Gastspiel am Rialto - Alice Ekert-Rotholz - E-Book

Gastspiel am Rialto E-Book

Alice Ekert-Rotholz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Venedig, die immer wieder totgesagte und doch unsterbliche, malerische Lagunenstadt, ist der Schauplatz dieses Romans der berühmten Erzählerin Alice Ekert-Rotholz. Hier am Rialto begegnen sich die Menschen aus verschiedenen und einander fremden Welten. Eine Londoner Ärztin verfällt dem Zauber des Antonio Cesano aus alter venezianischer Familie. Einer kühlen Hamburger Fotografin wird ein egozentrischer japanischer Schauspieler zum Verhängnis. Ein vibrierender Roman voller Irrungen und Wirrungen, tragisch und komisch zugleich wie eine Commedia dell'arte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 709

Veröffentlichungsjahr: 2018

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Alice Ekert-Rotholz

Gastspiel am Rialto

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Venedig, die immer wieder totgesagte und doch unsterbliche, malerische Lagunenstadt, ist der Schauplatz dieses Romans der berühmten Erzählerin. Hier am Rialto begegnen sich die Menschen aus verschiedenen und einander fremden Welten. Eine Londoner Ärztin verfällt dem Zauber des Antonio Cesano aus alter venezianischer Familie. Einer kühlen Hamburger Fotografin wird ein egozentrischer japanischer Schauspieler zum Verhängnis. Ein vibrierender Roman voller Irrungen und Wirrungen, tragisch und komisch zugleich wie eine Commedia dell’arte.

Über Alice Ekert-Rotholz

Alice Ekert-Rotholz, am 5. September 1900 in Hamburg als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, lebte von 1939 bis 1952 in Bangkok. Nach Hamburg zurückgekehrt, war sie journalistisch für Funk und Presse tätig. 1954 erschien ihr erster Roman «Reis aus Silberschalen», der sie schnell bekannt machte. Zahlreiche weitere folgten. 1959 siedelte Alice Ekert-Rotholz zu ihrem ersten Sohn nach London über. Dort starb sie am 17. Juni 1995.

Inhaltsübersicht

Für meinen Sohn ...I Gemischter Chor1 Stimme aus London: Meine goldenen Regeln2 Stimme aus Tokyo: Die Onnagata und ich3 Stimme aus Venedig: Eine Freundin der Familie4 Zündstoff im Herzen5 Mißtraue der Erinnerung!II Schwankender Boden1 Ein New Yorker in Venedig2 Commedia3 Eine Japanerin in Venedig4 Pagodenstrauch: Die vortrefflichen Gärten5 Spieler und Spiele6 Desdemona aus Hamburg7 Ein Japaner in Venedig8 Das Wasser unter der Brücke9 Streng vertraulichIntermezzo: Die Londoner1 Mrs. Stafford wundert sich2 Maggie am Telefon3 James und der tröstliche AugenblickIII Flucht von der Lagune1 Mr. Ross versus Signor Rossi2 Der Platz der Weiden und Pferde3 Tod in der Nachsaison4 Ein Hamburger in Venedig5 Sage niemals, wer du bist!6 Alte Damen in Palästen7 Es kam alles ganz andersEpilog: Fernöstliches Gastspiel1 Sitz still. Tu nichts2 Aus Narayama kommt niemand zurück

Für meinen Sohn und Stefan und Lotte, zwei Wiener in Venedig

I Gemischter Chor

1 Stimme aus London: Meine goldenen Regeln

When sorrow is asleep, awake it not.

Englisches Sprichwort

HILARY STAFFORD:

Falls es Leute gibt, die nie ihre Entschlüsse bereuen und schlafenden Kummer nicht aufwecken, gehöre ich nicht zu ihnen.

Ich habe in meinem Leben viele Entschlüsse bereut, aber keinen so tief wie meine Liebesheirat in Venedig. Inzwischen lebe ich längst wieder in London, und die ganze Sache ist zu Staub und Asche geworden. Aber in unruhigen Nächten wecke ich den schlafenden Kummer auf. Tagsüber verbanne ich ihn. Was sollten meine Patienten sonst denken? Mrs. Blunt will ihren Husten loswerden und nichts über mich hören. Vielleicht würde sie ganz gern erfahren, warum ihr Mann fast jeden Abend allein ausgeht und deswegen am Wirtschaftsgeld spart. Ich werde mich hüten, ihr Aufklärungen über den Patienten H.W. Blunt zu geben, denn ich wahre das Beichtgeheimnis. Tatsächlich weiß ich viel mehr über die Ehe der Blunts als über meine eigene. Man sieht andere schärfer als sich, weil man sie weniger liebt. Goldene Regel: Sei nett zu dir und laß die Vergangenheit ruhen. Das ist leichter gesagt als getan.

Vielleicht sollte ich auch zu meiner Mutter etwas netter sein, aber auch das ist leichter gesagt als getan. Sie ist sehr reizbar und ärgert sich jedesmal, wenn ich zu spät zum Essen komme. Aber ich kann meinen Patienten nicht das Wort abschneiden, wenn sie mir über die Undankbarkeit ihrer Kinder berichten und ihre psychosomatische Atemnot bekommen. Sie brauchen keine Pillen, sondern ein mitfühlendes Ohr. Da ich selbst nach Ansicht meiner Mutter eine undankbare Tochter bin, weiß ich, wovon die Eltern und erwachsenen Kinder in meiner Sprechstunde reden. Auch wenn ich keine Ärztin wäre, wüßte ich über dieses Problem Bescheid. Vielleicht bin ich nicht besonders liebenswürdig zu meiner Mutter, aber ich muß den ganzen Tag mit den Patienten engelhaft geduldig sein. Und dann bin ich überhaupt keine sonnige Natur. James ist der einzige, der meine abendliche Müdigkeit versteht. Ich kann ihm viel sagen, aber natürlich nicht alles. Zum Beispiel haßt James jede Art von Liebeserklärung, selbst wenn man sie als Scherz oder Angriff tarnt. Wer kann sagen oder schreiben, was er denkt?

Goldene Regel: Sei vorsichtig mit James: Er ist wundervoll. Er hat mir sogar meine Ehe mit Antonio Cesano verziehen, solange sie dauerte, was nicht allzu lange der Fall war. Ich hätte James heiraten sollen, als er es mir vor zehn Jahren vorschlug. Damals konnte ich mich nicht entschließen. Vielleicht kannte ich ihn zu lange, und als Kind hatte ich ihn ‹Onkel James› genannt. Dabei ist er nur zwölf Jahre älter als ich. Jetzt ist er Mitte Vierzig und will mich nicht mehr heiraten. Er hat vollkommen recht. Wir waren verlobt, als ich mich Hals über Kopf in Venedig verheiratete. Das war recht rücksichtslos von mir. Ich teilte James meine Heirat auf telegrafischem Weg mit. Er telegrafierte seine besten Wünsche. James ist außerordentlich wohlerzogen … Er fragte nur an, ob ich mir diese Einheirat in den venezianischen Adel, von dem ich nichts wüßte, genau überlegt habe. Er, James, fürchte, daß ich sonst diesen befremdlichen Entschluß bereuen würde. Ob ich bedacht hätte, daß Ehen mit Ausländern zusätzliche Probleme in eine ohnehin schwierige Situation brächten? Trotzdem herzlichen Glückwunsch. Schluß des Telegramms.

 

In London hatte James mir nie verraten, daß er die Ehe als schwieige Situation betrachte. Warum hatte er mich heiraten wollen? James haßt Schwierigkeiten. Aber er schmollte und grollte nicht und schrieb mir wohlmeinende und beleidigend vergnügte Briefe. Der Frühling war gerade ausgebrochen, und James verbrachte seine Wochenenden bei Freunden auf dem Land, oder er fuhr auf der Themse herum und saß in den Gasthäusern am Fluß, wo wir zusammen gegessen hatten. Saß er dort allein oder mit einer anderen Person? Natürlich fragte ich ihn weder telegrafisch noch brieflich danach. Was James nicht sagen will, kann niemand aus ihm herausbekommen. Aber Fragen, die er indiskret findet, verstimmen ihn: Sei vorsichtig mit James! Einmal schrieb er, daß er sich nicht vorstellen könne, wie ich es in Venedig aushalte, da Autofahren und Medizin doch meine beiden Leidenschaften seien. Da James zu seinem Glück nicht viel Fantasie hat, konnte er sich nicht vorstellen, wie unmöglich meine Position in der Familie Cesano war und wie unglücklich ich mich fühlte. Aber er hatte nie angenommen, daß diese Blitzheirat gut ausgehen könnte. Und James irrt sich nie.

Als ich endlich gesetzlich getrennt und recht verstimmt nach London zurückkam, erwartete James mich am Flughafen. Er war zu taktvoll, um mich an seine Warnungen zu erinnern; er bemerkte nur, daß das Telegramm seinerzeit viel Geld gekostet habe, aber gegen die heutigen Postgebühren sei es noch preiswert gewesen. Lieber James! Er wirft sein Geld ungern zum Fenster hinaus, weil er zuviel von diesen Dingen versteht. Er ist gelernter Bankmann. Er arbeitet als finanzieller Berater mit großen Baufirmen zusammen, die Heizanlagen, Ventilations- und Klimaanlagen und ähnliche Installationen nach supermodernen Techniken für Fabriken und Geschäftshäuser entwerfen und einbauen. James sagt, er müsse in unserer Zeit der Wirtschaftskrisen, Gewerkschaftsschlachten und der galoppierenden Inflation den technischen Genies die Flügel beschneiden. Alle Ingenieure und Erfinder haßten ihn.

«Ist das nicht unangenehm für dich, James?»

«Warum? Ich werde nicht konsultiert, um gutes Wetter zu schaffen, sondern um Firmen, die um ihre Existenz kämpfen, vor finanziellen Wagnissen zu bewahren.»

«Alte Unke!»

«Genau das», sagte James befriedigt. «Dies Land braucht Unken.»

Da stand die alte Unke, überragte mich um Haupteslänge und verbreitete gegen jede Absicht Sonnenschein. Ich wußte, James würde wieder telegrafieren, wenn ich mich nochmals in Venedig verheiraten würde. Aber eine meiner goldenen Regeln verbietet mir, mich, komme, wer wolle, zum zweitenmal dort zu verheiraten. Antonio Cesano hat meinen Bedarf gedeckt. Ich hatte ihn nicht durch den Tod, sondern durch das Leben verloren, und das ist viel ärgerlicher. Plötzlich lachte ich schrill und unmotiviert. Lachen ist mein Abführmittel gegen Depressionen.

James blickte mich scharf an und fragte nach dem Grund meiner Heiterkeit. Er hatte sich in der Zwischenzeit nicht verändert. Sein feines blasses Gesicht war alterlos, und seine grauen Augen blickten scharf, aber wohlwollend in meine Augen. In meiner Kindheit hatte James genauso ausgesehen, und in zwanzig Jahren wird er keineswegs ramponiert wirken, während ich eine Ruine sein werde. Bis zu meiner Blitzheirat hatten James und ich uns maßvoll geliebt. Keine wilde Leidenschaft. So etwas ist ihm unerwünscht und wesensfremd – aber doch Liebe! Mit Antonio war es zuerst ekstatisch gewesen, dann hatte es sich abgekühlt wie ein Herbstabend an der Adria. Ich war wohl zu jung, zu unerfahren und zu englisch für ihn gewesen. Tatsächlich paßte ich viel besser zu James. Ich lachte weiter.

Später fragte James, ob es mit meinem Venezianer und mir nicht geklappt hätte. Er drückte sich eleganter aus, aber das meinte er. Seine Liebe war weder heiß noch kalt; er verbreitete immer gleichmäßige Wärme. Man weiß erst, was das wert ist, wenn man es verloren hat. Natürlich wird es irgendwann wieder mit James und mir klappen, aber ich werde sehr vorsichtig mit ihm sein müssen. Etwas wird in unserer Beziehung fehlen. Antonios Schatten wird zwischen uns sein.

So und nicht anders ist es gekommen.

James bleibt jetzt selten über Nacht bei mir. Und neulich riet er mir, mich wieder zu verheiraten. Ich fragte, ob er mich loswerden wolle, aber er versicherte mir, er habe diesen Vorschlag nur in meinem Interesse gemacht. James blickte in den strömenden Regen hinaus. Die schönen Gärten in Hampstead waren graue Wasserwüsten. Wer will sich in mittleren Jahren noch verheiraten? Warum hatte er das gesagt?

Nach dem Abendessen ging James nach Hause. Bei ihm ist’s schöner, eleganter und ordentlicher als bei mir. Er sammelt Antiquitäten, englisches und ostasiatisches Porzellan, japanische Rollbilder, Bronzen. James studierte Kunstgeschichte, bevor er sich fürs Bankfach entschied. Er will nach seinem Geschmack leben, und sein Geschmack ist kostspielig. Persönlich ist er die Einfachheit selbst. Lieber James! Warum ist er heute abend nach Hause gegangen? War ich unvorsichtig mit ihm gewesen?

Manchmal frage ich mich, ob die Freundschaft mit James sich lohnen wird oder nicht. Aber wie soll ich mir darüber klarwerden? Soll ich mich in die Stille zurückziehen? Nein, ich beobachte die Leute so gern.

Eine Privatpraxis ist für solche Beobachtungen das richtige Feld. Ich sehe den ganzen Tag, wie die anderen es treiben, kann mich aber in meinen Patienten nicht wiedererkennen. Da ist zum Beispiel Mrs. Edna Blunt! Und andere anständige, altmodische Frauen, die immer nur für Mann und Kinder gelebt haben. Aber nun sind Mrs. Blunts Söhne auf der Universität, ihre einzige Tochter hat sich nach Australien verheiratet, und Mr. Blunt? Was tut er? Anstatt seiner Frau die Zeit und die innere Leere zu vertreiben, was seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit wäre, geht er fast jeden Abend allein aus. Dritte, vierte oder fünfte Jugend? Das geht mich nichts an. Mich geht an, daß seine Frau eine Gallenoperation haben muß. Ich könnte Mr. Blunt meine Meinung über ihn sagen. Das würde aber alles nur noch schlimmer machen. Ich will auch nicht hören, was meine Mutter über mich denkt. Ich kann mich wirklich nicht in Mrs. Blunt wiedererkennen. Wir leben zwar beide in London – aber auf anderen Planeten und Wellenlängen. Ich könnte Mrs. Blunt in ihrem öden Mayfair-Flat, das ganz in der Nähe von James Ormonds Wohnung liegt, hundert Jahre lang beobachten, sie würde mich höchstens an meine Mutter erinnern. Nicht an mich. Vielleicht wäre es anders, wenn ich Mann und Kinder hätte, die mich früher oder später verlassen würden oder pflichtschuldig in vorsichtigen Abständen besuchen.

Neue goldene Regel: Ich muß Mutter einmal die Woche anstatt zweimal im Monat besuchen. Sie wohnt in Highgate. Mit meinem Wagen ist das ein Katzensprung. Miss Lydia ist dagegen. Sie führt mir das Haus, tyrannisiert meine Patienten, ist frei von Sentimentalität und Schuldgefühlen. Allerdings rettete meine Mutter mir unter ungewöhnlichen Umständen das Leben, Miss Lydias Mutter dagegen hat ihr das Leben immer nur schwergemacht. Nach ihrem Tod kam Miss Lydia zu mir und brachte Maggie und Sniffles mit. Maggie räumt auf, und Sniffles hilft ihr. Er ist ein Dackel. Wer Maggie haben will, muß Sniffles gefallen. Sonst kommen die beiden nicht zum Aufräumen. Sniffles liebt mich uneingeschränkt. Er weiß nichts von Venedig. Er hat seinen Hocker in meinem Wartezimmer und wartet dort auf Maggie und Kekse. Wenn manche Patienten sich darüber wundern, dann sollen sie es eben tun. Das halbe Leben besteht daraus, die Augenbrauen hochzuziehen.

 

Heut war der alte Professor Walker wieder bei mir. Er ist viel gesünder als ich, ich meine, robuster, und sein Asthma ist rein nervös. Stanley Walker kommt, um Sniffles und mich zu sehen und um über seinen Sohn und die Schwiegertochter zu reden. Sniffles sitzt im Wartezimmer neben dem alten Herrn, er betet ihn an. Das braucht der Professor, denn er bekommt es sonst nicht.

Ich sagte ihm, er solle seine Besuche bei seinem Sohn einschränken und manchmal statt dessen die Westminster-Sänger in der Abbey anhören. Sie singen gerade für Zypern. Aber Stanley Walker lehnt den Vorschlag ab. Er liebt Musik, aber seinen Ärger liebt er noch mehr. Er inhaliert wütend und teilt mir dann mit, er habe sein Testament geändert. Er ändert es alle paar Monate. Das erinnert mich an die alte Contessa Cesano, meine Ex-Schwiegermutter in Venedig. Sie hat ihr Testament nach Antonios plötzlichem Tod auch häufig geändert, schrieb mir mein Anwalt. Antonio starb vor zwei Jahren auf unerklärliche Weise. Weder die alte Contessa noch die gräßliche Lucia, Antonios Schwester, teilten mir die Einzelheiten mit. Auch Signor Moretto, mein Anwalt, schweigt sich darüber aus. Was war geschehen? James sagt, es ändere nichts an den Tatsachen, ob ich es wisse oder nicht. Er fragt, ob ich in einer Woche nur deshalb nach Venedig flöge, um Einzelheiten über Antonios Tod zu erfahren. Er nennt ihn weiter den Venezianer. Ich lache, und James runzelt die Stirn.

 

Diesesmal fahre ich geschäftlich in die Lagunenstadt. Entgegen jeder Erwartung hat Antonio Cesano mir seinen verstaubten Palazzo plus Gondel an einem Seitenkanal zwischen Marco und dem Rialto vermacht. Vielleicht hat Lucia aus diesem Grund jede briefliche Verbindung mit mir abgebrochen. Diese Geschwister waren sehr verschieden.

Lucia ist berechnend, Antonio war unberechenbar. Er hatte das Haus von einem Verwandten geerbt. Soviel ich weiß, hatte er sich nie um den Erwerb seiner Schätze bemüht. Falls ich kurze Zeit dazugehört hatte – um mich hatte er sich ebenfalls nicht zu bemühen brauchen. Meine naive Begeisterung für seine Person muß seine sadistischen Instinkte geweckt oder ermutigt haben. So erkläre ich mir Jahre später sein Benehmen mir gegenüber. Hätte ich damals vorausgeahnt, was ich heute über den Umgang mit Raubtieren weiß: Antonio Cesano brauchte keine Hausschwalbe, sondern einen Drachen wie seine Schwester Lucia und eine Mutterfigur wie die alte Contessa, die schwer zu ergründen war. Sie wickelte ihn um den kleinen Finger. Sie befahl und forderte; Antonio fügte sich ihren Wünschen, er widersprach ihr nie, er versuchte immer, es ihr recht zu machen. Vergebliche Mühe! Niemand konnte es dieser hochmütigen und starrsinnigen Frau recht machen. Das italienische Familienleben erstaunte mich über alle Maßen. Entweder sind die Gefühle bei ihnen auf dem Siedepunkt, oder sie gefrieren zu Haß. Ich fand es sehr anstrengend, in diesem Drama mitzuspielen, auch wenn ich nur die unwichtigste Nebenrolle hatte. Daran hätte ich nichts auszusetzen gehabt, denn ich stehe ungern im Mittelpunkt des Interesses. Eine Nebenrolle wäre für Antonio Cesano, seine Mutter und Lucia unerträglich gewesen. Sie brauchten Zuschauer. Sie standen immer auf ihrer selbstgezimmerten Bühne. Ob man sie bewunderte oder beschimpfte, sie spielten pausenlos ihr Drama und sorgten dafür, daß der Vorhang nie fiel. Für Antonio war er trotzdem vor zwei Jahren gefallen.

 

Salvatore Moretto, mein venezianischer Anwalt, vermietete nach Antonios Tod meinen Palast jede Saison an Touristen. Für mich eine nette Nebeneinnahme. Nun will ein New Yorker das Haus kaufen, und seine Frau erwartet, daß ich die Kosten der Renovierung trage. Mein Anwalt, einer der ältesten Freunde der Familie Cesano, wird mit Mrs. Ross spielend fertig werden. Mir ist er fremd geblieben, aber ich schätze ihn wegen seiner Qualitäten. Er ist ehrenhaft, schlau und zäh und von staunenswerter Beredsamkeit. Die Amerikaner scheinen ihm nicht besonders zu gefallen, aber ich bin, außer der alten Contessa und Antonio, niemandem begegnet, der Mr. Moretto besonders gefällt. Dazu ist er zu erfahren und zu mißtrauisch. In seinem letzten Brief schrieb er zum Schluß seiner geschäftlichen und legalen Mitteilungen, daß Mrs. Ross sich beständig in die Verhandlungen einmische. Er schloß, wie immer, mit einer Metapher: «Ein trauriges Haus, in dem der Hahn schweigt und die Henne gackert.» Übrigens hatte er mich seinerzeit vor meiner Schwägerin Lucia gewarnt. Sehr vorsichtig, verhüllt, in Form einer seiner Metaphern. Ich beachtete die Warnung nicht, oder ich verstand sie nicht. Ich hatte nur Augen und Ohren für Antonio.

Antonio war schön, begabt, eitel und bezaubernd, wenn er bezaubern wollte. Er kleidete sich sorgfältig. In unserem Palazzo dagegen wurde nie etwas repariert. Da war die Wendeltreppe mit dem geschnitzten Geländer: alt, morsch, und das Geländer wackelte wie ein betrunkener Seemann. Wie so vieles in Venedig, war diese Treppe kostbar und zum Untergang reif. Hoffentlich brechen Mr. und Mrs. Ross sich dort nicht den Hals vor Abschluß des Kontraktes. Lucia hoffte, ich würde mir auf dem Weg zum Erdgeschoß den Hals brechen, aber ich tat ihr den Gefallen nicht. Ich tat ihr soviel zu Gefallen wie sie mir, nämlich nichts.

 

Als alles zu Ende war, brachte der Anwalt mich zum Flugplatz. Antonio war in Geschäften in Mestre, und wir sprachen ohnehin kein Wort miteinander. Es regnete in Strömen, Venedig schwankte in Wolkenschleiern. Die schwarzen Gondeln auf den bewegten Kanälen: Fahrzeuge der Unterwelt. Der Palazzo Pisani, diese gotische Festung, war schweigsam und unzugänglich, und nur die «Salute», meine Freunde und mein Trost am Canale Grande, triumphierte in barocker Schönheit über den Regen und die schwarzen Wolken um mich und in mir. Salvatore Moretto schwieg, denn es gab nichts mehr zu sagen. Ich bat ihn, nicht auf mein Flugzeug zu warten, denn ich wußte, wie beschäftigt er war. Er überhörte meine Bitte, und er stand wie eine Schildwache neben mir. Warum hatte ich nicht versucht, freundschaftliche Beziehungen mit ihm aufzunehmen? Warum war ich so kalt und störrisch gewesen? Er hat Talent zur Freundschaft und hat es mir nun viele Jahre bewiesen. Beklagte er den Verfall meiner Ehe, die mit so viel Hoffnungen begonnen hatte? Oder hatte er, wie James, von Anbeginn ein Ende mit Bitterkeit und Schrecken vorausgesehen? Auf dem Flugplatz konnte ich nichts in seinem Holzschnittgesicht lesen. So sehe ich ihn immer noch vor mir, und so werde ich ihn wiedersehen: streng, hager, mit verkniffenen Lippen, dünnem Haar, riesigen Ohren, die alles hörten, und dunklen, von dichten schwarzen Augenbrauen und schweren Lidern überwölbten Augen, die scharf und trotzdem melancholisch blickten. Seine Adlernase schien Katastrophen im voraus zu wittern.

Im letzten Augenblick stammelte ich meinen Dank, und er legte mir seine lange, knochige Hand auf die Schulter. «Sie nehmen nun Ihr eigenes Leben wieder auf, oder Sie werden ein neues anfangen, nicht wahr?» Ich nickte. Er verzog seine Lippen zu dem skeptischen Lächeln, das ich gut kannte. «Man ist nie so glücklich oder so unglücklich, wie man sich einbildet», sagte er fest. «Also dann, meine besten, sehr ergebenen Wünsche, Contessa!» Ich drückte ihm die Hand. Er verbeugte sich tief und murmelte, schon halb dem Ausgang zugewandt: «Denken Sie freundlich an Venedig zurück!» Er räusperte sich: «Sie werden von mir hören!» Er hat sein Versprechen gehalten. Nur von ihm werde ich erfahren, wie, warum und wo Antonio Cesano gestorben ist.

Er war ein Verkäufer von Sex gewesen. Aber ich war zu jung, um zu erkennen, daß seine Intensität, seine Leidenschaft, die sinnliche Poesie seiner Werbung zum großen Teil nur der Routine des Südländers entsprangen. Antonio war in der Tiefe seines Wesens ein kalter und berechnender Mann. Aber manchmal, in magischen Augenblicken, wurde er zum Dichter. Natürlich half Venedig in den Mondnächten vor unserer Hochzeit. Vor dieser einzigartigen Kulisse verwandelt sich für Engländer alles zu einer Szenerie von Shakespeare. Unsere Touristen aus der Provinz werden zu Lyrikern in Venedig, bevor sie reuig zu Wollwaren und Plastikschüsseln zurückkehren. Ich glaube, es ist fast unmöglich, der Piazza San Marco, der Ca d’Oro, den Tintorettos, den Tizians und Giorgiones, den Kanälen und der Adria die kalte Schulter zu zeigen. Antonio Cesano war ein Teil des venezianischen Wunders. Er wurde eins mit den graugrünen Wassern, er stand, ein Apollo mit Nervenkrisen, auf der Rialtobrücke. Er schien ein später Nachkomme der Dogen zu sein: starr, raffiniert, mit einer kalten Flamme im Herzen.

Ich möchte nicht wissen, wie oft ich ihm auf die Nerven gefallen bin. Meine Unschuld war für ihn eine flüchtige Sensation gewesen. In Venedig sagt man, das Bett sei die beste Medizin, aber auch sie verlor allmählich ihre anregende und heilende Wirkung. Wir stritten uns im Bett weiter, ich heftig und schluchzend, Antonio ruhig und lächelnd. Er entsprach nicht der Vorstellung des gestikulierenden, leidenschaftlich erregten Italieners. Je erregter er war, desto eisiger sprach er mit mir. Es war unnatürlich; der Groll schien sich in ihn einzufressen wie ein Krebsgeschwür. Vielleicht ging er an seinen unterdrückten Emotionen zugrunde. Lucia läßt ihrer Wut freien Lauf, deshalb wird sie uns alle überleben. Sie ist so wie die meisten zähen, explosiven und rücksichtslosen Leute. Ich habe eine Patientin, die ihr sehr ähnlich ist; bis jetzt hat sie einen Mann, einen Sohn und drei Schwestern überlebt. Sie ist auf englische Weise rücksichtslos und explosiv. Sie sagt, wie leid es ihr täte, und daß sie ihre Cousine wirklich nicht aufregen wollte, und sie explodiert überraschend mit einem Seufzer. Lucia schrie so laut, daß man es von der Piazza San Marco fast bis zum Lido hören konnte, die alte Contessa dagegen führte im Flüsterton Gespräche mit verstorbenen Freunden oder Liebhabern. Sie machte wenig Unterschied zwischen Lebenden und Verstorbenen, wahrscheinlich waren die Toten lebendiger für sie. Ich fragte nicht danach, und sie sagte es mir nicht. Wenn ich sie bei diesen einseitigen, geflüsterten Unterhaltungen überraschte, starrte sie mich aus ihren großen, unheimlich leuchtenden Augen wortlos an, bis ich mit einer Entschuldigung das Zimmer verließ.

 

Antonio betrog mich ständig. Er hielt fest an seinen Stunden der Zerstreuung, abseits des häuslichen Milieus, und war sprachlos vor Staunen, daß mir das mißfiel. Untreue ist das Naturrecht des Ehemannes im Süden. Bis auf mich wußten es alle Frauen in Venedig.

Wenn Antonio nach sieben Uhr abends nach Hause kam, legte er sich auf sein Ruhebett aus verschlissenem Brokat. Spät am Abend speiste er bei seiner Mutter und Lucia. Sie taten ihr Bestes, um Antonio den Geschmack an mir zu verderben. Den Rest besorgte ich selbst. Hätte ich damals eine goldene Regel für Heiraten im Ausland gehabt, dann hätte ich gewußt, daß man seinen Ehemann nicht widerstandslos seiner Familie überlassen darf. Ich leistete keinen Widerstand, das war ein Fehler.

Selbstverständlich erwartete meine Schwiegermutter auch mich zum Abendessen, aber nach einigen Kostproben blieb ich zu Hause. Die Cesanos unterhielten sich in so schnellem Italienisch, daß ich beim besten Willen nicht folgen konnte, was ihrer Absicht wohl entsprach. Stolze Familiennamen und unbekannte Vornamen schwirrten wie Feuerfliegen in dem dunklen, von Kerzen beleuchteten Speisesaal umher. Bei diesen endlosen Unterhaltungen belebte Antonio sich zusehends, während er zu Hause sein Gähnen kaum unterdrückte. Er liebte Klatsch. Lucia kannte alle Skandale, sogar die Klatschgeschichten der Touristen, da sie gelegentlich als Fremdenführerin in Museen und Kirchen arbeitete. Sie war sehr gebildet, hatte eine fanatische Liebe zu ihrer Vaterstadt und gehörte zu der Bewegung «Rettet Venedig». Auch mein Anwalt und meine Schwiegermutter waren Mitglieder dieser internationalen Organisation. Antonio trat dem Verein nicht bei. War es ihm gleichgültig, ob Venedig gerettet wurde? Ich fragte ihn nicht, und er sagte mir nichts darüber. Der wahre Grund war wohl, daß Antonio nur für sich selbst glühendes Interesse aufzubringen imstande war.

Alle sprachen fließend Englisch, aber im Hause meiner Schwiegermutter schien diese Sprache nicht zu existieren. Sie unterhielten sich mit Leidenschaft über Essen und Trinken, und ich konnte nicht mithalten, da ich die italienische Küche nicht besonders schätzte. Soviel Öl bekommt mir nicht. Nach dem Essen legte die alte Contessa mit grimmigem Gesicht ihre Patiencen. Manchmal fragte ich mich, was die Karten ihr bedeuteten, da sie doch zu ihrem Vergnügen spielte. Auch ein Rätsel, das ich nicht lösen konnte. Antonio und Lucia spielten Schach oder hörten Schallplatten. Es war wirklich ärgerlich, daß ich nicht musikalisch bin. James hätte diese Abende wunderbar gefunden. Ich war zwar dabei, aber nicht wirklich anwesend, ich versank noch schneller als Venedig.

 

Ich weiß, daß es kein Vergnügen für meine Zuhörer war, mich italienisch reden zu hören, aber wozu sollte ich weiterlernen? Es hörte niemand zu. Auch die Besucher der Contessa ignorierten mich sehr höflich, aber unmißverständlich und sprachen genauso schnell wie Antonios Familie. Antonio pflegte seine Freunde und seine Damen nie nach Hause mitzubringen. Als er zum erstenmal dennoch mit einer seiner Geliebten erschien, weil er dachte, ich wäre noch zur Erholung am Lido, kam es zu einer unangenehmen Szene für ihn. Goldene Regel: Komme niemals ohne Voranmeldung nach Hause. Danach übernahmen die Anwälte die Auflösung meiner Liebesheirat.

Meine italienische Familie klebte zusammen, ich saß dabei und sehnte mich nach London und James. In Gedanken nannte ich die venezianische Familie «Die drei Cesanos». Wie eine Zirkustruppe. Vielleicht war das nicht sehr liebenswürdig von mir, aber so wirkten sie eben auf mich. Als Antonio mich zum erstenmal zu seiner Mutter brachte, fand sie mich offenbar tatsächlich recht liebenswürdig. Aber das war nur meiner englischen Art zu verdanken, unangenehme Dinge in möglichst netter Form zu äußern. Auch ahnte die Contessa nicht, daß ihr einziger Sohn mich heiraten wollte. Für sie war ich eine junge englische Touristin, die nichts von den Kirchen und Museen verstand, die Lucia mir und den anderen Touristen zeigte. Einmal hatte Antonio sich an einem solchen Ausflug beteiligt, weil Lucia zu erkältet zum Reden war und er noch mehr von den Kunstwerken wußte als sie, auch wenn er Venedig offenbar nicht retten wollte. Bei dieser Gelegenheit lernte ich ihn kennen. Als die Contessa endlich die Wahrheit erfuhr und erst einmal ihren Sohn sprachlos anstarrte, hätte Antonio am liebsten alles rückgängig gemacht. Man muß italienische Söhne kennen, um zu wissen, welche Rolle die Mutter in ihrem Leben spielt. Natürlich hatte die Contessa längst eine Braut aus einer ebenso alten, berühmten Familie für Antonio im Auge gehabt. Es war sehr hart für sie, daß ich dazwischenkam, aber sie bewahrte Haltung. Sie hat mich im Gegensatz zu Lucia nie beleidigt.

 

Im Prinzip bin ich keine schlechte Menschenkennerin: Mit der Zeit habe ich meine eigene Methode zur Beurteilung von Charakteren entwickelt. Erst einmal studiere ich die negativen Seiten einer Persönlichkeit, danach die besseren Züge. So erspare ich mir und meinen Patienten lästige Enttäuschungen und mache mir Freunde. Mit Antonio Cesano hatte ich es offenbar umgekehrt gemacht, denn ich lernte seine Schattenseiten erst in der Ehe kennen. Ihm war es genauso gegangen.

Aus welchem Grund behauptet man, die Zeit heile alle Wunden? Das ist vollkommener Unsinn, denn das Gegenteil ist der Fall. Mit der Zeit sieht man klarer und schärfer, und man weiß endlich, was man in der Vergangenheit verkehrt gemacht hat. Es ist außerordentlich ärgerlich oder schmerzlich oder beides, daß man die Vergangenheit nicht noch einmal intelligenter leben kann.

Heute nach zehn Jahren weiß ich genau, warum und wieso ich mir mein eigenes Grab in Venedig grub. Anstatt mich zu wehren und meine Persönlichkeit geltend zu machen, entschuldigte ich mich beständig bei den drei Cesanos, weil ich als Kind gelernt hatte, möglichst oft I am sorry zu sagen. Noch schlimmer! Ich versuchte ihnen die Motive für meine Handlungsweise zu erklären: warum ich dieses getan und jenes gelassen hatte, warum ich so oder so reagierte, warum ich gekränkt war.

Goldene Regel: Entschuldige dich nicht, ob du im Recht bist oder nicht, und um Himmels willen erkläre nichts! Was immer du einem Mann oder einer Frau erklären möchtest, behalte es für dich. Sie hören doch nur mit halbem Ohr zu. Meine Ehe wäre anders verlaufen, wenn ich das damals gewußt hätte, aber ich fand es erst Jahre später heraus. Und was ich nicht selbst entdeckte, lernte ich von James, Miss Lydia, Maggie und Sniffles.

Außer James waren alle erstaunt, daß ich so wenig wußte. Aber ich hatte die ersten Jahre meines Lebens nicht in England und nicht wie andere Kinder gelebt. Die ungeschriebenen Gesetze in einem japanischen Gefangenenlager sind kaum mit dem Leben in England zu vergleichen. Aber ich will schlafenden Kummer nicht eine Woche vor meiner Abreise nach Venedig aufwecken. Es wäre zu viel. Alle meine Probleme erklären sich aus der Tatsache, daß ich die entscheidenden Jahre meiner Kindheit und meiner Jugend in einer Gesellschaft mit anderen Spielregeln zugebracht habe. Das gilt für meine Zeit in Venedig genauso wie für meine Kindheit im Fernen Osten. Ich bin zu einem Außenseiter der Gesellschaft geworden. Ich spiele nur zum Schein mit.

Vielleicht ist man sich nicht tiefgehend genug über die Wirkung der Gesellschaft auf unseren Charakter klar. Meine venezianische Erfahrung hat mich über grundlegende Unterschiede der Lebensweisen aufgeklärt.

Die drei Cesanos lebten für die Gesellschaft, der sie entstammten. Die Wirkung, die sie auf Leute ausübten, und die Wirkung ihrer Freunde auf sie selbst waren ihnen wichtiger als ihre privaten Erlebnisse und Empfindungen. Sie lebten nach außen, sie handelten mit dem Gedanken an andere, sie hörten das Echo ihrer eigenen Worte. Innere Stimmen und Bilder waren nicht von der großen Bedeutung für sie wie die Außenwelt. Vielleicht hatte ihr Verhalten etwas mit ihrer Stadt der extravaganten Schönheit, der schwankenden Paläste, dem Moderduft der Kanäle, über denen sich schwungvolle Brücken wölben, zu tun. Ich glaube, daß das Auge sich in Venedig tatsächlich berauscht. Ich war und blieb nüchtern, aber alles, was ich aufnahm, machte einen tiefen Eindruck auf mich und stimmte mich nachdenklich. Außerdem ist es mir wie vielen meiner Landsleute gleichgültig, wie ich auf andere wirke. Auch wir wollen zwar einen möglichst angenehmen Eindruck hinterlassen, aber wenn es nicht gelingt, macht es uns auch keine Kopfschmerzen. No, Sir!

Antonio war beständig irritiert oder entsetzt, daß ich mir so wenig Mühe gab, den Freunden seiner Mutter zu gefallen. Ich wollte auch keinen besonderen Eindruck auf Salvatore Moretto und die «Fröhliche Witwe» machen – zwei tägliche Besucher meiner Schwiegermutter. Ich war zu deprimiert oder zu stolz, zu träge, zu gleichgültig dazu. War ich zu englisch, um mich fremden Leuten gegenüber in Szene zu setzen und schöne Reden zu führen und anzuhören? Ich kann es nicht mehr sagen.

Mit Bestimmtheit weiß ich nur, daß Antonio stolz auf mich sein wollte. Seine Freunde sollten ihn um seinen Besitz beneiden, was keiner tat. Wenn überhaupt, mache ich erst auf den zwanzigsten oder dreißigsten Blick Eindruck. Niemand sagt «Ah!» oder «Wer ist denn diese Frau?», wenn ich ein Zimmer voller Menschen betrete. Antonio Cesano verbrachte sein Leben in Sälen oder Gondeln voller Leute, er wollte, daß ich Aufsehen erregte. Hätte ich einen einzigen Bewunderer gehabt, auf den Antonio eifersüchtig hätte sein können, dann wäre er wahrscheinlich der glühende, wenn auch kühl beobachtende Liebhaber geblieben, den er mir zuerst vorgespielt oder vorgelebt hatte. Eine Frau, die niemanden aufregte, lähmte seinen Schwung. Wenn er gelegentlich, in Ermangelung einer besseren Partnerin, mit mir schlief, war es qualvoll. Ähnlich muß es sein, wenn zwei Skelette sich umarmen: Nichts als Knochen und kein schlagendes Herz.

Antonio war ein starker Raucher. Sein Raucherhusten ist mir lebhafter im Gedächtnis geblieben als seine Glanzseiten. Wenn er sich über mich ärgerte, hustete er wie ein Schwindsüchtiger, der er nicht war. Er hatte eine Menge nervöser Angewohnheiten. Auch ich entwickelte welche. Ich verschluckte mich an Fischgräten; ich fuhr zusammen, wenn Lucia mich etwas fragte, was sie gar nicht wissen wollte, sie brachte mich damit in Verlegenheit. Sie machte das virtuos. Ich vergoß Tomatensauce auf dem spitzenbesetzten Tischtuch meiner Schwiegermutter. Es waren Spitzen aus Buranos Klöppelschule. Die Contessa fuhr regelmäßig auf die Insel und handelte etwas vom Preis ab. Antonio schwieg finster, Lucia lächelte zufrieden, und die alte Contessa saß erstarrt da. Sie sagte nichts, zog aber die dichten dunklen Augenbrauen in die Höhe und klingelte nach der Dienerin. Sie war nicht gewohnt, von beflecktem Leinen zu essen. Ihre beiden Stammgäste, der Anwalt Moretto und die Marchesa Vivarini, die lachende Witwe, betrachteten den alten Wandteppich, und sie unterhielten sich im Flüsterton. Ich stammelte eine Entschuldigung, während ab- und aufgedeckt wurde. Es geschah so schnell und diskret, daß man es kaum merkte. Mir war der Appetit vergangen. Ich betrachtete das steinerne Profil meiner Schwiegermutter – die lange, steile Nase, die vorgeschobene Unterlippe, die Eigensinn und Herrschsucht verriet, die tiefen Falten und Höhlungen eines Gesichts, das wohl immer einen nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. Und dann die Augen! Tizian hätte sie malen müssen. Die Contessa hörte meine Entschuldigungen in nachdrücklichem und hochmütigem Schweigen an. «Es ist gut», sagte sie endlich. Aber es war nicht gut. Später machte Antonio mir eine Szene. Er tat, als ob die Tomatenflecke Blutflecke gewesen wären. Übrigens roch meine Schwiegermutter Blut wie ein Haifisch, Blut und Tod. Einmal sagte sie zu Antonio: «Wenn du nicht auf dich aufpaßt, wirst du früh sterben.» Ich verschluckte mich vor Schreck wieder an einer Fischgräte, und Antonio gab nur ein gedämpftes Hustensolo, da seine Mutter kranke Leute nicht um sich haben wollte.

 

Oft wollte ich James schreiben und ihn brieflich mit meiner neuen Familie bekannt machen. In Wirklichkeit wollte ich mir Rat und Trost bei ihm holen. Aber ich brachte schließlich nur ungeschickte Mitteilungen zustande über Sehenswürdigkeiten und Kirchen, die James besser in einem Buch über Venedig nachlesen konnte. Er hätte mir diese Familie einfach nicht geglaubt. Einer seiner nettesten Züge ist es, Tragödien abzulehnen. Das macht das Zusammensein mit James so erholsam. Manchmal malte ich mir aus, ob und wie er mit meiner Schwiegermutter fertig werden würde. Und mit Lucia. Und mit der lachenden Witwe, die sich als meine mütterliche Freundin bezeichnete. Meinetwegen. Die Marchesa war gar nicht so übel, und vielleicht hätte ich mich sogar versuchsweise an sie angeschlossen, wenn sie nicht die Vertraute meiner Schwiegermutter gewesen wäre. Elvira Vivarini fragte mich in regelmäßigen Abständen, ob ich nicht einmal meine Mutter und meine Freunde in England besuchen wolle. Ich wollte schon, fand aber nicht die Entschlußkraft. Wahrscheinlich ahnte ich schon, daß es ein Dauerbesuch ohne Rückflug werden würde.

Die Marchesa war eine Klatschbase, aber dabei amüsant. Sie war die einzige, die mich gelegentlich zum Lachen brachte, und deswegen bewahre ich ihr ein ehrendes Andenken. Was anfechtbar an ihr war, habe ich erst später daheim durch angestrengtes Nachdenken herausgefunden. Die harmlos lächelnde Marchesa liebte Szenen der Erniedrigung, die mein Anwalt schweigend ignorierte. Meine Ehe war ein Schauspiel nach ihrem Geschmack. Wenn sie als alte Freundin der Familie meinem Mann gut zuredete und ihn um Geduld mit der jungen Engländerin bat, verschärfte sie nur seine üble Laune mir gegenüber. Das gefiel ihr. Trotzdem hatte sie mich gern, vertrieb mir viele einsame Stunden mit ihren Scherzen und Anekdoten. Außerdem zeigte sie mir einige Inseln in der Adria. Sie bestand aus Widersprüchen wie wir alle. Aber sie war warmherziger und nicht ganz so schadenfroh wie Antonio und Lucia. Trotz ihrer Körperfülle bewegte sie sich schnell auf kleinen, zierlichen Füßen in den herrlichsten und teuersten Schuhen, die ich je gesehen hatte. Sie war stolz auf ihre Füße, die gewiß gut zu ihrer Jugendfigur gepaßt hatten. Ihr volles lächelndes Gesicht mußte einmal sehr reizvoll gewesen sein. Sie trank viel und gern, dann wurde sie noch unterhaltender. Ob sie sich in den zehn Jahren meiner Abwesenheit sehr verändert hat? Vielleicht ist sie schon tot. Aber das hätte mein Anwalt mir wohl doch mitgeteilt. Sie gehörte wie er zum Haushalt der Cesanos. Ihr rundes Gesicht mit den runden, dunklen Augen, ihr immer noch schönes, volles Dekolleté, ihre wohlgeformten Arme und Hände erinnerten mich an das Gemälde von Tiepolo im Dogenpalast «Neptun bietet Venezia seine Gaben an». Sie war Venedig – mit ihrem üppigen, kunstvoll frisierten, rotgoldenen Haar, natürlich gefärbt, aber gut gefärbt, und den dunklen, unersättlichen Augen. Sie war die einzige, die mir zum Abschied etwas schenkte – eine kostbare kleine Vase. Tat es ihr leid, daß sie nun auf das Schauspiel meiner Erniedrigungen verzichten mußte? Auch das weiß ich nicht. Sie schrieb mir nach Antonios Tod einen kurzen, traurigen Brief.

Sie lebte das Leben der Cesanos mit; ihr eigenes Leben kannte ich nicht.

 

Vor meiner ersten Venedig-Fahrt hatte ich in einem Londoner Krankenhaus gearbeitet und dort Erfahrungen gesammelt. Meine überstürzte Heirat hatte meine Pläne einer eigenen Praxis über den Haufen geworfen. Wie ich es ohne Arbeit und berufliche Weiterbildung mit den drei Cesanos aushielt, ist mir heute ein Rätsel. Goldene Regel: Laß die Halbtoten ruhen, und erst recht die Toten! Aber ich kann es nicht lassen. Vielleicht weil ich, die ich nun Sterben und Tod oft am Krankenbett erleben muß, nie richtig an Antonios Tod glauben konnte. Ich war nicht dabeigewesen. Zwar weiß ich, daß er tot ist. Die Marchesa hatte mir ein Foto der Toteninsel San Michele geschickt, wohin sie Antonio gebracht hatten. Er machte seine letzte Fahrt von den Fondamente Nuove über die Lagune zu den Inseln, die er geliebt hatte. Was sein Tod für seine Mutter bedeutete, kann ich mir kaum vorstellen. Je heftiger sie ihn kritisierte und herumkommandierte, desto heißer hatte sie ihn geliebt. Ein Blick in ihre Augen hatte mir jungem, unerfahrenen Ding die Leidenschaft ihrer Mutterliebe enthüllt. Zu Lucia war sie immer nett und sogar nachgiebig gewesen; diese Tochter war ihr nicht wichtig genug für große Gefühle. Ich bewahrte das Bild der Toteninsel einige Jahre auf. Dann zerriß ich es in einem Versuch, das letzte Band zu Venedig zu lösen. Ein kindlicher Versuch, von dem James nichts ahnt. Ich wollte die strenge, klassische Fassade der alten Totenkirche vergessen. Einmal war ich mit Antonio in San Michele gewesen. Er unterhielt sich mit franziskanischen Mönchen, die in ihren Sandalen zwischen Kirche und Friedhof hin und her eilten, um Trauerzügen mit Särgen ruhig und umsichtig den Weg zu weisen. Nun war Antonio an der Ruhestätte der Cesanos angelangt – er, der Unruhige, Rastlose, Lebenshungrige. Elvira Vivarini hatte mir zu dem Bild der Insel geschrieben, daß sie Antonio regelmäßig besuche und sich dann auf Torcello mit Lagunenfisch und trockenem Weißwein stärke. Dort stellte ich sie mir lieber vor als auf dem Friedhof mit den dunklen Zypressen und den aufdringlich leuchtenden Büsten und Engeln aus Carrara-Marmor. Nur die Katzen, die verstohlen zwischen den blumenbeladenen Gräbern herumschlichen, hatten mir auf San Michele gefallen. Das Familiengrab der Cesanos war ein wahres Mausoleum – anspruchsvoll, rücksichtslos seinen Platz behauptend, den es bescheideneren Toten auf dem überfüllten Friedhof wegnahm. Die meisten Toten durften hier nur zehn oder zwölf Jahre ruhen, dann wurden ihre Knochen auf eine entfernte Insel gebracht. Nicht so bei den Cesanos! Warum dachte ich manchmal insgeheim, daß Antonio nur so tat, als ob er tot wäre? Vielleicht, weil er, auch wenn er mir böse Streiche gespielt hatte, immer voller Leben gewesen war. Selbst wenn er müde oder gelangweilt war, wirkte er lebendiger als andere. Einmal warf er einen Fisch aus Murano-Glas nach mir, aber er lachte, als ich mit einem Sprung zur Seite auswich. Der Fisch zersplitterte auf den Steinfliesen. Antonio lachte weiter. Dann ging er aus. Er hat mir nie gesagt, wo und mit wem er seine Abende nach dem Essen bei seiner Mutter verbrachte.

Aber seine Unruhe steckte mich an. Wenn die Marchesa keine Zeit hatte, lief ich allein herum oder fuhr mit einem Vaporetto auf die Inseln der Lagune oder zum Lido. Ich schwamm, genoß die Sonne. Die drei Cesanos ließ ich in Venedig zurück. Das wäre etwas für James gewesen! Er schwimmt wie ein Fisch, schweigt wie ein Trappist und verbreitet Ruhe und Wohlbehagen. Ist es zu fassen? James hat die halbe Welt bereist, war aber nie in Venedig. Meine Bitte, mich dort zu besuchen und fabelhafte Antiquitäten aufzustöbern, ignorierte er. Sei vorsichtig mit James! Ich wurde nie müde, Einkäufe in den engen Treppenstraßen vom Rialto zu machen. Ein Spitzentuch für meine Mutter, eine rote Ledertasche für Maggie, einen Ball für Sniffles, und eine Gemme für Miss Lydia, die sie zu kostspielig findet, aber heut noch am Sonntag an ihr graues Kleid steckt. Sie trägt nur Grau. Für James fand ich nichts Rechtes, weil ich fühlte, er wollte nichts haben. Erst als ich Venedig verließ, entdeckte die Marchesa einen Krug aus Murano-Gals, den Touristen nicht zu sehen bekamen. Sie hatte ihre Quellen. Nie wieder habe ich eine so gefällige Person getroffen. Wer mit ihr Einkäufe in der Merceria machte, stürzte sich nicht von der Rialto-Brücke. Sie brachte mich immer wieder zum Lachen. Sie kannte jeden Skandal, und ich erfuhr eine Menge über die Kreise, in die ich ohne Überlegung hineingeraten war. An unsere Einkäufe und die Espressos auf der Piazza San Marco denke ich gern zurück. Ich habe wenig Sinn für Mode und trage längst wieder Wollröcke, Pullis, Regenmäntel – die Londoner Uniform. Aber ich habe die Spitzen, Seiden, Lederwaren, Kunstwerke, Schuhe und die Korallen in den halbdunklen, engen Läden nicht vergessen. Schönheit zu Wucherpreisen, aber zugleich Erinnerungen an eine Glanzzeit, die längst versunken war. So wie diese Stadt langsam ins Meer zurücksinkt. Rettet die Gemälde, die Statuen, die Brokate und Korallen! Ich will nichts von diesen Schätzen besitzen, aber sie sollen auf dieser Welt bleiben, auch wenn dies Venedig nur einen steinernen Traum und ein bezauberndes Vorurteil der Kunstwelt sein sollte. Selbst die Gemüsehändler sind hier Fantasten: Sie nennen gewöhnliche gelbe Pflaumen ‹Goldtropfen›. Venedig hat immer viel Gold gehabt, nur keine goldenen Regeln.

 

Als meine Mutter mich in Venedig besuchen wollte, winkte ich ab. Die vielen Treppen seien nichts für ihr Herz, was stimmte. Die Cesanos unterhielten sich zu Hause nur italienisch. Auch das stimmte. Die Hitze würde sie unliebsam an Asien erinnern. Das war nicht wahr. Die Sonne am Lido ist eine Liebkosung. Ich schrieb noch viel mehr in dieser Tonart. Daraufhin schickte Mama mir ein ganzes Jahr lang keinen Brief. Nur vorgedruckte Weihnachts- und Geburtstagskarten, versehen mit ihrer spitzen, feindseligen Unterschrift. Goldene Regel: Nenne bei Absagen zwei stichhaltige Gründe. Vier sind verdächtig, sechs sind unglaubwürdig. Ich glaube, meine Mutter hat eine bessere Tochter verdient.

James besitzt eine alte chinesische Litographie: Umarmung zwischen Schlange und Schildkröte. Das Original stammt von Wu Taotzu, dem großen buddhistischen Maler der T’ang-Periode. Die Riesenschlange umschlingt die breite, unbewegliche Schildkröte mit den länglichen neugierigen Augen fest und tödlich. Wie klassische chinesische Liebespaare scheinen die beiden zusammen zu leben oder zu sterben.

Als ich die Lithographie zum erstenmal sah, war ich zehn Jahre alt, James war zweiundzwanzig. Wir wohnten alle bei Mrs. Clarke in ihrem Ferienhotel in Suffolk, und James kam aus Oxford zu Besuch. Er nahm die Schlange und die Schildkröte überall mit, so wie Maggie kein Haus ohne Sniffles betritt.

«Das ist James», sagte Lydia, die ihrer Mutter im Familienhotel half. Wenn es ihr zuviel wurde, ging sie ans Meer. Sie sagte, James studiere Kunstgeschichte in Oxford.

«Gefällt dir das Bild, Kleine?» fragte James herablassend.

«Ich finde es scheußlich.»

«Es ist ein sehr nettes Bild.» Wie immer sprach James mit leiser Stimme, aber er war wütend. Er war noch jung genug, um sich über abweichende Meinungen zu ärgern.

Ich schrie: «Die Schildkröte ist eine Gefangene. Sie kommt nicht von der Schlange los. Das ist gar nicht nett.»

«Schrei nicht so», sagte James. «Was für ein dummes kleines Ding bist du doch! Weine nicht, Hilary.» James war ganz erschrocken. Er konnte mich nie weinen sehen. Auch heute nicht, wo ich mir den Luxus selten leiste.

Miss Lydia gab mir heiße Milch und Kuchen, den Maggie Dobbs eigentlich für Sniffles I. gebacken hatte. Sniffles I. starb kurz nach Jacks Tod. Jack war Maggies fröhlicher Ehemann gewesen. Er war nur fünfunddreißig geworden, erschien mir aber damals uralt und zum Sterben reif. Maggies jetziger Sniffles beschnuppert eifersüchtig die Fotos seiner Vorgänger in ihren entsetzlichen Muschelrahmen. Maggie ist Stammgast auf dem Hundefriedhof.

Ich aß Kuchen und heulte weiter. Meine Mutter, die nichts von chinesischer Kunst und James hielt, sagte prompt: «Da haben wir es. Sie regen das Kind mit Ihrem Chinesenkram auf, James. Hilary muß den Fernen Osten vergessen.»

«Halten Sie das für möglich, Mrs. Stafford?»

«Allerdings», sagte meine Mutter unfreundlich. «Davon verstehen Sie nichts, junger Mann! Komm, Hilary! Wir machen jetzt einen netten Spaziergang.»

 

Jahre später erklärte James mir die Bedeutung des Bildes. Die Schildkröte ist ein Symbol für Dunkelheit, Passivität, Sanftheit, Wasser und Mondlicht. Sie ist yin, das weibliche Element. Und yin ist die Ergänzung von yang, der schöpferischen, hellen, männlichen Energie. Weil er ein Mann ist, schätzt James chinesische Auslegungen.

Ich denke anders über das weibliche Element in der Welt. Ich bin kein aktives Mitglied der «Women’s Liberation» der siebziger Jahre, daran ist meine Mutter schuld. Meine altmodische, konventionelle Mutter ging hocherhobenen Hauptes mit mir zweijährigem Kind und der heulenden malaiischen Kinderfrau aus einem kolonialen Tropenpalast in ein japanisches Gefangenenlager in Mittel-Java. Sie war weder sanft noch passiv wie chinesisches Mondlicht. Sie stammt aus Yorkshire.

Wie mir eine Leidensgenossin viel später erzählte, ertrug die Gefangene Stafford klaglos Hunger und Demütigungen und sorgte verbissen dafür, daß ich am Leben blieb. Sie war stoisch, energisch und erfinderisch wie Yang gewesen. Sie hatte ihr lange spitze Nase hoch in der Luft getragen, wenn man sie «bestrafte» und herumkommandierte oder über sie lachte, wenn ein besessener japanischer Feldwebel die Bambuspeitsche über ihr schwang oder der Kommandant sie anschrie. Die Holländerinnen nannten sie die englische Heldin. Aber wie viele Heldinnen war sie wohl nicht gerade angenehm gewesen. Ihre Freundin erzählte mir, wie sauber und ordentlich sie sich und mich unter diesen Verhältnissen gehalten hatte. Viele Frauen waren so verzweifelt, daß sie ihr Gesicht nicht mehr wuschen und sich nicht kämmten. Die Kriegsgefangene Stafford trug störrisch ihre rosa Haarschleife, bis das Band zerfiel.

Meine eigenen Erinnerungen an das Lager sind in traumatisches Dunkel gehüllt. Und was ich von meinen ersten zwei Jahren auf der Plantage weiß, stammt aus einem alten Fotoalbum, das meine Mutter kurz vor dem Kriege nach Hause schickte. Diese Bilder sind das Dokument eines sonnigen Tages auf der großen Gummiplantage mit dem herrlichen Tropenhaus meiner Eltern. Und die Gärten! Mein Vater war Manager der Plantage, er hatte sie wohl über alles geliebt. Meine Mutter hatte ihn oft beschworen, nach England zurückzukehren, aber er wollte nichts davon hören. Sie hat ihm nie verziehen, daß er die Invasion der Japaner in Malaya abwartete. Wie so viele andere hatte er nicht an die Katastrophe geglaubt.

Er war bedeutend älter als meine Mutter, hatte sie bei einem Heimaturlaub kennengelernt, vom Fleck weg geheiratet und, wie mein Großvater in Yorkshire sagte, auf die Plantage verschleppt. Sie ist immer die Lehrerin geblieben, die sie damals war. Nach unserer Befreiung aus dem Lager hat sie ihre Erlebnisse für mich aufgeschrieben. Ohne Selbstmitleid, in chronologischer Ordnung und ohne jedes Verständnis für Ostasien. In Malaya fand sie alles «übertrieben» – die flammenden Blüten, die tiefen Verbeugungen der Diener, die farbenprächtigen Sarongs der Mädchen, die Sonne und die Chinesinnen im engen, seidenen Cheong-sam. Unter den alten Bildern befand sich das Foto einer blutjungen Chinesin in einem geblümten Cheong-sam, der fast bis an die Hüften geschlitzt war. Sie sah schön, heiter und schlau aus. Ich fragte meine Mutter, wer dies entzückende Mädchen sei. Eine Freundin? «Die Sekretärin deines Vaters. Sie stank nach Jasmin.» Meine Mutter zerriß das Bild und warf die Schnitzel ordnungsliebend in den Papierkorb. So ahnte ich mit siebzehn zum erstenmal etwas von den alten Ehekonflikten meiner Eltern. Warum kann man sich so etwas nie richtig vorstellen? Sie waren doch jung gewesen.

 

Ein verblichenes Familienbild ist eine Entdeckungsfahrt in meine frühe Kindheit. Die vier Personen auf dem Foto sind substanzlos wie javanische Schattenspieler. Aber da ist die Familie Stafford – urenglisch bis auf meine Kinderfrau. Mein großer, freundlicher, eleganter Vater. Meine strengblickende, starr aufgerichtete Mutter – ein jugendlicher, puritanischer Schatten. Und meine junge, sanftäugige Babu in ihrem besten Sarong, mit einer Blüte im schwarzen Haar und mit mir auf dem Arm. Nur sie und Tuan Stafford sehen vergnügt und wohlgenährt aus. Trotz ihrer Jugend wirkt meine Mutter in ihrem sportlichen Leinenkleid verblüht, verkniffen und vom Klima ausgelaugt. Ich bin ein weißgekleidetes, mit einem Leinenhütchen geschmücktes Häufchen Unglück mit Streichholzärmchen und Beinchen – überzart wie viele blonde Kinder in den Tropen. Hinter der sonnigen Veranda mit den Drahttüren dehnen sich große, halbdunkle Räume, die die Illusion von Kühle und Schatten vermitteln. Was das Bild nicht zeigt, ist der Dschungel hinter den riesigen Parks und Gärten der Kolonialgötter. Auch riecht man nicht die betäubenden Düfte, man spürt nicht die lähmende Hitze und die nächtlichen Fieberschauer. Man sieht nicht das Chinin in der Hausapotheke oder den Lieblingsdiener meines Vaters, der plötzlich Amok lief; nicht das erschreckende Wachstum der Pflanzen, die schamlose Überfülle und schnelle Fäulnis der Natur. Man hört nicht das Kreischen der wilden Affen und sieht nicht den Flug der Fiebervögel im Dschungel, der sich unsichtbar im Hintergrund des britischen Idylls ausdehnt. Das Foto zeigt nichts von alledem, was meine Mutter in unversöhnter Abneigung gegen das Land für mich aufgeschrieben hat. Auch die Sekretärin meines Vaters im seidenen Cheong-sam ist nicht zu sehen auf dem Bild.

 

Kurz vorm Einzug der Japaner, als alles noch friedlich schien, besuchte meine Mutter mit mir und meiner Babu eine englische Freundin, die einen holländischen Regierungsbeamten geheiratet hatte, im ehemaligen Batavia. Mein Vater war gegen diese Reise im schwankenden, von Gerüchten und Unruhe erfüllten Ostasien. «Wir fahren», entschied meine Mutter. Die meisten Unterhaltungen mit ihr schließen mit einem Ultimatum. Sie wollte eine lange Zeit fortbleiben. Ihr Wunsch wurde ihr erfüllt. Zusammen mit den holländischen Frauen, Kindern und kleinen Handkoffern für das Nötigste, wurde meine Mutter, mit mir auf dem Arm, in überfüllten Zügen, streckenweise auf Ochsenkarren in ein japanisches Kriegsgefangenenlager in Mittel-Java gebracht. Dort blieben wir bis Kriegsende. Von 1942 bis 1945. war fast schulpflichtig, als wir befreit wurden. Meine Mutter hatte die Lagerkinder zusammen mit den anderen Frauen, die gesund oder einfach nur am Leben geblieben waren, in Lesen, Schreiben und Englisch unterrichtet. Die Lektionen wurden ständig durch Krankheit oder Tod der Kinder und Lehrer unterbrochen. Eine Eintragung meiner Mutter in ihrem Tagebuch lautet: Hilary hat Geschwüre am Kopf, im Gesicht und an den Beinen. Und dabei halte ich das Kind peinlich sauber. Wie ist das möglich? Eine holländische Ärztin muß ihr gesagt haben, wie das möglich war … Weitere Notiz: Ich trage das weinende Kind nachts auf den Armen umher, dann gibt es etwas Ruhe für die anderen. Und dann: Ich habe es durchgesetzt, daß Hilary etwas Milch und Früchte und Medizin durch das Internationale Rote Kreuz bekommt. Kein Wort, auf welche Weise die «Heldin» das durchsetzte! Nur die Schlußnotiz der Krankengeschichte: Hilary ist wieder gesund. Ich habe Lagerarrest, und Elizabeth sorgt für das Kind. Keine Klage. Keine Beschreibung der sogenannten Gefängnishütte und wie man dort mit ihr verfuhr. Ihre Freundin Elizabeth aus Batavia hat es mir Jahre später erzählt. «Mein Gott», stammelte ich, «wie konnte sie das aushalten?» Und Elizabeth sagte: «Yorkshire bleibt Yorkshire.» Eine kleine erheiternde Episode: Meine Babu wollte durchaus mit uns ins Gefangenenlager, sie kniete vor meiner Mutter, in Tränen aufgelöst. Sie wollte die neue Freiheit der Japaner nicht genießen. Sie wollte mit uns zusammenbleiben, sie wurde bei unserer Festnahme von laut lachenden, japanischen Wachen abgeführt. Zu diesem Vorfall bemerkt meine Mutter: «Die Babu war immer einfältig und konnte weder stopfen noch Ordnung in Hilarys Sachen halten. Aber ein anständiges, kleines Ding.» Ich vermute, die Babu zitterte mehr vorm Zorn meiner Mutter als vor den Japanern. Was wohl aus ihr geworden ist? Ich weiß nur, was aus meinem Vater wurde. Zusammen mit Mr. Harris, seinem jungen, frisch aus England gekommenen Assistenten, und dem malaiischen Oberaufseher der Pflanzung verteidigte Papa heroisch und sinnlos seine Musterplantage gegen die eindringenden Japaner. Wie man später in Singapore erfuhr, wurden alle drei sofort erschossen. Die Kulis hatten sich vernünftigerweise in den Dschungel zurückgezogen und kamen erst wieder mit strahlendem Lächeln und Verbeugungen zum Vorschein, als die Sieger sich in Malaya festgesetzt hatten. Diese Schauspiele der Flucht und der Begrüßung der «Befreier» wiederholen sich von Zeit zu Zeit im Fernen Osten. Ähnliches hat sich mit den in Saigon Verbliebenen beim Einzug der Kommunisten von Nordvietnam im Frühjahr 1975 abgespielt. Wer fliehen konnte, floh aus Vietnam; aber wer blieb, wie damals die Arbeiter meines Vaters, der machte lächelnd seinen Frieden. Niemand in Ostasien liebt selbst einen ehrenvollen Verlierer.

 

Habe ich die Eindrücke der Gefangenschaft überwunden? Ja und nein. Ich war zu jung für seelische Leiden. Aber eine Abneigung gegen dichte Wälder und hohe Gartenzäune ist mir geblieben. Noch heute gehe ich ungern durch einen dunklen Wald. Ich liebe den Strand, offenes Meer, die Salzluft der Freiheit. Der Horizont soll nicht von Zäunen begrenzt sein. Natürlich spreche ich nicht darüber. Goldene Regel: Wandere abends nicht durch den Wald! Höchstens mit Sniffles. Er ist so drollig, daß ich meine alte Phobie vergessen könnte. Maggie sagt immer, Sniffles hätte es als Mensch weit gebracht. Ich finde, er hat es als Hund weit gebracht. Weiter als James, der mich nicht zu Waldspaziergängen ermuntern kann, wenn wir Pfingsten verreisen. Er schleppte mich vor einigen Jahren in einen Wald in Österreich. Nachher schüttelte er den Kopf. In einer Lichtung hatte ich mich heftig übergeben. Dann ging’s durch den dichten Wald ins Dorf zurück. James liebt Wälder. Und chinesische Kunst. Weil James und ich uns eine Woche vor meiner zweiten Venedig-Fahrt die Jade-Kollektion im Victoria & Albert-Museum ansahen, erinnerte ich mich plötzlich an die chinesische Sekretärin im Cheong-sam, vielmehr an ihr Foto, das meine Mutter vor Jahren zerrissen hatte. Ich bin davon überzeugt, daß die Sekretärin alles überlebt hat und als Siegerin die Plantage und den Dschungel verließ. Sie wird nicht in der zerstörten, mit englischen und malaiischen Leichen übersäten und von mörderischen Schlingpflanzen bedrohten Welt der toten Tuans geblieben sein. Sie wird sich rechtzeitig nach Singapore gerettet haben. Verlaßt euch auf die Chinesen! Sie haben das Talent, alles und alle zu überleben, weil ihre Feinde ihre Freunde und ihre Freunde von Zeit zu Zeit ihre Feinde werden. Das meinte meine Mutter, als sie die Chinesen als ‹falsch wie die Sünde› bezeichnete. James meint, sie sind nicht falscher oder treuer als andere Leute; sie sind nur schlauer, schneller und wollen unter allen Umständen am Leben bleiben. James ist manchmal in Hongkong, und er hat auch in London chinesische Freunde. Aus Hongkong brachte er seine Passion für Jade mit. Was das Überleben-Wollen betrifft, so hat meine Mutter Ähnlichkeit mit Chinesen. Wie so vieles, behalte ich diese Meinung für mich. Mutter würde sehr böse werden. Sie macht mir Sorge. Ich meine als Patientin. Sie verfällt zusehends, vergißt wichtige Dinge, und manchmal fängt sie an zu klagen, was gar nicht zu ihr paßt. Auch nimmt sie sehr vieles übel, zum Beispiel, daß ich zu müde für häufige Besuche bin oder daß Sniffles sie nicht mag. Wenn Maggie bei ihr aufräumt, sitzt Sniffles in der Küche und wartet, bis sie fortgehen können. Wen er nicht mag, dem geht er konsequent aus dem Weg. Maggie entschuldigt sich bei meiner Mutter für ihn, da sie meine goldene Regel, sich nicht für Unabänderliches zu entschuldigen, nicht kennt …

«Bitte, besuche meine Mutter, wenn ich in Venedig bin, James!»

«Ja, natürlich», sagte er zerstreut. «Was soll ich mit ihr reden?»

James studierte ein Jadetier. Dann murmelte er, daß man Jade nicht biegen, sondern höchstens in Stücke hauen könne. War das eine Anspielung auf meine Mutter? Ich seufzte … Was mich bedrückt, sind nicht ihre schwindende Körperkraft und ihr Mangel an Konzentration, sondern die Verwandlung, die sie und ich durchmachen. Früher war sie eine Riesin an Mut, Kraft und Autorität. Sie war es viele Jahre, noch hier in England. Jetzt ist es so, als ob ich immer größer und energischer würde und sie immer kleiner und schwächer. Das Leben ist erschreckend. Als meine Mutter zum erstenmal sagte: «Was meinst du dazu, Hilary? Soll ich mit dem Hauswirt sprechen oder lieber nicht?», starrte ich sie an, als ob ich sie nie vorher gesehen hätte. Sie verkündete kein Ultimatum. Zum Schluß suchte ich den Hauswirt auf. Sie, die einen japanischen Kommandanten zu guten Taten für die gefangenen Kinder gezwungen hatte, fürchtete sich nun vor ihrem Hauswirt. Es war eine Lappalie, aber sie dankte mir, als hätte ich ihr das Leben gerettet. Ich konnte nachts nicht schlafen. Ich trauerte um etwas, was ich für immer verloren hatte. Plötzlich sah ich mich als alte Frau. Ich hörte Patienten sagen: Wissen Sie, wir gehen immer noch zu Dr. Stafford. Sie war ja großartig, als die Kinder noch kleiner waren. Aber sie läßt nach. Finden Sie nicht? Sie ist einfach nicht mehr dieselbe. Goldene Regel: Rechne damit, daß jeder sich mit der Zeit erschreckend verändert. Äußerlich und innerlich. Was du weißt, kann dich nicht aus der Fassung bringen.

Ich weiß eine Menge über Venedig und die Einwohner der Lagunenstadt. Aber ich geriet trotzdem aus der Fassung. Ich sollte einem Mann begegnen, der, ohne es zu ahnen, den ganzen, schlafenden Kummer aufweckte.

«Soll ich wirklich fahren, James?»

«Du hast doch deinen Flug gebucht, nicht wahr?» James tat, als ob man einen Flug nicht absagen oder umbuchen könnte. Gewiß, man verliert etwas Geld dabei, aber wenn man ohnedies wenig Geld hat, spielt das auch keine Rolle mehr.

In der Burlington Arcade, nicht weit von der Bond Street, machte ich meine letzten Einkäufe für die Reise. James begleitete mich ziemlich widerwillig, weil er unentschiedene Käuferinnen nicht ausstehen kann. Da ich nichts von Mode verstehe, weiß ich nicht, ob ein grüner oder brauner Schal besser zum neuen Kostüm paßt. Endlich schleppte James meine Pakete zum Wagen. Auch das macht ihm wenig Spaß, aber er tut es, weil er James ist. Ich blickte ihn von der Seite an. Sollte ich ihn fragen, ob er mich gelegentlich vermissen werde? Goldene Regel: Sei vorsichtig mit James! Ich fragte, ob er sich etwas um Sniffles kümmern könnte. «Er winselt schon jetzt, weil er deine Koffer sieht – der dumme Knirps», sagte James nachsichtig. Er hat den dummen Knirps recht gern …

James lud mich zum Tee ins Ritz ein. Für gewöhnlich trinke ich meinen Tee in engen Buden in Swiss Cottage, wo die Kellnerin darauf lauert, daß man Platz für die Nachfolger macht. Was geht es sie an, wenn ich mir den Mund an dem kochenden Tee verbrenne? Das ist anders im Ritz. Es ist überall anders, wo man mit James erscheint. Er möchte gern übersehen werden, aber es gelingt ihm nicht. Im Ritz hat man unendlich viel Zeit. Vor hundert Jahren soll in dieser Gegend das Wirtshaus «The White Horse Cellars» gestanden haben. Dort stärkte sich Mr. Pickwick mit Sam Weller und seinen Freunden für die Reise in der Postkutsche. Das gefällt James an dieser Gegend und am Ritz. Ich begeistere mich mehr für die Damentoiletten des Hotels, die so anheimelnd sind, daß man den Rest seines Weekends dort verbringen möchte. Sanfte Farben und Lichter, Waschbecken mit pausenlos heißem Wasser, und gelegentlich darf man ein Hündchen mitbringen, das die Aufsichtsdame betreut und verwöhnt. Sniffles wollte nicht wieder weg und machte auch noch die Bekanntschaft einer Herzogin.

Ich möchte diesen Luxus aber nicht bei mir zu Hause haben, denn in kurzer Zeit würde alles so aussehen, wie alles bei mir zu Hause aussieht.

«Höre, James! Ich werde ein volles Haus in Venedig vorfinden. Außer den New Yorkern wohnt ein Japaner in meinem Haus.»

«Wie kommt der dahin?»

«Elvira Vivarini schrieb, Lucia habe ihn bei einer ihrer Fremdenführungen kennengelernt. Er wollte nicht im Hotel leben, sondern in einem echten Palazzo.»

«Dann hat er ja, was er will.»

«Sein Zimmer ist im ersten Stock. Neben meinen Räumen.»

«Warum nicht? Irgendwo muß er doch schlafen.»

«Bitte, erzähle es meiner Mutter nicht. Sie wäre außer sich.»

«Meine liebe Hilary, selbst wenn ich nicht weiß, was ich mit deiner Mutter reden soll, werde ich ihr nichts von dem Japaner oder deinen New Yorkern erzählen. Ich kenne sie nicht und –»

«Du kannst ja nach Venedig zur Erholung mitkommen, James! Es ist überhaupt unglaublich, daß du die Stadt nicht kennst.»

«Wollen wir gehen?»