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In der romantisch-erregenden Welt der Sonneninseln in der Karibischen See, die nach der Legende einst vom großen Juwelenbaum ins Meer fielen, spielen diese fesselnden Geschichten der deutschen Erfolgsautorin Alice Ekert-Rotholz. Unstillbare Leidenschaften und die Sehnsucht nach sozialer Anerkennung sind ihr bewegendes Thema.
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Seitenzahl: 718
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Alice Ekert-Rotholz
Der Juwelenbaum
Karibisches Panorama
Ihr Verlagsname
In der romantisch-erregenden Welt der Sonneninseln in der Karibischen See, die nach der Legende einst vom großen Juwelenbaum ins Meer fielen, spielen diese fesselnden Geschichten der deutschen Erfolgsautorin Alice Ekert-Rotholz. Unstillbare Leidenschaften und die Sehnsucht nach sozialer Anerkennung sind ihr bewegendes Thema.
Alice Ekert-Rotholz, am 5. September 1900 in Hamburg als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, lebte von 1939 bis 1952 in Bangkok. Nach Hamburg zurückgekehrt, war sie journalistisch für Funk und Presse tätig. 1954 erschien ihr erster Roman «Reis aus Silberschalen», der sie schnell bekannt machte. Zahlreiche weitere folgten. 1959 siedelte Alice Ekert-Rotholz zu ihrem ersten Sohn nach London über. Dort starb sie am 17. Juni 1995.
Die vorliegende Ausgabe «Der Juwelenbaum» enthält nicht den Teil «Limbo oder Besuch aus Berlin»
Für meinen Sohn
Die Karibischen Inseln, sichtbare Gipfel ertrunkener Vulkane, sind so verschiedenartig wie ihre Bewohner. Diese besonnten Antillen über und unter dem Winde, dieser selig-isolierte ozeanische Inselbogen zwischen Puerto Rico und Venezuela besitzt eine alte spanische, französische, holländische, englische und amerikanische Kolonialtradition und -zivilisation, die von der neuen politischen Unabhängigkeit noch nicht ganz weggeschwemmt worden sind. Aber neben den Kolonialvätern aus dem Westen haben viele Inseln ihre eigenen mythischen Vaterfiguren. Die Geister der indianischen Arawaks und Kariben durchstreifen nach Sonnenuntergang Trinidads endlose Regenwälder, Fischerdörfer, Zuckerfelder und Marktflecken, während in Port of Spain Calypsosänger und Limbotänzer die Touristen aus aller Welt unterhalten. Wenn die Limbotänzer sich schlangengleich unter einer brennenden Stange hindurchwinden, ohne sie zu berühren, grenzt das an Zauberei aus Afrika. Auf den Inseln vertragen sich afrikanische, indische und indianische Geister miteinander.
Die Arawaks sind ausgestorben, und die «Insel-Kariben», die ersten Jäger und Fischer der Antillen, haben nur wenige Andenken an ihre Existenz in dieser Welt hinterlassen. Nach ihnen wird zwar der Karibenfisch benannt, der Seeräuber der südamerikanischen Flüsse, der auch Menschen gern angreift und zerreißt; vor allem aber gibt es das friedliche und nahezu unbekannte Erbe der Legenden, der «wahren Geistergeschichten» und der Aphorismen zur karibischen Lebensweisheit.
Zu meinem Glück stieß ich in Venezuela auf keinen hungrigen Karibenfisch, und zu meinem Glück stieß ich in Trinidad auf einen der wenigen Nachkommen der Kariben, der auf gutem Fuß mit Naturgeistern, Zauberern und Juwelenbäumen stand. Selbstverständlich war er ein sehr alter Mann; die westindische Jugend lauscht auch in Arima angelsächsischen Popsängern oder tanzt aus der Sklavenzeit stammende afrikanische Tänze mit einem Schuß spanischer Musik: Conga, Shango und Bongo.
Arima ist eine idyllische Landstadt im «Fruchtgarten von Trinidad». In der spanischen Kolonialzeit war sie die erste Siedlung indischer Mohammedaner. Heute ist Arima ein Zentrum der Kakao-Industrie. Übrigens werden dort im Herbst zu Ehren der Schutzheiligen Santa Rosa Pferderennen abgehalten, aber sonst lebt man geruhsam und nachdenklich unter den Palmen dieser Stadt.
Der Nachkomme der Kariben saß in einem Kreis halbnackter brauner Kinder unter einem Flammenbaum und ignorierte meine westindischen Freunde und mich. Ich aber sah ihn mir ziemlich genau an. Ein verwaschener seegrüner Turban krönte ein indianisches Gesicht mit spanischem Pfeffer in den schrägen schwarzen Augen. Arima ist die letzte Spanierstadt in Trinidad. Die scharlachroten Blüten des Flamboyán-Baumes zwischen zartgrünem Laub bildeten ein phantastisches Dach über der seltsamen undzufriedenen kleinen Gruppe. Der alte Mann erzählte irgend etwas in einem eintönigen Singsang, und ein Knirps, der hauptsächlich mit Palmenblättern bekleidet war, schlürfte geräuschvoll Kokosmilch aus einer geöffneten Nuß, die sein Gesicht vor unseren Blicken schützte. In Trinidad glaubt man nämlich an den Dollar, an den Reader’s Digest, den Bösen Blick und die soucouyants der alten Kariben – dämonische Störenfriede in der harmlosen Gestalt von Familienfreunden, Liebhabern oder Touristen aus Europa.
Später, bei einem kreolisch-westindischen Mittagessen, berichteten mir meine Freunde, was der grüne Turban erzählt hatte, und fragten mich mehrmals besorgt, ob ich auch alles richtig hörte und verstände. Diese Frage wurde mir sehr oft in den Antillen gestellt. Man hält Ausländer dort offenbar für schwerhörig oder ungewöhnlich begriffsstutzig. Ich berichte nun, was ich damals hörte und hoffentlich verstanden habe:
«In den ersten Tagen der Welt gab es nur die Karibische See und einen riesigen Baum auf einem toten Vulkan. Der Baum trug viele Früchte: sie leuchteten sonnengelb, scharlachrot, grün und himmelblau. Sie glichen Juwelen oder waren welche. Das weiß niemand ganz genau. Eines Tages tobte ein wilder, wilder Wirbelsturm. Der große Baum bog sich hin und her, aber nur die Früchte fielen ins Meer. Haben Sie das verstanden, Madame?»
«Ich habe es verstanden.»
«Gut so! Also die Früchte schwammen in der See herum, und eines Tages waren sie Inseln geworden: Trinidad, Tobago, Dominica, Martinique, Grenada, Sankt Thomas, Bonaire, Antigua und alle anderen Inseln. Hören Sie, Madame? Es gab Berge und Wälder, und dann kamen Menschen mit ihren Kanus. Das waren die Arawaks und die Kariben, und sie kämpften und töteten sich gegenseitig. Haben Sie auch das verstanden, Madame?
Die Kariben jagten in den Wäldern und fischten in der reichen See und hatten kleine Felder, wo es nicht zu steinig war. Wir sagen auf den Inseln: ‹Auf Felsen wächst kein Zuckerrohr.› Die Kariben erzählten sich Geschichten, die viel Angst machen, und Geschichten, bei denen das Herz vor Lachen tanzt. Sie waren noch wilde Indianer, und einmal schlachteten sie dominikanische Mönche. Aber mit der Zeit wurden sie sanfter und satter und liebten den großen Baum, weil er Sonnen-Inseln in die See geschüttet hatte. Haben Sie alles richtig gehört und verstanden, Madame?»
«Ich hoffe.»
«Ich danke für Ihre gnädige Aufmerksamkeit, Madame!»
«Ich danke für Ihren schönen Bericht. Nun weiß ich, wo ich bin.»
Ich blieb viele Monate auf den Antillen, und je länger ich mich auf verschiedenen Inseln aufhielt, desto fester glaubte ich an den Juwelenbaum.
Dies also war die Heimat der vielen Westindier in England. Nach meiner Rückkehr von den Antillen konnte ich mir keinen Reim auf die stille Schönheit der Inseln und die trübselige Existenz dieser Kinder des Commonwealth in London machen. Gelegentlich erfuhr ich etwas über ihre Probleme, und auch sie fragten mich zweifelnd und besorgt, ob ich auch alles hörte und verstände.
Der Kreis schließt sich. Grundverschiedene Welten prallen aufeinander, nachdem die Kolonialväter die Antillen verlassen haben. Nur die bleiche Karawane der Touristen zieht in immer größerem Maße auf die Inseln und erlebt ihrerseits eine durch falsche Romantik bewirkte Daseinsverwirrung. Aber im Gegensatz zu den vielen enttäuschten Westindiern in London können sie jederzeit zurückfliegen in ihre eigene Welt.
Ich habe die helle und dunkle Seite des karibischen Mondes gesehen: auf den Inseln, in Venezuela, in London und Liverpool. Und ich habe überall den tragischen und komischen Zusammenprall von Temperamenten und Verhaltensweisen erlebt. Eines Tages stand mein Entschluß fest, von der Welt diesseits und jenseits des Juwelenbaums zu erzählen.
Mai 1968
Alice Ekert-Rotholz
Venezuela
Glücklich der Baum, der nur dunkel empfindet.
Denn quälender kein Schmerz,
als nicht wissen: wohin.
Nicht wissen: woher.
Rubén Dario
War Basset der richtige Mann für Venezuela?
Der Generaldirektor einer großen Ölgesellschaft sah sich in seinem New Yorker Büro um, als ob die Stahlmöbel die Antwort wüßten. Sein Kollege aus Caracas wartete geduldig. Mr. Street lebte seit so vielen Jahren in Südamerika, daß er, ohne zu rebellieren, auf alles wartete – auf den neuen Fachmann, auf das Ende der Regenzeit, auf seine Frau.
Schließlich sagte Mr. Clissold: «Dr. Basset ist okay. Sonst hätte ich ihn nicht vorgeschlagen.»
«War der junge Mann schon draußen?»
«Einige Monate in Mexiko. Seitdem will er in die Sonne.» Mr. Clissold räusperte sich: «Natürlich geht es bei uns nicht danach, was unsere jungen Leute möchten, sondern was sie im Ausland leisten können. Richard Basset ist vielleicht nicht brillant wie – sagen wir – unser Hugh Parry. Aber der sitzt ja nun in Mexiko. Trotzdem hat der junge Mann den Raketentypen etwas voraus.»
«Und das wäre?»
«Er weiß, wann er geschlagen ist. Basset entgeht jeder Krise oder Blamage dadurch, daß er leise, still und heimlich den Schauplatz räumt.»
«Das ist was Ausgezeichnetes für Venezuela», sagte Mr. Street. «Ich meine – unsere Gesellschaften in diesem unruhigen Land haben ständig Schwierigkeiten mit den wechselnden Regierungen.» Er räusperte sich. «Ich weiß nicht, lieber Clissold, ob Sie in New York so ganz im Bilde sind. Natürlich begrüßen wir alle aus ethischen Gründen Venezuelas demokratische Richtung. Alles andere wäre ja auch noch schöner, nicht wahr? Aber unter uns gesagt: den Ölfirmen ging es unter der Diktatur von Jiménez tadellos. Komisch, wie? Petroleum-Diskussionen mit der Regierung erfordern seit 1961 doppelt soviel Takt, und die Resultate sind nur halb so gut.»
«Basset ist ein Meerwunder an Takt.»
«Ist dieser Dr. Basset eigentlich ein angenehmer Zeitgenosse?» fragte der große Mann von drüben. «Ich meine, wir ‹Yanquis› sind da unten gewissermaßen ’ne Familie im Exil. Kommt er gut mit Kollegen aus?»
«Mit Basset kann sich niemand streiten.»
«Das ist großartig für Venezuela! Wir sind ja dort nicht nur durch die spanische Sprache und die Landessitten isoliert. Unsere Art von Humor paßt da nicht recht hin. Aber das steht im Moment nicht zur Debatte. Mögen Sie diesen Dr. Basset?»
Mr. Clissold zog die Augenbrauen hoch. «Natürlich mag ich ihn. Warum denn nicht?»
«Wie ist er rein privat?»
«Da fragen Sie mich zuviel, lieber Freund. Basset gestattet niemandem einen Einblick in sein Innenleben – falls er eins besitzt. Kommt übrigens aus streng protestantischem Milieu, ist aber selbstverständlich kein religiöser Fanatiker.»
«Das wär auch ein bißchen komisch für Südamerika. Sind dort alle durch und durch katholisch seit Kolumbus. Die Indianer glauben außerhalb der Missionen natürlich, was sie wollen.»
«Habe ich schon gesagt, daß Basset Junggeselle ist?»
«Wie alt?»
«Fünfunddreißig Jahre. Lebte lange Zeit mit seiner verwitweten Mutter. Hat übrigens selbst um Versetzung nach Südamerika gebeten. Aber es hatte sich bis jetzt noch nicht machen lassen. Für einen kleinen Job ist er zu gut.»
«Warum wollte er weg von New York?»
«Keine Ahnung, mein Lieber. Unter uns: ich möchte auch nicht mit Bassets Mutter leben. Wie gesagt, er ist ein zäher, intelligenter Bursche von robuster Gesundheit, obgleich er so lang und dünn und farblos aussieht. Aber dies Talent! Dies seltene Talent, den Rückzug vorzubereiten, wenn alles nach Sieg aussieht.»
«Wann kann er antreten?» fragte Mr. Street.
Bassets Göttergabe, den Schauplatz der Geschehnisse im richtigen Augenblick zu räumen, war von jeher seine beste Waffe gewesen. Er verließ beispielsweise die Wohnung seiner Mutter, lange bevor sie ihn einen undankbaren Sohn nennen konnte, dem sie ihre besten Jahre geopfert habe. Er bezog einfach eine Junggesellenwohnung, gerade in der richtigen Distanz. Nicht so entlegen, daß es nach einer Demonstration aussah, aber auch wieder nicht so nah, daß die bequeme Mrs. Basset seine Wohnung jederzeit zu einem kurzen Besuch erreichen konnte. Sie wollte ihn seit mehreren Jahren mit den Töchtern ihrer Clubfreundinnen verheiraten, und Basset betrachtete ihre Versuche mit schweigendem Mißfallen.
«Was soll aus dir werden, wenn ich einmal nicht mehr bin?» hatte Mrs. Basset ihn so oft gefragt, daß er schließlich die Antwort verweigerte. Er wußte genau, was aus ihm werden würde: Ein Mann, der in Ruhe leben konnte, keine Fragen beantworten mußte und frei war wie die wilden Pferde der Llanosebene zwischen den Anden und dem Orinoko-Fluß. Basset plante, alle seine Ferien mit Pferden zu verbringen, falls seine Übersiedlung eines Tages stattfinden sollte. In den Llanos gab es wenig Menschen, und dorthin würde ihm seine Mutter keinesfalls folgen. Warum sollte sie sich mit Kuhhirten unterhalten, die kein Englisch sprachen, oder den Flug der Tropenvögel verfolgen, wenn sie in New York Bridge spielen und pausenlos reden konnte? Selbstverständlich bewies Richard Basset seinen berühmten Takt und erwähnte Venezuela mit keinem Wort. Wenn seine Mutter immer wieder wissen wollte, was er einmal ohne sie anfangen würde, sagte er achselzuckend: «Ich werde mich einrichten müssen, so gut es geht.» – «Du solltest heiraten, mein Junge», sagte sie dann. Basset setzte sich ans Klavier. Er spielte ausgezeichnet.
Seine Mutter merkte erst, daß er ihr entflohen war, als er schon seit einem Monat in seiner eigenen Wohnung klassische Musik spielte oder Wirtschaftsberichte über Südamerika studierte. Er hatte ihr eingeredet, die Wohnung sei zu klein für zwei Menschen mit so verschiedenen Neigungen, und sie könne nettere Parties geben, wenn seine Bude als Bridgezimmer bereitstände. Er wollte ihr dann das Zimmer neu einrichten und ihr den modernsten Fernsehapparat kaufen, damit sie ungestört ihre Schlagersänger genießen konnte.
Als Mrs. Basset eines Abends vom Bridge in ihre leere Wohnung kam, mußte sie sich auf die Couch legen, weil ihr Herz Tänze aufführte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie hatte einen kleinen Nervenzusammenbruch – und das in dem neuen, eleganten Bridgezimmer! Als sie einen starken Whisky getrunken hatte, rief sie Richard an. Er wurde aus ihren Reden nicht schlau und kaufte ihr ohne Murren ein Abonnement bei einem berühmten Psychiater. Das war wirklich liebevoll, da er selbst keine Zeit zum Trösten hatte. Bei dem Nervenarzt konnte seine Mutter nach Herzenslust reden, weinen und sich über ihren Sohn beklagen. Und was noch besser war: der Nervenarzt mußte sie anhören. Dafür wurde er bezahlt. Basset betrachtete diese Ausgabe als eine Anlage für die Zukunft. Falls es ihm gelang, sich von New York abzusetzen, würde seine Mutter noch mehr zu klagen haben. Der Modearzt würde sie lächelnd auf den Pfad des Ödipus geleiten, und Richards Flucht aus dem Nest würde schließlich eine neurotische Liebeserklärung sein: nur junge Männer, die zu sehr an ihrer Mutter hingen, emanzipierten sich in dieser Form. In stillen Stunden beruhigte Basset sein unleugbares Schuldgefühl mit der Überlegung, daß seine Mutter sehr viel Geld brauche und daß er es nur verdienen könne, wenn er keine Kopfschmerzen hätte. Er bekam sie regelmäßig, wenn man auf ihn einredete.
Wenn Mrs. Basset die Glückwünsche ihrer Freundinnen für das Bridgezimmer entgegennahm, sagte sie: «Der Raum ist natürlich sehr willkommen. Aber ich vermisse Rich. Eine Mutter ist eben eine Mutter!» Selbst ihr Sohn konnte diesem Gemeinplatz nichts entgegenhalten. Um so weniger, als er sich in Sicherheit gebracht hatte.
Er besuchte Mrs. Basset nun zweimal im Monat, weil er ihr diese Sonntagsbesuche schuldig war. Nicht weil eine Mutter eine Mutter ist, sondern weil Mrs. Basset ihm zu seiner Karriere verholfen hatte. Nach dem Tod ihres Mannes, der den ganzen Feldzug gegen die Japaner im Fernen Osten gesund überstanden hatte, um dann ruhmlos, resigniert und vom Geldverdienen ermüdet in seinem Bett zu sterben, fand sie, daß Richard in der Welt weiterkommen müsse. Bis jetzt hatte er Nationalökonomie studiert und Musik getrieben.
Mrs. Basset vergaß nie, daß sie eine geborene Clissold war. Wenn die Situation es erforderte, grub sie hartnäckig nützliche Verwandte aus dem Schutt der Vergangenheit aus. Ihre Ausgrabungen waren so bemerkenswert wie die Arbeit der Archäologen im alten Pompeji und genauso mühevoll. Wo lag der Schatz vergraben? Welcher Clissold war der Richtige? Natürlich waren alle erfolgreichen Leute nahe Verwandte, und die Pechvögel oder Schmarotzer waren entfernte. Zuerst wagte sie nicht recht, den «Öl-Clissold» als nahen Verwandten zu reklamieren. Sie zerriß sechs Briefe, schickte aber den siebenten ab. Mr. Clissold hatte nie etwas von der Existenz dieser Verwandten gehört, aber ihr Brief kam in einem günstigen Augenblick an. Er brauchte gerade einen neuen Mann. Eine einzige Unterhaltung mit Richard Basset genügte. Obwohl dieser angebliche Verwandte aus einer Seitenlinie wenig sprach und mit seiner Brille und dem dünnen blonden Haar wie ein weltfremder Gelehrter aussah, erkannte Mr. Clissold seine Fähigkeiten nach einer knappen Viertelstunde. Er besaß die Menschenkenntnis, die alle Leute auf leitenden Posten haben müssen. Dieser junge Mann tat bescheidener, als er war. Er entwickelte ziemlich bald eine ausgesprochene Nase für das international verzweigte Ölgeschäft. In Konferenzen war er äußerst zurückhaltend, aber wenn er das Wort ergriff, hatte er etwas zu sagen. Selbst Mr. Clissold war beeindruckt. Natürlich behielt er seine Meinung für sich, denn in großen Konzernen kostet jede schmeichelhafte Äußerung zusätzliche Dollars. Basset erklomm rasch die Stufe der zukünftigen Manager – rascher als die meisten und auch gründlicher. Denn er widmete sich den Launen des Ölmarktes wie andere junge Männer den Launen ihrer Geliebten.
Kurz vor seiner Übersiedlung nach Venezuela bewahrte er seine Firma vor einem enormen Verlust. Man plante, sich mit einer Ölfirma in Aruba zu liieren. «Wie kamen Sie darauf, daß irgend etwas mit der Gesellschaft nicht koscher war?» fragte Mr. Clissold jovial.
«Ich weiß es nicht», sagte Basset bescheiden. «Die Sache kam mir eben komisch vor. Wenn es sich um die Royal Dutch Shell gehandelt hätte …»
Mr. Clissold lachte laut, und Basset erlaubte sich ein dünnes Lächeln. Er akzeptierte eine private Havanna-Zigarre mit Monogramm-Bauchbinde und rauchte sie so heroisch, wie er seiner Mutter lauschte. Er war Nichtraucher. Tatsächlich zog die fragliche Ölgesellschaft in den holländischen Antillen bald wie ein müder Schwan ihre Flügel ein, und Mr. Clissold erhielt viele Komplimente aus dem Olymp der Geldgeber. Basset war richtig. Mr. Clissold hatte es sofort erkannt. Da Basset sich nichts aus Komplimenten machte, war er mit einer Gehaltserhöhung und noch größerer Verantwortung mehr als zufrieden. Drei Monate später war seine Versetzung nach Südamerika perfekt, und er kaufte seiner Mutter eine Nerzstola.
Mrs. Basset war glücklich, obwohl Nerz heutzutage ein altmodisches Statussymbol ist und ein kleiner Bohrturm – sagen wir im See von Maracaibo – dem Zeitgeist besser entspricht. «Du bist ein guter Sohn, Rich», murmelte sie und streichelte die Stola. Basset hatte tief in die Tasche gegriffen. Einmal war seine Mutter eine große, breitschultrige Frau und brauchte mehr Nerz als eine kleine, schmale Mutter, und dann wollte Basset sich dieses Mal nach Venezuela loskaufen. Er haßte es, wenn seine Mutter ihn Rich statt Richard nannte, aber er beherrschte sich. Mrs. Basset nahm die Nachricht von Richards Versetzung in ein unbekanntes Land mit der Stola um ihre Schultern ziemlich gefaßt entgegen. Ihr Mann hatte ihr trotz jahrelanger Mahnungen keinen halben Meter Nerz geschenkt. Erst später, kurz vor Richards Flugreise nach Caracas, dämmerte es ihr, daß er seine Schuldgefühle mit solchen Geschenken abtrug. Das tun die meisten Menschen, wenn sie finanziell dazu in der Lage sind, aber für Mrs. Basset war es neu und erschreckend. Es war die einzige Erfahrung, die sie für sich behielt. Nicht einmal ihr Beichtonkel, auf dessen mit grünem Samt bespannter Couch sie wie auf einer gepolsterten Wiese lag, erfuhr davon. Die letzten Tage vergingen schnell, und Richard tat sein Bestes. Er wohnte um alter Zeiten willen im Bridgezimmer und sagte, es sei kein Abschied für ewig. Einige Jahre …
Auf dem Flugplatz versprach er seiner Mutter den besten Teil eines venezolanischen Krokodils in Form einer Handtasche.
«Ich will keine Geschenke», sagte Mrs. Basset laut und trostlos. «Ich will dich! Kannst du das nicht begreifen, Rich?» Ihr volles Gesicht war rot und erinnerte an einen polierten Apfel. Ihre runden blauen Augen füllten sich mit Tränen. In diesem Augenblick wurde Bassets Flug angekündigt, und er konnte sich – höheren Gewalten folgend – wieder einmal mit Anstand aus dem Staube machen.
Arme, arme Mrs. Basset! Richard hatte sie nur zu gut verstanden. Sie schluchzte im Taxi, bis sie bei ihrem Psychiater angelangt war. Nach der Sitzung fuhr sie zu Freunden, die um die Ecke wohnten. Sie machte immer feste Programme für jeden Tag. Wenn sie die Zeit nicht totschlug, dann würde die Zeit sie totschlagen. Richards Besuche fehlten ihr. Sie hatte damit wenigstens zwei Sonntage im Monat untergebracht. Ihr Unglück war, daß sie bei aller geselligen Ablenkung zuviel Zeit zum Nachdenken über Rich hatte. Sie fand heraus, daß viele Familien nur deshalb relativ harmonisch zusammen leben, weil die beständige Nähe das Urteil trübt. Sie war besiegt, genarrt, verlassen. Allerdings mit einem Nerz um die Schultern! Sie trug ihn bei jeder Gelegenheit, weil es neuerdings überall zog.
Bassets Firma begrüßte es, daß er als Junggeselle nach Südamerika ging. Frauen hatten an allem etwas auszusetzen. Für sie war es «da unten» zu lustig oder zu regnerisch oder zu ölig; zu monoton oder zu unruhig. Zu viele Indianer oder Neger oder Mischlinge! Basset waren alle Lebensbedingungen und alle Hautfarben recht.
Eines Tages erfuhr Mrs. Basset zu ihrem Erstaunen, daß Rich sich verlobt hatte. Sie war erleichtert, wenn auch verstimmt, weil sie die Braut nicht ausgesucht hatte. Sie hatte sich öfters im geheimen gefragt, ob ihr Sohn nicht etwa queer[*] sei. Sie wußte nicht, daß Basset gelegentlich seine hübsche Sekretärin zum Abendessen mit allem Drum und Dran ausführte. Es geschah so regelmäßig wie die Sonntagsbesuche bei seiner Mutter. Mit gewohntem Takt hatte er der jungen Dame schon beim ersten Dinner seine Absichten angedeutet. Heiraten kam nicht in Frage. Selbstverständlich glaubte sie ihm nicht. Sie würde ihn schon kapern. Basset las ihre Gedanken und lächelte sie an. Niemals verstieg er sich zu den leichtsinnigen Versprechungen der Schürzenjäger. Er verachtete diese Leute – nicht wegen der Schürzen, sondern wegen ihrer Dummheit. Denn eines Tages hielt man diese Narren fest.
Basset hatte keinenGrund gesehen, seine Mutter über seine sexuelle Routine zu informieren. Mrs. Basset war auch viel zu puritanisch für solche Enthüllungen. Im Privatleben waren die jungen Männer jetzt viel nüchterner und zynischer als zu ihrer Zeit, wo man möglichst jung einen verliebten Ehemann erwerben mußte, ihm Kinder schenkte und dann einen immer höheren Lebensstandard verlangte. Mit dem Unsinn im Schlafzimmer hatte Mrs. Basset ziemlich früh Schluß gemacht, ganz abgesehen von moralischen Bedenken hatte sie nie das Bedürfnis nach einem Liebhaber verspürt. Basset sen. in seiner besten Zeit war ihr schon zuviel gewesen. Entweder verstand sie keine Männer, weil sie sich nicht für sie interessierte – oder sie interessierte sich nicht für sie, weil sie sie nicht verstand. Auf jeden Fall war Rich jetzt verlobt.
Mr. Clissold war erstaunt und sogar ein wenig neugierig. Dieser Basset war eben immer eine Sphinx mit Hornbrille und Tonbandgerät gewesen. Er bat ihn in einem netten Privatbrief um Einzelheiten, denn seine jungen Leute lägen ihm am Herzen. Basset hatte es nicht gewußt und las Mr. Clissolds Brief mit mildem Erstaunen. Er hatte nicht die Absicht, die Firma über sein Privatleben zu informieren. Er verstand es ausgezeichnet, Regierungsvertreter zu behandeln, und schickte sachkundige und nützliche Berichte über das ganze Erdölgebiet Lateinamerikas und die sich ständig wandelnde Wirtschaftslage. Wie ein Diplomat bereiste er die Gegend, aber er wußte und hörte bedeutend mehr. Wenn er Öl roch, war Südamerika krasse Realität und kein romantischer Farbfilm. Aber die Romantik hatte ihn in seiner Freizeit am Kragen gepackt. Da seine Verlobung zu seiner Freizeit gehörte, bedankte er sich sehr höflich für das freundliche Interesse seines New Yorker Chefs und verriet ihm nur, daß seine Braut eine Venezolanerin war.
In seinen jüngeren Jahren war Mr. Clissold auch einige Male in Südamerika gewesen. Er runzelte leicht die Stirn, als er Bassets Brief noch einmal überflog. Es gab natürlich bezaubernde Mädchen von La Guaira bis ins Bergland. Sie waren besonders erfreulich anzusehen, aber das bedeutete noch nicht, daß Bassets Braut die richtige Erwerbung für die Ölgesellschaft war. Wenn die Firma Glück hatte, war sie eine Weiße und stammte von Spaniern ab. Aber es gab in Venezuela auch eine Menge Indianerinnen, Negerinnen und die Mestizinnen, die von Weißen und Indianern abstammen. Dann fielen Mr. Clissold auch noch die Mulattinnen ein. Sie waren in der ersten Jugend wahrhaftig nicht übel. Er hatte sich als junger Dachs auch nur im letzten Moment in Puerto Cabello erinnert, daß seine bezaubernde Freundin schwarz-weiß war. Basset konnte sich auch mit einem Zambo-Girl verlobt haben – das war eine Mischung von Indianern und Negern. Was wußte man über ihn? Er schien also doch ein Innenleben zu haben. Sehr peinlich. Kurz entschlossen fragte der Chef Bassets Mutter nach Einzelheiten über die Braut. Aber sie konnte ihm nur mitteilen, daß ihre Schwiegertochter in Venezuela geboren war. Was sie Mr. Clissold sonst noch mitteilen wollte, erstickte er im Keime.
Zum erstenmal war der Chef verstimmt über seinen lieben Basset. Er sah ihn bereits vergnügt und gesellschaftlich gesunken im Kreis zahlreicher Mischlingskinder, umflattert von einer fülligen, lächerlich ergebenen Ehefrau. Dann zuckte er die Achseln. Basset sollte heiraten, wen er wollte.
Mr. Street hatte verschiedentlich berichtet, daß Basset sich in taktvoller Form von der «Yanqui-Familie» in Venezuela fernhielt. Er zeigte sich zu Weihnachten, zum Nationalfeiertag und natürlich bei Empfängen für einen wichtigen Ölmann, auf denen die Yanquis mit Vertretern und Magnaten Venezuelas tranken und diskutierten. Hierbei entfaltete Basset sein Talent, einen gelegentlichen Platzregen abzuwenden, bevor der erste Tropfen fiel. Danach verschwand er wieder in der Versenkung. Manchmal fragten sich seine Landsleute, was er an seinen Abenden trieb, da er niemals den Club besuchte und kein Sportfest mit seiner Gegenwart beehrte. Natürlich, er hatte sich verlobt. Er war entschuldigt.
Mr. Street schrieb ferner an Mr. Clissold, er habe Basset recht gern, soweit man ihn recht gern haben könne. Übrigens habe ein prominenter Kollege gerade eine dunkelhäutige Dame geheiratet. Clissold überlegte, ob Basset vielleicht auch einen Überschuß an Farbe abbekommen hatte.
Basset war vorurteilsfrei und gewitzter als viele seiner Kollegen. Er hatte sofort gewittert, daß bei den traditionellen Blutmischungen in Lateinamerika die Hautfarbe sozial eine sehr kleine Rolle spielte. Wer Prestige oder Millionen – oder am besten beides – besaß, der war so weiß wie der Schnee auf den Bergen der Anden. Andererseits, wer nur eine blasse Haut und sonst nichts hatte, der konnte einpacken.
«Ob Richards Braut eine Farbige ist?» fragte Mrs. Bassets beste Freundin, die sie mit rotgeweinten Augen im Badezimmer vorfand. Die Freundin hatte lange gezögert, bis sie die Schicksalsfrage wagte. Mrs. Basset kühlte sich immer noch die Augen, weil ihr etwas hineingeflogen war, und erwiderte mit ungewohnter Schärfe, daß Rich wisse, was er seiner Mutter schuldig sei. Aber es klang nicht mehr so überzeugt wie früher. Er hatte es nie gewußt. Am selben Abend schrieb sie, daß sie natürlich zur Hochzeit nach Caracas kommen werde, obwohl ihr Herz ihr neuerdings zu schaffen mache und Dr. Muir den Kopf schüttle. Basset nahm diesen Beweis unerschrockener Mutterliebe stirnrunzelnd zur Kenntnis. Der Brief war ihm nach Maracaibo nachgeschickt worden, wo er im Augenblick die Situation studierte. Er trank seinen Fruchtpunsch im Schwimmbad des Hotels «De Lago», das in angemessener Entfernung von den reichsten Ölfeldern der Welt erbaut worden war. Das «De Lago» war ein karibischer Traum, von dem die spanischen Eroberer auf der Suche nach dem Dorado nichts geahnt hatten. Sie sahen nur die Pfahlbauten der Indianer und hatten sich auf gelbes statt auf schwarzes Gold konzentriert. Außerdem suchten sie Perlen, Sklaven und Ruhm und arbeiteten für die Verbreitung ihres Glaubens. Da war Basset anders. Er hatte kein Interesse an Perlen, Sklaven oder Ruhm und wollte die Bevölkerung nicht zum Protestantismus bekehren. Dies würde ihm nicht einmal bei seiner Braut gelingen. Er hatte gar nicht erst den Versuch unternommen, denn er wußte immer im voraus, wo Niederlagen drohten.
Basset empfing keine neuen Eindrücke von Maracaibo. Er hätte aber gern das legendäre Fischerdorf gesehen, bevor der Ölrausch nach 1916 die Ausländer dorthin gelockt hatte: Abenteurer aus Mexiko und den USA, Geschäftsleute, Freudenmädchen, Trauermädchen, Ingenieure, Eisschränke und Diplomaten. Basset liebte Idyllen. Das einzige Idyll in Maracaibo war das Schwimmbad des «De Lago» mit Unterwasserbeleuchtung. Die Tropenblumen und Ampeln erfüllten die Dämmerung mit zusätzlichem träumerischen Glanz. Auch die jungen Damen, die schwammen, kicherten und in die illuminierte Tiefe sprangen, waren höchst romantisch. Sie hatten immer Zeit, einem alleinsitzenden Señor kokette Blicke zuzuwerfen, ohne hinterher mit der Heirat zu drohen. Auf jeden Fall sprühten sie vor Lebenslust. Ihre Füße und ihre Gefühle hatten sich noch lange nicht ausgetanzt.
Basset hatte bei der Wahl einer Ehefrau längere Zeit gezögert. Er stand zwischen kühlen spanischen Lilien und heißem dunklem Mohn. Aber nun hatte er sich entschieden.
Am selben Abend schrieb er seiner Mutter, daß ihre Herzbeschwerden ihm nicht gefielen und daß er Dr. Muir mit gleicher Post bitte, ihr den anstrengenden Ausflug nach Caracas zu verbieten. Basset spielte immer mit offenen Karten. Außerdem schrieb er, daß das Hochzeitsdatum noch nicht festgesetzt sei. So eilig habe man es hierzulande nicht. Mrs. Basset fand die letzte Bemerkung für einen verliebten Bräutigam ziemlich merkwürdig, bis sie sich erinnerte, daß Rich der Bräutigam war. Sie suchte nervös nach einigen Zeilen der unbekannten Schwiegertochter und sah noch einmal im Umschlag nach, ob sich ein Zettel dort verkrochen habe. Ihr Herz sank. Nachts weinte sie ohne Rücksicht auf ihre Antifaltencreme. Rich hatte heimlich den Rand ihrer kleinen Welt übersprungen. Sie würde ihn niemals wiedersehen. Ihr Herz begann tatsächlich wild zu klopfen – wie sie es in sadistischem Übermut in ihrem letzten Brief behauptet hatte. Rich war zu schlau für sie. Er hatte ihr Herzklopfen sofort als Grund für eine Absage verwendet. Mrs. Basset hätte sich prügeln können. Aber natürlich würde sie nach Caracas fliegen. Sie würde ihre Schwiegertochter in die Arme schließen, ob es Rich gefiel oder nicht. Was sollte sie bei der Trauung tragen? Ein Brokatkleid oder ein Kostüm? Sie hatte vergessen zu fragen, ob die Braut (Nachname unbekannt) weiß und protestantisch sei. Mitten in der Nacht setzte sie sich erregt an ihren Schreibtisch und fragte. Rich schwieg sich darüber aus. Mrs. Basset erschrak über ihre plötzliche Unsicherheit. Sollte sie nach Caracas fliegen, obwohl ihr Sohn sie offensichtlich nicht dort haben wollte? Sämtliche Freunde rieten ihr von einem Überraschungsbesuch ab. Es könnte ihr Tod sein, meinte die beste Freundin fürsorglich. Mrs. Basset erwiderte gereizt, irgend etwas werde auf jeden Fall ihr Tod sein. Warum nicht ein Familienfest in Caracas? Indessen schickte Richard die Krokodiltasche. Sie war kostbar und sehr schwer. Mrs. Basset betrachtete sie sinnend und legte sie dann hinten in den Schrank. Sie bedankte sich mit ungewohnter Kürze und bat Richard, ihr nichts mehr zu schicken. Die Zeit der Nerze und der Scherze war vorbei.
Sie fuhr nicht nach Caracas. Ihre beste Freundin war der festen Ansicht, daß die Hochzeit bereits stattgefunden haben müsse. Richard schrieb zweimal monatlich, wie er sie zweimal monatlich besucht hatte. Er tat sein Bestes, aber sein Bestes war nun nicht mehr gut genug für Mrs. Basset. Sie war selbst ganz erschrocken darüber. Hatte sie sich so verändert? Sie hatte sich natürlich nicht verändert, sie war nur müder und etwas scharfsichtiger geworden.
Basset war erstaunt über die knappen, kühlen Mitteilungen seiner Mutter. Daß sie, die endlose Ansprüche an seine Kasse gestellt hatte, keine Geschenke mehr von ihm wollte, war doch etwas beängstigend. Er fragte prompt an, ob sie krank sei. Mrs. Basset antwortete, sie sei nicht kränker als gewöhnlich. Sie fragte nun nicht mehr nach der Braut oder nach dem Hochzeitsdatum, und Basset war erleichtert. Inéz hatte seiner Mutter nicht geschrieben, da sie kein Englisch konnte. Basset sprach bereits fließend Spanisch. Er vermutete, daß seine Mutter sich eine Indianerin oder Negerin als Schwiegertochter ausmalte und annahm, Rich wage deswegen nicht, die beiden Damen miteinander bekannt zu machen. Genau das vermutete auch Mrs. Basset.
Richard verstand seine Mutter nicht mehr. Sie war zwar immer anspruchsvoll, aber niemals schwierig gewesen. Er gab ihr, was er ihr immer gegeben hatte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Übrigens verschwieg er ihr nicht aus Hinterlist das Hochzeitsdatum. Er wußte es selber nicht. Er erwähnte Inéz aus einem anderen Grund nicht mehr in seinen Briefen. Er konnte seiner Mutter unmöglich mitteilen, daß er nicht wußte, wo seine Braut sich aufhielt.
Basset stand mit einem älteren Kollegen aus Aruba auf dem Maiquetia-Flugplatz: zwei Yanquis am Rande der Karibischen See. Dieser Flughafen war der Stolz von Venezuela. Basset wies jeden Besucher milde darauf hin. Er stand lang, dünn und lächelnd mit seinem Landsmann in der riesigen Halle. Sie war so gläsern und hygienisch, daß die Opfer eines Flugunglücks hier ihre Genesung hätten abwarten können. Wenigstens äußerte Basset sich so, und der Mann aus Florida lächelte. Basset entwickelte schwarzen Humor. Merkwürdig für einen glücklichen Bräutigam. Aber niemand hätte vermutet, daß er in Maiquetia vor Ungeduld zitterte. Er wirkte, als ob er sehr viel Zeit und keine einzige Sorge hätte. Natürlich wußten alle, daß Basset sich in eine Südamerikanerin verliebt hatte, im Augenblick, da jedermann erwartete, er werde sich mit Miss Pilgrim, seiner Privatsekretärin in Caracas, verloben. Es war wirklich nicht seine Schuld, daß Miss Pilgrim dieses Gerücht mehrere Monate lang verbreitet hatte. Basset heiratete doch nicht seine Sekretärin!
Bis jetzt hatte kein Amerikaner die Braut zu Gesicht bekommen. Sie mußte zu schön oder zu farbig sein, dachte der Kollege aus Aruba. Oder beides zusammen. Basset interessierte sich nicht für Nachteulen. Miss Pilgrim war auf ihre Art auch nicht zu verachten. Man hatte die beiden vor Bassets Verlobung in allen eleganten Restaurants zusammen gesehen. Was Miss Pilgrim verbreitete, wäre ihm auch gleichgültig gewesen. Die Lüge frißt meistens den, der sie verbreitet. Schon aus diesem Grund sagte Basset stets die Wahrheit, wenn es sich irgendwie mit gesundem Menschenverstand vereinen ließ.
«Wann dürfen wir Sie in den holländischen Antillen begrüßen, lieber Basset? Ich hoffe, recht bald! Ihre Pläne interessieren uns.» Der Manager in Aruba räusperte sich. «Wir freuen uns schon alle auf Ihre junge Frau. Wann wird denn geheiratet?»
«Sehr bald», sagte Basset.
«Sie werden Ihre Frau doch hoffentlich mitbringen?»
«Selbstverständlich. Man heiratet ja, um zusammen zu sein, nicht wahr?»
«Natürlich!» sagte der Kollege.
«Ich hoffe, daß der Vater meiner Braut mit einer so langen Trennung einverstanden sein wird. Ich werde mindestens ein Jahr in Aruba bleiben. Ich hoffe, daß Inéz so lange Urlaub bekommt.» Basset zwinkerte vergnügt. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß er nicht wußte, wo sie war.
«Ist auch eine Schwiegermutter vorhanden?» fragte der ältere Mann. «Also ich hab keine Angst um Sie, Basset. Sie sind ja im Nebenberuf Drachentöter. Man traut es Ihnen auf den ersten Blick gar nicht so zu. Ich spreche natürlich von den Leuten in unserer Firma.»
«Gewiß», sagte Basset. «Übrigens ist meine Schwiegermutter seit vielen Jahren tot.»
«Sie machen auch alles richtig, Mann.»
«Ich versuche mein Bestes», sagte Basset bescheiden. Er hüstelte. Ihm war, als mache sein Herz mehr Lärm als die Lautsprecher des Flughafens, die ununterbrochen Ankünfte und Abflüge ankündigten. New York, Miami, Florida, Trinidad, San Christobal.
«Florida», sagte der ältere Amerikaner. «Ich möchte gern mitfliegen und meine Tochter und die Kleinen wiedersehen. Urlaub ist aber erst in zwei Jahren drin.»
«Ich möchte auch meine Mutter wiedersehen», sagte Basset mit gewohntem Takt. «Ich werde eines Tages einen langen Urlaub machen. Mit einigen Wochen gibt meine alte Dame sich nicht zufrieden.»
«Sind Sie der einzige?»
«Leider, ich meine, ich hätte gern Geschwister gehabt.»
«Wir waren acht zu Haus», sagte der Ältere mit Stolz. Basset konnte sich nichts Schrecklicheres vorstellen und sagte, daß er es wunderbar finde. Vielleicht war es in der Erinnerung wirklich sehr nett.
Eine kleine Pause entstand, und Basset hatte das Gefühl, sein Vorgesetzter überlege, wie er eine bestimmte Frage formulieren solle. Hatte er Gerüchte gehört? Schließlich sagte der Mann aus Aruba vorsichtig: «Ich hörte vom Kollegen Miller in Maracaibo, daß Sie New York für immer den Rücken kehren wollen. Wollen Sie sich tatsächlich wegen Ihrer Braut im karibischen Raum ansiedeln?»
«Miller weiß es natürlich besser als ich», sagte Basset so nachsichtig, daß der andere laut lachte.
«Wer bleibt ewig in Südamerika?» fragte Basset noch nachsichtiger.
«Mr. Street! Seine Frau liebt dieses Land und will hierbleiben.»
«Reizende Frau», sagte Basset unbefangen. «So friedfertig und lacht über die bescheidensten Scherze.» Wenn er daran zurückdachte, wie schwer man seine Mutter in gute Laune brachte! Antonia Street war in jeder Lage glücklich und zufrieden. Inéz war schwieriger. Aber sie war Inéz. Er liebte Venezuela, weil sie ein Teil davon war. Ein Teil des grünen Rätsels, des Meeres, des karibischen Mondes. Selbst ihr Schatten leuchtete, um ihn zu quälen. Basset hatte nicht die Absicht, auf die Dauer ein verzaubertes Insekt zu sein. Nach der Hochzeit würde alles in Ordnung kommen. Inéz würde eines Tages mit ihrem Vater wieder in Caracas auftauchen, und dann würde er selbst den Tag der Hochzeit festsetzen, ob es dem alten Señor gefiel oder nicht. Inéz liebte ihn. Aber sie war erst neunzehn Jahre, im Kloster erzogen und gehorchte ihrem Vater. Basset hatte niemals eine Familie erlebt, die so zusammenklebte.
Er fuhr mit gerunzelter Stirn auf der Autopista nach Caracas zurück. Ob er sich nur einbildete, daß Inéz so außergewöhnlich war? Wurde er dafür gestraft, daß er zum erstenmal Sehnsucht nach einem Mädchen hatte? Es hatte ihn gepackt, und er konnte sich dieses Erlebnis so wenig erklären wie jeder andere Mann, den die Liebe eines Tages aus dem Hinterhalt überfällt. Wahrscheinlich würde der Psychiater seiner Mutter eine Erklärung für diesen Zustand parat haben. Dieser Bursche konnte alles erklären – dafür wurde er bezahlt. Basset fragte sich, ob er immer zu vorsichtig gewesen sei. Er hatte sich stets gegen jeden Gefühlseinbruch abgeschirmt. Sein Verstand hatte den Gegenstand seiner Zuneigung so witzig entwertet, daß eine Illusionsbildung nicht stattfinden konnte. Jetzt umschwirrten ihn wesensfremde Illusionen, wie die ekelhaften Zamuros[*] auf südamerikanischen Landstraßen einen toten Esel umkreisen. Basset fand es nicht besonders erheiternd, daß er in diesem Fall der Esel war.
Die Autopista – ein weiteres Prunkstück des modernen Venezuela – dehnte sich vor seinen ermüdeten Augen. Er bekam wieder seine Kopfschmerzen, und diesmal ohne Assistenz seiner Mutter. Er wußte nicht, warum er in seiner augenblicklichen Verfassung so oft an Mrs. Basset denken mußte. Oder er wollte es nicht wissen. Auf jeden Fall war er auf dem Weg nach Caracas und wollte in der Villa «Maria Juana» anfragen, ob Inéz zurückgekehrt sei. Er empfand diese wöchentliche Nachfrage mit Recht als Demütigung. Sein Ahnungsvermögen täuschte ihn nie, ob es sich nun um Öl oder um Gefühle handelte.
Er fuhr durch den ersten Tunnel, der wie ein riesiges weißgekacheltes Badezimmer die Bergseite der Stadt Caracas durchbohrt. Diese Stadt war bis zum Exzeß extrovertiert. Sie glänzte von Stahl, Glas, Kacheln und Geld und präsentierte sich freimütig in der glühenden Sonne. Nur in der Villa «Maria Juana» herrschte Halbdunkel, Tradition und extreme spanische Reserve. Niemand konnte Richard Basset naive Offenherzigkeit vorwerfen; aber er war nun einmal von daheim gewohnt, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Hätte er sich zur Kritik hinreißen lassen, dann hätte er sich nicht mehr verhehlen können, daß er die Familie seiner Braut haßte. Deswegen trug er in der Villa «Maria Juana» stets wohlwollende Harmlosigkeit zur Schau. Sollte der alte Señor ihn ruhig für einen Einfaltspinsel halten! In dieser Verkleidung hatte Basset den Grundstein zu seinem beruflichen Aufstieg gelegt.
Inéz! Wie die jungen, empfindlichen Kakaopflanzen unter den Immortellenbäumen, so lebte sie im Schatten ihres Vaters und ihrer Tante auf den Berghängen von Caracas in einer hochmütigen weißen Villa, der die tropischen Schlingpflanzen trügerischen Traumcharakter verliehen. Leuchtende Blüten um das Portal und an den Mauern der Villa verbargen vor dem unbefangenen Besucher die strenge, archaische Atmosphäre, die Don Alonso de Luna und die Gräfin Molina im Innern des Hauses geschaffen hatten. Hatten die beiden erwartet, daß der americano, der Inéz stehlen wollte, ihnen nach Yanqui-Art auf die Schultern klopfen würde? Für Don Alonso, den Nachkommen einer alten spanischen Erobererfamilie, waren Nordamerika und seine Söhne eine Abstraktion. Allerdings bis auf die sehr reale Tatsache der Ölkonzessionen. Basset aber war der letzte, der jemandem auf die Schulter klopfte, und Don Alonso war sichtlich erstaunt gewesen.
Richard zweifelte keinen Augenblick daran, daß Don Alonso seine Tochter zwar – sagen wir: kurz vor seinem Tode – verheiraten wollte, aber zu aller Zeit einen Südamerikaner spanischen Ursprungs vorgezogen hätte. Das nahm er ihm nicht übel. Mrs. Basset hatte auch ständig versucht, eine New Yorker Schwiegertochter zu bekommen. Aber Inéz wollte ihn vor Monaten durchaus heiraten. Wie stand es heute damit? Zum Beispiel heute morgen?
Er fuhr langsam bergauf. Je höher er mit seinem Wagen kletterte, desto mehr sank seine Stimmung. Er hätte gern geflucht, aber bei Bassets in New York fluchte man nicht. Man rauchte auch nicht, weil Mrs. Basset davon schwindlig wurde, und man liebte nicht. «Rich» war ohne den leisesten Rausch aufgewachsen.
Sein großer Wagen war keine Sensation in einer Stadt wie Caracas, die schon die Einkünfte der Zukunft verzehrt. Hier glaubte man noch fanatischer an Statussymbole als in den USA. In der alten spanisch-indianischen Atmosphäre gewann ein neues Automodell dieselbe Bedeutung wie die Autopista oder das Hochhauszentrum von Caracas. Die Wunder der Technik nahmen in Venezuela mystischen Charakter an – wie die Freiheitskämpfe und das von Weihrauch verhüllte Kreuz. Gelegentlich fuhr jeder südamerikanische Ölmagnat in seinem neuen Chrysler oder Mercedes auf seinen privaten Kalvarienberg. Hatte Don Alonso die junge Inéz dorthin verschleppt? Basset rief sich zur Ordnung. Das hätte noch gefehlt, daß er den Mystiker ohne das Kreuz spielte! Er würde seiner neuen Familie nicht erlauben, einen perfekten Narren aus ihm zu machen.
Basset reinigte seine von Staub und Schweiß beschlagenen Brillengläser und fuhr weiter in die Stadt hinein, wo Altes und Neues ungereimt und ruhmsüchtig durcheinanderstand. Die Autobahn hatte das Herz von Caracas zerschnitten. Aber das störte niemanden, weil das Herzblut dieses Landes ölhaltig ist. Wohin Basset blickte, wuchsen Hochhäuser und Freiheitsstatuen in den Himmel. Geschäftspaläste, Büros aus Glück und Glas, extravagante Wohnblocks, in denen man zu Märchenpreisen auf die Stadt und die Hütten der Armen blickte. Diese Stadt schien ständig inmitten einer Inflation der Werte zu leben. Architektonischer Höhenrausch und kosmopolitischer Ehrgeiz verbunden mit leidenschaftlichem Nationalgefühl schufen in Caracas das Leitbild der Zukunft: die Stadt der Giganten! Vision, Albdruck und soziologischer Magnet! Der Strom der Landbewohner floß wie ein trübes, richtungsloses Wasser in diese Stadt und überschwemmte die dunklen Ecken und kargen Hügel mit häßlicher und schamloser Not. Aber die ran chitos[*] mit ihrem Gestank und ihrem Gesang wurden abgerissen, und aus den freien Söhnen der Llanos und der Wälder wurden Fabrikarbeiter – Anbeter und Opfer der neuen Industrien, der mechanisierten Gehirne, der Superstadt Caracas. Basset versuchte manchmal, mit seinem Schwiegervater über diese Entwicklung zu sprechen, aber Don Alonso spielte in solchen Fällen den Patriarchen, dessen Arbeiter auf seiner Küsten-Hazienda alles hatten, was sie brauchten. Seinem lateinischen Geist waren die neuen Formen des Wirtschaftslebens, die unpersönlichen Organisationen, deren Exponent Richard Basset war, fremd und schienen ihm fatal. Er wurzelte noch tief im Familiensystem und hatte überall Verwandte, die seine Interessen vertraten: in einer Zementfabrik, in einer venezolanischen Ölgesellschaft, in der Regierung und in der Villa «Maria Juana». Basset, der New Yorker, war in doppeltem Sinne ein Eindringling in dieser traditionellen Welt, die vor Don Alonsos Augen langsam zerbröckelte.
Basset hatte schnell gespürt, daß Don Alonso ihn ablehnte, und es war ihm am Anfang gleichgültig gewesen. Er war in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Familienbeziehungen im allgemeinen nichts als Erinnerungen und Belastungen bedeuten. Nicht ein einziges Mal hatte sein eigener Vater seine Wünsche so unmißverständlich geäußert, wie Don Alonso es jeden Tag tat. Vielleicht hatte Basset sen. gewußt, daß seine Wünsche kaum beachtet werden würden. Richard dachte neuerdings oft über seine Familie nach, und es tat ihm nicht gut.
Er hatte jetzt das hochmoderne Zentrum der Stadt erreicht, das im krassen Gegensatz zu den Hütten auf den Hügeln stand. Basset besuchte niemals die Behausungen der Armen – das taten die Missionare, die Priester oder Fotografen und Maler. Und doch wäre es gut gewesen, wenn Basset sich die ranchitos näher angesehen hätte. In einer dieser Hütten aus Holz und Wellblech, wo Mann und Tier zusammen hausen, lebte sein unbekannter Widersacher und fütterte in diesem Augenblick seine Hühner.
Das «Zentrum Simon Bolivar» – das Rockefeller-Zentrum dieser imposanten, aber ungereimten Stadt der spanischen Eroberer und internationalen Geschäftemacher der sechziger Jahre – gehörte ganz der Gegenwart. Hier hatte Basset seine Braut zum erstenmal gesehen. Wenn er an Inéz dachte, sah er sie als Marmorbild zwischen den beiden Wolkenkratzertürmen des Zentrums stehen: groß, ernst und in ihre Gedanken versunken. Basset war niemals einer so ernst blickenden und weltabgewandten Schönheit begegnet. Er konnte seinen Blick hinter der dunklen Sonnenbrille nicht von diesem jungen Mädchen abwenden. Er, der sich sonst nicht für die Gedanken und Gefühle Unbekannter interessierte, verspürte den Wunsch, diese Unbekannte verstehen zu lernen. Er wußte, daß es lächerlich war, aber der Wunsch ließ sich nicht unterdrücken. Und was wußte er heute – nach vielen Monaten – von Inéz de Luna? In nüchternen Augenblicken fragte er sich, warum hinter dieser hohen, reinen Stirn tiefere Gedanken wohnen sollten als hinter der von Ärgerfalten durchfurchten Stirn seiner Mutter. Aber der brütende Ernst auf dem schönen spanischen Gesicht war echt, davon war er überzeugt.
Basset vermied es damals und jetzt, diesen ersten, bestürzenden Eindruck zu formulieren, damit er nicht noch größere Macht über ihn gewinne. Er war kein romantischer Narr, und seine vielverzweigte Arbeit verlangte einen klaren Kopf. Manchmal wußte er nicht, ob er Inéz lieben oder hassen sollte. Sie hatte sich vor seinen Augen von einer glühenden Jungfrau in eine konventionelle Braut verwandelt. Die Aura der Unschuld und des Ernstes war weiter um sie, aber Basset hatte in letzter Zeit den Eindruck, als ziehe Inéz sich auch innerlich von ihm zurück. Hatte Don Alonso sie überzeugt, daß Basset nicht der Richtige für sie war? Er fühlte manchmal, daß er sein Talent, den Rückzug im passenden Augenblick anzutreten, langsam verlor. Es erschreckte ihn. Hatte er vergessen, daß ein klares nein siebzig Klagen abwendet? Dieses Mal würde er der Leidtragende sein. Eine neue Rolle! Er durchlebte das Drama des schwankenden Willens, das er immer verachtet hatte, zum Beispiel bei Miss Pilgrim. Aber er nannte dieses Drama in seinem eigenen Fall: «Meine alten Kopfschmerzen.»
Basset parkte im Zentrum, obwohl er keine Einkäufe beabsichtigte. Er wollte sich nur wieder einmal vergegenwärtigen, wie Inéz unbewegt und kühl inmitten dieser farbenreichen, futuristischen Architektur gestanden hatte. Auch damals war sie plötzlich verschwunden, aber Basset war ihr unauffällig in die unterirdische Ladenstraße des Zentrums gefolgt. Zum erstenmal war er einem Mädchen nachgelaufen. Wo war sie? Sie hatte sich aufgelöst wie Schnee unter glühender Sonne. Sein Herz klopfte wie in seinen Schülerjahren, wenn er eine Knabensünde begangen hatte. Wo war die Unbekannte? Er mußte sie wiedersehen, aber er war ein Fischer ohne Netz.
Endlich fand er sie in der modernen Unterwelt zwischen Modeläden, Juwelier-Auslagen, Tropenblumen und Buchhandlungen. Er starrte sie an – ein Orpheus aus New York ohne ein einziges Lied! Eurydike schenkte schließlich der Welt Beachtung: sie betrachtete ein goldenes Armband und wies ihre Begleiterin daraufhin. Basset hielt die Gräfin Molina damals für eine Zufallsbegleitung. Woher sollte er wissen, daß ihre Tante sich wie ein Schatten an die Fersen seiner Braut heftete? Die Gräfin sprach lebhaft auf Inéz ein, aber das Mädchen schüttelte den Kopf. Dann verschwanden beide, ohne den Laden betreten zu haben, auf der Treppe, die zu der Oberfläche der Erde zurückführte. Inéz hatte nicht gewagt, ein Schmuckstück ohne die Erlaubnis ihres Vaters zu kaufen. Sie erzählte es später Basset. Er war sprachlos. Dieses Mädchen lebte im Mittelalter! Basset war so sehr gewohnt, die Rechnungen seiner Mutter klaglos zu bezahlen, daß er laut über Inéz lachte. Sie betrachtete ihn verwundert. In der Villa «Maria Juana» geschah nichts ohne Don Alonsos Erlaubnis. Warum hatte er dieser Verbindung zugestimmt, wo Basset doch so offensichtlich ein Eindringling im lateinischen Familienkreis war? Es gab einen Grund, aber davon konnte Basset bei all seinem Spürsinn nichts ahnen.
Basset war damals Inéz und der Gräfin nachgelaufen, verfolgt von dem Geschrei der Lotterielosverkäufer und Zeitungsjungen. Er fuhr ihnen bis zur Villa «Maria Juana» nach. Er mußte wissen, wo dieses Mädchen lebte. Es war nicht schwer zu erfahren, wer Don Alonso de Luna war. Sein Name wurde oft in den Zeitungen genannt. Don Alonso war mit venezolanischem Öl so eng verbunden wie Bassets Firma.
Die Industrie schafft heutzutage Cliquen wie der Kommunismus. International, getrennt und doch verbunden, gesellschaftlich intim – und privat durch Traditionen, Sprache und Temperament geschieden. Nicht lange nach dem Erlebnis im Zentrum traf Basset bei einem Regierungsempfang den Vater seiner Eurydike. Don Alonso stand in absichtlichunabsichtlicher Entfernung von der Menge. Aber es gelang Basset, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Als er schon vieles über die Familie de Luna wußte, blieb es ihm weiter verborgen, daß Don Alonso dieses Gespräch gewünscht und herbeigeführt hatte. Man konnte sich nicht mit ihm unterhalten, wenn er es nicht wollte.
Don Alonso war sehr liebenswürdig gewesen und lud schließlich diesen «Yanqui», der eine bedeutende Firma vertrat, zum Abendessen in die Villa «Maria Juana» ein. Basset traf dort Mitglieder der Regierung, Journalisten, einen geistlichen Herrn und Mitglieder der Universität von Caracas. Die Gräfin Molina verschwand sofort nach dem Essen. Inéz hatte sich nicht gezeigt. Nach einigen Wochen bekam er eine Einladung zu einem Familienessen, bei dem Inéz wiederum fehlte. Basset bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen, und es gelang ihm selbstverständlich wie alles, worum er sich bemühte. Don Alonso war geistvoll, belesen, intrigant und so spanisch, als ob er gerade aus Andalusien im neuen Kontinent eingetroffen wäre. Basset wußte nun, daß ein spanischer Weltmann die Welt als Spanier betrachtet und verachtet. Nach einem halben Jahr traf er endlich die Tochter des Hauses. Sie war die ganze Zeit bei Verwandten in Puerto Rico gewesen. Richard lernte diese Verwandten niemals kennen, und Inéz erwähnte sie nicht wieder. Er hatte fast den Eindruck, daß diese de Lunas in Puerto Rico gar nicht existierten.
Bis Bassets Braut zu Ricardo überging, hatte sie ihn halb ernsthaft, halb spöttisch mit americano angeredet. Ihm war alles recht, wenn sie nur mit ihm sprach und ihn anlächelte. Ricardo! Es klang weich trotz des harten «R» und war fremde Musik. Seine anfängliche Bitte, ihn mit seinem Namen «Richard» anzureden, hatte Inéz überhört. Diese schrecklichen Zischlaute! Spanisch war rein, klar, klangvoll! Basset war in der Auffassung aufgewachsen, daß der American Way of Life der einzig erstrebenswerte sei.
Die USA hatten nach dem Zweiten Weltkrieg alles: Geld, Nahrung, blendende Techniker, Universitäten, deren Glanz durch Gelehrte europäischer Herkunft noch erhöht wurde, und einen Vorrat ausgezeichneter Ratschläge und Anweisungen für die unterentwickelten Völker, primitive Industriestaaten und sonstige Hungerleider und Staatsbürger aus Niemandsland. Sie verteilten Gelder, Nahrungsmittel, Belehrung und auch echtes Mitgefühl und wurden von den Empfängern mit Undank und Abneigung belohnt. Nun war die Lage in Venezuela anders, da dieses Land das Öl hatte – aber auch in Caracas gab es kaum einen americano, der sich seinen südamerikanischen Brüdern nicht insgeheim überlegen fühlte. Soweit es um greifbare und praktische Werte ging, war dieses Gefühl durchaus nicht unberechtigt. Aber Basset erlebte nun in der Villa «Maria Juana», daß spanische Lebensart, der katholische Glaube und südamerikanische Vitalität bedeutend höher im Kurs standen. Ideale und Ideen – besonders was die Fusion der verschiedenen Rassen in dem riesigen Kontinent anbetraf – waren so grundverschieden wie Don Alonso und sein «Yanqui»-Schwiegersohn, dessen Intelligenz und persönliche Würde der spanische Magnat widerstrebend anerkannte. Jede Unterhaltung wurde wie über einen Abgrund geführt, und Basset war es langsam müde, sich von seinem Schwiegervater vorwerfen zu lassen, die angelsächsischen Völker wollten andere Rassen beherrschen. Basset wollte niemanden beherrschen. Er wollte Inéz heiraten und Don Alonso nie wiedersehen. Es war unerhört, daß sie ihm nicht einmal eine Ansichtskarte von der Reise geschickt hatte. Fürchtete Don Alonso, daß er ihnen nachreisen würde? Basset wußte, wo er unwillkommen war.
Er wußte auch, daß die Gräfin über die Reiseroute orientiert war. Sie hatte ihm erklärt, daß Don Alonso es liebe, plötzlich zu verschwinden – ähnlich wie Basset sich in New York still und leise abgesetzt hatte –, und daß ihr Bruder und Inéz in kleinen Dörfern in den Bergen herumreisten, von wo die Post wochenlang brauche, um die Hauptstadt zu erreichen. Falls es ein Postamt gab! Basset hatte die Information ohne Kommentar entgegengenommen. Wie er nicht ahnte, daß Don Alonso vor einigen Monaten seine Bekanntschaft gesucht hatte, so ahnte er jetzt nichts von der Veränderung der Pläne seines Schwiegervaters. Eins stand für Basset fest: Inéz war nicht befragt worden. Sie hatte ihren Vater seit dem Tod der Mutter auf allen Fahrten begleitet, und Widerspruch wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. Wegen Basset? Der americano würde schon warten.
Bei diesem Gedanken schoß Basset das Blut ins Gesicht, und er hielt den Wagen an, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er mußte Schluß machen. Wie jeder, der diesen Vorsatz hegt, stellte er sich und Inéz eine Frist. Falls sie in vierzehn Tagen, nein, in vier Wochen – allerletzter Termin sechs Wochen – nichts von sich hätte hören lassen oder nach Caracas zurückkommen würde, hatte sie aufgehört, für ihn zu existieren. Er hatte über dreißig Jahre ohne sie gelebt und … und …
Basset hielt vor der Villa «Maria Juana». Aus dem Gebüsch leuchtete eine Marmorstatue griechischen Ursprungs. Ein verirrter Engel, eine fragwürdige Traumfigur – wie Inéz de Luna selbst. Aber beide waren der Massenproduktion entrückt. Sie hatten Magie. Sie lebten im Exil.
Rosa geleitete ihn stumm in den riesigen Empfangsraum, dessen Fenstertüren in den Patio führten. Er hätte sich gern in dem blumengeschmückten Hof auf einer schattigen Steinbank niedergelassen und sich erholt. Rosa stand vor ihm und betrachtete ihn neugierig. Sie war eine Mestizin, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, mit schwarzen Augen, in denen ein Funken Bosheit glitzerte. Sie hörte alles, was sie nicht hören sollte, und ihre Augen erinnerten Basset an wildgewordene Scheinwerfer. Nur ihre Zunge gehorchte ihr nicht: Rosa Lobato war stumm. Entweder hatte sie irgendwann die Sprache verloren, oder sie war so geboren. Aus ihrem Gesicht sprach die Resignation der Indianer und das erloschene Feuer eines spanischen Vaters. Sie war die Dienerin der Gräfin Molina und wahrscheinlich ihre Vertraute. Sie zitterte vor Don Alonso. Basset hatte es mehr als einmal beobachtet, obwohl der Herrscher sie mit patriarchischer Milde behandelte. Sie schien Inéz anzubeten, dumpf und demütig und resigniert. La niña – die Kleine – war schön wie der Morgen.
Selbst wenn Rosa Lobato hätte sprechen können, hätte sie niemandem verraten, daß sie Inéz de Luna haßte. Es war sehr, sehr gut, daß ihr die Zunge nicht davonlaufen konnte. Der Herr und Erlöser hatte sie festgebunden. So konnte Rosa in der schönen Villa leben und Mais und Früchte essen und Inéz so vorsichtig hassen, daß es wie Anbetung aussah. Rosa wurde niemals von etwas überrascht und war niemals traurig. Sie wußte zu genau, daß Hunger den Maiskuchen süßt und daß der Kopf für das zu zahlen hat, was die Zunge spricht.
Sie verbeugte sich vor Basset und huschte fort, um die Gräfin zu holen. Die Besuche des americano machten ihr heimlich Spaß. Er wollte endlich essen, und die Schüsseln wurden ihm vor der Nase fortgezogen! Jede Stunde fügte ihm eine Wunde zu, und an der letzten würde er krepieren.
Wie manche Leute Glück und Zufriedenheit verbreiten, so verbreitete die Gräfin Molina Unbehaglichkeit und Mißmut. Sie stand hoch aufgerichtet, hager und unbeweglich unter dem Riesenbildnis der verstorbenen Maria Juana. Die Mutter von Inéz mußte von feuriger und edler Schönheit gewesen sein, denn ihre großen spanischen Augen blickten düster und doch unheimlich sprechend aus dem mageren Gesicht, das halb von einer glänzenden Haarflut bedeckt war. Sie wirkte auf Basset wie Tag und Nacht in einer Person. Don Alonso sollte sie sehr geliebt haben. Basset war es unbegreiflich, daß dieser Despot überhaupt jemanden lieben konnte, aber Mrs. Basset hatte sich auch nicht vorstellen können, daß Rich von der Liebe gepackt wurde. Keiner bringt es fertig, die eigenen Verwandten in einem erhöhten oder erniedrigten Zustand zu sehen.
Nein – Don Alonso habe noch nicht geschrieben, wann er wieder in Caracas sein werde! Basset schwieg. Er blickte die Spanierin, die ihr geliebtes Andalusien wegen der mutterlosen Inéz verlassen hatte, aufmerksam an. Sie sah noch gelber und leidender aus als sonst. Ihr verschlossenes, langes Gesicht hatte tiefe Höhlungen und Schatten, als ob ein lebenslänglicher Schmerz seine Fingerabdrücke hinterlassen hätte. Sie hatte die irritierende Gewohnheit, beim Sprechen mit den Gelenken zu knacken. Warum ölt sie sie nicht? dachte Basset gereizt. Er fühlte sich sehr müde und beherrschte seinen Widerwillen. Die Haut der Gräfin hatte die Kräuselkrankheit wie gewisse Pflanzen, die welk werden und sich zusammenfalten. Er wußte nie, worüber er mit dieser Frau reden sollte. Sie war ein Spiegel, der nur Bilder aus Granada zurückwarf. Einmal hatte sie sich zu der Äußerung verstiegen, ihre Zigeuner daheim seien ihr lieber als die Fremden in Venezuela. Don Alonso erklärte sofort, seine Schwester spreche von den Indianern. Aber das konnte kaum der Fall gewesen sein, denn hinter den Kulissen, im Patio, war die Gräfin mit Rosa Lobato ein Herz und eine Seele. Basset hatte die beiden einmal überrascht: Rosa kniete vor der Herrin des Hauses, führte mit den Händen eine indianische Pantomime auf, und die Gräfin lachte – es hatte geklungen, als ob ein Glas auf dem mit maurischen Mosaiken ausgelegten Patioboden zersplitterte. Zweifellos amüsierten sie Rosas Späße.
«Die Llanos-Gebiete sind groß und einsam», bemerkte die Gräfin, während sie Basset aus den Augenwinkeln beobachtete. Diese Feststellung war so sensationell wie die Information, daß Wasser flüssig ist. Basset dachte plötzlich daran, daß er seinen Urlaub dort hatte verleben wollen. Damals, als er noch ein freier Mann gewesen war. Noch vierzehn Tage, schwor er sich.
Plötzlich zerriß ein gellender Schrei die brütende Stille des Empfangsraumes, in den das Licht nur durch die Spalten der grünen Jalousien fiel. Basset hatte die irrsinnige Vorstellung, daß es Inéz sein müsse, die da schrie. Aber er besann sich noch zur rechten Zeit, daß er nicht in einem Hollywood-Film mitspielte. Ein zweiter Schrei ließ ihn nervös zusammenzucken.
«Wer schreit da?» fragte er schroff.
«Ich habe nichts gehört», sagte die Gräfin steinern. «Aber wahrscheinlich prügelt Rosa sich mit der Waschfrau.»
Basset stand auf. In diesem Raum versanken die Jetztzeit und die Ölfelder. Ein früheres Jahrhundert machte sich hier geltend. Vor dem Gemälde der Toten brannte am hellichten Tag eine Kerze. Schwere geschnitzte Möbel standen als Mahnmale der spanischen Heimat an den Wänden. Basset hatte diesen Raum nur bei Don Alonsos Cocktailparties hell erleuchtet gesehen. Seidene Kissen mit modernen Mustern hatten die schweren Möbel gefällig verwandelt, und das Bild der Ehefrau war von einem Seidenvorhang verhüllt gewesen. Die Familie lebte in diesem tropischen Land im Patio, auf den Veranden und im Garten unter dem Schattenbaum und den Sonnenzelten.
Basset fuhr in die Stadt zurück. Er war jetzt ganz ruhig. Es war sein letzter Besuch in der Villa «Maria Juana» gewesen. Falls Inéz sich noch an ihn erinnern sollte – sie wußte seine Hotel-Adresse in Caracas und Maracaibo. Er hegte keinen Groll gegen die Gräfin Molina. Sie war ein Möbelstück aus einer anderen Zivilisation: alt, hochmütig und so wenig anpassungsfähig wie seine eigene Mutter. Obwohl Mrs. Basset eine geborene New Yorkerin war, stand sie genauso beziehungslos im Strom einer neuen Zeit, in der die Menschen den Mond bereisten und neue Techniken des Fortschritts und der Massenvernichtung erfanden. Vielleicht war die ältere Generation anachronistisch ihrem Wesen nach, ganz gleich, wo sie lebte. Basset wußte es nicht und hatte keine Lust, darüber nachzudenken. Er dachte sowieso zuviel an seine Mutter und alles, was er ihr kühl lächelnd angetan hatte. Dabei hatte sie nichts weiter verbrochen, als ihn zu herrschsüchtig zu lieben. Und nun sehnte er sich nach Inéz mit der Leidenschaft des Empfindungslosen, der plötzlich fühlt, was er bei anderen belächelt hat. Wer sich in einem Teich schlafen legt, wacht als ein Duzbruder der Frösche auf. Er lächelte grimmig.
Die Villa «Maria Juana» lächelte steinern zurück. Ein bezauberndes Heim im spanischen Kolonialstil, mit einem leuchtenden Ziegeldach und kostbaren schmiedeeisernen Gittern vor den Fenstern und Türen. San Bernadino war ein eleganter Vorort. Zuerst hatte Basset die spanische mit modernem Komfort verbundene Architektur aufrichtig bewundert.
Er fuhr nicht sofort ins Hotel «Avila» zurück, sondern zunächst in sein Büro. Vielleicht lag Post auf seinem Schreibtisch.
Nur Miss Pilgrim saß noch an ihrem Pult mit der Schreibmaschine und den verwelkten Orchideen in einem Mundspülglas. Basset hatte ihr einmal eine Vase geschenkt, da Orchideen in einem Wasserglas ihm mißfielen. Aber Miss Pilgrim hatte entweder die Vase zerbrochen, oder das Mundspülglas gefiel ihr besser. Dabei war sie bei ihrem Antritt in Caracas ein sorgfältig dressiertes Exemplar der Bostoner Gesellschaft gewesen. Jetzt hatte sie ihr braunes Haar blond gefärbt, trug eine Wagenladung Schmuck um Hals und Handgelenke wie eine Indianerin und schminkte sich wie eine Hure. Egal!
«Irgend jemand angerufen?» fragte Basset.
«Niemand.» Miss Pilgrim warf ihm einen Blick zu und lächelte mysteriös wie eine Circe, die Badeseife anpreist.
«Mich brauchen Sie nicht so anzulächeln», sagte Basset gereizt. «Sparen Sie sich diese Künste für Ihren Freund auf, mein Kind!»
«Was geht Sie mein Freund an, Doktor Basset?»
«Nichts, Miss Pilgrim. Aber, sagen Sie mal, was ist mit Ihnen los?»
«Nichts», sagte Miss Pilgrim.
«Ich meine, Sie waren doch ein nettes, saubergewaschenes Mädchen, als Sie hier anrückten. Caracas bekommt Ihnen nicht, Miss Pilgrim. Gehen Sie nach Haus zu Mama und Papa. Ich möchte wissen, was Ihre Eltern zu dieser Aufmachung sagen würden. Am hellichten Tag! Wen wollen Sie eigentlich in diesem Büro verführen?»,
«Darf ich fragen, was mein Make-up Sie angeht?»
«Nichts, so lange Sie Ihre Arbeit zufriedenstellend ausführen. Sie vergessen alles. Sie wissen nicht, ob Sie auf dem Kopf oder auf Ihren Füßen stehen. Dies ist ein Büro, Miss Pilgrim! Sie scheinen zu denken, daß die Firma hier einen Nightclub aufgemacht hat.»