganda werten, denn deren Vertreter legten es geradezu darauf an, bei Jungen technische Begeisterung und Abenteuerlust zu wecken, um aus ihnen kampfbereite Soldaten zu formen. Im Besonderen war es der Überfall der Wehrmacht auf die Niederlande, Belgien und Luxemburg am 10. Mai 1940, der Beuys so beeindruckt hatte, dass er sich »spontan« dazu entschloss, Soldat zu werden.55 »[…] weil wir das Gefühl hatten, […] es wird höchste Zeit, […] an dieser Auseinandersetzung auch direkt beteiligt zu sein.«56