Der junge Hitler - Dirk Bavendamm - E-Book

Der junge Hitler E-Book

Dirk Bavendamm

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Beschreibung

Fundierte Einblicke in die bislang oft zu wenig beachtete Kindheit und Jugend Adolf Hitlers gibt diese Biographie – und korrigiert dabei auch manches Fehlurteil über die Wurzeln seiner Weltanschauung, zu deren Entstehung freilich Hitler selbst beigetragen hat. Zugegeben, es gibt viele Bücher zum Thema Hitler. Aber kaum ein Werk hat sich die Zeit zum Inhalt genommen, in der die Grundlagen seines Weltbildes gelegt wurden: Kindheit und Jugend. Akribisch spürt Autor Dirk Bavendamm jenen Jahren im Leben des späteren "Führers" und Reichskanzlers nach, die – wie bei jedem Menschen – prägend für den weiteren Lebensweg waren. Dabei kann ein Blick auf Hitlers eigene Schilderungen in "Mein Kampf" keineswegs genügen, denn auch in dieser Autobiographie der frühen Jahre zeigen sich Kindheit und Jugend entweder lückenhaft oder selbstidealisierend dargestellt. Und so beginnt der Autor seine Recherchen bereits bei der Herkunft der Familie und dem Lebensweg seiner Vorfahren. Weitere Stationen im Leben des jungen Hitler sind neben dem Geburtsort Braunau am Inn Lambach und Leonding sowie die Städte Steyr und Linz, wo Hitler zur Schule ging. Gerade an Linz lässt sich die Bedeutung jugendlicher Prägung besonders gut ablesen: Welchen Einfluss hatten Lehrer, Schule oder die Vereine, deren Mitglied Der junge Hitler war, auf sein späteres Weltbild? Neben der geografischen Spurensuche bietet dieses Buch aber vor allem Einblick in die vielfältigen geistesgeschichtlichen "Väter" von Hitlers Weltbild und Überzeugungen: Der Autor beleuchtet das Verhältnis Hitlers zu der Gedankenwelt von Richard Wagner, Friedrich Schiller, Gustav Mahler, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Karl May und den politischen Vorstellungen von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie dem Führer der Sozialdemokraten Victor Adler, dem christlichsozialen Wiener Bürgermeister Karl Lueger und dem deutschnationalen Aktivisten Georg von Schönerer.

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DIRK BAVENDAMM

Der junge Hitler

Dirk Bavendamm

Der jungeHITLER

Korrekturen einer Biographie1889–1914

Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka/Thomas Hofer, Dobl Umschlagfotos Vorderseite: Ullstein-Bilderdienst

Bildnachweis:

APA: II, unten re.; VII oben – Ecotext-Verlag: II ob. re., Mitte (2), unten lks.; III Mitte lks.; IV ob. lks., unten; V unten (2); IX Mitte lks., unten (3); XIV oben lks.; XVI unten re.; XVII oben lks. – Ullsteinbild: X, unten (2); XII unten lks.; XIII (2); XIV Mitte und unten; XV ob. re.; XIX oben; XX unten; XXIII oben; XXIV oben – alle restlichen Bilder: Archiv des Autors und Archiv des Verlages.

Das Bild auf der Titelseite stellt die Stadt Linz um 1900 dar sowie eine Aufnahme des jungen Hitler in der Grundschule in Leonding.

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unser Verlagsverzeichnis zu:

Ares Verlag GmbH

Hofgasse 5 / Postfach 438

A-8011 Graz

Tel.: +43 (0)316/82 16 36

Fax: +43 (0)316/83 56 12

E-Mail: [email protected]

www.ares-verlag.com

ISBN 978-3-902475-73-2

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2009

Layout: Ecotext-Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Der Erlebnisgeneration,ihren Kindern und Enkelkindern

„Alles ist einfacher, als man denken kann, zugleich verschränkter als zu begreifen ist.“

Johann Wolfgang von Goethe

„The childhood shows the man, As morning shows the day: be famous, then, By wisdom; as the empire must extend, So let extend the mind o’er all the world.“

Milton

„Was Hitler zu Hitler machte, war dieses Erlebnis im Ersten Weltkrieg und die Erkenntnis bei ihm, dass die Juden verantwortlich seien für dieses riesige, sinnlose Menschenopfer und dass es nie wieder zu einer Kapitulation kommen dürfe.“

Ian Kershaw

„Der Führer ändert sich nicht. Er ist so, wie er auch schon als Junge war.“

Joseph Goebbels

„Die literatenhafte Genieerledigung auf Grund armseliger Bescheidwisserei war mir immer in tiefster Seele zuwider, und ich würde mich selbst verachten, wenn ich auch nur das Bedürfnis in mir spürte, mich durch Verleugnung tiefster, lehrreichster, bestimmendster Jugendeindrücke urteilend an die Tete zu bringen.“

Thomas Mann

Inhalt

Danksagung

Prolog

Hitler-Archäologie

Teil I: Geburt eines Traumes

1. Kapitel: Der Vater

2. Kapitel: Herkunft und Abstammung

3. Kapitel: Die Mutter

4. Kapitel: Die Familie

5. Kapitel: Das Kind

6. Kapitel: Linz

7. Kapitel: Die Realschule

8. Kapitel: Das Studium generale

9. Kapitel: Der Wendepunkt

10. Kapitel: Der Aufbruch

11. Kapitel: Die Weichenstellung

12. Kapitel: Die Erlösung

Teil II: Antipoden, Vorbilder, Anreger

1. Kapitel: Franz Joseph I.

2. Kapitel: Otto von Bismarck

3. Kapitel: Friedrich von Schiller

4. Kapitel: Georg von Schönerer

5. Kapitel: Richard Wagner

6. Kapitel: Karl Lueger

7. Kapitel: Victor Adler

8. Kapitel: Gustav Mahler

9. Kapitel: Friedrich Nietzsche

10. Kapitel: Arthur Schopenhauer

11. Kapitel: Karl May

Teil III: Führer, Volk und Reich

1. Kapitel: Physis, Psyche, Persönlichkeit

2. Kapitel: Verstand, Gefühl, Intuition

3. Kapitel: Kunst, Kultur, Reich

4. Kapitel: Volk, Rasse, Nation

5. Kapitel: Mythos, Geschichte, Staat

6. Kapitel: Kirche, Glaube, Religion

7. Kapitel: Liebe, Ehe, Sexualität

8. Kapitel: Landschaft, Natur, Mensch

9. Kapitel: Geld, Wirtschaft, sozialer Nationalismus

10. Kapitel: Antisemiten und Juden

Epilog

Der lange Weg zu sich selbst

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Personenregister (in Auswahl)

Danksagung

Als Erstes möchte ich dem Archiv der Stadt Linz mit seinen Mitarbeitern und seinem engagierten Leiter, Dr. Walter Schuster, danken. Es war sicher nicht immer leicht, meine vielen Informationswünsche zu erfüllen. Aber da ich nun einmal im Norden Deutschlands lebe, hatte ich nach einem leider nur sehr kurzen Kontaktbesuch im Frühjahr 2002 keine andere Wahl, als Dr. Schuster mit einer fast endlosen Kette von Briefen, E-Mails und Telefonanrufen zu überschütten.

Sehr wohltuend war die Begeisterung, mit welcher der Chefdramaturg des Linzer Landestheaters, Herr Franz Huber, meine Forschungsarbeit von Anfang an begleitet und ermutigt hat. Wichtige Einblicke in den k. u. k. Zolldienst, dem Hitlers Vater einst angehörte, verdanke ich Herrn Walter J. Pils, der in Linz die zoll- und finanzgeschichtliche Sammlung betreut. Und wo mich Quellenstudien nicht weiterführten, half mir Herr Dr. Christian Enichlmayr, Leiter der Oberösterreichischen Landesbibliothek in Linz, mit wertvollen Literaturhinweisen aus.

An Archiven habe ich das Bundesarchiv Berlin, die National Archives in College Park, Md./USA und das Oberösterreichische Landesarchiv in Linz benutzt, deren Leitern und Mitarbeitern ich ebenso herzlich für ihre Unterstützung danke. Besonders gern erinnere ich mich an meinen Betreuer in College Park, Mr. Lawrence H. McDonald, der geradezu elektrisiert von meiner selbst gestellten Aufgabe war und alles tat, um mir bei meiner Suche nach neuen Dokumenten zum Erfolg zu verhelfen. Mit der Roosevelt Library in Hyde Park, der Library of Congress in Washington, der Hoover Institution in Stanford, Cal./USA, und The Molly Pollock Holocaust Collection stand ich per E-Mail in Verbindung. Trotz einer routinemäßigen Anfrage habe ich das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte nicht mehr benutzt, nachdem mir klar geworden war, dass ich mich bei meinen Recherchen weniger auf äußere Lebensdaten als vielmehr auf die innere Bildungsgeschichte meines Protagonisten fokussieren muss, weil sich hier die großen Forschungslücken befinden. Mit meinen Recherchen in Hitlers Geburtsort, der Stadt Braunau am Inn, hatte ich wenig Glück, weil es dort damals noch gar kein allgemein zugängliches Archiv über die NS-Zeit gab. Ob sich das inzwischen geändert hat, weiß ich nicht. Trotz mancher Hin dernisse fand ich aber in den Herren Wolfgang Fink, Dipl.-Ing. Rainer Reinisch und Professor Florian Kontanko Persönlichkeiten, die bereit waren, dieses Defizit ein wenig auszugleichen. Auch ihnen sei mein Dank gesagt.

Außer in Linz und Braunau habe ich auch in Fischlham, Lambach, Hafeld und Leonding recherchiert. Erstaunlich war die unbürokratische Großzügigkeit, mit der mir Frau Elfriede Wimmer und Herr Jakob Auer in Fischlham der Einfachheit halber Teile der Ortschronik samt Bildmaterial zum Kopieren überließen. In Leonding kam man mir bei der Besichtigung des einstigen Wohnhauses der Familie Hitler entgegen, das sich in einem abbruchreifen Zustand befand. Vielleicht ist es inzwischen verschwunden – ich weiß es nicht. Auf dem benachbarten Pfarrfriedhof sah ich mir das bescheidene Grabmal der Hitler-Eltern an. Obwohl es vor mehr als hundert Jahren angelegt wurde, befindet es sich in einem erstaunlich guten Pflegezustand.

In Stift Lambach war Pater Maximilian Neulinger spontan bereit, mich zu einem längeren Informationsgespräch zu empfangen. Dafür möchte ich mich ebenfalls herzlich bedanken, weil dieser Kontakt ohne Voranmeldung zustande kam. In Lambach danke ich ferner Herrn Bürgermeister Gerald Zanghellini für seine stets bereitwillige Unterstützung und Herrn Franz Fellner, der mich sehr freundlich mit Bild- und Textmaterial versorgte.

In Wien war man stets bereit, mir zu helfen, so beim Österreichischen Staatsarchiv/Finanz- und Hofkammerarchiv, beim Archiv der Akademie der bildenden Künste (Herr Ferdinand Gutschi), beim Nationalrat (Frau Maria-Louise Janota) und beim Diözesanarchiv sowie in der Nationalbibliothek. Leider konnte ich meine nur flüchtige Beziehung zum Bezirksmuseum von Wien-Brigittenau nicht vertiefen, weil dessen langjähriger Leiter, Herr Peter Herold, gerade in den Ruhestand gegangen war und sich unser flüchtiger Kontakt verlor.

Ein Höhepunkt war zweifellos mein Besuch im Männerwohnheim an der Wiener Meldemannstraße, das Hitler von 1910 bis 1913 bewohnt hat. Das Haus wurde Ende November 2003 für immer geschlossen und befindet sich derzeit im Umbau. Damit dürfte ich einer der letzten Biographen gewesen sein, die sich noch an diesem authentischen Schauplatz von Hitlers Jugend umsehen konnte. Mir gelang es sogar, jenes so genannte „Schlafabteil“ von innen zu fotografieren, in dem Adolf Hitler einst genächtigt und seine privaten Studien betrieben hat. Für das in diesem Zusammenhang bewiesene Entgegenkommen habe ich Herrn Stadtrat Dr. Mailath-Pokorny und Frau Doris Buresch von der Verwaltung der Stadt Wien zu danken.

Mein Dank gilt auch den städtischen Mitarbeitern, die mir das einstige Männerasyl in Wien-Meidling zugänglich machten, obwohl sich der junge Hitler dort aller Wahrscheinlichkeit nach nie aufgehalten hat. Aber das ahnte ich damals noch nicht. Die vorbildliche Anlage mit dem von Bäumen bestandenen Innenhof machte keineswegs den tristen Eindruck, der in der Literatur beschrieben wird.

In der Bibliothek des Karl-May-Museums zu Dresden-Radebeul hat mich der dortige Kustos, Herr Dipl.-Ing. Hans Grunert, trotz der ungewöhnlich hohen Sommertemperaturen, die gerade herrschten, sehr aufmerksam betreut, wofür ich ihm aufrichtig danke. Dem Leiter des Richard-Wagner-Museums in Bayreuth, Herrn Dr. Sven Friedrich, verdanke ich ein wichtiges, vorher noch nie veröffentlichtes Dokument. Mit dem Zentrum für jüdische Studien (Herr Klaus Hödl) in Graz hatte ich einen nur kurzen, aber fruchtbaren Kontakt. Schließlich ist auch noch das Archiv der Stadt Passau zu erwähnen, das mir einige wichtige Dokumente über den einstigen Aufenthalt der Hitler-Familie freundlicherweise in Kopie überlassen hat. Auch hierfür sage ich gerne Dank.

Mein Dank gilt ferner folgenden Persönlichkeiten (in alphabetischer Reihenfolge): Pater Marcel Albert (Billerbeck) und den Herren Rainer Bendick (Friedrichsruh bei Hamburg), Pater Franziskus Büll (Münsterschwarzach), Karl Eidljörg (Linz), Ewald Hiebl (Salzburg), Professor Dr. Lothar Hobelt (Wien), Professor Dr. Lothar Machtan (Bremen), Hermann Möcker (Wien) sowie Frau Gisela Müller-Kipp (Düsseldorf). Weiter den Herren Dr. Othmar Plöckinger (Salzburg), Josef Pötsch (St. Andrä), Professor Harry Slapnicka (Linz), Professor Dr. Erwin Schmiedl (Wien) und Friedrich C. Zauner (Rainbach). Dieser erfolgreiche Roman- und Bühnenautor aus dem oberösterreichischen Innviertel, zugleich Mitglied des österreichischen P. E. N., der als Regisseur die Rainbacher Evangelienspiele leitet, hat mich in dankenswerter Weise freigiebig mit unentbehrlichen Kenntnissen des Lokalkolorits aus Hitlers oberösterreichischer Heimat versorgt. Fernmündlich sprach ich auch noch mit dem schon hochbetagten Rudolf Kubizek in Eferding, einem Sohn von Hitlers früherem Jugendfreund. Meine Hoffnung, bei ihm auf noch ungehobene Schätze aus einem Nachlass zu stoßen, erfüllte sich leider nicht, weil es keinen Nachlass von Hitlers früherem Jugendfreund mehr gibt.

At last but not at least gilt mein Dank dem Verleger dieses Buches, Herrn Magister Wolfgang Dvorak-Stocker, und seinen engagierten Mitarbeitern. Sie hatten den Mut, sich meines Buchplanes schon zu einem Zeitpunkt anzunehmen, als ich noch weit davon entfernt war, ein Manuskript vollendet zu haben. Insbesondere danke ich Herrn Hans Becker von Sothen, der seinerzeit die Brücke zwischen Reinbek und Graz geschlagen hat. Ich halte es für einen großen Vorzug, dass meine Biographie über den jungen Hitler in demselben Verlag wie einst meine wichtigste Quelle erscheinen kann, die Erinnerungen August Kubizeks an seinen früheren Jugendfreund. Beide Bücher ergänzen sich hervorragend, so dass jeder, der in Zukunft etwas über Kindheit und Jugend des späteren Diktators sowie über die geistigen Wurzeln des „Dritten Reiches“ wissen will, hier schnell und sicher fündig werden kann.

Nach einer langen Pause, in der ich nur kleinere Arbeiten veröffentlicht hatte, erduldete meine geliebte Frau, Mechthild Bavendamm, die Mühen ihres schreibenden Mannes wieder einmal mit nie erlahmender Freundlichkeit, Ruhe und Geduld sieben manchmal recht lange Jahre lang. Dafür kann ich ihr mit Worten gar nicht genug danken. Wahrscheinlich muss ich mich jetzt für längere Zeit jeder Autorentätigkeit enthalten, um meine Dankesschuld abzutragen. Aber ich weiß noch nicht, ob es mir gelingen wird, weil mit der Veröffentlichung dieses Buches zwar wieder ein Vorhang fällt, aber noch viele Fragen offen sind.

Nur als Fußnote möchte ich noch anmerken, dass außer mir keine der hier genannten Personen und Institutionen für Konzeption, Zuschnitt oder Inhalt dieses Buches verantwortlich ist.

Dirk BavendammReinbek, im Mai 2009

PROLOG

Hitler-Archäologie

Dieses Buch entstand am Rand einer sehr ernsten Finanz- und Wirtschaftskrise, wie sie die Welt das letzte Mal in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gesehen hat. Damals wurde Adolf Hitler in Berlin zum Kanzler des Deutschen Reiches ernannt. Als sich das Ereignis am 30. Januar 2008 zum 75. Mal jährte, erhob sich für das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel wieder einmal „die Königsfrage der deutschen Geschichte“: „Wie konnte es dazu kommen?“1 Mit der Leerformel, damals sei halt „etwas Unbegreifliches“ geschehen, stellten die Autoren Georg Bönisch und Klaus Wiegrefe der bisherigen Hitler-Biographik ein erstaunliches Armutszeugnis aus. Denn offensichtlich ist es Historikern, Journalisten und Psychologen trotz aller Bemühungen immer noch nicht gelungen, das Geheimnis zu lüften, welches über dem politischen Triumph des NS-Führers liegt.

Vor allem fristen Kindheit und Jugend des späteren Diktators in den großen Biographien ein trauriges Schattendasein. Auf nur 52 von insgesamt 813 Seiten befasste sich Konrad Heiden, einer von Hitlers ersten Biographen und politischen Gegnern zugleich, mit diesem wichtigen Zeitabschnitt.2 Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg brachte es der Engländer Allan Bullock sogar auf nur 27 von 890 Seiten.3 Nicht viel besser sah es bei Werner Maser4 mit 91 von 529 bzw. 11 von 447 Textseiten, bei Joachim Fest5 mit 70 von 1.024 Seiten, bei John Toland6 mit 60 von 1.114 und bei Ian Kershaw7 mit sage und schreibe nur 88 von 1.704 Textseiten aus.

Tatsächlich scheint sich die Relation zwischen dem jungen und dem älteren Hitler in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr zugunsten des letzteren verschoben zu haben, und das vielgelesene und oft zitierte Buch von Brigitte Hamann aus dem Jahr 1996 ist in erster Linie keine Teilbiographie, sondern „der Versuch einer Kultur- und Sozialgeschichte Wiens“,8 wie die Verfasserin sagt, die sich nur auf rund 180 Seiten mit Hitler im engeren Sinn befasst. Dessen Kindheit und Jugend wurden denn auch bisher nur ein einziges Mal monographisch dargestellt, nämlich von dem US-amerikanischen Historiker Bradley F. Smith.9 Aber das ist mehr als vierzig Jahre her, und seitdem hängt die Hitler-Biographik ohne ein tragfähiges Fundament gleichsam in der Luft.

Wie unsicher der Grund ist, auf dem die historische Forschung auch heute noch steht, machen einige Äußerungen Kershaws deutlich, dessen zweibändiges Werk gegenwärtig als das non plus ultra gilt. So heißt es in Bezug auf „Hitlers geschlossene ‚Weltanschauung‘“ ebenso viel- wie nichtssagend, sie sei in seiner Jugend „noch im Entstehen begriffen“ gewesen.10 Der britische Historiker muss sich sogar eingestehen, „nicht sicher“ zu wissen, „warum noch gar wann Hitler sich in einen manisch besessenen Antisemiten verwandelt hat“.11 Nur in einem nicht unwichtigen Punkt hat es Kershaw dem Anschein nach zu einer eindeutigen Erkenntnis gebracht: „Versuche, in dem Jungen ‚die abartige Persönlichkeit im mörderischen Diktator‘ auszumachen, vermochten nicht zu überzeugen.“12

Freilich hat es Hitler seinen Biographen auch nicht leicht gemacht. Denn statt sich beizeiten auf den Hosenboden zu setzen, brach er seine Schullaufbahn ohne Abschluss vorzeitig ab. Statt ein anerkannter Kunstmaler oder Architekt zu werden, fiel er bei zwei Akademieprüfungen durch. Ohne jemals einen ordentlichen Beruf auszuüben, trieb sich der junge Mann bis 1914 scheinbar ziellos in Linz, Wien und München herum, bis er als Freiwilliger mit 25 Jahren in den Ersten Weltkrieg zog. Kein Wunder, dass „der Sonderling“ (Adolf Hitler über Adolf Hitler) abwechselnd zum „früh Gescheiterten“ (Konrad Heiden), zum „abgerutschten Bürgersohn“ (Joachim Fest), zum „Absteiger“ (Sebastian Haffner) oder zum „Aussteiger“ (Ian Kershaw) erklärt worden ist. Zwar mag jede dieser Charakterisierungen, für sich genommen, eine gewisse Berechtigung haben. Legt man sie aber alle zusammen dem Aufstieg Hitlers an die Spitze des Deutschen Reiches zugrunde, stellt sich in der Tat die Frage: Was hat der junge mit dem älteren Hitler, der nobody mit dem „Führer“, der brotlose Künstler mit einem der mächtigsten Männer seiner Zeit zu tun? Sind diese eigentlich eine oder zwei Personen? Bis heute fehlt einfach das missing link, das den älteren mit dem jüngeren Hitler erklärt.

Soweit ich sehe, hatte von den ernst zu nehmenden Autoren bisher nur Allan Bullock den Mut, dem Mann aus Braunau „ungewöhnliche Gaben“ zu bescheinigen, „die in ihrer Gesamtheit ein politisches Genie ergaben“.13 Hingegen sieht sein Landsmann Kershaw denselben Hitler immer noch als „einen ungebildeten Wirtshaus-Demagogen“,14 der sich in Kindheit und Jugend vor allem durch Faulheit, Ziellosigkeit und Schmarotzertum ausgezeichnet habe. Offenbar ist die Mauer aus Rachsucht, Verachtung und Hass, die der Diktator in den zwölf Jahren seiner Herrschaft durch Terror, Krieg und Mord um sich herum aufgebaut hat, im Verlauf eines halben Jahrhunderts immer höher geworden, so dass niemand mehr an ihr zu rütteln wagt. Die allgemein geübte Zurückhaltung, der auch ich mich anfangs nicht ganz zu entziehen vermochte, hängt offenbar mit dem Berührungsverbot gegenüber jenem „absolut Bösen“ zusammen, das Hitler im Bewusstsein der Menschheit heute verkörpert und das mit dem Einzigkeitsgebot der Holocaust-Zivilreligion in einer wechselseitigen Beziehung steht. Offenbar wird vielerorts befürchtet, Letztere würde ins Wanken geraten, wenn Ersteres schwächer wird und umgekehrt. Mein Buch wird jedoch zeigen, dass diese Befürchtung grundlos ist, weil es mir weder um eine Apologie Hitlers noch um eine Verharmlosung jener Leiden geht, die das jüdische Volk durch ihn und andere erlitten hat. So ist auch die Widmung zu Beginn dieses Buches zu verstehen.

Zwar merkte schon Kershaw an, der „umfassende Widerwille gegenüber dem Gegenstand (gemeint ist die Person Hitlers – D. B.) könnte mehr Gefahren für das Erkenntnisinteresse als die Möglichkeit des Mitgefühls“ in sich bergen.15 Aber er handelte nicht danach. Denn wie seine Vorgänger hat Kershaw, von Haus aus eigentlich Mediävist und Strukturalist, Hitlers Kinder- und Jugendjahre nur mit spitzen Fingern angefasst. Zwar konnte er so die Gefahr des Mitgefühls bannen, wozu bei einem Engländer gewiss nicht viel gehört. Aber an jenem hidden curriculum, das sich in Hitlers frühen Jahren hinter den sattsam bekannten Daten und Fakten verbirgt, ist auch er ziemlich achtlos vorbeigegangen.

So haben sich über den ohnehin schon weit entfernten Zeitraum von 1889 bis 1914 viele Schichten einer unzuverlässigen und fragmentarischen, nicht selten sogar polemisch gefärbten Überlieferung gelegt, deren Kern sich nur durch eine archäologische Grabung erschließen lässt. Viel Schutt in Form von Unwahrheiten, Irrtümern und fehlgeleiteten Hypothesen musste erst einmal beiseite geräumt werden, ehe ich mich mit Spachtel und Pinsel vorsichtig jenem Kern nähern konnte, der für jede Deutung des „Phänomens Hitler“ entscheidend ist – nämlich seinem sich von der Wiege bis nach Wien und München erstreckenden Bildungsweg. Dabei habe ich allein schon zwei bis drei Jahre dafür gebraucht, um Berge verstaubter Dokumente und Haufen veralteter Bücher durchzulesen. Selbstverständlich erfasste ich dabei alle einschlägigen Daten und Fakten wie Aufenthaltsorte, Schulleistungen und sonstige Begebenheiten der Außenwelt. Dazu gehört aber auch der Zeitgeist und dessen Exponenten, die von den bisherigen Hitler-Biographen nicht immer ausreichend berücksichtigt wurden.

So hatte schon Heiden seine Grabungsinstrumente möglichst flach angesetzt, um von vornherein deutlich zu machen, dass er den Werdegang des Kindes zum Mann nur mit äußerster Abscheu und daher auch ohne besonders tiefschürfende Ergebnisse verfolgt. Er verortet den jungen Hitler „auf dem Boden des Menschentopfes Wien … zwischen den Abfällen aller Völkerstämme Österreichs“, bei „den Insassen des Wiener Männerasyls“, „bei den ungewaschenen Gestalten der Elendsquartiere“.16 Mit diesen unappetitlichen Bildern stimmte Heiden jenen pejorativen Grundton an, der die Hitler-Biographik im Grunde bis heute auf Kosten von Differenzierung, Verifizierung und Kontextualisierung beherrscht. So behauptet Sebastian Haffner in seinen Anmerkungen zu Hitler, vor dreißig Jahren ein immer wieder neu aufgelegter Bestseller: „Das entscheidende Kennzeichen dieses Lebens ist seine Eindimensionalität.“ Hitlers Leben sei „‚vorher‘ wie ‚nachher‘“ – d. h. vor und nach der so genannten Machtergreifung von 1933 – „ein inhaltsloses Leben gewesen, ausschließlich von Politik geprägt“.17 Als ich diese Sätze las, rieb ich mir die Augen: Hatte denn dieser viel gerühmte Autor noch nie etwas von Hitlers seit frühester Jugend gepflegter Leidenschaft für Malerei, Oper und Architektur gehört?

Bei Bullock ist dann aus Heidens noch recht bescheidenem Befund schon eine ganze „Philosophie des Obdachlosenasyls“ geworden,18 und der inzwischen verstorbene, aber als Hitler-Biograph unvergessene Joachim Fest hat die negative Grundmelodie sogar noch um einen moralischen Oberton ergänzt, indem er meinte, der junge Hitler sei in Wien in „die Schule der Gemeinheit“ gegangen.19 Wenn aber jemand eindimensional, ungebildet und dazu schon als junger Mensch gemein oder schäbig gewesen ist – warum sollte man sich dann eigentlich noch näher mit ihm befassen? Glücklicherweise aber hat schon der US-amerikanische Historiker John Toland den jungen Hitler als „romantisch angehauchten … Bohemien“ mit einer Vorliebe für Richard Wagner eingestuft, so dass die Spannweite möglicher Interpretationen wenigstens schon einmal ansatzweise sichtbar geworden ist.20 Freilich hielt es bis zu dem bereits erwähnten Buch von Brigitte Hamann niemand für nötig, neben Wagner auch noch nach anderen geistigen Einflüssen zu forschen, so dass der Bayreuther Musikdramatiker in den letzten Jahren – neben allerlei Rechtsradikalen und Rassisten – zu Hitlers geistigem Übervater aufstieg.21 Dabei hat der Musikwissenschaftler Hans Rudolf Vaget erst unlängst festgestellt, „eine wirkliche Erhellung des Wagner-Komplexes“ stehe noch aus.22

Tatsächlich sind die Forschungslücken so riesengroß, dass ich kaum glaube, sie alle mit diesem Buch schließen zu können, obwohl es lang genug geworden ist. Um nur ein paar Fragen zu stellen, die noch offen waren, als ich mit meiner Arbeit begann: Wie sah es mit den Bildungseinflüssen von Hitlers Elternhaus aus? Gab es solche überhaupt oder war der Vater nur jener primitive Säufer und Schläger und die Mutter jene unterwürfige, vor krankhafter Kindesliebe überströmende Gattin, die mir aus der Literatur entgegentraten? Was lernte der Schüler in den Fächern Geschichte und Deutsch, die für seine politische Sozialisation so wichtig waren? Welche Lehrbücher benutzte er und wie sah das politisch-pädagogische Profil seines Lieblingslehrers Pötsch aus? Und überhaupt: Mit welchen Ideen, Träumen und Ängsten verbrachte der pubertierende Knabe jene sieben wichtigen Jahre seines Lebens in der oberösterreichischen Provinzhauptstadt Linz? Nahm er außer Wagner auch noch andere epochale Gestalten wie Schiller und Bismarck, Nietzsche und Schopenhauer, Gustav Mahler und Karl May wahr? Obwohl Hitler sie alle in Mein Kampf oder anderswo als prägende Gestalten seiner Jugendjahre erwähnt, sind sie von seinen Biographen bisher im Wesentlichen übergangen, zu Randfiguren erklärt oder nur mit einigen ironischen Bemerkungen als im Grunde belanglose Staffage abgetan worden. Nicht einmal das bekannte Dreieck Georg Schönerer – Karl Lueger – Victor Adler, in dem sich der junge Hitler politisch bewegte, ist bisher näher darauf hin untersucht worden, wo man ihn politisch genau einordnen muss.

Immerhin, einige Bildungseinflüsse, denen Hitler von 1908 bis 1913 in Wien ausgesetzt war, hat Brigitte Hamann in den 1990er Jahren systematisch zusammengestellt. Da es an einwandfreien und aussagekräftigen Quellen fehlt – ein Mangel, der im Prinzip alle Hitler-Biographen trifft – ist die Wiener Historikerin jedoch allzu häufig von Äußerungen des älteren Hitler ausgegangen, die sie dann 1:1 auf den jüngeren Hitler überträgt. Obwohl ich mich aus Mangel an Alternativen gelegentlich ebenfalls dieser Methode bedienen muss, habe ich mich in der Regel um die Anwendung der induktiven Methode bemüht, die von Hitlers Kindheit und Jugend ausgeht. Sie wird m. E. der Aufgabe des Historikers, geschichtliche Phänomene oder Personen aus ihrer jeweiligen Zeit heraus darzustellen und zu würdigen, besser gerecht, während die deduktive Methode nur allzu leicht zu einer Betrachtungsweise ex post verführt. Dadurch wurde Hamann z. B. dazu verleitet, den jungen Hitler „rechts außen“ anzusiedeln, was nicht den historischen Gegebenheiten der Habsburgermonarchie entspricht. Aus der Tatsache, dass die Wiener Historikerin den Namen „Hitler“ auf den fast 700 Textseiten ihres Buches kein einziges Mal ausschreibt, sondern sich stets nur mit einem bloßen „H.“ begnügt, ergibt sich außerdem der Eindruck, dass sie ihrem Protagonisten gar nicht näher kommen wollte, während das Gegenteil die unabdingbare Voraussetzung für jeden guten Biographen ist. Man muss ja in diesem ganz besonders vertrackten Fall nicht gleich der Devise Ernst Jüngers folgen, der die Aufgabe des Biographen mit „liebend erkennen“ umschreibt. Aber man sollte sich die Arbeit an einer Biographie über eine so wichtige Persönlichkeit der Zeitgeschichte auch nicht durch eine grundsätzliche Abwehrhaltung künstlich erschweren, weil so etwas im Ergebnis meist unbefriedigend bleibt. Aus diesem Grund kann ich mich auch der Feststellung von Klaus Hildebrandt nicht anschließen,23 Hamann habe „das, was sich klären lässt, geklärt“, obwohl ihr Buch fraglos einige interessante Details enthält.

Über andere Details kann man durchaus streiten und sollte es auch. So hat Brigitte Hamann – wie übrigens auch Ian Kershaw, der sich meistens auf sie stützt – die Schilderung des für den jungen Hitler entscheidenden Jahres 1908/09 ganz falsch angelegt.24 Schließlich liegen die Fakten, die eine deutlich andere Sprache sprechen, seit 1993 auf dem Tisch.25 Sie beweisen, dass es dem jungen Hitler in seinen beiden ersten Wiener Jahren wirtschaftlich sehr viel besser ging, als es der ältere Hitler später in Mein Kampf und anderswo behauptet hat. Alle seine Klagen über Geldmangel und Hunger sind plumpe Propaganda – nur darauf berechnet, Behörden und Öffentlichkeit für sich einzunehmen und eine Art Mitleid zu erzeugen, das angesichts der leicht nachweisbaren Fakten völlig unangebracht ist. Trotzdem zeichnet die gesamte Hitler-Biographik bis heute geradezu genüsslich dieses schmutzige Bild eines heruntergekommenen Lumpenproletariers nach, obwohl sie sich andererseits nach Kräften darum bemüht, Hitlers Behauptung zu widerlegen, er habe aus Not auf dem Bau gearbeitet und dabei das wahre Wesen der Sozialdemokratie kennen gelernt. Da Hitler sowohl für körperliche Arbeit als auch für den Wehrdienst erwiesenermaßen nicht taugte, frage ich mich: Wovon soll denn der junge Mann in seinen beiden ersten Wiener Jahren gelebt haben, wenn nicht von seinem eigenen Geld? Die widerspruchlose Hinnahme solcher Widersprüche ist unbegreiflich, solange man nicht annehmen muss, dass es bis heute hauptsächlich darum ging, den jungen Hitler in ein möglichst trübes Licht zu tauchen, weil man sich davon einen Mehrwert für das von dem Diktator verkörperte Bild des „absolut Bösen“ verspricht.

Ähnliches gilt übrigens auch für Hitlers Antisemitismus: Alle Versuche, diesen auch heute noch – außer an Richard Wagner – nur an rassistischer Schundliteratur oder an den beinahe schon legendären Ostara-Heften festzumachen,26 wirken nach siebzig Jahren Hitler-Biographik nicht mehr sonderlich kreativ, weil bis heute niemand weiß, ob er diese Publizistik überhaupt jemals gelesen hat.27 Dabei gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, Hitlers Antisemitismus bis in seine Kindheit und Jugend zurückzuverfolgen, wenn man sich nur die entsprechende Mühe macht.

Die Hilflosigkeit, mit der wir auch heute noch vor der Frage stehen: „Wer oder was hat aus Hitler eigentlich Hitler gemacht?“, ist somit nach wie vor sehr groß. So konnte der US-amerikanische Erfolgsschriftsteller Norman Mailer den jungen Mann kurzerhand zum Werkzeug des Teufels erklären, bevor er 2007 verstarb. Während Mailer für seinen Schauerroman Das Schloss im Wald28 in deutschen Medien viel Beifall erhielt, hat Eric-Emmanuel Schmitt für seinen alternativen Versuch, sich unter dem Titel Adolf H. Zwei Leben eine positive Zukunft für seinen Protagonisten auszumalen, nicht einmal einen bundesrepublikanischen Verlag gefunden.29 Beides ist kein Wunder, weil nur Mailers Bild, das sich mit Hilfe von viel Sperma, Blut und Exkrementen im Reich negativer Phantasien verliert, jener stereotypen Vorstellung vom „absoluten Bösen“ entspricht, die das Bild vom jungen Hitler nach wie vor beherrscht.

Historische Forschung ist keine zivilreligiöse Bußübung, sondern eine schwere Aufgabe, die es mit moralischem Verantwortungsgefühl und wissenschaftlicher Präzision zu bewältigen gilt – was ja auch in diesem Fall kein Gegensatz, sondern ein und dasselbe ist. Diesem Anspruch steht jedoch, wie schon erwähnt, eine lückenhafte und in vieler Hinsicht problematische Quellenlage gegenüber. Grundsätzlich gibt es nur fünf Primärquellen erster Ordnung für Hitlers Kindheit und Jugend, die ich etwas weiter unten vorstellen und diskutieren werde. Erstens Hitlers Mein Kampf, zweitens die Memoiren seines früheren Jugendfreundes August Kubizek, drittens die Erinnerungen des jüdischen Hausarztes Dr. Eduard Bloch und viertens die Schilderungen von zwei Kumpels aus Hitlers Wiener Zeit. Freilich deckt nur die erste Quelle meinen Untersuchungszeitraum vollständig ab. Die restlichen beziehen sich auf einzelne Zeitabschnitte von nur wenigen Wochen bis zu maximal zweieinhalb Jahren. Insgesamt entbehrt die Überlieferung von Hitlers ersten 25 Lebensjahren somit nicht nur der Vollständigkeit und Zuverlässigkeit, sondern auch noch der Kontinuität.

Als Primärquellen zweiter Ordnung kommen Hitlers Tischgespräche und Monologe aus späterer Zeit, die Aussagen einiger seiner früheren Lehrer und jene Interviews hinzu, die Eleonore Kandl leider zu wenig zielgerichtet und ausführlich in den 1960er Jahren mit ehemaligen Schulkameraden geführt hat,30 sowie andere verstreute Äußerungen von Zeitgenossen und von Hitler selbst.31 Darüber hinaus sind die Memoiren früherer Parteigenossen und Weggefährten ebenso wichtig wie die freilich nur kurzen und teils aus ideologischer Voreingenommenheit, teils aus Unkenntnis nur wenig aussagekräftigen Protokolle jener US-amerikanischer Militärbehörden, die Hitlers Halbschwester Angela Hammitzsch32 und seine leibliche Schwester Paula Wolf33 1945 und 1946 verhört haben. Recht aufschlussreich, wenn auch ebenfalls nicht immer zuverlässig, ist die Version, die Hitlers ungeratener Neffe William Patrick Hitler von den innerfamiliären Verhältnissen irgendwelchen nicht näher bekannten Personen zu Protokoll gegeben hat.34 Nicht zuletzt hat Franz Jetzinger einige Originaldokumente zusammengetragen,35 die dem Zugriff der Gestapo entgangen waren und von denen die Hitler-Biographik bis heute zehrt.36

Zu Unrecht gilt der 1882 geborene Jetzinger vielen Hitler-Biographen auch heute noch als zwar bisweilen ungerechter, aber im Grunde unbestechlicher Zeitzeuge, weil der frühere Priester und Sozialdemokrat zwar profunde Kenntnisse über den jungen Hitler zu haben scheint, aber mit dem Nationalsozialismus nicht in Verbindung zu bringen war.37 Aus seiner Personalakte, die ich im Oberösterreichischen Landesarchiv gefunden habe, ergibt sich jedoch ein etwas anderes Bild.38 Seit 1934 beim Magistrat der Stadt Wien beschäftigt und ab 1947 im Dienst der Oberösterreichischen Landesregierung, musste Jetzinger nämlich 1946 zugeben, dass er in Wien seinerzeit „durch die Nazi“ angestellt worden war.39 SS-Oberführer Fritz Langoth erwog 1938 sogar, Jetzinger auf dessen Anregung hin nach Linz zu versetzen, um ihn nach verschwundenen Hitler-Akten suchen zu lassen.40 Demzufolge kann es bei Jetzinger mit der Distanz zum Nationalsozialismus nicht so weit her gewesen sein, wie bisher allgemein vermutet wurde. Anlass zu dieser Annahme war die von Jetzinger selbst verbreitete Information, er sei „nach den Februarereignissen 193441 … aus politischen Gründen“ sechs Wochen arrestiert worden und sei dann noch einmal drei Wochen lang im Gefängnis gesessen, weil man ihn verdächtigt habe, die Akte über Hitlers Militärdienstpflicht illegalerweise an sich genommen zu haben. Dieser Verdacht bestand durchaus zu Recht – Langoth wollte Jetzinger offenbar nach eben der Akte suchen lassen, die dieser selbst an sich genommen hatte: ein quellengeschichtlicher Treppenwitz.

Jetzinger gelang es aber, die Dokumente bis Kriegsende auf dem Dachboden seines Hauses zu verstecken, um sie in einer Buchveröffentlichung auszuwerten, obwohl ihn die Gestapo 1944 noch einmal verhaftet hat. Über die ursprünglich gemeinsam geplante Verwirklichung dieses Projektes kam es dann in den 1950er Jahren zu einem urheberrechtlichen Streit mit August Kubizek, der seine Jugenderinnerungen bereits früher veröffentlicht hatte. Daher ließ Jetzinger in seinem 1956 veröffentlichten Buch nichts unversucht, Kubizek der Unzuverlässigkeit zu überführen und sogar der Lüge zu bezichtigen. Tatsächlich konnte er ihm auch kleinere Irrtümer nachweisen. Seinerseits hat Jetzinger in seiner als Klassiker geltenden Biographie über den jungen Hitler aber ebenfalls einige Fehler gemacht, auf die ich im Einzelnen noch zurückkommen werde, wenn es soweit ist.

Soviel zu Jetzinger und den Primärquellen erster und zweiter Ordnung. Entgegen den sonstigen Gepflogenheiten der historischen Zunft hat es zur Quellenlage im Fall von Hitlers Kindheit und Jugend bis vor wenigen Jahren noch gar keine geordnete Diskussion gegeben, die Bezeichnungen wie „kritisch“ oder gar „systematisch“ verdient. So blieb den Lesern meistens verborgen, wie unvollkommen, diskontinuierlich und brüchig die Basis war, auf der sich die Biographik nur allzu oft bewegte. Das änderte sich erst 1996 mit dem Buch von Brigitte Hamann, das sich mit einigen der genannten Primärquellen und mit Jetzingers Buch auseinandersetzt – wissenschaftshistorisch ein nicht gering zu schätzendes Verdienst.42 Bis dahin war es bei den oft ebenso heftig wie voreilig gefeierten Hitler-Biographien, soweit sie sich überhaupt mit Kindheit und Jugend des späteren Diktators befassten, wie auf einem orientalischen Basar zugegangen: Jeder nahm sich von den vorhandenen Quellen das, was er gerade brauchte, oder fügte dem mageren Angebot so viel angeblich neue Erkenntnisse hinzu, wie es ihm eben passte, um das gesellschaftlich akzeptierte Hitler-Bild zu erzeugen, oder aber ließ unbeachtet beiseite, was diesem Bild nicht entsprach. Hauptsache – so könnte man etwas salopp formulieren – möglichst sensationell, banal und negativ. Rückblickend kann man sich eigentlich nur noch darüber wundern, dass Bücher, die so komplexe Ereignisse wie Diktatur, Krieg und Holocaust darauf zurückführten, dass Hitler vielleicht einen jüdischen Großvater, eine zu liebevolle Mutter oder einen unvollständigen Hoden besaß, einst Glauben bei Millionen von Lesern gefunden haben. Zwar klang jeder dieser Erklärungsversuche zunächst recht plausibel, weil er an Hitlers dunkles, bedrohliches und geheimnisvolles Image appellierte. Doch hat keine dieser gewagten Hypothesen länger als bis zur nächsten überlebt.

An dieser Stelle sei eine ebenso kurze wie kritische Zwischenbemerkung zur Psycho-, Patho- und Sexualhistorie erlaubt. Obwohl Historiker weder Psychiater oder Familientherapeuten noch diese Historiker sind, wurden die Kriterien jener kaum präzise zu definierenden Disziplinen zwischen Seelenkunde, Anthropologie und Sexualwissenschaft immer wieder als Maßstäbe an das Phänomen Hitler angelegt.43 Von dem US-amerikanischen Psychiater Walter C. Langer im Auftrag des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt 1943 zum Zweck der psychologischen Kriegführung angeführt,44 hat es hier im Wesentlichen zwei Denkschulen gegeben, die beide von freudianischen bzw. neofreudianischen Grundsätzen beeinflusst waren. Die eine richtete ihren Fokus mehr auf die Vater-Sohn-Beziehung,45 die andere mehr auf die Mutter-Sohn-Beziehung.46 Letztere unterteilte sich wiederum in zwei Richtungen, freilich ebenfalls mit je einem negativen Vorzeichen.47 Vor rund zehn Jahren glaubten Paul und Peter Matussek gemeinsam mit Jan Marbach zudem, bei Hitler eine Schizophrenie diagnostiziert zu haben.48 Kurz darauf widmete sich der Historiker Lothar Machtan dem Thema „verdrängte Homosexualität“.49 Seither sind Beiträge zum Hitler-Diskurs aus dieser Richtung etwas seltener geworden, weil sich so hoch differenzierte und außerordentlich weit reichende Hypothesen, wie sie Vertreter der Psychoanalyse und Psychiatrie zu entwickeln pflegen, einfach nicht widerspruchsfrei mit den bekannten Daten und Fakten in Übereinstimmung bringen lassen. Schließlich hat der „Führer“ nie auf der Couch eines Psychoanalytikers gelegen. Tatsächlich ist es bis heute nicht gelungen, den Holocaust psycho-logisch aus dessen Kindheit und Jugend abzuleiten.

Dabei hatte der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson, obwohl selbst Neofreudianer, schon in den 1950er Jahren auf gewisse Beziehungen zwischen Hitlers Sozialisation einerseits sowie der deutschen Kultur und Gesellschaft andererseits hingewiesen, ohne Zuflucht zu einer künstlich geschaffenen Teleologie zu nehmen.50 Insgesamt aber konnten bisher weder psychogene noch politische, noch soziale oder ideologische Deutungsmuster allein überzeugen. Daher hat sich die Hitler-Biographik inzwischen auf nichtssagende oder polemische Formeln wie „Unperson“ (Joachim Fest), „Mann ohne Eigenschaften“ (Ian Kershaw), „Spottgeburt aus Dreck“ (Hans-Ulrich Wehler) oder „Jahrhundertmonster“ (Lothar Machtan) festgelegt.51 Auch wurde seit den umfangreichen Publikationen von Brigitte Hamann und Ian Kershaw nichts wesentlich Neues mehr publiziert. Insgesamt wirkt die biographische Landschaft in diesem besonders problematischen Fall so ausgezehrt, dass man schon beinahe annehmen muss, die Wechselbeziehung zwischen dem Einzigartigkeitsgebot des Holocaust und dem Berührungsverbot gegenüber dem „absolut Bösen“ habe sie in einen Friedhof der Wissenschaft verwandelt. Entsprechend negativ fiel das Urteil des Historikers Klaus Hildebrandt über das zweibändige Werk seines Kollegen Kershaw aus: „Neues an Quellen oder an Ideen, an Erkenntnissen oder Einsichten wird dem Leser nicht geboten.“52

Noch vor zwanzig, dreißig Jahren hatte die Biographie als literarische Form der Geschichtsschreibung unter einem gewissen Akzeptanzmangel gelitten. Damals war sie linken Theoretikern, Strukturalisten und Sozialhistorikern als zu „personalistisch“ oder „unkritisch“ erschienen. So fragte sich z. B. Gregor Schöllgen: „Ist die Biographie noch geeignet, die Persönlichkeit so zu erfassen, dass einerseits ihre singuläre Bedeutung für historische Entwicklungen greifbar wird, ohne dass andererseits das Umfeld aus dem Blick gerät, das für die Entwicklung der Persönlichkeit mitverantwortlich ist“, und Hans Mommsen hatte bereits nach einer „Antibiographie“ gesucht, um Hitlers „substantielle Leere“ nachzuweisen und ihn politisch nicht aufzuwerten.53 Diese teils erkenntnistheoretisch, teils volkspädagogisch motivierte Zurückhaltung ist inzwischen jedoch – bekanntlich nicht nur beim Thema Hitler, „Drittes Reich“ und Nationalsozialismus – einem wahren Biographie-Boom gewichen, für den es viele lesenswerte Beispiele gibt.54 Während sich die Autoren jedoch bei anderen geschichtlichen Gestalten stets eifrig darum bemühen, ihre Protagonisten so weit und tief wie möglich aus der jeweiligen Zeit heraus zu ergründen, haben für das geschichtliche Verständnis des jungen Hitler so wichtige Figuren wie Kaiser Franz Joseph I. und Otto von Bismarck den meisten seiner Biographen nur als dramaturgisches Füllmaterial gedient. Umso bereitwilliger stürzten sie sich auf Georg Schönerer und Karl Lueger, weil Hitler diese in Mein Kampf selbst zu seinen politischen Ahnherren erhebt.

Schwer taten sich viele Autoren auch mit der Notwendigkeit, ihren Protagonisten durch das Prisma der Habsburgermonarchie zu sehen. Dabei war der in Österreich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert grassierende Deutschnationalismus55 nicht Hitlers Erfindung, sondern Ausdruck verwickelter Konflikte zwischen nationalen Minderheiten und sozialen Schichten, die Alltagskultur und Alltagsleben beeinflusst haben. Ihnen konnte ein Deutschösterreicher eigentlich nur dann entgehen, wenn er zum großbürgerlichen oder hochadeligen Establishment gehörte. Alle diese Beobachtungen haben mich dazu angeregt, auch diese Aspekte stärker in meine Untersuchungen einzubeziehen, als das bisher geschehen ist, und sie nach ihren Auswirkungen auf die tatsächliche Lebenswelt meines Protagonisten zu befragen. Daraus hat sich im Verlauf meiner Arbeit ein kulturalistischer Ansatz entwickelt, von dem ich glaube, dass er für die Hitler-Biographik etwas Neues ist.

Obwohl sich mein Ansatz im Verlauf dieses Buches ganz von selbst erschließen wird, sei hier einleitend als Begründung auf das österreichischungarische Doppelreich hingewiesen, das an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zunehmend rascher verfiel, bis es 1918 endgültig unterging. Es hat in diesen reichlich zwanzig Jahren, die sich fast mit meinem Untersuchungszeitraum decken, eine Phase der rapiden Dekadenz durchlaufen, während sich mit Gustav Mahler und Alfred Roller, mit der Wiener Sezession, dem Jugendstil und den revolutionären Vorstellungen des Bauhauses in Musik, Architektur und Ästhetik zugleich jene Moderne ankündigte, die der junge Hitler einerseits bekämpft, der er andererseits aber auch gehuldigt hat. Genau auf dieser feinen Grenze zwischen ohnmächtigem Protest und übermächtigem Gestaltungsdrang ist er meines Erachtens anzusiedeln. Zwar eignen sich nationalistische, völkische oder gar rassistische Denkmuster als düstere Folie unzweifelhaft besser für die ersten zweieinhalb Lebensjahrzehnte eines Mannes, der spätestens 1945 allgemeiner Verdammnis verfiel. Doch dürfen die wenigen, dafür aber relativ klar konturierten Berührungspunkte, die es zwischen dem jungen Hitler und der Moderne gibt, in einer Biographie nicht unbeachtet bleiben, will man dem Geheimnis seines politischen Erfolges in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts näherkommen, und das ist ja mein eigentliches Ziel.

Als ich vor etwa sieben Jahren mit meiner Arbeit an diesem Buch begann, wollte ich zunächst nur die vorhandene Quellenbasis verbreitern. Vor allem wollte ich die Lebensumstände der Familie Hitler vollständiger rekonstruieren, als es angesichts der dürftigen Quellenlage bisher möglich gewesen war. Wie sich aber rasch herausstellte, hatte ich mit diesen Versuchen nur schwachen Erfolg. Eines meiner ersten Ziele war selbstverständlich Braunau am Inn. Hier muss von 1938 bis 1945 in Hitlers Geburtshaus eine Art Weihestätte existiert haben, die nähere Auskunft über seine Eltern geben kann. Doch wacht dort an Stelle eines Archivars der Bürgermeister höchstpersönlich über Akten, Fotos und Nachlässe der Hitlerzeit. Meinen Wunsch nach sachgerechter Information missverstand dieser Mann offenbar als Versuch, dem durch seinen Ruf als „Hitlers Geburtsstadt“ ohnehin schon geplagten Braunau entweder am „braunen“ Zeug zu flicken oder in ein „ewig gestriges“ Licht zu tauchen. Jedenfalls wurde mir der Zugang zu jenen Unterlagen brüsk verwehrt und trotz nachhaltiger Bemühungen auch jede andere Zusammenarbeit verweigert.56 Mein Versuch, in Spital den persönlichen Hintergrund von Hitlers Mutter weiter zu erhellen, scheiterte an der sofortigen Weigerung eines ihrer Großneffen, mit mir auch nur ein erstes Kontaktgespräch zu führen. Im Benediktinerstift Lambach wurde ich zunächst zwar bereitwillig empfangen, der Klosterarchivar ließ mich Einblick in einige seiner Bestände nehmen und gestattete mir sogar die Benutzung seines Kopiergerätes. Als ich jedoch später per E-Mail und Brief nachzufassen versuchte, rührte sich niemand mehr – offenbar hatte man dem Pater inzwischen einen Maulkorb verpasst.

Ähnlich frustrierend verliefen auch meine Bemühungen um jenes Bundesrealgymnasium in Linz, das aus der von Hitler einst besuchten Realschule hervorgegangen ist. Erfreulicherweise war es mir zunächst fernmündlich und per E-Mail geglückt, einen Kontakt zu jenem Lehrer zu knüpfen, der die dortige Schulbibliothek verwaltet. Der gute Mann schickte mir einen jener historischen Jahresberichte, dem ich einige nützliche Informationen entnehmen konnte.57 Dann aber herrschte plötzlich nur noch eisiges Schweigen, so viele Briefe und E-Mails ich auch an ihn und an die Schulleitung schreiben mochte. Nach diesen negativen Erfahrungen sieht es ganz danach aus, als würde man das erwähnte Berührungstabu in Österreich mancherorts noch rigider handhaben als in Deutschland. Denn dank allerlei günstiger Fügungen habe ich mich in München wenigstens kurz in jenem Haus umsehen können, in dem der junge Hitler 1913 für wenige Monate mit seinem damaligen Weggefährten Rudolf Häusler beim Schneidermeister Popp wohnte.58 Doch außer dem seltsamen Gefühl, auf den längst verwehten Spuren meines Protagonisten zu wandeln, das mir auch schon in Hafeld, Leonding und in der Wiener Stumpergasse vermittelt wurde, sind solche Impressionen kaum von Belang.

Trotz aller Rückschläge habe ich anfangs noch die Hoffnung gehegt, wenigstens in den National Archives der Vereinigten Staaten von Amerika noch einiges an Neuigkeiten über den ehemaligen deutschen „Führer“ herauszufinden, wie es anderen Zeithistorikern unter anderer Themenstellung schon vor mir gelungen war. Schließlich hatte das 318. Regiment der 80. US-Infanteriedivision am 3. Mai 1945 als erstes Braunau erreicht und sein Hauptquartier in Hitlers Geburtshaus aufgeschlagen. So lag die Vermutung nahe, die begleitenden Offiziere des Armeegeheimdienstes könnten einiges an Material konfisziert haben, was sie US-amerikanischen Archiven einverleibten.59 Aber trotz der vorbildlichen Kooperationsbereitschaft meines Betreuers in College Park bei Washington, den mein Thema augenscheinlich faszinierte, konnte ich in dem bereits sattsam bekannten Hitler’s Source Book nicht viel Neues entdecken. Mein Cicerone führte mich sogar in die Bestände des Office of Strategic Services (OSS)60 ein und wies mir den verwinkelten Weg zum Fotoarchiv der 13. US-Panzerdivision.61 Doch ergab sich auch dort nichts, was mir substantiell weitergeholfen hätte, und ich hatte weder die Zeit noch die Mittel, die über die USA verstreuten Archive des Heeres und einzelner Einheiten aufzusuchen. Immerhin waren einige Inhalte der von vielen Benutzerspuren gezeichneten Loseblattsammlung des Hitler’s Source Book recht aufschlussreich, wie es sich überhaupt im Fall Hitlers stets lohnt, auch die bereits bekannten und hundertmal ausgewerteten Quellen noch einmal gründlich und kritisch durchzusehen, weil sie lückenhaft, oftmals vieldeutig und daher stets offen für unterschiedliche Interpretationen sind.

Den Weg in die Congress Library, wo Reste von Hitlers früherer Privatbibliothek verwahrt werden, habe ich mir dagegen von vornherein erspart, weil ich wenig Vertrauen in das aus verschiedenen Quellen zusammengeströmte und lange Zeit wohl nur oberflächlich verwaltete Sammelsurium hatte. Was können schon jene Bleistiftstriche und sonstige Benutzerspuren des früheren Diktators in Büchern aussagen, so dachte ich mir, wenn nicht einmal feststeht, wann Hitler sie wie gründlich gelesen, geschweige denn welche Konsequenzen er daraus gezogen hat? Wieder in Deutschland, fragte ich mich manchmal etwas unruhig, ob diese Entscheidung wohl richtig war. Zwar zeigt das inzwischen vorliegende Buch von Timothy Ryback,62dass man mit Hilfe dieser dubiosen Quelle manche Begebenheit der Jahre 1920 bis 1945 ganz nützlich beleuchten kann. Für die Aufhellung von Hitlers Kindheit und Jugend hat sie jedoch kaum einen Wert – es sei denn, dass man sich von Ryback, der bisher nur als Autor einer Geschichte des Rock’n Roll hervorgetreten ist, die bereits vorhandenen Stereotypen bestätigen will. Immerhin würde es sich lohnen, sich die Bestände einmal mit deutschen Augen anzusehen, um zu sehen, ob man daraus etwas für die Beurteilung des älteren Hitler gewinnen kann.

Wie auch immer – am Ende habe ich durch meine Recherchen in mehr als fünfzig österreichischen, deutschen und US-amerikanischen Archiven und Bibliotheken, Stadtverwaltungen, Schulen, Klöstern, Theatern usw. so viel Neues zusammengetragen, dass ich an die Arbeit gehen konnte. Doch hatte sich unterdessen mein Ansatz verändert, weil ich erkannte, dass es in erster Linie gar nicht mehr darauf ankommt, Hitlers Kinder- und Jugendjahre noch detaillierter zu rekonstruieren, als es bisher schon geschehen ist. Denn welches wichtige Geheimnis kann das höchst bescheidene Leben, das der ehemalige Dorfbub und spätere Stadtindianer in Linz, Wien und München einst führte, denn noch bergen? Statt sich weiterhin in Äußerlichkeiten zu verzetteln, kommt es jetzt und in Zukunft darauf an, möglichst weit in das Innenleben des jungen Hitler vorzudringen. Fortschritte auf diesem langen und steinigen Weg kann man am besten dadurch erzielen, dass man die genannten Primärquellen erster und zweiter Ordnung nicht länger nur als billige Lieferanten für biographische Daten und Fakten benutzt. Denn sie sind auch das Material, mit dem man die Gedanken und Gefühle, Hoffnungen und Ängste, Pläne und Visionen des jungen Hitler rekonstruieren kann, die ihrerseits wiederum Folge bestimmter Wahrnehmungen und Prägungen waren.

Wie sind nun jene fünf Primärquellen zu beschreiben und zu bewerten, die diesem Buch zugrunde liegen? Als mit Abstand am ergiebigsten hat sich die Darstellung des Österreichers August Kubizek erwiesen,63 weil dieser Autor mit Hitler in Linz anderthalb Jahre lang, von Ende 1905 bis Weihnachten 1907, seine Freizeit verbracht und 1908 in Wien fünf oder sechs Monate lang sogar ein Zimmer geteilt hat. Bis vor Kurzem gab es hier und da noch Stimmen, die Kubizeks „Erinnerungen“ für das Machwerk eines Ghostwriters hielten oder sogar in den Bereich der Fabel verwiesen,64 doch vermag ich mich diesem Urteil aus zwei Gründen nicht anzuschließen. Erstens hat mir die Alt-Verlegerin, die das Manuskript seinerzeit als Lektorin betreute, auf Anfrage versichert: Nachdem Kubizek beim Hitler-Biographen Franz Jetzinger, mit dem er zunächst gemeinsam ein Buch hatte schreiben wollen, „einen sehr ‚selektiven‘, um nicht zu sagen ‚kreativen‘ Umgang mit Quellen und Fakten“ feststellte, habe er es „geradezu als Verpflichtung betrachtet, seine Erinnerungen ohne Abstriche oder Veränderungen in die eine oder andere Richtung, so wie sie ihm eben noch im Gedächtnis waren, wiederzugeben“.65 Diese Aussage wurde mir von ihrem Sohn, der das 1995 in 6. Auflage erschienene und in zahllose Fremdsprachen übersetzte Buch bis heute unverändert verlegt, noch einmal ausdrücklich bestätigt.66 Zweitens habe ich die Korrespondenz zwischen Kubizek und Jetzinger eingesehen.67 Obwohl die meisten dieser Briefe seit mehr als einem halben Jahrhundert im Grazer Verlagsarchiv liegen,68 war vor mir offenbar noch niemand auf diesen naheliegenden Gedanken gekommen. Dabei habe ich festgestellt, dass es zwischen Briefen und Buch sowohl inhaltlich als auch stilistisch kaum ins Gewicht fallende Unterschiede oder gar Widersprüche gibt. Auch in puncto Facettenreichtum und Kritikfähigkeit braucht sich der Buchautor Kubizek, dem die „Schriftstellerei“ während des Krieges noch „ein Kreuz“ gewesen war,69 nicht hinter dem Briefeschreiber zu verstecken.70

Wer war dieser August Kubizek und wie stand er zu Hitler während der NS-Zeit und danach?71 Das ist die erste und wichtigste Frage, die man sich als Hitler-Biograph stellen muss, will man auf dieses fast 300 Seiten starke und mit zahlreichen Originaldokumenten gespickte Buch zurückgreifen. Kubizek war Jahrgang 1888, ein Jahr älter als Hitler, und er ist schon 1956 verstorben, so dass er sich nicht mehr gegen Jetzingers Vorwürfe zur Wehr setzen konnte. Der Sohn eines Linzer Raumausstatters hatte in Wien erfolgreich Musik studiert, statt die väterliche Werkstatt zu übernehmen, und wurde 1912 zweiter Kapellmeister am Stadttheater Marburg an der Drau (heute Maribor). Kubizek schildert sich selbst als einen etwas verträumten Jüngling, „sehr einfühlsam und anpassungsfähig, daher nachgiebig“ – „ein ‚musikalischer Charakter‘ sozusagen“.72 Für Politik interessierte er sich anscheinend nicht. Trotz aller Gegensätze hielten Kubizek und Hitler als Jugendliche wie Pech und Schwefel zusammen, bis sie sich im Sommer 1908 voneinander trennten und erst 1938 wiedersahen.

Am Ersten Weltkrieg nahm der unterdessen mit einer Geigerin verheiratete Kubizek als Soldat teil, ohne sich besonders auszuzeichnen oder höhere Ränge zu bekleiden. Durch eine schwere Krankheit für den Rest seines Lebens geschwächt, wurde er 1920 Kommunalbeamter in Eferding, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Linz. Als er durch die Zeitungslektüre zufällig vom politischen Aufstieg Hitlers erfuhr, bedauerte Kubizek nur, „dass er ebenso wenig wie ich seine künstlerische Laufbahn hatte vollenden können“.73 Mit einem Brief gratulierte er 1933 dem Reichskanzler zu dessen Ernennung. Hitler reagierte in seinem Antwortschreiben freundlich, duzte seinen früheren Freund und stellte eine Begegnung in Aussicht, die aber erst 1938 zustande kam, als Österreich an das Reich angeschlossen wurde. Noch zweimal sahen sich die beiden ehemaligen Freunde kurz wieder, und zwar 1939 und 1940 in Bayreuth, offenbar ohne einander über den Austausch von Jugenderinnerungen und das gemeinsame Erlebnis von Wagner-Opern hinaus näher zu kommen. Zwar erfüllte sich Kubizeks Hoffnung nicht, durch die Protektion Hitlers wieder in seinen alten Beruf als Musiker zurückzukehren. Aber selbstverständlich profitierte er davon, dass er als „ehemaliger Jugendfreund des Führers“ nun in der deutschen Öffentlichkeit etwas galt. Hitler übernahm die Ausbildungskosten für die drei Söhne, wendete seinem früheren Freund einen einmaligen Geldbetrag von 6.000 RM zu und setzte ihm eine monatliche Einkommensbeihilfe von 500 RM aus – für damalige Verhältnisse viel Geld.74

Gewissermaßen als Gegenleistung trat Kubizek 1942 der NSDAP bei. Er betätigte sich in Eferding als lokaler Funktionär der nationalsozialistischen Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“, fiel aber sonst nicht weiter auf. Die Tatsache, dass er 1943 in seiner Besoldung als Gemeindesekretär geringfügig bevorzugt wurde, hatte offenbar damit zu tun, dass ihn der Bruder von Hitlers Privatsekretär, Albert Bormann, damit beauftragt hatte, „Erinnerungen an die gemeinsam mit dem Führer in Linz und Wien verbrachte Zeit“ für das NSDAP-Hauptarchiv niederzuschreiben.75 Kubizek erledigte diese Aufgabe, ohne dass das Ergebnis jemals veröffentlicht worden ist. Seine beiden mit der Hand angefertigten Original-Niederschriften über die Zeit in Linz und Wien, die er „Notizbüchel“ nannte, überdauerten jedoch das Kriegsende, eingemauert in einer Wand seines Einfamilienhauses, und sind später unter Umständen, die wir nicht kennen, in Jetzingers Besitz übergegangen.

All das spricht nicht dafür, dass Kubizek ein überzeugter oder gar fanatischer Nationalsozialist gewesen ist. Das Hauptproblem seiner Würdigung als Quelle besteht denn auch darin, dass nur eine maschinschriftliche Abschrift einer der beiden Niederschriften, nämlich jene über die Zeit in Wien, erhalten geblieben ist.76 Das andere „Notizbüchel“ über die Zeit in Linz hat der Hitler-Biograph Jetzinger, der jene Abschrift anfertigte, hingegen offenbar „sogleich (in seiner eigenen Hitler-Biographie) verarbeitet“ – ein im Grund unverzeihbarer Aktenfrevel, der übrigens in der Literatur bisher ungerügt geblieben ist.77 Diese Abschrift ist im Oberösterreichischen Landesarchiv nicht mehr vorhanden, wie auch die beiden Originale bis heute spurlos verschwunden geblieben sind. Da es von Kubizek kein „erstes“ und kein „zweites Manuskript“ gibt, sondern nur diese eine maschinschriftliche Fassung, lassen sich seine in Buchform erschienenen „Erinnerungen“ nur teilweise mit der ursprünglichen Version seiner Aufzeichnungen vergleichen – vorausgesetzt, dass Jetzinger sie überhaupt vollständig und originalgetreu abgeschrieben hat, wovon ich allerdings ausgehe. Deshalb hängen alle Vergleiche zwischen Original und Reproduktion, auf die sich Hamann und Kershaw berufen, in der Luft. Dasselbe gilt übrigens auch für die Verhöre durch die Amerikaner, denen sich Kubizek nach Kriegsende stellen musste.78

Die Frage nach Kubizeks Authentizität ist vor allem für seine Haltung zur so genannten Judenfrage wichtig, auf die ich später noch genauer eingehen werde.79 Hier versucht Hamann den Eindruck zu erwecken, Kubizek habe sich von Hitlers Darstellung in Mein Kampf beeinflussen lassen, obwohl er behauptet, dieses Buch zwar schon vor Beginn der Arbeit an seinen „Erinnerungen“ besessen, aber erst nach deren Abschluss gelesen zu haben.80 Naturgemäß lässt sich diese Aussage heute nicht mehr überprüfen. Obwohl eine Beeinflussung seiner „Erinnerungen“ durch Mein Kampf anhand des Textes kaum nachvollziehbar ist, beurteilt die Wiener Historikerin die Passagen, in denen Kubizek zur Judenfrage Stellung nimmt, als „vollends problematisch“.81 Dabei verschweigt sie jedoch, dass der Autor seinem früheren Jugendfreund gerade in einem entscheidenden Punkt widerspricht, indem er nämlich feststellt, Hitler sei schon in Linz – und nicht erst in Wien, wie in Mein Kampf behauptet – zum Antisemiten geworden. Dieses Urteil ist für das Bild, das ich mir von der politischen Sozialisation des späteren Diktators gemacht habe, von erheblicher Bedeutung. Trotzdem muss man Kubizeks „Erinnerungen“ gegenüber selbstverständlich dieselbe Vorsicht walten lassen wie gegenüber allen anderen Memoiren oder Zeitzeugenberichten. Dies nicht nur wegen seiner früheren Freundschaft mit Hitler, die an Verehrung grenzte, sondern weil der Autor mit seinem Buch auch den Zweck verfolgte, „dass unser Volk um so eher über diese opfervolle Epoche (gemeint ist die Zeit von 1933 bis 1945 – D. B.) hinweg findet und neuen Boden unter den Füßen gewinnt, je klarer es die Persönlichkeit Hitlers als des politischen Trägers dieser Epoche zu beurteilen vermag“,82 was auf volkspädagogische Absichten schließen lässt. Überdies ist mit Ian Kershaw nicht zu bestreiten, dass Kubizeks Buch einige sachliche Fehler enthält.83 Sie sind aber nur peripherer Natur, so dass sie den Wert meiner Hauptquelle in ihrer ganzen Breite und Tiefe nicht gefährden können. Was die Zeit in Wien betrifft, bin ich außerdem mit Kershaw der Meinung, dass die Buchfassung von 1953 im Vergleich zu der Abschrift, die auf dem „Notizbüchel“ von 1943 fußt, in politischer Hinsicht „zwangsläufig zurückhaltender“ ausfällt, weil zwischen diesen beiden Versionen das Epochenjahr 1945 liegt.

Ohnehin liegt der eigentliche Wert von Kubizeks Memoiren nicht so sehr auf der Ebene empirisch überprüfbarer Daten und Fakten, wo dem Autor der eine oder andere Fehler unterlaufen ist, sondern auf der Ebene der Gefühle, Gedanken und Stimmungen seines Protagonisten, die er in überreichem Maß überliefert, die aber in den bisherigen Hitler-Biographien entschieden zu kurz gekommen oder zu undifferenziert behandelt worden sind. Dabei erscheint der junge Hitler bei Kubizek keineswegs immer in einem günstigen Licht. Während der Autor von Mein Kampf größten Wert darauf legt, sich selbst als den schon früh gereiften, weit blickenden und durch den Gang der Ereignisse nicht nur schwer geprüften, sondern auch glänzend bestätigten „Führer“ in spe darzustellen, zeigt sein früherer Jugendfreund einen in vieler Hinsicht zweifelnden, zögernden und mit sich selbst ringenden oder gar zerfallenen Hitler, der sich zeitweise mehr zum Künstler als zum Politiker berufen fühlt. Dadurch ist ein komplexes, teils in sich gebrochenes, teils tiefenscharfes Persönlichkeitsbild entstanden, das es sine ira et studio zu nutzen galt. Freilich darf man nicht jedes Hitler-Zitat, das Kubizek in direkter Rede bringt, wörtlich nehmen. Das ändert aber nichts daran, dass seine Jugenderinnerungen auch nach Kershaws Meinung eine „unentbehrliche Quelle“ für jede ernsthafte Beschäftigung mit dem jungen Hitler sind.84 Trotz aller Einwände ist übrigens auch Brigitte Hamann schließlich zu dieser Überzeugung gelangt, indem sie 1996 schrieb: Die Darstellung Kubizeks sei „alles in allem … glaubwürdig“ und stelle „eine reichhaltige und … einzigartige Quelle dar“.85

Ähnlich wertvoll sind die „Erinnerungen“ des Dr. Eduard Bloch, der in Linz Hausarzt der Familie Hitler war. Sie stammen aus einem ganz anderen Lebensbereich, weil der seinerzeit als „Armeleutedoktor“ hochverehrte Bloch Jude gewesen ist. 1872 im böhmischen Frauenburg geboren, studierte er Medizin in Prag, diente in der österreichisch-ungarischen Armee und ließ sich 1899 in Linz als frei praktizierender Arzt nieder. Nach dem „Anschluss“ wurde Bloch von den Nationalsozialisten verfolgt und gezwungen, Österreich zu verlassen.86 Von seinen „Erinnerungen“ ist sowohl eine deutsche als auch eine US-amerikanische Fassung überliefert. Bei ersterer87 handelt es sich um ein maschinschriftliches Dokument für einen ungenannten Adressaten mit der Überschrift „Erinnerungen an den Führer und dessen verewigte Mutter (Obermedizinalrat Dr. Eduard Bloch, Linz, Landstraße No. 12)“, das einem „Bericht zur Sache Dr. Bloch“ beigefügt und nicht exakt zu datieren ist.88 Verfasser war ein gewisser R. Bleibtreu, Beauftragter der Wiener Dienststelle des NSDAP-Hauptarchivs, der den Bericht wahrscheinlich im November 1938 für seine Vorgesetzten in München anfertigte. Bleibtreu hatte die Aufgabe, zur „Erforschung und Registrierung der Materialien zur Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich“ u.a. bestimmte Dokumente sicherzustellen, die Grabstätte von Hitlers Eltern auf dem Leondinger Friedhof vor dem Verfall zu retten und die Besitzer von Hitler-Gemälden ausfindig zu machen.89 Möglicherweise sind alle diese Maßnahmen als Vorbereitungen auf den 50. Geburtstag des „Führers“ am 20. April 1939 zu sehen.

Dagegen ist die US-amerikanische Fassung unter dem Titel „My patient Hitler …“ in Hitler’s Source Book mit dem Zusatz „… as told to J. D. Radcliff, Collier’s 15. 03. 1941“ enthalten,90 was auf einen Abdruck in der gleichnamigen Zeitschrift hinweist. Blochs Darstellung war Roosevelts Geheimdienst offenbar so wichtig, dass ihr ein „Resumée“ beigefügt wurde,91 das auf einem Interview mit Bloch im April 1943 beruht und einzelne Feststellungen des Arztes hinterfragt. Unter page 21 kommt der ungenannte Verfasser zu dem Ergebnis, Blochs Darstellung beruhe zumindest teilweise auf der Hitler-Biographie von Konrad Heiden. Deutlich wird auch, dass die OSS hinter einer zweiten Halbschwester her war, die Hitler laut Bloch angeblich hatte und die debil gewesen sein soll. Der Arzt meinte, dass das Mädchen aus der zweiten Ehe des Zollbeamten hervorgegangen sei, doch wurde für seine Existenz bis heute offenbar noch kein amtlicher Beleg gefunden.

Die beiden Fassungen von Blochs Darstellung decken einander nicht nur inhaltlich, sondern sind auch mit Kubizeks Schilderung weitgehend kongruent. Sie kam jedoch erst nach dem so genannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 unter Umständen zustande, die nachdenklich machen, weil sie diese wichtige Quelle entwerten könnten. Am 1. Oktober jenes Jahres wurde nämlich die Praxis Blochs von den Behörden zwangsweise geschlossen, Tochter und Schwiegersohn flohen nach Übersee. In seiner Not wandte sich der Obermedizinalrat an Hitler persönlich in der Hoffnung, dieser könne doch „den Arzt seiner Mutter nicht vergessen“ haben, „dessen Thätigkeit stets von ethischen, nie von materiellen Gesichtspunkten geleitet“ worden sei. Daraufhin ließ Hitler seinen früheren Arzt unter den Schutz der Gestapo stellen. Bloch behielt seinen Pass ohne den diskriminierenden „J“-Stempel, musste keinen gelben Stern an seiner Brust tragen und durfte, mit Lebens- und Kleiderkarten versorgt, in Linz bleiben.

Mit dieser Vorzugsbehandlung hatte es jedoch bald ein Ende, weil der „Reichsamtsleiter“ im Stab des Führerstellvertreters Rudolf Heß, Ernst Schulte-Strathaus, den Arzt unter Druck setzte, seine Erinnerungen an Hitler zu Papier zu bringen. Angesichts der Bedrängnis, in der sich Bloch und seine Familie befanden, war der Arzt dazu jedoch erst auf gutes Zureden seines Schwiegervaters bereit. Bis dahin hatte die Gestapo schon die beiden Ansichtspostkarten kassiert, die Hitler einst aus Wien an Bloch geschrieben hatte, um sich für die Behandlung seiner an Krebs erkrankten und schließlich verstorbenen Mutter zu bedanken. Da er gegen die Wegnahme dieser beiden Erinnerungsstücke protestierte, wurde Bloch für 18 Tage ohne Vernehmung eingesperrt. Sein Hilferuf an Hitler, die Rückgabe der Karten zu veranlassen, verhallte ungehört.

Unterdessen hatten am 9. November 1938 im Reich und dessen „Ostmark“ die bekannten Pogrome stattgefunden. Dadurch „ganz gebrochen“, wurde Bloch nun aufgefordert, seinen Wohnort Linz gemeinsam mit seiner Familie bis zum 15. Dezember zu verlassen.92 Außerdem sollte der Arzt sein Privathaus in der Rudolfstraße 34 an Kreisleiter Dr. Rudolf Keplinger, einen früheren Schulfreund Hitlers, übergeben. Dabei hatte Bloch bereits einen Interessenten an der Hand, der es ihm für 80.000 RM in bar abkaufen wollte. Zu allem Überfluss waren auch noch zwei Gemälde Hitlers dem NSDAP-Hauptarchiv auszuhändigen, die sich im Besitz des Arztes befanden und einen hohen Schätzwert besaßen. Selbst in dieser äußersten Not, so notierte ein NS-Funktionär irritiert, soll Dr. Bloch freilich immer noch „mit Tränen in den Augen“ von Hitler gesprochen haben, als er schließlich zur Feder griff, um ein durchaus freundliches Bild von dem jungen Mann und dessen verstorbener Mutter zu zeichnen. Angesichts dieser Umstände stellt sich die Frage, ob Blochs „Erinnerungen“ weniger wohlwollend ausgefallen wären, hätte er sich nicht in einer so gefährdeten Lebenslage befunden. Sie lässt sich eindeutig verneinen, weil sich der Arzt in dem Interview, das er im März 1941 dem US-amerikanischen Magazin Collier’s gab, bis in die Einzelheiten hinein ebenso positiv wie 1938 über den jungen Hitler geäußert hat.

Für die Zeit vom Sommer 1909 bis zum Frühjahr 1913 liegen nur zwei Erinnerungen von Zeitzeugen vor, denen ein gewisser Wert zukommt. Dabei handelt es sich zum einen um Äußerungen von Reinhold Hanisch und zum anderen um eine handschriftliche Niederschrift von Karl Honisch. Der seltsame Gleichklang der beiden Namen ist rein zufällig und hat nichts zu bedeuten. Von Hanischs „Erinnerungen“ liegen wiederum zwei unterschiedliche Fassungen vor: eine frühere und kürzere sowie eine spätere, längere.93 Nach eigenen Angaben war ihr Autor ein „reisender Künstler“, der etwa gleichzeitig mit Hitler in Wien eine Sozialunterkunft bewohnte und in der Stadt die selbst gemalten Bilder seines Kumpels vermarktete, später jedoch mit ihm wegen geschäftlicher Unregelmäßigkeiten in einen vor Gericht ausgetragenen Streit geriet und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Nicht zuletzt deshalb wurden in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts aus früheren Weggefährten plötzlich Feinde – eine Tatsache, die sich deutlich in den beiden Fassungen von Hanischs „Erinnerungen“ niedergeschlagen hat. Während erstere von Wohlwollen gegenüber dem jungen Hitler getragen ist,94 holt die zweite Fassung, die lange nach Hanischs Tod erschien, zu einem raffinierten Schlag gegen den älteren Hitler aus.

Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Bevor Hanisch verstarb, hatte der Journalist und Hitler-Biograph Konrad Heiden mit ihm Kontakt aufgenommen.95 Heiden war nach damaliger Terminologie „Halbjude“. Er lebte seit 1935 in Paris, emigrierte 1940 in die USA und lebte dort bis zu seinem Tod im Jahre 1966. Diese Zusammenhänge legen die Vermutung nahe, dass die zweite Fassung von Hanischs Erinnerungen unter dem maßgeblichen Einfluss von Heiden entstanden ist. Denn es kann niemand anderer als Heiden gewesen sein, der den Text an den linksliberalen The New Republic in New York weitergab, zumal er gute Kontakte zu den US-amerikanischen Medien der Ostküste hatte und Hanisch zu jenem Zeitpunkt, wie gesagt, längst verstorben war.96 Deshalb konnte The New Republic die Artikelserie Anfang April 1939, wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, im Vorspann mit einer mysteriös klingenden Todesnachricht ankündigen, was den Sensationsreiz für das US-amerikanische Publikum zweifellos noch erhöht hat. Die Quelle spielt sogar selbst auf diesen politischen Kontext an, was bisher weithin übersehen wurde.97