Elfenbein aus Peking - Alice Ekert-Rotholz - E-Book

Elfenbein aus Peking E-Book

Alice Ekert-Rotholz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von ungewöhnlichen und faszinierenden Schicksalen zwischen Peking und Bangkok, Westindien und Südamerika erzählt Alice M. Ekert-Rotholz, Autorin vieler erfolgreicher Romane, in den sechs kriminalistisch-exotischen Geschichten dieses Bandes. Doppelbödig wie die kostbare alte Elfenbeindose ist die Beziehung der verschlossenen chinesischen Ärztin Dr. Wong zu ihrem englischen Kollegen, der der Faszination des Fernen Ostens ebenso erlegen ist wie der Hamburger Kaufmann in Bangkok, der die Heimreise allzu lange aufgeschoben hat. Burma wird zur letzten und entscheidenden Station für den jungen britischen Leutnant, auf dem eine schwere Schuld lastet. In Trinidad erlebt ein Londoner Dozent ein sonderbar zwiespältiges und bedrückendes Wiedersehen mit seiner chinesischen Geliebten, die ihn einst die zärtliche «Rede der Nacht» lehrte. Spitzzüngig und melancholisch erzählt die Besitzerin eines eleganten chinesischen Restaurants, in deren Adern das Blut chinesischer, schwarzer und spanischer Vorfahren fließt, von ihrer Begegnung mit einem Amerikaner in der tropischen Schwüle Maracaibos. – Ein schillerndes Panorama fremder und exotischer Welten, in denen gegensätzliche Menschen und Kulturen aufeinanderprallen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 294

Veröffentlichungsjahr: 2018

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Alice Ekert-Rotholz

Elfenbein aus Peking

Sechs Geschichten

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Von ungewöhnlichen und faszinierenden Schicksalen zwischen Peking und Bangkok, Westindien und Südamerika erzählt Alice M. Ekert-Rotholz, Autorin vieler erfolgreicher Romane, in den sechs kriminalistisch-exotischen Geschichten dieses Bandes. Doppelbödig wie die kostbare alte Elfenbeindose ist die Beziehung der verschlossenen chinesischen Ärztin Dr. Wong zu ihrem englischen Kollegen, der der Faszination des Fernen Ostens ebenso erlegen ist wie der Hamburger Kaufmann in Bangkok, der die Heimreise allzu lange aufgeschoben hat. Burma wird zur letzten und entscheidenden Station für den jungen britischen Leutnant, auf dem eine schwere Schuld lastet. In Trinidad erlebt ein Londoner Dozent ein sonderbar zwiespältiges und bedrückendes Wiedersehen mit seiner chinesischen Geliebten, die ihn einst die zärtliche «Rede der Nacht» lehrte. Spitzzüngig und melancholisch erzählt die Besitzerin eines eleganten chinesischen Restaurants, in deren Adern das Blut chinesischer, schwarzer und spanischer Vorfahren fließt, von ihrer Begegnung mit einem Amerikaner in der tropischen Schwüle Maracaibos. – Ein schillerndes Panorama fremder und exotischer Welten, in denen gegensätzliche Menschen und Kulturen aufeinanderprallen.

Über Alice Ekert-Rotholz

Alice Ekert-Rotholz, am 5. September 1900 in Hamburg als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, lebte von 1939 bis 1952 in Bangkok. Nach Hamburg zurückgekehrt, war sie journalistisch für Funk und Presse tätig. 1954 erschien ihr erster Roman «Reis aus Silberschalen», der sie schnell bekannt machte. Zahlreiche weitere folgten. 1959 siedelte Alice Ekert-Rotholz zu ihrem ersten Sohn nach London über. Dort starb sie am 17. Juni 1995.

Inhaltsübersicht

Für meinen MannAlle Gestalten dieser ...Elfenbein aus PekingSodomsäpfel und HanseatenIIIIIIIVVVIDie Rede der NachtIIIIIIIVVVIEiswasserDie Verbrechen der HilflosenIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXCarmen ChangIIIIIIIVV

Für meinen Mann

Alle Gestalten dieser Geschichten sind frei erfunden. Sie sind nicht das Abbild irgendwelcher heute oder früher lebenden Personen.

Elfenbein aus Peking

«… The heart-breaking beauty will remain when there is no heart to break for it.»

Robinson Jeffers

Dr. Robertson ist ein reizender Mensch, aber er weiß alles besser. Das ist ziemlich ärgerlich, wenn es sich um Elfenbein handelt, denn davon verstehe auch ich zufällig eine Kleinigkeit. – In den vielen Jahren, in denen ich vor dem Zweiten Weltkrieg in den Altwarenläden zwischen Peking und Shanghai herumstöberte, hätte ich mir einen Ehemann angeln oder doppelte Buchführung lernen sollen. Jetzt ist es für beides zu spät. Auch zum Herumschlendern ist es heute zu spät. Dr. Robertson und ich waren erstklassige Kunsthyänen und machten durch Zufall bemerkenswerte Entdeckungen. Heute überläßt Peking nichts und niemanden dem Zufall. Es gibt für uns ausländische Besucher organisierte Besichtigungen von Fabriken, Schulen und Arbeiterwohnungen, und die alten unkontrollierten Peking-Gespräche, die mit Kochrezepten begannen und mit chinesischer Mystik endeten, sind auch nicht mehr auf der Tagesordnung. Natürlich gibt es immer noch die berühmten Peking-Enten, die innen mit heißem Wasser gefüllt werden und dann über dem offenen Feuer goldbraun braten. Es gibt auch noch buddhistische Tempeltore und «Berggipfel in Wolken». Diese drei chinesischen Spezialitäten sind eben nicht abzuschaffen. Aber statt des «Alten mit der Krücke» in Elfenbein oder eines gemalten Rollbildes, die dem chinesischen Alltag Glanz gaben, sah ich heute in den kahlen, hygienisch einwandfreien Büros nur Maos Bildnis an der Wand; und statt des verschmitzten alten Herrn mit der Krücke warnte auf einem zweiten Plakat ein junger, finster blickender Polizist vor leichtsinnigem Fahren in der Volksrepublik. Dagegen ist nichts zusagen. Aber ich ließ mich lieber in der schlechten alten Zeit von einem Kunsthändler mit oder ohne Krücke beschummeln, als daß mir ein Taxifahrer mit neuem puritanischen Hochmut das Trinkgeld zurückgibt … Vielleicht bin ich wirklich ziemlich dekadent und moralisch verkommen, und der frischgebackene Tugendheld am Steuer hat Recht! Wahrscheinlich sogar. Und Dr. Robertson gefiele auch noch heute ein parfümiertes seidenknisterndes Freuderidämchen in Shanghai besser als die tiefgekühlte Parteigenossin, die bei ihm vor einigen Jahren Maos «Gedankenreform» loswerden wollte. Vielleicht sind wir beide unverbesserlich. Wir lesen immer noch lieber Li Pos Gedichte als die Bilanzen einer Stahlfabrik in der Mandschurei. Nur eines hat sich nicht geändert: Ein Arbeiterführer der Volksrepublik weiß genausowenig über die Außenwelt wie ein Weiser der klassischen Periode und hält wie jener China für den Mittelpunkt des Universums. Das tröstet mich immer ein wenig über die Tatsache hinweg, daß Peking sich ohne Rücksicht auf seine westlichen Anbeter von einem ästhetischen Universum in ein politisches verwandelt hat.

Vielleicht sind wir immer beleidigt, wenn eine Atmosphäre sich in ihr Gegenteil verwandelt. Natürlich freuen Dr. Robertson und ich uns aufrichtig, daß niemand in der Volksrepublik hungert und daß die Analphabeten weniger werden. Aber warum geschieht das alles in höchster Lautstärke? Wo blieb Pekings träumerische Stille in den alten Gärten und Höfen? Jetzt vermitteln Lautsprecher auf allen öffentlichen Plätzen und in den Büros und Wohnungen die Ansprachen und Mitteilungen der Volkstribunen. Auch in den Elfenbeinläden war es still und angenehm. Die Statuetten schwiegen, und Onkel Lin, mein Lieblingshändler, servierte lächelnd den grünen Tee. Er erwartete nicht, daß man etwas kaufte. Er war ganz zufrieden, wenn man sich sechsmal den «Gott des Reichtums» betrachtete und beim siebenten Male einen Brieföffner kaufte. Wieviel grünen Tee tranken wir alle in Pekings Elfenbeingasse! Wie tanzte manchmal der Preis von einer irrationalen Höhe bis zur Wahrscheinlichkeit herunter! Onkel Lin kannte die Börse seiner Kunden besser als diese selbst. Und wenn er mir manchmal ein bestimmtes Objekt zuschob, weil er wußte, daß ich das «Mondkaninchen» haben mußte, dann drehte er ohne Gewissensbisse einem durchreisenden Nichtkenner einen drittklassigen «Bettelmönch» zu einem fabelhaften Preis an. In solchen Fällen murmelte er mit verschmitztem Lächeln. «Von Nanking bis Peking sind die Verkäufer klüger als die Käufer.» Auch Dr. Robertson erinnert sich noch an diese einfache Weisheit.

Wenn ich von Onkel Lin erhielt, was ich monatelang mit den Augen verschlungen hatte, klopfte mein Herz vor Sammlerglück, und er wußte und erwartete das. Er fand, daß Güte niemandem ein Bein brach. Ich weiß noch heute, daß ich zitterte, als ich endlich meinen Elfenbeinfischer mit dem großen hauchzart geschnitzten Netz in einem seidenen Tuch davontrug.

Die geduldige Kunst der Schnitzerei verflüchtigt sich immer mehr ins Reich der Legende. Dr. Robertson sagte wenigstens etwas Ähnliches, und ich nickte dreimal mit dem Kopf wie ein Mandarin. Er hatte viel länger als ich die bezaubernde Schlamperei und den Kunstverstand des alten Peking erlebt. Er kannte die Chinesenstadt und die Tartarenstadt wie seine Tasche. Er hatte noch viele sanfte, seidenglänzende Frauen gekannt und die schlauen lustigen Bettler. Und er besaß eine Elfenbeinsammlung, von der man zwischen Peking und London sprach. Da konnte ich nicht mit. Aber ich besaß auch eine einzigartige historische Elfenbeindose, um die mich Kenner gelegentlich beneideten. Ich hatte sie vor einiger Zeit in Singapore aufgestöbert. Sie trug mir Schulden und Freuden ein. Aber so soll es sein. Man vergißt die Schulden, und die Freuden bleiben.

Ich hatte Dr. Robertson viele Jahre nicht gesehen und machte es mir in seinem schönen Londoner Heim bequem. Ich hatte ihn auf einer Auktion kennengelernt, wo er mich so lange überboten hatte, bis er plötzlich Mitleid mit mir bekam und mir eine kleine Elfenbeinstatue eines Wasserverkäufers überließ. Danach waren wir Freunde geworden. Heute war er in seinen zweitbesten Jahren und begann in seinen Erinnerungen zu leben.

Nun saß ich ihm endlich einmal wieder gegenüber – eine schäbig gekleidete Romanfabrikantin, die sich kürzlich auf Touristenvisum in Maos China umgesehen hatte. Schließlich zeigte ich meinem Freunde Robertson die Elfenbeindose aus Singapore. Wahrscheinlich wissen nur die «Acht Unsterblichen», wie dieses gute Stück aus Peking dorthin gekommen war. Ich zeigte Robertson meinen Schatz mit falscher Bescheidenheit. Nichts ist lächerlicher als den Pfau unter Sammlern zu spielen, die die beinahe ausverkauften Schätze des Fernen Ostens genau kennen. Also zügelte ich meine Begeisterung. Onkel Lin hatte zwar immer gesagt, daß ohne Wind keine Bewegung in den Bäumen wäre, aber vor Dr. Robertson mußte man seine Gefühle verbergen. Glücklicherweise verursacht Elfenbein einen kühlen Rausch. Wir hatten ausgezeichnet gegessen, und der Augenblick war richtig. Meine antike Dose war flach, mattglänzend und so glatt wie die verschollene chinesische Höflichkeit. Sie regte die Einbildungskraft an – wie alle Kunstwerke dieses Landes. Übrigens schloß der Deckel der Dose so schlecht wie alle chinesischen Deckel. Mit solchen pedantischen Nebensächlichkeiten gaben sich die alten Elfenbeinschnitzer nicht ab. Vielleicht bleibt die reine Schönheit die Erzfeindin der Technik, die im heutigen Peking erstaunliche Fortschritte macht. Die Massenfabrikation wird großgeschrieben, und drei Glas Reiswein und charmante Bestechungsversuche richten nichts mehr bei den Kommissaren aus. Sie gehen nicht mehr ins Wasser, um den Schaum zu fangen, und glauben auch nicht mehr an Kuan-yin, die Göttin der Barmherzigkeit … Ich glaube natürlich immer noch an diese urchinesische Göttin. Auf dem Deckel meiner Elfenbeindose schwebt die «Weißgekleidete» auf einer Wolke von Lotusblüten, ob es den jetzigen Mandarinen gefällt oder nicht. In ihrer Rechten trägt die Göttin die Vase mit dem heilkräftigen Himmelstau; ihre Linke hält einen Weidenzweig, der so schwebend geschnitzt ist, daß er die Illusion des Windes vermittelt. Wie die Chinesen es fertigbrachten, das Unsichtbare mitzuschnitzen, bleibt ihr Geheimnis – genau wie ihre verstaubten Geheimmedizinen und die neue Korrektheit. Die Elfenbeindose sollte einer Hofdame aus der Ming-Periode gehört haben. Sie hatte Selbstmord aus unglücklicher Liebe begangen. Zu diesem Zwecke hatte sie ein in dieser Dose aufbewahrtes Gift verschluckt. Ich hatte mich gewundert, wie jemand in einer so schlecht schließenden Dose überhaupt etwas aufbewahren konnte; aber wenn ich von unglücklichen chinesischen Hofdamen höre, bin ich einfach nicht zu halten. Sie schlürften den Frühlingswind wie Wein, den Sommerwind wie Tee; der Herbstwind blies silbernen Rauch in ihre altmodischen und bezaubernden Träume, und der Winterwind schmeckte ihnen wie Ingwer. Wahrscheinlich bin ich so wild auf diese unpraktischen, in Brokat verpackten Damen, weil sie mir mit ihrem Liebestod immer wieder klarmachen, was ich in meinem Leben versäumt habe. Ich habe tatsächlich nicht einen einzigen Mann getroffen, für den ich mich auch nur in den kleinen Finger geschnitten hätte. Und ich habe mehr Männer zwischen Osten und Westen getroffen als die vielen Frauen, die ihren kleinen Vorrat durch Filmstars, Boxer und Schlagersänger vermehren müssen.

Mein Freund Robertson betrachtete durch seine scharfe Lupe den Deckel der Elfenbeindose, die ich in meinem schäbigen Handkoffer wie eine Perle in Reisstroh vom Osten nach London geschleppt hatte. Das war gefahrlos gewesen, da mein Aussehen genau zu meinem Gepäck paßt. Dr. Robertson wußte wieder einmal alles besser.

«Eine reizende Arbeit. Aber leider nicht echt.»

«Da muß ich laut lachen», sagte ich wütend. «Mein lieber Freund – ich verstehe auch eine Kleinigkeit von Elfenbein!»

«Ich meine nicht das Elfenbein, sondern die Legende. Ihre Hofdame lebte in einer anderen Periode und bewahrte ihr Gift in einer anderen Dose auf. Es tut mir leid, liebes Kind, aber ich kenne zufällig die Geschichte. Sie beginnt recht heiter und endet unheimlich und dabei ziemlich ungereimt – wie jede bessere chinesische Liebesgeschichte. In der Liebe kannten die Chinesinnen niemals den Weg der goldenen Mitte, auch wenn sie es heute nicht zugeben werden. Diese Frauen erreichen als Mütter ihren Höhepunkt.»

«Woran liegt das?»

«Chinesinnen wissen nicht, aus welchem Holze sie den Pfeil schnitzen sollen, der das Herz eines Mannes trifft. Sie denken an ihre künftigen Söhne oder an den heute belächelten Liebestod, für den sie eine atavistische Schwäche haben. Sie haben stets ignoriert, daß ein einziger Stern viele Berge bescheint und daß es viele Männer auf der Welt gibt, für die zu leben es sich lohnen würde. Aber sie sterben lieber starrsinnig für einen einzigen, der es meistens nicht verdient.»

Dr. Robertson hatte mit ungewohnter Bitterkeit gesprochen. Ich blickte ihn erstaunt an. Er bemerkte meinen Blick und lachte kurz auf.

«Trinken Sie immer noch soviel Whisky ohne Soda, meine Liebe?» Er goß mir meine Mischung ein, ohne auf meine Antwort zu warten. Das ist so nett an der Freundschaft – es ändert sich nichts am Whisky! In der Liebe ändert sich alles in jedem Augenblick. – Und dann erzählte mein grauhaariger Freund mir eine von jenen hintergründigen Geschichten, die die Nachtseite der chinesischen Seele mit einer Blendlaterne erhellen. Diese fanatische Seele hüllt sich immer in das Gewand der kalten Vernunft – nicht nur in der Liebe! Daher sind auch die modernen chinesischen Bürokraten ein Rätsel für die westlichen Politiker, denn ihre Vernunft ist nicht die unsere und wird es niemals sein. –

Dr. Robertson hatte im Jahre 1926 eine Praxis in Peking aufgemacht.

«Und Ihre Braut?» unterbrach ich ihn.

«Meine Ehemalige blieb in England, und da ist sie auch heute noch. Ich besuchte sie übrigens vor drei Monaten in Manchester. Es war sehr nett. Wir sind beide davon überzeugt, daß wir das Richtige taten, als wir uns damals trennten. Muriel hatte als junges Mädchen eine Zuneigung zu mir und eine Abneigung gegen den Fernen Osten. Meine Familie dagegen konnte mich nicht leiden und liebte China. Es gibt solche Bräute, und da kann man nichts machen. Ich war tatsächlich sehr verliebt in Muriel, aber ich hütete mich, sie gegen ihre Neigung nach Peking zu schleppen. Wie recht ich hatte, sah ich später in meinem Wartezimmer in der Tartarenstadt. Dort hielten sich wie auf Verabredung alle unzufriedenen Frauen meiner Freunde auf. Ganz zu schweigen von den Mädchen, die mich heiraten wollten. Sie natürlich nicht! Sie gingen wohl noch in den Kindergarten. Aber ich meine, Sie hätten sich niemals in meinem Wartezimmer festgesetzt. Dazu sind Sie zu vernünftig! Ich hoffe, Sie freuen sich über dieses Kompliment?»

«Ich bin ganz verrückt vor Freude.» Ich trank meinen Whisky, als ob er nichts kostete. Aber er kostete mich ja tatsächlich nichts …

«Beim Abschied von Muriel war ich buchstäblich trostlos», sagte Dr. Robertson vergnügt. «Aber im Golf von Aden besserte sich meine Stimmung. Ich war eben jung … Außerdem war es sehr heiß im Golf, und die Sonne macht mich liebenswürdig. Ich lernte an Bord sehr bald einen Elfenbeinhändler aus Peking kennen, dessen bester Kunde ich später geworden bin. Der alte Herr gab mir das Elfenbeinfieber. Diese Krankheit hat mehr Leute im Osten ruiniert als die Singmädchen oder der Alkohol. Nun – über das Elfenbeinfieber wissen Sie ja Bescheid.»

Dr. Robertson warf mir durch seine Brillengläser einen sarkastischen Blick zu. Seine Freunde litten alle am Elfenbeinfieber. Daß ich ruiniert war, stimmte auch. Aber ich bewahre mir meinen Frohsinn, weil ich niemals in meinem Bankbuch lese.

«Wenn ich an jene Jahre zurückdenke», murmelte Dr. Robertson. «Sie müssen damals ein niedliches kleines Mädchen gewesen sein – wahrscheinlich kämmte Ihre Mutter Ihr Haar. Es tut mir leid, daß Sie diese Gewohnheit aufgegeben haben. Also Sie hüpften mit andern kleinen Idioten im Kreise herum, und ich beschnupperte das Elfenbein im alten Peking. Ich muß damals komplett verrückt gewesen sein. Ich liebe gutes Essen – aber ich speiste schlechter als mein Fußboden-Kuli, um mir den «Gott des Reichtums» zu kaufen. Eine sehr alte Arbeit – das Elfenbein war bräunliches Gold. Ich hatte Angstträume, daß der französische Attache mir die Gruppe der «Acht Unsterblichen» vor der Nase wegschnappen würde. Ich gab eine notwendige Erholungsreise für ein Medizinschränkchen aus Ebenholz auf. Dort in der Ecke! Springen die Figuren nicht ins Zimmer hinein? Tja – die Jugend! Nachdem ich dieses Schränkchen gekauft und mir ein Erschöpfungsfieber geholt hatte, fand ich selbst, daß meine verflossene Braut sich mit Recht Peking und meine Person aus der Ferne ansah. Manche Frauen ahnen eben unsere Leidenschaften, bevor wir Zeit und Gelegenheit haben, sie zu entwickeln … Die liebe Muriel heiratete zwei Jahre nach meinem Exodus ihren Fabrikanten, einen prachtvollen Burschen, der nur Banknoten und Töchter sammelte. Er hat Muriel als gut versorgte Witwe zurückgelassen. Im ganzen Hause befindet sich nicht ein einziger Kunstgegenstand!»

«Wollten Sie später nicht heiraten?» Ich betrachtete neugierig Dr. Robertsons feines kühles Gesicht.

«Nicht ernstlich! Warum sind Sie so erstaunt, mein Kind? Sie haben ja auch die Ehe vermieden. Übrigens hörte ich vor einigen Jahren, daß ein sehr schüchterner Schweizer in Singapore ganz wild auf eine Heirat mit Ihnen war, aber ich dachte mir gleich, daß Sie und dieses Alpenveilchen …»

«Sie wußten es wieder einmal besser», sagte ich prompt. «Mein Schweizer hatte keine Ahnung von Elfenbein. Aber das wäre in Ordnung gewesen. Ich verstand ja etwas davon. Aber er erzählte mir kurz vor der Heirat, daß seine Mutter am Vierwaldstättersee ein Wirtschaftsbuch führe und jedes Wochenende die Preise für Fleisch und Gemüse zusammenrechne. Da wollte ich nicht stören.»

«Sehr zartfühlend!»

«Außerdem hatte ich eine bessere Verwendung für mein Geld.»

«Sie meinen wohl für sein Geld?»

Ich lachte und betrachtete meine echte Elfenbeindose mit der falschen Legende.

«Ich kaufte mir im Jahre 1937 ein ähnliches Spielzeug», sagte Dr. Robertson leise. «Aber der Deckel meiner Dose zeigte die ‹Kuan-yin mit dem Fischkorb›, und meine Hofdame hatte sich in der Ching-Periode vergiftet. Auch ich hielt meine Erwerbung für eine einmalige Kuriosität. Darum lud ich mir einige Freunde zum Abendessen ein, um ihnen die Dose zu zeigen. Ich bat Fräulein Dr. Wong und Henry und Mary Carpenter – ein amerikanisches Ehepaar. Sie wurden später meine besten Freunde. In Marys Heim haben sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg alle Mauerblümchen der Vereinigten Staaten verlobt. Die Mütter hätten ihr ein Denkmal setzen sollen. Ich hatte den Verdacht, daß die meisten Ehekandidaten am liebsten Mary geheiratet hätten, und da das nicht ging, wählten sie das erste beste Mädchen in ihrer Nähe. – Henry Carpenter hatte als Junggeselle viele Jahre als Diplomat in Ostasien gelebt. Er war zu jener Zeit bei seiner Gesandtschaft in Peking tätig. Er war herzlich ohne Vertraulichkeit, scharfsinnig und umsichtig wie ein Schutzpatron. Er hat mir damals einen großen Freundschaftsdienst erwiesen, ohne jemals die Rechnung zu präsentieren. Im allgemeinen wimmelt ja die Welt von Leuten, die ihre guten Taten aus reiner Berechnung begehen. Ist es nicht spaßig? Meine Elfenbeindose gab Carpenter die Gelegenheit, Eigenschaften zu entfalten, die ich normalerweise niemals bei ihm vermutet hätte. Wer studiert schon die Tugenden seiner Mitmenschen?»

Dr. Robertson stellte sich ans Fenster und starrte in den Londoner Nebel. Er mußte in den grauen Luftschleiern Mary Carpenters Bild erblickt haben, denn er kehrte gutgelaunt zu mir zurück. Ich hatte die ganze Zeit geschwiegen; man darf Robertson nicht unterbrechen, selbst wenn er abschweift wie die alten Chinesen, von denen er wohl lernte, daß eine gute Geschichte drei Tage und drei Nächte dauert, weil möglichst sämtliche Vorfahren mit ihren Söhnen, Bankkonten und Nebenfrauen ins Netz des Geschehens eingefangen werden müssen. –

«Die junge Mary Carpenter betrachtete Peking mit Kinderaugen», sagte Robertson nachdenklich. «Alles war neu und interessant, auch das Uninteressante. Sie war ein Phänomen – eine Frau ohne Galle! Sie glaubte jedem aufs Wort – was in Ostasien stets zu erheiternden Situationen führt. Sie gab ihrem ‹Ersten Hausboy› Wagenladungen von Nahrungsmitteln für seinen kranken Vater, der schon fünfzehn Jahre im Grab lag. Der gute Boy verkaufte die Lebensmittel an Carpenters Koch, von dem Mary sie dann ahnungslos zurückkaufte. Weil sie die Wahrheit sprach, dachte sie, daß andere es ebenfalls täten … Sie war liebenswert und ziemlich ungeeignet als Diplomatenfrau. Sie betrachtete unser Pekinger Leben mit erstaunten, unersättlichen Kinderaugen. Sie war elegant und so naiv sensationshungrig wie viele Frauen des Westens, die nach einem korrekten Leben in Suburbia plötzlich in die Vorkriegswelt des Fernen Ostens geschleudert wurden. Mary war besonders gern mit Chinesen zusammen, weil sie dachte, sie hätten keine Vorurteile. Sie ahnte nicht, daß die Chinesen ihre Vorurteile sorgfältig verbergen. Bei ihr daheim war man nämlich stolz auf seine Vorurteile. Kurzum – Mary war bezaubernd. Sie richtete in Peking einen Nähzirkel ein, der sich einmal wöchentlich in einem leeren Tempel versammelte. Da saßen nun einige Amerikanerinnen mittlerer Jahre unter einem phantastischen Dach, bestickten Tellerdeckchen nicht halb so schön wie ihre chinesischen Waschfrauen oder deren Großmütter und schwatzten von daheim. Nur daß Mary mehr Unschuld und Temperament besaß als die anderen. Ein echter Peking-Skandal wirkte wie ein Elixier auf sie. Die Opfer des Klatsches – und wo gab es mehr gesellschaftliche Hinrichtungen als im alten, sorglosen Peking? – wurden regelmäßig Marys Schützlinge. Sie bekam mit der Zeit einen Raritätenladen geschändeter Halbweltdamen und superkluger Jungfrauen. Ihre Menschenliebe war so unbezähmbar wie ihre Sensationslust. Nur die Familie Wong blieb unerreichbar.»

Dr. Robertson hatte die Carpenters eingeladen, um sie mit Fräulein Dr. Wong bekannt zu machen. Diese chinesische Kinderärztin war etwas Besonderes; wer in Peking mitzählen wollte, mußt sie kennen. Jeder versuchte, sie einzuladen, aber die meisten gaben das Rennen nach einiger Zeit auf.

«War sie so schön?» fragte ich.

«Jean Wong war nicht schön, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Auch nicht auf den dritten oder zehnten – aber sie brauchte nicht schön zu sein. Sie war etwas Besseres: sie selbst. Sie verachtete Klischees und populäre Leitbilder, selbst wenn sie elegant verpackt aus den USA kamen. Sie kannte die Staaten übrigens recht gut; sie hatte dort Medizin studiert. In Peking leitete sie im Jahre 1931 ihr eigenes mustergültiges Kinderhospital. Ihre Sanftmut im Umgang mit den kranken Knirpsen erstaunte uns immer wieder. Jean und ich kannten uns recht gut; wir sahen uns lange Zeit beinahe täglich. Sie hat mich eigentlich in Peking bekannt gemacht. Übrigens war sie die Erbin eines steinreichen Bankiers. Erinnern Sie sich des Bankhauses Wong mit den Filialen im ganzen Osten? Trotz dieses Glanzes, der im alten Peking besonders hell strahlte, war Jean erfreulich einfach und anspruchslos. Ihr Vater hatte seinen Weg von einer öffentlichen Kuli-Schlafstelle in die Salons der Hochfinanz gemacht. Er muß den legendären Fleiß und die Beharrlichkeit aller bedeutenden Chinesen besessen haben. Man nannte ihn überall mit seinem Extra-Namen Hsing – der Glückliche und Geschickte. Kurz vor seinem Tode hatte Jean – seine einzige Tochter – sich mit Professor Hsiu, Pekings ärmstem und berühmtestem Gelehrten, verlobt. Ich kannte ihn; er wußte alles über die Manchu-Periode. Ein stiller, scheuer, nicht mehr junger Mann aus einer alten Gelehrtenfamilie, der stotterte, wenn er mit den westlichen Freunden seiner. Braut zu Abend essen mußte. Er sprach zwar fließend Englisch, aber er erinnerte mich an eine Nachtigall, die in einer fremden Sprache singen muß. Doch seine Intelligenz war so leuchtend, daß er nach fünf Minuten Stottern in aller Bescheidenheit seine Umgebung verdunkelte. Er wußte, daß der Stein der Weisen im Adlernest liegt … Der Professor hatte erlesene Manieren, war aber von so konsequenter Zurückhaltung, daß Neuankömmlinge in Peking sich gekränkt fühlten. Niemand wäre erstaunter darüber gewesen als er. Seine Armut schien ihn nicht zu stören; vielleicht demütigt sie nur schwache Seelen. Ich war betroffen, daß die warmherzige Jean auf diesen kalten Fisch verfallen war, aber ich mische mich niemals in die Herzensangelegenheiten meiner Freunde ein. Es ist das sicherste Mittel, sie zu verlieren.»

Ich äußerte einen Protest, den Dr. Robertson ignorierte. Er teilte mir unbeirrt mit, daß Dr. Jean Wong unter keinen Umständen gestottert hätte. Für eine Chinesin jener Zeit war sie erstaunlich burschikos, selbstsicher und praktisch gewesen. Soweit es sich nicht um die Manchus handelte, hatte sie ihren Verlobten beherrscht. Aber, wenn der Professor etwas über jene Dynastie enthüllte, saß Jean wie ein kleines Mäddel da. Es fehlten nur noch das Rattenschwänzchen und der Finger im Munde, und das Kuli-Kind wäre fertig gewesen. – Vielleicht hatte Robertson sie in solchen Augenblicken beinahe geliebt? Denn sie mußte die höchste chinesische Frauentugend besessen haben – Demut! Eine ererbte Tugend, die weder eine amerikanische Universität noch ein kommunistischer Parteiheld zerstören kann.

Ganz Peking wußte natürlich, daß das prominente Paar sich gegen den Willen beider Familien verlobt hatte. Aber kurz vor dem Zweiten Weltkrieg kamen solche Verbindungen bereits häufiger in chinesischen Kreisen vor. Die Mädchen ließen sich nicht mehr durch Vermittler in die Ehe treiben, besonders dann nicht, wenn sie im Westen studiert hatten. Die Sippe des Professors betrachtete die junge Ärztin und ihren Stiefbruder allerdings als Emporkömmlinge. Das Geld machte keinen Eindruck auf die Großtanten und eine amerikanische Erziehung noch weniger. Andererseits betrachtete der junge Herr Wong Lu-yeh, der sich ‹James› nannte, seinen künftigen Schwager als einen eingebildeten Hungerleider, der das Geld der Wongs heiraten wollte. Übrigens wurde diese Ansicht von der ganzen Familie geteilt; angefangen bei Großonkel Wong, dem berühmten Bankier, bis zu Tante Kletterrose, die im Hause der Verwandten den Gnadenreis aß. James war ebenfalls in den Vereinigten Staaten erzogen worden und war der typische Sohn eines reichen und arbeitsamen Chinesen, der seinen Sohn bewundert, weil dieser ohne Wimperzucken sein schwerverdientes Geld ausgibt. Der ehemalige Kuli hielt es für ein Zeichen der Vornehmheit, daß James «lange Nägel» hatte – das klassische Zeichen des Nichtstuns. Der Vater pflanzte eben den Baum, und der Sohn aß die Pfirsiche … Der junge Mann hatte westliche Manieren, oder was er dafür hielt, angenommen und war ein schwererträglicher Snob, den die Bewunderung seines Vaters langweilte. Das hatte Jean ihrem Freunde Robertson einmal angedeutet. Ob sie unter dem alten chinesischen Dogma, daß ein Mädchen ein Zehntel des Wertes eines Knaben hätte, gelitten hatte? Robertson wußte es nicht. Jean wusch die Familienwäsche grundsätzlich im eigenen Hause. James Wongs amerikanische Ausdrucksweise mußte sehr komisch gewesen sein, denn Robertson und Henry Carpenter hatten oft über ihn gelacht. Aber der englische Arzt hatte wenig für den jungen Herrn Wong übrig gehabt. Er war ein bißchen altmodisch und schätzte wahrscheinlich Söhne, die ihren Vater wenigstens hinter den Kulissen noch ehrten. James’ einziger guter Zug war in Robertsons Augen seine Zuneigung zu seiner Stiefschwester Jean gewesen. Er rief sie «kleine Mutter» und lief ihr überall nach. Sie behandelte den jungen Windhund, der gewaltige Spielschulden machte und bejahrten Singmädchen nachstieg, mit reizender mütterlicher Strenge. Wenn James es zu arg trieb, blickte Jean ihn nur an. Sie war dann still und unbewegt wie ein Fluß am Abend, bevor die Strömung aufwallt. Robertson konnte es nie vergessen … Übrigens bezahlte Jean die Schulden ihres Bruders immer erst nach erbitterten Wortgefechten. Sie nannte ihn einen Narren, der versuche, in einer Austernschale Luftsprünge zu machen. Ganz Peking wußte von diesen Streitigkeiten, da der junge Herr Wong im Gegensatz zu seiner Schwester eine Plaudertasche war.

Jean verwaltete das Riesenvermögen und den väterlichen Grundbesitz, so wie ihr verstorbener Vater es in seinem Testament bestimmt hatte. Der einzige Sohn, der Sprößling eines Küchenmädchens, der seinem Vater so unähnlich war, hatte nur eine sehr hohe Lebensrente bekommen und einen unbedeutenden Posten im Pekinger Bankhaus. Großonkel Wong freute sich, wenn James sich dort nicht zeigte. Der alte Herr leitete die verzweigten Geschäfte lächelnd und mit Scharfsinn. Wie chinesischer Ingwer wurde Großonkel Wöng mit dem Alter immer schärfer … Er hatte der ungewöhnlichen Testamentsbestimmung zugestimmt. Auch wenn Jeans Vater den einzigen Sohn vergöttert und die Tochter mit kühler Höflichkeit behandelt hatte, war er eben ein chinesischer Realist gewesen. Ob er Jean nachgetragen hatte, daß sie, der weibliche Fisch, seinen Verstand geerbt hatte?

Professor Hsiu hatte für seinen Schwager höfliche Verachtung gezeigt. Er mußte den jungen Mann unaussprechlich vulgär gefunden haben. Während eines Abendessens im Hause Wong warnte Hsiu ihn vor dem Elend, das dem Genießer nachschleiche. James lachte schallend – Robertson hätte ihn gern geohrfeigt. Er hatte verstohlen das Gesicht des Professors betrachtet – es war winterlich wie ein Raum ohne Licht und Feuer. Der junge Wong war ein Narr, diesen Mann zu reizen.

Außer ihren Ärztekitteln trug Jean chinesische Kleidung. Die kostbaren, mit Blumen und Goldpirolen bestickten Brokate paßten wenig zu ihrer großen Hornbrille, dem strähnigen, kurzgeschnittenen Haar und ihrer schäbigen Handtasche, die sie aus Treue gegen eine amerikanische Studienfreundin mit sich herumtrug. Auch bildeten die herrlichen Gewänder einen seltsamen Gegensatz zu Jeans rauher Stimme und ihrem lauten Lachen. Aber sie hatte ein Herz für jede leidende Kreatur, beachtliches medizinisches Wissen, chinesische Lebenstüchtigkeit und eine mürrische Großmut. In Robertsons Augen hatte der steife, weltfremde Gelehrte das große Los gezogen. Hsui war zweifellos ein bedeutender Mann, aber er gab sein Bestes seinem Werk. Robertson hatte das Zweitbeste nicht gut genug für Jean gefunden … Er war erstaunt gewesen, wie rührend glücklich das Mädchen über die Verbindung mit einem Manne war, dessen Stammbaum über die Manchu-Periode hinausreichte. Aber auch moderne Chinesinnen hatten sich wohl den Respekt vor dem beschriebenen Blatt Papier bewahrt. Im klassischen China, dessen Geist doch noch irgendwo in diesen Hirnen und Seelen herumspukte, hatte eben der Händler die niedrigste und der Gelehrte die höchste soziale Stufe eingenommen. Hsiu hatte auf der Stufe gestanden, die heute der Farmer und nach ihm der Fabrikarbeiter einnimmt. –

Während Robertson den Wandteppich der Familie Wong entrollte, wurde mir wieder einmal klar, daß in China die klassische Tradition ein Diamant ist, der sachte durch sieben Mauern und siebzig Parteiprogramme leuchtet. Selbst wer heutzutage diesen Diamanten mißachtet, wird durch seinen geheimen Glanz irritiert. Es war mir bei meiner Studienreise in das neue Peking verschiedentlich aufgefallen. –

Robertson erklärte, Jean Wong sei stolz darauf gewesen, daß der Professor ihren Reichtum entweder höflich verachtete oder vielleicht gar nicht bemerkt hatte. Der Gelehrte beabsichtigte, auch nach der Hochzeit seinen asketischen Lebensstandard durch Unterricht in der Kalligraphie und Philosophie aufrechtzuhalten. Das war gegen jede praktische Vernunft und wurde deshalb im Hause Wong ungläubig belächelt. Wer hob Tennisbälle auf, wenn man sich Balljungen halten konnte? Selbst Jean hatte die Erklärung ihres Verlobten in bestürztem Schweigen entgegengenommen. Der junge Herr Wong hatte sich nicht geniert, auch diese intime Krise in der Familie ganz Peking zum besten zu geben. Und was James nicht ausplauderte, das erzählte der Koch der Wongs Robertsons Koch, mit dem er befreundet war. Die Wißbegierde der Pekinger Köche grenzte an Genie.

Dr. Robertson fragte mich plötzlich augenzwinkernd, was mein Koch im Vorkriegs-Peking mir über ihn erzählt hätte. Ich war achtzehnjährig nach Peking gekommen, wohnte bei meinem Bruder, und dieser beschäftigte damals zufällig Robertsons Meisterkoch.

«Er hat nichts über Sie erzählt», sagte ich diplomatisch. «Chia war ja ihr erster Koch gewesen, Dr. Robertson! Er wußte nur, daß Sie eine Braut in England zurückgelassen hatten.»

Atmete mein Gastgeber verstohlen auf, oder täuschte ich mich? Übrigens hatte Chia das Foto von jener Miss Muriel stibitzt, das Robertson zum Abgewöhnen in seinen Räumen aufgestellt haben mußte. Aus unbekannten Gründen hatte Chia dieses Foto als eine Kostbarkeit betrachtet und mir einmal gezeigt. Ich hatte selten so ein abgeriegeltes Gesicht gesehen. Und jede Locke wie angeklebt! Aber ich habe es mir längst abgewöhnt, mich über den Geschmack meiner Freunde zu wundern.

«Zurück ins alte Peking!» sagte Dr. Robertson. Vor lauter Erinnerungen an die Familie Wong hatte er seine Elfenbeindose vergessen. Sie hatte ihm eine unerwartete Blamage verschafft. Als er nämlich Jean Wong und den Carpenters dieses historische Stück zeigte, war Fräulein Dr. Wong in lautes Gelächter ausgebrochen. Robertson hätte sie damals am liebsten erwürgt. Er hatte wie ein Narr vor den Amerikanern dagestanden, die ihn als Kunstkenner respektierten.

«Mein armer Freund», hatte Jean gesagt, «Sie wissen zwar alles besser, aber diesmal haben Sie eine leere Reishülse gekauft.»

Ich war entsetzt über solchen Mangel an Takt und sagte es.

«Sie war taktlos», sagte Robertson ruhig. «Aber leider hatte sie recht. Die berühmte, in allen Katalogen erwähnte Dose stammte nämlich nicht aus der Ming-Periode, sondern eindeutig aus der Manchu-Zeit und zeigte die ‹Kinderbringende Kuan-yin›. Diese Göttin reitet auf einem Löwen und trägt ein Knäblein im Arm.»

Jean erklärte es laut und selbstzufrieden den Carpenters, während Robertson erstarrt danebenstand. Sie hatte ihn gefragt, wo seine Hofdame ihr Gift aufbewahrt hätte, denn der Deckel seiner Dose wackelte ja wie ein betrunkener Besenbinder. Sie hatte noch einen heftigeren Heiterkeitsausbruch, während Robertson die Lippen zusammenpreßte und Henry Carpenter ein anderes Stück seiner Sammlung durch seine Lupe prüfte, als ob er nichts gehört hätte. Er vertiefte sich barmherzig in das Studium eines Fischhändlers, während seine Frau die Szene genoß. Ihre hellblauen Augen tanzten vor weiblicher Schadenfreude.

«Mary hatte mir schon zweimal vorgeworfen, ich wollte alles besser wissen», sagte Dr. Robertson nachsichtig. «Ganz zu Unrecht! Ich will nur das besser wissen, was ich tatsächlich besser weiß.»

«Wo war denn nun die echte Dose?» fragte ich.

Dr. Robertson warf mir durch seine Brillengläser einen Eulenblick zu und sagte, daß die echte Dose in Jean Wongs amerikanischer Handtasche gewesen wäre. Sie hatte plötzlich die herrlichste Elfenbeinarbeit hervorgeholt, die Robertson jemals erblickt hatte. Diese Schnitzerei war atemberaubend. Die Dose zeigte eine Perfektion, die von Geisterhänden herzurühren schien. Übrigens hatte der Deckel nicht besser als andere chinesische Deckel geschlossen … Professor Hsiu hatte diese Kostbarkeit seiner Braut geschenkt. Jean sah plötzlich verklärt aus, und Robertson hatte sich gewundert, wie unglaublich das Glück robuste Frauen verfeinert. Die Dose gehörte Professor Hsius Ahnfrau, die Hofdame bei der letzten Manchu-Kaiserin gewesen war. Nach dem Boxeraufstand war jene Dame in eine Intrige verwickelt worden und vergiftete sich, als ein Minister Wind davon bekam. Wohin sollte eine Hofdame der Manchus fliehen? Die armen Hühner waren so unselbständig, hatte Jean bemerkt. Sie konnten nicht einmal ein Kursbuch lesen. Das käme eben von der Seidenmalerei und den Mondscheingedichten und dem Nichtstun der feinen Leute. – In diesem Augenblick hatte Robertson darüber nachgedacht, was Jeans Verlobter wohl von dieser Bemerkung gedacht haben würde. Fräulein Dr. Wong hatte noch einmal schallend gelacht, aber ihr Gelächter schwang wie ein Mißton in der schwülen Sommerluft. Jean mußte es gemerkt haben, denn sie erzählte dann ruhig, daß der Professor diese traurige Episode in seinem Werk «Die letzten Manchus» erwähnt hätte. Das Buch sollte in wenigen Wochen erscheinen, und Jean verhandelte bereits mit amerikanischen Verlegern. Zu Robertsons Ärger hatte sie Henry Carpenter plötzlich gefragt, ob er ihr bei diesem Geschäft helfen könnte. Das war die ganze Jean! Bei aller Verliebtheit praktisch, berechnend und leider ein wenig zudringlich. Sie hätte es nicht überlebt, eine Chance zu verpassen. Ein Diplomat mußte doch auch Verbindungen zum Verlagsgeschäft haben!

«Ich würde Ihnen gern behilflich sein», hatte Carpenter gesagt, «aber ich fürchte, Sie überschätzen meinen Einfluß, Dr. Wong. Ich schreibe meine Memoiren und suche selber einen Verleger. Es ist noch keiner aufgetaucht.»

Auf Jeans Gesicht zeigte sich ein Schatten der Enttäuschung, aber natürlich war sie zu klug, um das Thema im Augenblick zu verfolgen. Dafür entschuldigte sie sich ganz gegen ihre Gewohnheit für die Abwesenheit ihres berühmten Verlobten. Kein Zweifel, sie wollte sich Henry Carpenter anlächeln, und glaubte ihm nicht, daß er keinen Verleger hätte. Das Ehepaar würde nach einer Anstandsfrist eins der berühmten Abendessen im Hause Wong einnehmen. Mit unzähligen Gängen, seltenen Delikatessen und noch mehr Liebenswürdigkeiten! Und Professor Hsiu würde anwesend sein. Darauf hätte Dr. Robertson Gift genommen.

Hsiu mußte eine kranke Großtante im Norden besuchen. Jean hatte ihm geraten, ruhig in Peking zu bleiben. Es würde schon nichts sein. Die alte Tante hatte sicherlich zuviel geröstete Entenhaut gegessen! Niemand stimmte in Jeans rauhes Gelächter ein. – Dann hatte sie plötzlich Robertson burschikos in sein «Frühlingszimmer» gezogen.

«Ich glaube, mein Verlobter war böse, als ich von der gerösteten Entenhaut anfing», murmelte sie, «aber es war mir gleich. Ich habe ihm gesagt, daß er nach unserer Hochzeit die Besuche bei seinen unzähligen Verwandten einschränken müßte. Ich wolle ihn und nicht ein Dutzend hochnasige Großtanten heiraten.»

Ich mußte über Jean Wong lachen, aber Dr. Robertson lachte nicht mit. Im Gegenteil, er sah bedrückt aus. Er blickte mich nicht an, sondern studierte ein traditionelles Blumenbild der Pekinger Kunstschule. Jean hatte ihn gefragt, ob Hsiu vielleicht doch böse mit ihr wäre. Sie würde sich eher umbringen als ihn verletzen. Sie war graublaß geworden. «Sagen Sie mir, was ich tun soll, William», hatte sie gemurmelt. «Professor Hsiu brachte mir heute morgen die Dose. Das ist doch ein Beweis, daß er mir verziehen hat. Was meinen Sie?»