Indiras Fenster - Alice Ekert-Rotholz - E-Book

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Alice Ekert-Rotholz

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Beschreibung

Geschichten von Menschen, die in London leben, die hier geboren sind oder die das Schicksal in die Metropole verschlagen hat. Alle haben ihre eigenen Erfahrungen, und Alice Ekert-Rotholz läßt sie erzählen. Da ist zum Beispiel der junge Hamburger, der in ganz London »seine Deern« sucht. Und da ist Indira, die Inderin. Sie haßt diese kalte, graue, gleichgültige Stadt; sie haßt es, angestarrt zu werden. Viele Stunden ihres leeren Tages verbringt sie an ihrem Fenster. Das Leben spielt sich vor ihren Augen ab, ein Leben, das ihr fremd ist. Doch dann trifft sie Menschen, die auf sie zugehen, und wie durch ein Wunder wandeln sich auch Indiras Gefühle für London. Da ist jene noch gar nicht alte Witwe, die von ihren Kindern in ein Altersheim abgeschoben wird und fast ihren Lebensmut verliert. Doch ihr Witz und der feste Wille, nicht aufzugeben, lassen sie auch über die kuriosesten Widrigkeiten triumphieren. Alice Ekert-Rotholz hat ihr Weltstadt-Porträt mit jenem englischen Humor gewürzt, der selbst in tragischen Situationen ein Lächeln ermöglicht.

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Seitenzahl: 314

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Alice Ekert-Rotholz

Indiras Fenster

Geschichten aus London

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Geschichten von Menschen, die in London leben, die hier geboren sind oder die das Schicksal in die Metropole verschlagen hat. Alle haben ihre eigenen Erfahrungen, und Alice Ekert-Rotholz läßt sie erzählen. Da ist zum Beispiel der junge Hamburger, der in ganz London »seine Deern« sucht. Und da ist Indira, die Inderin. Sie haßt diese kalte, graue, gleichgültige Stadt; sie haßt es, angestarrt zu werden. Viele Stunden ihres leeren Tages verbringt sie an ihrem Fenster. Das Leben spielt sich vor ihren Augen ab, ein Leben, das ihr fremd ist. Doch dann trifft sie Menschen, die auf sie zugehen, und wie durch ein Wunder wandeln sich auch Indiras Gefühle für London. Da ist jene noch gar nicht alte Witwe, die von ihren Kindern in ein Altersheim abgeschoben wird und fast ihren Lebensmut verliert. Doch ihr Witz und der feste Wille, nicht aufzugeben, lassen sie auch über die kuriosesten Widrigkeiten triumphieren. Alice Ekert-Rotholz hat ihr Weltstadt-Porträt mit jenem englischen Humor gewürzt, der selbst in tragischen Situationen ein Lächeln ermöglicht.

Über Alice Ekert-Rotholz

Alice Ekert-Rotholz, am 5. September 1900 in Hamburg als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, lebte von 1939 bis 1952 in Bangkok. Nach Hamburg zurückgekehrt, war sie journalistisch für Funk und Presse tätig. 1954 erschien ihr erster Roman »Reis aus Silberschalen«, der sie schnell bekannt machte. Zahlreiche weitere folgten. 1959 siedelte Alice Ekert-Rotholz zu ihrem ersten Sohn nach London über. Dort starb sie am 17. Juni 1995.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoNur DoraJapanische ElegieIch möchte mit Gerald sprechenWenn der Minister zum Essen kommtUnsere DeernDas StraßenfestTee und ToastEndstation RichmondMiss ChatterboxBallade von Miss ChatwickAnnie oder der WitwenballIndiras FensterIch war eine englische RoseSchwarze NachtigallIIIIIIMiss Baldwins GeheimnisMein HerrBayswater-TrilogiePrologBett und Frühstück: Miss MossBett ohne Frühstück: Zille in BayswaterFrühstück ohne Bett: Episode

Für Thomas Ganske, der mir die Form des Monologs vorschlug.

In alter Verbundenheit

A.E.-R.

»… the London habit of soliloquy is the sign of an inner life and of an inner dialogue – romantic, sentimental, fanciful, eccentric, childish, nonsensical, ribald, comic, imaginative, hypocritical, selfmocking. It is a personal, reflective poetry … a sign that they live doggedly, tenaciously, fatalistically, alone, sustained by their strange histories.«

V.S. Pritchett

 

»… die Londoner Gewohnheit des Selbstgesprächs ist das Anzeichen eines Innenlebens und eines inneren Zwiegesprächs – romantisch, sentimental, kapriziös, exzentrisch, kindisch, unsinnig, ausgelassen, komisch, fantasievoll, heuchlerisch, sich selbst verspottend. Es ist persönliche, nachdenkliche Poesie … ein Zeichen dafür wie sie leben: verbissen, beharrlich, fatalistisch, allein und durch ihre seltsame Lebensgeschichten gestützt und erhalten.«

Deutsch von Alice M. Ekert-Rotholz

Zitiert nach V.S. Pritchett, »LONDON PERCEIVED«,

London 1962

Nur Dora

Hampstead, London NW3

»Barkis is willin’.«

Charles Dickens, »David Copperfield«

Glücklicherweise bin ich nichts Besonderes. Nur Dora. – »Nur nicht auffallen«, sagte meine Mutter. »Weder angenehm noch unangenehm.« Meine Mum wußte, was sie sagte. Papa fiel überall angenehm auf. Sogar Mum konnte es ihm nicht abgewöhnen, obwohl nur sie spielend mit ihm fertig wurde. Er war Theaterkritiker im Nebenberuf. Eigentlich aber war er Historiker. Ekelhaft begabt, und er sah immer wie ein Schauspieler aus. Wo immer er erschien, liefen die Frauen ihm nach. Mum, Mrs. Grimsby und ich konnten es nicht verstehen. Mrs. Grimsby war unsere Haushälterin, und sie glaubte, die Küche in unserem alten Haus in Hampstead gehöre ihr, und wir müßten um Erlaubnis bitten, eintreten zu dürfen. Sie hing an meiner Mutter, auch ein bißchen an mir, wenn ich in der Küche Tee mit ihr trinken durfte, und konnte Papa nicht ausstehen. Sie fand ihn launenhaft, mürrisch, geizig und zu gut aussehend. Mrs. Grimsby meinte, daß Ehemänner wie Schimpansen oder Dackel aussehen können. Ihr eigener Mann erfüllte diese Anforderungen. Mr. Grimsby war Klempner und reparierte unsere uralten Küchensachen und die historische Waschmaschine. Er sah wie ein Schimpanse aus und gehorchte seiner Frau wie ein Dackel. Papa mochte Mrs. Grimsby recht gern. Er mochte alle Leute, die ihn nicht ertragen konnten. Er machte mir niemals eine Freude, mich übersah er. Da hatte Papa natürlich recht. Es war nichts an mir zu sehen. – Mein Unterhaltungswert war auch nicht zum Staunen. Kurzum: Ich langweilte ihn, während Mrs. Grimsby ihn amüsierte und Mum ihn regelrecht, wenn auch vorsichtig, beaufsichtigte. Sie wußte, wieviel Konkurrenz sie in Hampstead hatte, wo jeder schreibt oder malt oder Musik macht. Bis auf mich natürlich. – Mum spielte wenigstens Harfe. Ich konnte nur Kartoffeln schälen und Papa anöden.

»Erzähl mir nicht, was andere Leute gesagt haben, Dora!

Dabei schläft man ein.«

»Das tut mir leid, Papa!«

»Also, worüber denkst du nach, Mädchen?«

»Ob es morgen regnen wird. Ob wir genug Reis für deinen Curry haben.«

Papa trommelte auf seiner Schreibtischplatte herum. »Und sonst, Dora? Worüber machst du dir Gedanken?«

»Daß Mum so dünn und blaß geworden ist.«

»Deine Mutter ist ganz in Ordnung. Nur etwas müde, weil ganz Hampstead Tee mit ihr trinken will. – Hast du eigentlich Freundinnen, Dora?«

»Mrs. Grimsby.«

»Ich meine: Altersgenossinnen.«

»Die finden mich langweilig.«

Papa stimmte mit ihnen überein, war aber so nett, nichts zu sagen. Worüber sollte ich mit ihm reden? Sein schönes, lebhaftes Gesicht, seine hohe Gestalt, sein schneller, scharfer Geist schüchterten mich hoffnungslos ein. Wahrscheinlich ärgerte er sich grün und blau darüber, daß ich ihn liebte und bewunderte. Endlich fiel mir etwas ein.

»Miss Trotter sagt, Poesie und dergleichen ist Blödsinn.« Miss Trotter war unsere Flickschneiderin und stickte altmodische Blumenbeete auf ganz vernünftige Tischdecken. Wir hatten in Hampstead noch mehrere alte Jungfrauen, die Papa als Fossilien bezeichnete.

»Was heißt ›und dergleichen‹?« fragte er gereizt. »Gewöhn dir nicht auch noch nachlässige Ausdrucksweisen an, Dora!« Vielleicht hätte ich ihm nicht sagen sollen, daß Miss Trotter Gedichte blödsinnig fand. Ich war derselben Ansicht. Aber Papa sagte ganz friedlich, daß Miss Trotter es ja wissen müßte. Und wann endlich sein Tee käme? Oder machte Mrs. Grimsby jetzt auch Gedichte?

Ich wurde rot. Er machte sich lustig über mich. Auf dem Weg zur Küche liefen mir die Tränen übers Gesicht und befeuchteten meinen Kragen. »Was ist mit dir los, Kleine?« fragte Mrs. Grimsby scharf.

»Nichts.«

Ich war fünfzehn Jahre alt und hatte kein einziges kleines Talent. Es war wirklich nichts mit mir los. – Aber wenigstens fiel ich nicht auf. –

Manchmal lauschte ich an der Tür, wenn meine Eltern im Schlafzimmer miteinander redeten.

»Was soll aus Dora werden? Das Mädel ist direkt stumpfsinnig. Sie hat nur die Küche und das Großreinemachen im Kopf.«

»Sei nicht lieblos, John! Sie ist etwas langsam. Aber sie wird sich schon mausern.«

»Ich bezweifle es, meine Liebe! Ganz Hampstead schüttelt den Kopf.«

»Ganz Hampstead ist nicht die Welt, John!« Mum stammte aus Surrey. »Du mußt versuchen, etwas geduldiger mit Dora zu sein.«

»Ich habe die Geduld eines Heiligen«, behauptete Papa mit einem Unterton von Groll. »Aber Dora …«

Ich hatte genug gehört. Ich schlich in mein Zimmer. Ich weinte nicht. Ich hatte kürzlich herausgefunden, daß Tränen nichts nützen. Und man muß den feuchten Blusenkragen plätten. Sonst sagt Papa: »Wie siehst du aus? Willst du als Vogelscheuche herumlaufen?« Er hat ja recht. Aber es schmerzt. Ich weiß, es ist albern, aber es tut mir trotzdem weh. Natürlich kann er nicht stolz auf mich sein – und ganz Hampstead dazu –, aber etwas freundlicher könnte er manchmal schon sein. Nicht nur zu Weihnachten. Oder wenn wir Gäste haben.

Er bezauberte alle. Mum hielt sich im Hintergrund. Wie ich. Aber sie spielte Harfe, und Papa war stolz auf sie. Wenn sie und Mrs. Grimsby nicht zu mir hielten, wäre es ziemlich schwierig.

Zwei Jahre später, an meinem siebzehnten Geburtstag, starb meine Mutter an einem Herzkrampf.

 

Nun konnte ich nur noch mit mir selbst reden. Mama war tot, aber trotzdem war sie überall. Im Wohnzimmer, in der Küche mit Mrs. Grimsby, im Eßzimmer, im Garten. Es war Mai. Alles blühte und leuchtete, was mich noch trauriger machte.

Unser Eßzimmer war der menschenleerste Raum in Hampstead. Papa aß nun in seinem Studierzimmer und ich mit Mrs. Grimsby in der Küche. Dort war ein Erker mit einem kleinen Tisch und zwei Stühlen, und dort schwiegen wir bei Kartoffelbrei und Würstchen. Auch Mrs. Grimsby hatte sich das Reden abgewöhnt.

»Bitte, Mrs. Grimsby! Reden Sie ein bißchen mit mir.«

»Es gibt nichts zu sagen.« Mrs. Grimsby wischte sich wütend eine Träne aus ihrer Brille. Sie hatte recht. Es gab nichts zu sagen. Und ich konnte mir nichts ausdenken. Das hatte ich nie gekonnt. Ich begnüge mich mit dem, was ich sehen, hören und greifen kann. Papa findet das sterbenslangweilig. Aber er hatte sich jetzt in seinem Zimmer vergraben und erlaubte uns nicht, ihn auf irgendeine Weise zu trösten. Ich lauschte immer noch an Türen. Nun lauschte ich zitternd an Papas Tür, nur um herauszufinden, ob es ihm gutging oder ob er telephonierte. Einmal hörte ich einen heiseren Laut, ein trockenes und qualvolles Husten, das wohl ein Weinkrampf war. Ich wagte mich nichts ins Zimmer. Was hätte Papa getan oder gesagt, wenn ich ihn bei einer so privaten Äußerung ertappt hätte? Nur Keith Porter, sein junger Freund und Sekretär, hatte Zutritt. Also hatte ich meinen Vater auch verloren. Beinahe zufällig und ohne Ausrufungszeichen, wie man einen Regenschirm verliert. Aber ich beneidete Papas Regenschirm. Er begleitete ihn eingerollt in die Universität, wo Papa englische Geschichte lehrte. Wenn ich Keith Porter tippen hörte, war ich etwas beruhigt.

Mrs. Grimsby ärgerte sich, wenn sie mich mit dem Ohr an Papas Tür sah. »Man lauscht nicht, Dora.«

»Warum nicht?«

»Man tut es nicht. Iß deinen Salat! Das schönste Wetter, und du hockst hier im Keller.«

Ich ging wieder in die Heide, wo jeder in Hampstead hinrennt, wenn daheim alles schiefgeht. Und unsere Heide ist so weit und still und freundlich, daß mir wirklich etwas besser wurde.

»Danke vielmals, Mrs. Grimsby.«

»Danke der Heide. Komm, komm, Mädchen! Hilf mir mit den Kartoffeln. Sie sind das einzige, was dein Vater nicht aufgegeben hat.«

»Und Keith Porter.«

Mrs. Grimsby überhörte es. Sie mochte Keith nicht. Weder sein langes Haar noch seinen kurzen Gruß. Ich beneidete Keith noch heftiger als Papas Regenschirm. Ich ging nun wieder in die Heide. Einmal sah ich meinen Vater. Aber er war hier so unerreichbar wie in seinem Zimmer. Er betrachtete die Wolken. Jemand sprach ihn an. Einer aus Hampstead, der jedem lächelnd das Schlimmste wünscht. Er amüsierte Papa. Einen Augenblick lächelte er versuchsweise. Ich sah es genau hinter dem Gebüsch. Dann drehte Papa dem »Menschenfreund« den Rücken zu und marschierte auf und davon. Ich kroch erst aus meinem grünen Winkel, als Mr. Sampson sich auf den Weg zum »Spaniard« machte, wo ganz Hampstead, bis auf Papa, trinkt, ißt und übers Theater redet. Mr. Sampson wohnt nah beim Holly Bush, wo Mama, Papa und ich manchmal auf die engen, steilen Wege und die kleinen Häuser heruntergeblickt haben. Die Sterne funkelten. Ich darf nicht daran denken.

 

Warum weiß man nicht, wie glücklich man ist, wenn man ein richtiges Familienleben erlebt? Wie unangenehm das Leben daheim wurde, mag ich nicht einmal mir selbst erzählen.

Nach zwei Jahren hatte mein Vater wohl genug getrauert. Er ging wieder zum »Spaniard’s Inn«, besuchte seine Freunde und sprach gelegentlich mit mir.

»Was wirst du eigentlich machen, wenn sich hier etwas ändert, Dora?«

»Was soll sich ändern?«

»Alles ändert sich immerzu.« Papa beherrschte seine übliche Ungeduld mit mir – kein gutes Zeichen. »Du kannst zum Beispiel heiraten.«

»Wen soll ich heiraten?«

»Das ist deine Sache, nicht wahr? Nimm nicht alles so schrecklich wörtlich, Mädchen! Sieh mal, die Sache ist die, daß ich –« Ich starrte ihn an, was er mit Recht beanstandete. Er sprang auf. »Man kann einfach nicht reden mit dir! Guten Abend.«

»Das Essen ist fertig, Papa! Es gibt Leber, die du so gern …«

»Was ist wieder los, Dora? Du bist weiß im Gesicht. Wir wollen essen. Kämm dir dein Haar noch mal. Dein Vater …«

»Er ist ausgegangen, Mrs. Grimsby. Er sagte, daß alles sich beständig ändert, und er war nicht sehr nett zu mir.«

»Das ist er doch nie. Lach mal, Kleines!«

Ich war schon neunzehn, aber der alte Kosename tat mir wohl.

»Ich hab’ wirklich Hunger«, log ich. Mrs. Grimsby strahlte.

»Du kannst heut abend für zwei essen, Dorchen! Sag mal, von welchen Änderungen sprach dein Vater? Bin ich zuviel in diesem Haus?«

»Mrs. Grimsby! Wenn Sie fortgehen, gehe ich mit.«

»Quatsch mit Grünkohl, Mädchen!« Mrs. Grimsby tat ihr Bestes, um ihr Wohlgefallen zu verbergen. »Du bleibst bei deinem Dad. Ihr gehört zusammen.«

»Meinen Sie wirklich, Mrs. Grimsby?«

Sie war eine schlechte Lügnerin …

Fünf Wochen nach diesem Gespräch hatte sich daheim alles geändert.

 

Wenn mein Vater mich anlächelt, stimmt etwas nicht. Aber wenn er freiwillig eine Unterhaltung mit mir beginnt, dann muß ich mich auf unangenehme Überraschungen gefaßt machen.

»Setz dich endlich hin, Dora! Ich muß mit dir reden.«

»Einen Augenblick, Papa! Ich will nur noch …«

»Setz dich«, donnerte er. Ich setzte mich. Zu meinem Ärger zitterten meine Hände. Ich verschüttete den Tee. »Entschuldige, Papa. Soll ich dir eine andere Tasse …«

»NEIN. Um Himmels willen, kannst du nicht eine Sekunde zuhören?« Er zwang sich zur Ruhe und räusperte sich, während ich meine dummen Tränen verschluckte. Ich lass’ mir viel gefallen, aber man darf mich nicht anschreien. Dann verliere ich die Fassung und – Schwamm drüber.

»Was würdest du sagen, wenn ich wieder heirate, Dora?«

»Heiraten? – Du?«

»Ich bin nicht Methusalem«, sagte mein Vater gereizt. »Kurz und gut, ich werde Mrs. Amelia Coombs heiraten. Ich hoffe, sie wird dir eine gute Mutter sein.«

»Meine Mutter ist tot.«

»Amelia will dich kennenlernen. Sie wird übermorgen zu uns zum Tee kommen.«

»Gratuliere«, sagte ich tonlos.

»Sie hat zwei Töchter«, sagte Papa etwas verlegen. Er sah mich nicht an, sondern betrachtete einen alten Stich der »London Bridge« an der Wand seines Arbeitszimmers. Wir hatten das Bild dorthin gehängt, weil es die Wasserflecke an der Westwand verdeckte. Meine Mum hatte ihm das Bild geschenkt, weil sie sich auf dieser Brücke verlobt hatten. Es war die Original-Brücke aus dem Jahr 1209. Jenseits der Brücke befanden sich wunderbare Häuser. Ich hätte mich gern ins »Nonesuch-Haus« verkrochen. Mir graute vor Papas Braut und ihren Töchtern. »Werden die Töchter auch bei uns wohnen?«

»Bist du verrückt geworden?«

Papa war wieder er selbst. Er hatte nie mit meiner Mutter auf der London Bridge gestanden. Aber er mußte doch fühlen, daß er mich besser mit etwas Vorsicht behandeln sollte. Ich war jetzt neunzehn und sprach schon manchmal beinahe in seinem Ton … Wie meine Mutter ihm prophezeit hatte; ich war langsam, würde aber schließlich zum Ziel kommen. Zu welchem Ziel? Wohin würden wir mit Mrs. Coombs und ihren Töchtern treiben? Sollte ich mich von Windmill Hill stürzen, wo Mrs. Siddons auf dem Gipfel ihrer Karriere gewohnt hatte? Niemand würde mich vermissen. »Nur Dora«, dachte ich wieder einmal. Wahrscheinlich würde ich mir nur ein Bein brechen.

Selbstverständlich hatten meine neuen Stiefschwestern es zu etwas gebracht. Nancy, die ältere junge Dame, war Sozialfürsorgerin. Die Jüngere hatte glücklicherweise vor zwei Monaten »einen Titel« geheiratet und war in einem großen Herrenhaus außerhalb Londons quasi verschollen. »Die sind wir los«, sagte Papa recht freundlich. »Sie kommen aber beide zum Tee, um dich kennenzulernen.«

»Wie nett«, sagte ich heiser.

Mrs. Coombs hatte bis jetzt in Hammersmith gewohnt – in jeder Beziehung ziemlich weit von Hampstead, Mrs. Siddons und dem Dichter der »Ode an eine Nachtigall« entfernt. Nancy erzählte mir, daß Papa und ihre Mutter sich auf der Hammersmith-Brücke kennengelernt hatten. Papa verlobt sich wohl immer auf einer Londoner Brücke.

 

Wir konnten nicht im Garten Tee trinken, es regnete. Das war mir nur recht. Ich liebe unseren Garten und bin keine schlechte Gärtnerin. Mr. Cox, unser Gärtner, sagt, ich habe »grüne Finger«. Ein hohes Lob, da Mr. Cox, wie Papa, an allem etwas auszusetzen hat. Ich wünschte, er wäre mein Vater. Wir sind ziemlich glücklich im Garten. Ich habe zwar nie Keats’ »Ode an eine Nachtigall« zu Ende gelesen, weil ich zweimal bei dem Versuch eingeschlafen bin, aber meine Primeln und Mums Rosen gedeihen und grüßen mich …

Ich weiß nicht, wie lange Papa und ich keinen Tee in Mums Wohnzimmer getrunken hatten, aber Mrs. Grimsby hatte natürlich dort für Papas neue Familie gedeckt. »Komm, komm, Dorchen! Mach dir nichts draus.«

»Das glauben Sie wohl selbst nicht, Mrs. Grimsby.«

 

»Und dies ist meine Tochter Dora.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Mrs. Coombs gegen ihr besseres Wissen. Sie war groß, schlank und zeigte das unaufrichtigste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte. Sie war wirklich schön, elegant und beneidenswert sicher. Sie lobte alles, was sie sehen konnte – die alten Chintz-Bezüge auf den Sesseln, die Blumen, Mums Apfelpastete, unseren wackeligen Teetisch, die verblichene Tapete, den müden alten Teppich und mein Kleid. Mich, Dora, zu loben brachte nicht einmal diese falsche Schlange fertig. »Sie sollten nicht grün tragen, Dora«, sagte sie mit mütterlicher Fürsorge. »Rosa wäre besser.« Sie hatte in Hammersmith in einem Modeladen »die Aufsicht geführt«, war also, einfach ausgedrückt, Verkäuferin gewesen und hatte bei aller Falschheit echten Geschmack. –

»Ich hoffe, wir werden gute Freundinnen, Dora.«

Aus welchem Grund sollten wir uns anfreunden? Nur weil sie Papa auf der Hammersmith-Brücke eingefangen hatte? Ich preßte die Lippen zusammen, um nichts Unhöfliches zu erwidern. Papa sollte mich nicht hinauswerfen oder schweigend verabscheuen. Ich hatte nur ihn. Und natürlich unsere Mrs. Grimsby. Und die Vögel im Garten – – –

Glücklicherweise erschienen Nancy und Lady Harmsworth und enthoben mich jeder Äußerung. Nancy, die Fürsorgerin, war groß, mager und musterte mich durchdringend, aber nicht unfreundlich.

Natürlich konnte ich kein glühendes Interesse von Nancy Coombs erwarten. Erstens war ich nur die Tochter des Hauses, ein Überbleibsel aus einem früheren Leben, und dann nahm ich weder Rauschgift, noch trank ich Methylalkohol und war nicht einmal arbeits- und wohnungslos. Trotzdem faßte ich scheues Vertrauen zu ihr. Nancy war in Ordnung. Das fand sogar Mrs. Grimsby. Nancy verschwand nämlich irgendwann in die Küche. Wahrscheinlich wollte sie erfahren, ob Mr. Grimsby seine Gattin gelegentlich verprügelte. Es war Nancys Aufgabe, die Lebensweise der »sozial Benachteiligten« zu erforschen, obwohl Mrs. Grimsby durchaus mit ihrem Los und mit Mr. Grimsbys Nebenverdiensten zufrieden war. Das konnte Nancy aber nicht wissen. Sie arbeitete im East End von London – auch eine gewisse Entfernung vom Hampstead und unseren Berühmtheiten. –

Lady Enid Harmsworth trug einen alten, schäbigen Mantel über einem ordentlichen, gestreiften sportlichen Kleid und ein verrücktes Tuch auf dem Kopf. Im Kopftuch und Mantel sah sie aus, als wäre sie von Dickens erfunden worden. Auch ihr kleines, verhungertes Gesicht war eine Mischung aus »Little Nell« und der jüngeren Miss Coombs. Sie sagte wenig und aß enorm viel. Die Apfelpastete, die Sandwiches, die heißen Pfannkuchen verschwanden in Windeseile. Während ich bei einer Diät an Gewicht zunahm, wurde Enid wohl immer dünner. Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt. Wir sprachen kein Wort miteinander. Ich sah sie später nur bei Hochzeiten oder Beerdigungen.

Papa war erschreckend liebenswürdig zu uns allen und schielte vor Glück. Wie lange würde er uns anlächeln? –

Mrs. Coombs sagte, ich könne sie Amy nennen. –

Ich nannte sie Amy. Papa blieb bei Amelia. Er haßte Abkürzungen, Verkleinerungen, zärtliche Reden … Gern hätte ich gewußt, was er Amy auf der Brücke zugeflüstert hatte. Ich erfuhr später von Nancy, daß Amy meinen Vater mit dem ältesten Trick der Welt eingefangen hatte. Sie ließ ihre Handtasche mit den vielen Kleinigkeiten fallen, der Kram rollte umher, und Papa half ihr beim Aufsammeln. Danach stärkten sie sich in einer Teestube. Nancy lächelte ironisch. Sie schien ihre Mutter nicht zu bewundern. Obwohl kein Wort darüber fiel, war Nancy meine Bundesgenossin. Eine große Sache für mich. Sie hatte genug Menschen, die sie brauchten. Glückliche Nancy! Aber Glück im privaten Bereich schien sie nicht zu interessieren. Sie kannte wohl die Kehrseite.

Mein Vater heiratete Mrs. Coombs im Sommer. Während der Hochzeitsreise nach Venedig kochten Mrs. Grimsby und ich Früchte ein. Das wurde mir nie zuviel. »Sie kann bestimmt nicht kochen«, sagte Mrs. Grimsby. Ein Todesurteil über die zweite Mrs. Clermont-Simpson.

Papa hatte nie viel Geld. Seine Bücher wurden von der Presse gelobt und gelegentlich in Hampstead von seinen Anbetern gekauft, aber sie brachten kaum etwas ein. Geld langweilte ihn – sowieso ein vulgäres Thema in Hampstead. – Ich erinnerte mich an Amys Gesicht wie in einem Nebel. Ich erinnerte mich aber lebhaft an den Knall, mit dem sie ihre Handtasche schloß. Papa haßte solche Geräusche und hatte ihr einmal die Tasche weggenommen. Sie hatte ihn groß angesehen, aber nichts gesagt. Dazu war sie zu schlau.

Ich wünschte, daß Amy in Venedig in einen Kanal gefallen wäre, aber sie erschien völlig intakt in Hampstead. Wir begrüßten uns kühl, und Papa war ausnahmsweise nett zu mir. Wann würde er aufwachen? Seine gute Laune war unnatürlich.

Amys Schönheit machte Eindruck bei uns in Hampstead. Sie wurde dreimal gemalt, und Papa war stolz auf sie. Er schien nicht zu merken, daß sie eine gräßliche Person war. Mrs. Grimsby und ich schwiegen darüber. »Wahrscheinlich ist sie im Schlafzimmer zuckersüß«, sagte Mrs. Grimsby.

»Zuerst sind sie alle solche Lämmer.«

Sie mußte es wissen.

Als Papa zum ersten Mal sagte: »BITTE unterbrich mich nicht, Amelia«, waren die Flitterwochen vorüber.

Daß Amy niemanden ausreden ließ, war nur eine ihrer lästigen Angewohnheiten. Mein Vater verbrachte nun seine Zeit wieder mit dem Sekretär in seinem Arbeitszimmer. Er schien sich mit Amy bereits zu langweilen und sprach kaum ein freundliches Wort mit ihr. Wenigstens nicht bei den Mahlzeiten. –

Nach zwei Monaten verließ uns Mrs. Grimsby. Das war das Schlimmste, was mir passieren konnte. Ich wäre am liebsten mit ihr gegangen.

»Wein nicht, Dorchen! Du mußt uns oft besuchen. Mit dieser Person kann man nicht auskommen. Dein armer Vater!« – Aber Papa hätte nicht einmal Mrs. Grimsby erlaubt, ihn zu bedauern. Außerdem schlief er zu der Zeit noch im gemeinsamen Schlafzimmer, zwei Jahre später zog er in sein Arbeitszimmer um. Ich war nur noch halb lebendig. »Schlaf nicht, Dora«, sagte Papa stirnrunzelnd. Falls Amy ihm zum Halse heraushing, zeigte er es nicht. Ich glaube, sie hatte sich bereits einen Tröster in Hampstead angelächelt, und vermutete zu Unrecht, daß Papa, der alles merkte, es nicht wußte. –

Die neue Haushälterin war ordentlich, unbeteiligt und so farblos wie ich selbst. Sie tat ihre Pflicht, und das war nie genug für meinen Vater. Er aß jetzt oft mit Keith in seinem Zimmer, und Amy und ich sprachen kaum ein Wort während der Mahlzeiten. Höchstens: »Willst du noch Kartoffeln, Amy?« Aber sie wollte nicht so dick werden wie ich. Ich war nämlich jetzt vor Kummer eine jugendliche Tonne. Ganz Hampstead hätte mir drei Kinder geglaubt. –

Unsere Amy hatte nun ein gewisses Alter in einer ungewissen Situation erreicht und versteckte ihre leichten Falten hinter Schminke. Eine alberne Lockenperücke verdeckte die ersten grauen Haare. Ihr Doppelkinn verbarg sie hinter altmodischen Rüschen. Ich muß zugeben, daß sie entzückend aussah und immer öfter ihren Tee irgendwo in Hampstead oder Highgate trank … Papa ignorierte die Rüschen und ihre Abwesenheit. Er trank seinen Tee mit Keith, und ich trank meinen allein. Ich ging nur in die Küche, um der »Neuen« zu helfen. Sonst arbeitete ich im Garten und besuchte manchmal mit Nancy ihre schrecklichen Schützlinge und Trunkenbolde im East End. Ich konnte nur mitlaufen, denn Nancy hatte ja zuvor mehrere Prüfungen ablegen müssen. Das hätte ich nie geschafft. Papa fragte mich nun nicht mehr, was ich werden wollte und wann ich endlich heiraten würde. Wie überall gab es viele junge Männer in unserem Kreis, aber keiner biß an. Das machte mir nichts aus. Papas zweite Ehe hatte mir wohl den Appetit verdorben. Mein einziger Trost war die Aussicht auf ein angenehmes Alter, obwohl ich erst Anfang Zwanzig war. Ich würde ein geschätztes Museumsstück in Hampstead sein, und alle würden stolz sein. Im Augenblick war ich natürlich »nur Dora«. Das hatte Amy sofort gemerkt.

Sie war sehr beliebt in unserem Kreis und hatte oft Besuch zum Tee. Selbst Miss Fenton, unsere Hellseherin, die alles schwarz sah und auf gewöhnliche Sterbliche herabblickte, kam zu Amy zum Tee. Vielleicht, weil sie früher meine Mum öfters besucht hatte. Jedenfalls war das eine Ehre in Hampstead, und Amy bildete sich nicht wenig darauf ein. Natürlich hätte Miss Fenton ihr in dem Modeladen in Hammersmith keinen zweiten Blick gegönnt, aber Amy, die über alles sprach, auch über das Unsagbare, schwieg eisern über »Hammersmith«. Wenn Miss Fenton erschien, brachte ich den Tee herauf und wurde immer besonders freundlich von ihr begrüßt. Schließlich war ich die Tochter des Hauses, ob ich nun schreckliche Bilder malte oder nicht.

Als ich wieder einmal unser schweres Messingtablett aus dem Eßzimmer holte, fiel es mir mit einem Knall vor Amys Tür aus den Händen.

»Was ist das?« fragte Miss Fenton.

»Nichts von Bedeutung«, sagte Amy. »Nur Dora.«

 

Manchmal sagte Amy, wie nett es ohne Mrs. Grimsby wäre, und Papa sagte stirnrunzelnd, Amy sollte nicht solch einen Unsinn reden. Mrs. Grimsby wäre tadellos gewesen.

»Geschmackssache, John.«

»Alles ist Geschmackssache, nicht wahr?« Papa behandelte sie jetzt mit der gereizten Ungeduld, die ich nur zu gut kannte. Ich war wirklich die einzige in diesem Haus, die Geduld mit mir hatte. Nur Mrs. Grimsby hatte mich gern gehabt. Sie war stachelich wie ein Kaktus gewesen, aber links hatte sie ein Herz gehabt. Ich hatte sie noch einmal besucht, fühlte aber, daß Mr. Grimsby sich in meiner Gegenwart nicht wirklich wohl fühlte. Ich gehörte nach Hampstead, nicht nach Paddington.

Papa schrieb jetzt eine Studie über Cromwell und fragte mich, ob ich mich nicht gelegentlich etwas um Amelia kümmern könnte. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, wer diese Person geheiratet hätte. Er oder ich? Fünf Jahre waren so vergangen, als Papa bei einem Autounfall getötet wurde. Darüber kann ich nicht einmal mit mir selbst sprechen. Meine Jugend war vorbei. Denn solange ein Vater einen kritisiert, ist man jung. Mrs. Grimsby stand mir zur Seite. Ohne die Dame des Hauses um Erlaubnis zu fragen, schlief sie die erste Woche auf einer Liege in meinem großen Zimmer im zweiten Stock. Und Mr. Grimsby kam und machte sich schweigend überall nützlich. Die beiden wußten, was ich verloren hatte und daß Amy mich wahrscheinlich herauswerfen würde. Aber es kam wieder einmal anders, als wir alle gedacht hatten. Bei der Testamentseröffnung erstarrte Amy zur Salzsäule. Papa hatte sein bißchen Geld zwischen uns geteilt, aber das Haus in Hampstead hatte er mir überschrieben. Er hatte also doch gewußt, wer ihn trotz seiner Launen tief und beständig geliebt hatte. Er mußte gewittert haben, daß seine Frau mich aus meinem Elternhaus hinausgeworfen hätte. – Papa! Ich dankte ihm und schwieg. Unsere Mrs. Grimsby hatte recht gehabt. Papa und ich hatten eben doch zusammengehört. –

Amys Erstarrung war heller Wut gewichen. Sie benahm sich so ordinär, daß Nancy ihr den Kopf zurechtsetzen mußte.

»Benimm dich, Mutter! Sonst setzt Dora dich an die Luft. Was tust du dann?«

Amy benahm sich also, da ihr nichts anderes übrigblieb. Sie konnte nicht in Nancys Sozialheim wohnen, und ihre jüngere Tochter war nach der Beerdigung meines Vaters endgültig von der Bildfläche verschwunden. Der Lord und Amy hätten nicht gut zusammengepaßt.

Ich ließ endlich unser Dach reparieren. Mr. Grimsby fand eine preiswerte Firma, bei der ich die Rechnung in Raten abzahlen konnte. Ein triefendes Dach hat eben Hampstead-Leute nie gestört. Sie kaufen lieber ein Gemälde für das Geld, das solche Reparaturen verschlingen. –

Mrs. Grimsby hatte immer gegen ihre Überzeugung behauptet, daß großes Unglück den Menschen veredele. Bei Amy war das nicht der Fall. Sie war noch unangenehmer als zu Papas Lebzeiten. In jedem Fall hatte ihr Unglück sie äußerlich zum Nachteil verändert. Ihre Gewänder und silbernen Sandalen wurden endgültig Vergangenheit, und sie schlurfte in ausgetretenen Hausschuhen herum, was sie sich zu Papas Lebzeiten nie erlaubt hätte. Langsam wurde sie dürr, und ihr Gesicht zeigte viele Linien der Verbitterung. Sie konnte nicht in ihren Laden nach Hammersmith zurückgehen, weil das Leben und die Gesellschaft in Hampstead ihr regelmäßige Arbeit abgewöhnt hatten. Sie war schon lange so faul geworden, daß Papa nur den Kopf geschüttelt hatte. Er hatte nichts gesagt, weil es nichts zu sagen gab. Er war nicht böse mit Amy gewesen. Ich glaube, er hatte manchmal eine Wut auf sich, weil er auf sie hereingefallen war und daß Mum ihm nicht mehr den Kopf zurechtsetzen konnte. Sie hätte ihm Amy in zehn Minuten ausgeredet – wie damals die Studentin, die ihm nachgelaufen war. »Wenn es sich um Weiber handelt, sind die klugen Männer immer die größten Dummköpfe«, pflegte Mrs. Grimsby zu sagen. Daß sie über Amelia Coombs geschwiegen hatte, war ein böses Zeichen gewesen.

Zweifellos war Amy schwer getroffen, und ich hätte Mitleid mit ihr gehabt, wenn sie ein wenig netter gewesen wäre. Aber sie blieb abstoßend oder abwesend, empörend unpünktlich zu den Mahlzeiten und sauer wie ein halbes Dutzend Zitronen. Natürlich war ich auch nicht gerade angenehm oder aufheiternd. Die arme Person verabscheute mich. Ich schlich wie betäubt durch das große Haus und lebte nur auf, wenn Mr. und Mrs. Grimsby nun regelmäßig dreimal die Woche erschienen, es war ja mein Haus. »Sie macht dich verrückt, Dorchen.«

»Ich kann sie nicht rausfeuern, Mrs. Grimsby.«

»Warum nicht?«

»Ich kann es eben nicht. Wegen … wegen Papa.«

Daß ich wegen Papa etwas netter zu Amy sein müßte, kam mir leider nicht in den Sinn. Nancy, die eine Freundin geworden war, schlug ihrer Mutter ein »Heim für alleinstehende Damen« vor. Amy heuchelte eine Ohnmacht, und das Heim in Wimbledon mußte ohne Mrs. Clermont-Simpson fertig werden. »Laß sie hier, Nancy«, sagte ich müde, »ich werde mich eben an sie gewöhnen.«

»Ich muß mich um sie kümmern«, brummte die liebe Nancy.

»Mir wird schon etwas einfallen. Meine Schwester Muss eben auch helfen.«

Nach dieser Unterhaltung und Amys verdammter Ohnmacht träumte ich von meiner Stiefmutter, daß sie als verwahrlostes Nachtgespenst ans Tor der Londoner Heilsarmee klopfte, um ein Bett für die Nacht zu ergattern … Ich fühlte beim Erwachen kein Mitleid mit dieser hilflosen Witwe. Nur Widerwillen. Aber sie wirkte verängstigt. Oder spielte sie mir wieder etwas vor, wie sie meinem Vater eine sanfte, liebende Schlingpflanze vorgespielt hatte? Natürlich war sie nicht so hilflos, wie sie tat. Sie war gesund und verboten träge. Sie lebte eben lieber mit mir in meinem Elternhaus als irgendwo anders in einem »Wohnschlafzimmer« ohne Komfort.

Mein Vater hatte sie zuerst verwöhnt. Wie viele Männer, die ungern Geld ausgeben, konnte er großzügig sein, wenn es sich um sein Vergnügen handelte. Ich fand in seinem Schreibtisch eine enorm hohe Rechnung des berühmten Restaurants »Scott’s« in der Mount Street. Dort schlemmte die sogenannte »Oberklasse« ihre Austern und englisches Lamm mit zwei Gemüsen. Die Rechnung war zwei Monate vor der Hochzeit ausgestellt worden …

Ich mußte mich an Amy gewöhnen, wie sie sich an Austern bei Scott’s gewöhnt hatte. Sicher war Amy nie zuvor mit einem Liebhaber in einem Restaurant gewesen, das maßlos teuer und »unauffällig« war und 1891 in der Coventry Street gegründet worden war. Jetzt jedenfalls krähte kein Hahn mehr nach ihr. Sie fand heraus, daß »Hampstead« sie eingeladen hatte, weil sie Papas Ehefrau gewesen war. Nach Amy Coombs hätte kein Hahn in NW3 gekräht. Diese Entdeckung verbesserte weder ihre Laune noch ihre Manieren. – Wann begann ich damit, Amy gelegentlich zu beschäftigen? Da Mrs. Grimsby nun nur einige Tage in der Woche kam, mußte Amy endlich auch etwas tun, fand ich. Bis jetzt hatte sie sich ungeniert von mir bedienen lassen, obwohl Papa es ihr untersagt hatte. »Bring mir meine Handtasche, Dora!« Kein Bitte und Danke. »Laß mir ein Bad ein. Wo bleibt mein Tee?«

Wann bat ich Amy zum ersten Mal, mir meinen Tee auf mein Zimmer zu bringen, weil ich sehr abgespannt war? Ich weiß es nicht mehr. Bei dieser Gelegenheit fand ich aber heraus, daß Amy ziemlich feige war. Allerdings hatte Nancy ihr am Wochenende eine Gardinenpredigt gehalten. Wahrscheinlich fürchtete sie doch, daß ich sie an die Luft befördern würde, wenn sie sagen würde, was sie gern gesagt hätte. »Hol dir deinen Tee selbst. Und meinen kannst du ebenfalls aufbrühen!«

Amy brachte mir den Tee aufs Zimmer. Ich konnte sie nicht ansehen. Ich goß den Tee weg. Er hätte mir die Kehle wie Höllenfeuer verbrannt. Aber der Anfang war gemacht. Sie wußte nun, wer Herrin im Haus war. Sie mußte es wissen, so schrecklich es war und sosehr es mir gegen meine eigene Natur ging. Ich brauchte Mrs. Grimsby nichts zu sagen. Sie sah mit eigenen Luchsaugen, daß Amy nicht mehr faulenzen konnte. Sie haßte Gartenarbeit. Hatte wohl nie einen Garten gehabt. Und ich war froh, mit unserm Mr. Fox zu arbeiten. Ich brachte Nancy Blumenkästen vor ihren beiden Fenstern im Heim an. Mr. Grimsby hatte die Kästen gezimmert und bemalt, und die Blumen für Nancy hatte ich mit Liebe gezüchtet. Sie hatte Tränen in den kühlen, grauen Augen. – Manchmal betreute ich ihre Schützlinge mit ihr und bekam einen ersten Begriff von ihrer schwierigen Arbeit. Meine Welt wurde weiter …

Die alten Freunde meiner Eltern besuchten mich von Zeit zu Zeit. Wir halten zusammen in Hampstead. Je länger wir uns kennen, desto öfter besuchen wir uns zum Tee. Auch Miss Fenton, unsere Hellseherin, die eins der schönsten alten Häuser bewohnte, trank jetzt öfters ihren Tee bei mir. Ich war noch in Trauer und ging wenig aus. Wir saßen im Erker in meinem Zimmer und blickten durchs Fenster auf den Garten, wo die ersten Primeln und Narzissen aufblühten.

Es war friedlich und still, denn Miss Fenton sieht ziemlich lautlos in die Zukunft. Aber sie sah im Augenblick weder hell noch schwarz. Wir sprachen von meinen Eltern.

Plötzlich hörten wir einen großen Lärm. Das Metalltablett aus dem Speisezimmer mußte zu Boden gefallen sein.

»Was ist das?« fragte Miss Fenton.

»Nichts von Bedeutung«, sagte ich. »Nur Amy.«

Japanische Elegie

Shepherd’s Bush, London W12

»Wenn du niemanden hast,

unterhalte dich mit deinem Knie.«

Japanisches Sprichwort

Ich habe niemanden in London und muß mich mit meinem Knie unterhalten. Das ist langweilig und treibt mir die Tränen in die Augen. Ich frage mich immer wieder, warum die Gaijins so unfreundlich zu Japanern sind. Vielleicht sind sie es zu allen Ausländern? In London sind die Engländer zu Haus. Nur in Japan, wo man sie an ihren hellen Haaren und Wasseraugen sofort erkennt, sind sie Gaijins. Hier in Shepherd’s Bush sieht niemand niemandem ins Gesicht. Das ist in ganz London so. Die Engländer und ihre Ehefrauen wollen niemanden sehen. Das ist unendlich traurig für gesellige Japaner, die daheim nie allein sind. Ich würde mich hier selbst über den Besuch meiner Schwiegermutter freuen, auch wenn sie an allem etwas auszusetzen hat. Besonders an mir. Sie wollte, daß ihr Sohn eine reiche Erbin in Tokio heiratet, und alles war durch den Heiratsvermittler arrangiert, als Jirosan mit mir auftauchte. Ich entstamme einer vornehmeren Familie in Kioto, aber danach krähte kein Hahn, schon gar nicht Schwiegermutter Moribana. Ich hatte die Teezeremonie und Ikebana gelernt und brachte die entsprechenden Diplome mit in die Ehe. Aber in Tokio und bei meiner geehrten Schwiegermutter sind Dollars und Karriere wichtiger als das sinnvolle Arrangement von Blume, Wasser, Stein und Berg. Hier in London leide ich Qualen, wenn ich den Garten meiner englischen Nachbarn betrachte. Zu viele Blumen und wildblickende Sträucher, keine Ecke für Meditation, keine Schrittsteine, keine Ordnung und Zurückhaltung. Entsetzlich! Nicht einmal Lotosteiche gibt es hier und keine kleinen Brücken, die den Garten zu einer Insel machen. Selbst in Tokio hatten wir das alles. Mein Herz versteinert langsam in diesem London. Ich hasse diese Stadt, die die Geschäftsleute daheim »Tokio an der Themse« nennen. Wie lächerlich und wie traurig! Aber Vergleiche hinken wie Hisah, meine alte Kinderfrau, die bei meinen Eltern in Kioto den Gnadenreis ißt und treu und närrisch Ausschau nach mir hält.

Ich feierte jedes Puppenfest mit Hisah, die ich für meine zweite Mutter hielt, bis Mama-san mich aufklärte. Warum muß man aufwachsen, heiraten und alles verlassen, was die Kindheit mit flüchtigem Glanz erfüllte? Selbst Papa-san liebte mich auf seine Art, obwohl er sich einen Sohn gewünscht hatte, den meine Mutter drei Jahre später nachlieferte. Ich habe keine Kinder und bekam viele Ohrfeigen von Ehemann Jiro. Meine Schwiegermutter zog nur zischend die Luft ein, als Zeichen ihrer hochgradigen Mißbilligung. Ihr geehrter Anblick bleibt mir wenigstens in diesem London erspart.