Mohn in den Bergen - Alice Ekert-Rotholz - E-Book

Mohn in den Bergen E-Book

Alice Ekert-Rotholz

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Beschreibung

Die schöne, verwöhnte, aber gefährdete Marie Bonnard, die einer internationalen Hoteldynastie entstammt, lernt auf der Jagd nach Liebe schon frühzeitig andere verzehrende Passionen kennen. Unschuldig-schuldig zerstört sie das Leben der lebensfroh unbefangenen Tänzerin Ulrika. Mit ihrem Mann, einem schwedischen Beau, der über seiner Wissenschaft die labile und lebenshungrige junge Frau an seiner Seite vergißt, geht sie nach Siam und verfällt dort dem «großen Rausch», dem Opium, das langsam ihre Ehe zerstört. Sie flieht vor den Versuchungen des Fernen Ostens, aber das Laster verfolgt sie noch in London, ja bis ins Züricher Sanatorium. Schließlich bleibt ihr nur noch die Schemenwelt ihrer Phantasie – die in grotesken Reflexen noch einmal die laszive Wirrnis ihrer Süchte aufflackern läßt. Ein faszinierender Roman von Luxus und Ausschweifung.

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Seitenzahl: 813

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Alice Ekert-Rotholz

Mohn in den Bergen

Der Roman der Marie Bonnard

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die schöne, verwöhnte, aber gefährdete Marie Bonnard, die einer internationalen Hoteldynastie entstammt, lernt auf der Jagd nach Liebe schon frühzeitig andere verzehrende Passionen kennen. Unschuldig-schuldig zerstört sie das Leben der lebensfroh unbefangenen Tänzerin Ulrika. Mit ihrem Mann, einem schwedischen Beau, der über seiner Wissenschaft die labile und lebenshungrige junge Frau an seiner Seite vergißt, geht sie nach Siam und verfällt dort dem «großen Rausch», dem Opium, das langsam ihre Ehe zerstört. Sie flieht vor den Versuchungen des Fernen Ostens, aber das Laster verfolgt sie noch in London, ja bis ins Züricher Sanatorium. Schließlich bleibt ihr nur noch die Schemenwelt ihrer Phantasie – die in grotesken Reflexen noch einmal die laszive Wirrnis ihrer Süchte aufflackern läßt. Ein faszinierender Roman von Luxus und Ausschweifung.

Über Alice Ekert-Rotholz

Alice Ekert-Rotholz, am 5. September 1900 in Hamburg als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, lebte von 1939 bis 1952 in Bangkok. Nach Hamburg zurückgekehrt, war sie journalistisch für Funk und Presse tätig. 1954 erschien ihr erster Roman «Reis aus Silberschalen», der sie schnell bekannt machte. Zahlreiche weitere folgten. 1959 siedelte Alice Ekert-Rotholz zu ihrem ersten Sohn nach London über. Dort starb sie am 17. Juni 1995.

Inhaltsübersicht

«No man is ...Für AndrewDie Autorin danktProlog · Der Vogel Garuda1 Grausamer Mai2 Am TelefonErstes Buch · Die Gärten des Adonis1 Hotel Bonnard, London N.W. 32 Wechsel, Leid und Illusion3 Das Fest der hungrigen Geister4 Die Engel von Lidingö5 Marie Bonnard – SelbstbildnisZweites Buch · Mohn in den Bergen1 Siesta2 Traumverkauf in Lampang3 Das Drachenbootfest4 Ein Amerikaner in Chiengmai5 Der Wind der Barmherzigkeit6 Ulrika im Regenwald7 Die Nacht der SeeleDrittes Buch · Das Zeitalter der Einsamkeit1 Porridge2 Ein Bett, ein Tisch, ein Spiegel3 Die Verschwörung der Wachsfiguren4 An den Ufern des Styx5 Portrait eines schüchternen Mannes6 Eros in der Sackgasse7 Mord ohne Leiche8 Immer am Sonntag9 Gottes Hand in LidingöViertes Buch · Die Bürde der Nächstenliebe1 Die Gefährten2 Medusa am Mälarsee3 Privatleben eines SoziologenEpilog · Das Elixier des LebensIIIIII

«No man is an island, entire of it self.»

John Donne «Devotions» (1572–1631)

 

«… You cannot change people;

you can only give them some love

and hope they will take it.»

Arnold Wesker «I’m talking

about Jerusalem» (1960)

Für Andrew

Die Autorin dankt

Dr. R.G. Cochrane in London

für unschätzbare Informationen und für die in selbstloser

Weise fortlaufend gewährte fachliche Beratung am

zweiten Teil des Buches

und

Rev. Horace W. Ryburn in Bangkok

Mr. Walter Zimmermann in San Francisco

für die in freundschaftlicher Verbundenheit

gegebenen Hinweise.

 

 

 

Alle Gestalten dieses Romans sind frei erfunden. Sie sind nicht das Abbild irgendwelcher heute oder früher lebender Personen. Die Hotels der Familie Bonnard sind ebenfalls freie Erfindung.

Prolog Der Vogel Garuda

I Grausamer Mai

Immer wenn ich mir einen neuen Hut kaufe, geschieht etwas Unangenehmes. Vor zwei Jahren verlor ich meinen Füllfederhalter, und jetzt habe ich meinen Verlobten verloren.

Ich hatte mir in Knightsbridge einen neuen Hut gekauft. Natürlich bei Harrods. Man kennt uns dort. Wenn einer von uns auftaucht, kommt Miss Tyler persönlich zur Begrüßung herbei. Sie bedient durchaus nicht jeden, der sich bei Harrods einen Hut kaufen will. «Es tut mir leid, ich bin gerade beschäftigt», sagt Miss Tyler zu den Damen, die sie nicht mag oder nicht kennt. Dabei sieht ein Blinder mit Sonnenbrille, daß Miss Tyler durchaus nicht beschäftigt ist – außer etwa mit ihren Gedanken, die sich hauptsächlich um ihre Katze Cleopatra drehen. Wer sich nicht nach Cleopatra erkundigt, der hat bei Miss Tyler verspielt.

Ich muß an jenem Tag Cleopatras Existenz vergessen haben, denn Miss Tyler revanchierte sich mit dem komischen grünen Hut. Ich wollte ihn nicht kaufen. «Ganz das Richtige für Sie, Miss Bonnard», sagte Miss Tyler in jenem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Man könnte mit demselben Erfolg versuchen, der Steuerbehörde zu widersprechen … Nachdem Miss Tyler ihr Urteil verkündet hatte, erkundigte sie sich mit christlicher Nächstenliebe nach Madam, obwohl ich nicht nach ihrer Katze gefragt hatte. Es geht Madam immer großartig, wahrscheinlich weil sie sich nicht für ihre Gesundheit interessiert. Madam ist meine Großtante Bonnard und regiert unser Hotel in London N.W. 3. – Sie wird uns alle überleben und hat die irische Freude an Menschenansammlungen, die sie im Bonnard ausgiebig befriedigen kann. Unsere Dauergäste kommen mit allem zu Madam – mit ihren Familien, Klagen, Erbschaftsaffairen, Sorgen und Späßen. – Madam bringt zwar manchmal die Biographien durcheinander, aber wenn sie die Leute ansieht, wird es warm im Zimmer – obwohl es bei uns genauso durch die Fenster zieht wie in jedem besseren Hotel in London. Im Bonnard in Zürich würden die Gäste in den See springen oder Doppelfenster verlangen. Sie würden sie wahrscheinlich auch bekommen, obwohl Dominik Bonnard seine Franken zusammenhält … Bei uns verlangt niemand Doppelfenster – das tun nicht einmal unsere Gäste vom Kontinent. Sie wissen, daß in London alles anders ist … Sie finden selbst an unseren Menüs nichts auszusetzen, denn damit würden sie sich sofort als Ausländer charakterisieren. Sie möchten so gern, daß Mr. Nightingale, unser Oberkellner, sie für britisch hält … Bitte Lamm mit Minzsauce! –

Nur meine Kusine Marie hat ständig etwas an den Bonnards auszusetzen. Niemand kann es ihr recht machen. An meinem Verlobten hatte Marie allerdings nichts auszusetzen. Erik hat ihr so zugesagt, daß sie ihn mir gestohlen hat. Ich war erstaunt, denn Erik hatte mir ein halbes Jahr lang versichert, daß er mir gehöre. Man gehört niemandem. Aber es ist verzeihlich, daß ich Erik diesen Unsinn glaubte. Es war das erste Mal in zweiunddreißig Jahren, daß ein Mann mir so etwas sagte … Wir saßen auf Madams Balkon im Südwestflügel und sahen zu, wie die Leute in ihre altmodischen Häuser in Haverstock Hill zum Tee heimkehrten. Einige Villen haben Säulen, aber die Säulen sehen entmutigt aus. Sie gehören eben nach Griechenland. Die Leute, die durch die Säulenportale ins Wohnzimmer wandeln, die Schuhe ausziehen und ihren Papagei begrüßen, haben allerdings wenig Ähnlichkeit mit Griechen. Sie trinken ihren Tee, schimpfen gutartig über ihren Chef oder die Regierung und fragen sich, warum die vielen westindischen Einwanderer in Notting Hill nicht in Jamaica bleiben, wo es schön warm ist und niemals zieht … Was wollen diese Leute eigentlich in London? – Dann gehen die falschen Griechen durch ihre Säulenportale auf die Straße, um ihre lieben Hunde in Haverstock Hill spazierenzuführen. Falls sie dabei Einwanderern aus Westindien begegnen, die sich nach N.W. 3 verlaufen haben, erklären sie den Herren und Damen nicht nur den Weg zum Autobus, sondern bringen sie auch noch zur Haltestelle. – Erik und ich beobachteten das oft von Madams Balkon aus. Die Abendsonne machte mich mindestens vier Jahre jünger. Oder war es das Glück? – Selbst dann war ich nicht so jung wie Marie. Und auch nicht so schön und reich und witzig. Ich bin nichts Besonderes. Das kann mir nicht einmal unsere Hilda von der Rezeption einreden. Hilda ist nun schon sechzehn Jahre bei uns und ist meine beste Freundin – obgleich sie so viel und schnell redet, als ob sie die letzten fünf Jahre in Einzelhaft verbracht hätte.

«Nimm’s nicht so schwer, Louise», sagte Hilda nach der Sintflut. «Der Kerl ist’s nicht wert. Einen Soziologen findest du alle Tage! Was ist das überhaupt für ein Beruf? Wahrscheinlich weiß Erik das selber nicht. Du heiratest schön einen Hotelfachmann, der zu uns paßt! Bitte, Louise, laß mich ausreden! Hier hast du mein Taschentuch! Ich kann dir nur sagen: es geschieht dem Kerl recht, wenn er Marie heiratet! Da wird er noch sein blaues Wunder erleben.»

Und Hilda verstaute zwei Wärmflaschen in meinem Bett – bei uns in London der beste Ersatz für die Hitze der Leidenschaften. – Dann wickelte sie mich sorgfältig in Madams beste Bettdecke ein und freute sich, daß mein Soziologe sein blaues Wunder mit Marie erleben würde. Süße Person – Hilda! Sie hat allerhand Übergewicht, aber wenn sie ihren Panzer aus dem Spezialgeschäft in Grosvenor Street trägt, ist sie «vollschlank». Wir haben ihr das Ding zu ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag geschenkt! Hilda wirkt darin wie eine Rubensfigur, die streng Diät gehalten hat. Unsere Hotelgäste sind immer ganz betroffen – so vollschlank ist Miss Sunshine! Mrs. Biggs behauptet, schlanke Frauen seien bösartig. – Man darf Mrs. Biggs (Zimmer 78) nicht widersprechen: sie ist von Beruf Invalidin. Sie hat immer recht, weil niemand sie aufregen darf …

Die Sonne scheint augenblicklich wie im Bilderbuch. Es ist richtiger Mai in London. Ich kann diese Saison die Sonne nicht ertragen. Ich habe nie gewußt, daß der Mai ein grausamer Monat ist …

Warum hat Marie einen Flirt mit Erik angefangen, der nun in Heirat ausarten wird? Sie kann alle möglichen Männer haben. Ich hatte nur Erik. – Aber Marie interessiert sich ausschließlich für Männer, die bereits vergeben sind. Es gab vor zwei Jahren deswegen einen ausgewachsenen Krach in Paris. Marie malte das Portrait eines Kollegen, eines Russen, der Décors fürs Ballett entwirft. Er war ein Freund ihrer Mutter. – Natalya raste, weil Marie mit ihm kokettierte … Das Portrait hängt bei Paul Bonnard im ‹Gelben Salon›. Marie nannte es Der Kavalier. Ich dachte immer, sie wäre in diesen Mann verliebt.

Erik und ich wollten jetzt im Mai heiraten, einige Zeit in Stockholm verbringen und dann nach Ostasien gehen, wo Erik Studien für Bücher und Vorträge macht. Er arbeitet mit verschiedenen Organisationen. Mit den United Nations und dem International Institute of Differing Civilizations, das großenteils von den USA finanziert wird. Erik wird ebenfalls vollständig finanziert und organisiert. Es ist so merkwürdig mit den neuen Berufen und Jobs nach dem Zweiten Weltkrieg. Überall in der Welt sitzen Experten, Psychologen und Ratgeber, die fremde Menschengruppen studieren und ihre Mentalität zu modernisieren suchen. Das Ende ist immer ein neuer Krieg irgendwo, Massenmorde und Heimkehr zu den Tabu-Vereinen seitens der unterentwickelten Völker. – Die Herren von den großen Organisationen gehen dann woandershin und studieren aufs neue die Sitten, Unsitten und das allgemeine Gesellschaftsmilieu der fremden Völker … Alles das sagte mir Louis Bonnard über das Telefon, als er von meiner Verlobung mit einem schwedischen Soziologen, einem Graduierten der Universität Pennsylvania, hörte. – Es ist unglaublich, wozu die Bonnards das Telefon benutzen! Onkel Louis ist ein zynischer Franzose, der sich zu seinem Bedauern selbst finanzieren muß, denn seine Tochter Marie hat das große Vermögen der Pariser Bonnards geerbt. Louis war in Saigon, und sein Vater muß ihn, als er sein Testament machte, vergessen haben. Marie ist eine reiche Erbin – das kann jeder Mann gebrauchen, sagt Hilda …

Ich mag Louis Bonnard gern. Es wäre so nett gewesen, mit Erik zuerst nach Chiengmai in Nord-Thailand zu gehen. Denn Onkel Louis hat sein Hotel, das Restaurant und seine Chinesin nach Bangkok verlegt, seitdem Vietnam den Vietnamesen gehört … Wenn jemand nur Saigon sagte, ist bei Louis Bonnard Ladenschluß. Nun wird Marie in Bangkok sein. Allerdings wird sie sich von Natalyas Malerfreund trennen müssen. Marie hat nie im Fernen Osten gelebt. Sie sagt immer, in Paris könne sie sich die Chinesen aussuchen … Louis Bonnard führt zwar ein eigenartiges Familienleben mit seiner russischen Frau, seiner chinesischen Haushälterin und einer Pariser Tochter – aber ich mag ihn nun einmal leiden. Er weiß zwar alles besser und hat die Prinzipien der westlichen Moral im Fernen Osten verauktioniert, aber er meint es gut mit uns hier in London. Wie geduldig der ungeduldige Louis mit dem armen Antoine Bonnard umging! Wie wundervoll benahm er sich gegen Madam, nachdem sie beide ihren unglücklichen Ehemann bei Maurice Bonnard in seiner Züricher Klapsbude abgeliefert hatten … Das werden wir Londoner ihm nie vergessen. Onkel Louis war schrecklich verlegen, weil er aus heiterem Himmel eine Reihe guter Taten vollbrachte. –

Es war ein großes Pech, daß viele Bonnards nach London kamen, als Madam vor einigen Monaten ihren fünfundsechzigsten Geburtstag feierte. Sonst hätte Erik meine Kusine Marie niemals kennengelernt. Wir Bonnards können uns im allgemeinen nicht besonders gut vertragen, aber wir besuchen uns zu Geburtstagen und Beerdigungen. Dann essen und trinken wir, was die Hotelküchen hergeben, und wenn wir uns wieder in alle Winde zerstreut haben, telefonieren wir miteinander. Wir müssen immer wissen, was alle machen. Wir würden es einfach abscheulich finden, wenn einmal eins unserer Familienmitglieder verlorengehen würde. Wir stammen ja aus der Schweiz und halten unsern Besitz zusammen … Ich bin allerdings in London geboren und hatte eine englische Mutter. Und Marie kam in Paris zur Welt. Natalya Bonnard machte eine Welturaufführung daraus. Sie ist eben Russin. Ihre Ballettschule ist ihr nicht dramatisch genug. Ganz Paris mußte wissen, daß Natalya ihr Baby einsam und «im Elend» zur Welt bringen mußte, während Louis sich die annamitischen Promenadenschönheiten in Saigon ansah … Natalya war keineswegs einsam. Sie war von Anbetern umgeben, lebte im Bonnard und hatte ihre Eltern in Paris. Ihr Papa war allerdings grade für einige Zeit ins Gefängnis gewandert, weil er einige Ikone, die er selbst geschustert hatte, als Museumsstücke verkaufte. Er war Maler und konnte großartig bildhauern und fälschen. Er hatte es getan, um Natalya zu Maries Geburt einen echten Diamantschmuck schenken zu können. Natalyas Vater ging sehr befriedigt ins Kittchen, da er ein extravagantes Geschenk durch seiner Hände Arbeit erworben hatte. Die einzige anständige Person war immer Natalyas Mutter. Sie hieß die «Feldmaus» und arbeitete für ihren wunderbaren Mann und ihr Goldstück Natalya, bis Louis Bonnard das Fräulein Tochter auf legalem Weg als Ehefrau erwarb. Er war vernarrt in Natalya und hat sie auch heute noch recht gern. «Man kann sie anbeten, aber leben kann man nicht mit ihr. Sie kommt überall zu spät und will immerzu leiden. Sie haßt es, das Leben zu genießen. Sie wollte sich schon drei Wochen nach der Hochzeit ständig über nichts und wieder nichts mit mir erzürnen – nur um tränenreiche Versöhnungen feiern zu können.» Louis schrieb das vor Jahren an Madam – ich fand den Brief zufällig. Es ist ein Ereignis, wenn ein Bonnard einen Brief schreibt. Briefe sind ziemlich sinnlos. Man schreibt in einer bestimmten Laune. Aber entweder ist der Empfänger eines Jubelbriefes in Grabesstimmung und wirft das Zeug in den nächsten Teich, oder man selbst hat es sich anders überlegt … Wenn ich heute an die Briefe denke, die Erik mir schrieb! Danach konnte er es keinen Tag länger ohne mich aushalten. Jetzt kann er es plötzlich ein ganzes Leben lang ohne mich aushalten. –

Ich sitze wie immer im Bonnard und trommle gegen die Fensterscheiben. Sie müssen geputzt werden. Erik wird mein Trommeln nicht hören. Ich könnte auf, Damast trommeln … Er schenkte mir eine kleine chinesische Trommel. Sie enthielt eine auf Seide geschriebene Liebeslegende und einen Smaragdring. Die Fassung des Ringes war so solide wie Barclays Bank. – Ich hatte mich in Regent Street in diesen Ring verliebt. Danach bummelten wir in Piccadilly herum. Erik behauptete, die Luft wäre voller Musik. Offen gestanden, hörte ich nur den Lärm der roten Autobusse und die hohen, eleganten Stimmen der Frauen. Erik hörte eine Symphonie. Er hörte das geisterhafte Echo von Big Ben, das Murmeln der fernen Themse, das Zischen der tausend Teekessel und das Klappern der Teelöffel zwischen Baker Street und Hyde Park Corner. Erik hörte, wie die Biergläser in den Pubs sanft hin und her geschoben wurden; er hörte das Rascheln der ersten Abendzeitungen, die knisternde Unruhe der Rush Hour (Stunde nach Büroschluß), die Unterhaltung der Liebespaare und die endlose Elegie von Hampstead Heath. – Er vernahm den diskreten Herzschlag dieser Stadt der tausend Dörfer, in der jede dritte Straße Garten, Crescent, Hügel oder Close heißt und die bukolischen Namen der Häuser die Namen der Hausbewohner ersetzen … Erik hörte die Londoner Elegie – die uralte Sehnsucht dieser Riesenstadt nach Wald, Wiese und Hügeln … Ich fürchte, Erik wurde in London ein Dichter. – Es war Abend geworden. Die Laternen und Neonreklamen leuchteten wie die chinesischen Seidenschilder, die ich als Kind mit meinen Eltern in Hongkong sah. Wie herrlich ist London am Abend, wenn man Arm in Arm durch die Straßen schlendert und mit allen anderen Leuten, die einen in netter Weise nichts angehen, verbunden und vertraut ist … Diese Verbundenheit mit den Londonern von heute, den Steinen der Häuser und Plätze, mit dem Licht und den uralten Schatten der Vergangenheit erlebte ich mit Erik in Piccadilly.

Vielleicht war wirklich Musik in der Luft? Ich hatte noch eben an unsere Staubsauger gedacht, die unbedingt erneuert werden müssen, und natürlich an die tropfenden Wasserhähne in den Badezimmern im linken Flügel … Nun versuchte ich, Eriks Musik zu hören. Ich liebte ihn und wollte fliegen lernen. Ich sah ihn an: sein feines, nordisches Gesicht mit den kühlblickenden Augen und der kritischen Stirn. Wo waren seine Gedanken? In Stockholm? Im Fernen Osten? In einem uralten London, zur Zeit, da Piccadilly Gras oder Sumpf oder noch eine Idee war? Erik sah plötzlich andächtig aus, als ob die Nacht einen Choral von Westminster zu uns herüberwehte …

«Ihr merkt die Magie nicht mehr. Ihr seid an London gewöhnt», sagte er leise und küßte meine Nasenspitze. Er ist so groß, daß ich mich auf die Zehenspitzen stellen mußte, obwohl ich keineswegs klein bin. «Lulie», flüsterte Erik. «Glaubst du, daß die Hunde sich zum Dinner umziehen?» – Dann küßten wir uns genau vor der Untergrund-Station. Alle Autobusse Taxis und Zeitungsverkäufer sahen weg … Die Stadt hat so gute Manieren. Es gefiel ihr durchaus nicht, daß wir uns in Piccadilly küßten. Das macht man im Hyde Park auf der Wiese …

Ob der grüne Hut schuld daran ist, daß Erik mich verlassen hat? Vielleicht macht er mich grünlich. Oder ist die Form komisch?

«Was in aller Welt hast du auf dem Kopf?» fragte Hilda, als ich die Halle in Haverstock Hill betrat.

«Einen Hut.»

«Da lachen sämtliche Suppenhühner! So kannst du nicht nach Mayfair fahren, Louise! Marie wird da sein. Sie wird einen himmlischen Hut tragen, und Erik wird Augen machen.»

Ich lachte. Erik gehörte mir. Ich hatte es ihm eben doch geglaubt …

Paul Bonnard, der unsern Mayfair-Betrieb leitet, empfing mich ohne Wimperzucken, obwohl er als Junggeselle etwas von Damenhüten versteht. In seinem Restaurant kann man zur Mittagszeit eine Modenschau erleben. Paul gibt nicht allzu reichliche Portionen, aber seine Gäste sind immer gerade vor oder nach einer Schlankheitskur und mit einer Grapefruit oder geriebenen Karotten durchaus zufrieden. Sie zahlen widerspruchslos ein Vermögen für diese lukullischen Kleinigkeiten, da sie bei Bonnards in Mayfair serviert werden. Paul ist schlank, angegraut und äußerst reserviert. Er hat vorsichtige Ohren, schmale unsinnliche Lippen und ein robustes Kinn. Er ist sehr groß und sieht durch seinen langen Hals noch größer aus. Er kleidet sich wundervoll unauffällig und lächelt nur, wenn es gar nicht anders zu machen ist. Er erinnert im Aussehen an einen gewissen englischen Herzog – nur daß der Herzog viel freundlicher, anspruchsloser und zweimal geschieden ist … Er oder vielmehr seine Liebesgeschichten füllen die Frontseiten der Sonntagszeitungen. Paul Bonnard würde lieber «Cleopatras Nadel» verschlucken, als einen Privatskandal für den Sonntag liefern. Die «Nadel» gehört natürlich nicht Miss Tylers Katze, sondern ist der ägyptische Obelisk am Victoria Embankment. Erik sah eine ähnliche Säule im Central Park in New York und schleppte mich zum Embankment. Die Ausländer wissen alles über Londons Sehenswürdigkeiten, und wir müssen es ausbaden.

Was ist schon an dieser Säule zu sehen?

Paul gab für Erik, Marie und mich einen großartigen Lunch. Er hatte zwar wie immer eine gläserne Wand zwischen sich und uns aufgestellt, war aber so nett, wie es ihm gegeben ist. Er schiebt die Wand nur beiseite, wenn der Adel um Karotten bittet. – Madam war nicht mitgekommen. Es genügt ihr, wenn sie Pauls Gesellschaft zu Geburtstagen und Beerdigungen genießt. Wir nennen unsere Großtante genau wie die Gäste «Madam». Wir meinen das als Kosename. Manchmal glaube ich, daß Madam selbst vergessen hat, daß sie einmal Catherine O’Donnell von der Metropolitan Opera war. Bei einem Gastspiel in London traf sie zu ihrem Unglück Antoine Bonnard. Sie war jung, begann berühmt zu werden und tauschte Antoine für eine große Opernkarriere ein. Er muß sie bezaubert haben … Das war lange, bevor er Gespenster durch die Korridore des Bonnard verfolgte, bevor Catherine O’Donnell plötzlich Madam wurde und unser Haus in Haverstock Hill vor dem armen Antoine rettete. Er hatte Feuer im Privatflügel des Hotels gelegt. Er war dabei sehr schlau zu Werke gegangen, aber Madam und Miss Lund von den Leinenschränken hatten es doch gemerkt … Miss Lund ist Schwedin und wird uns nie verlassen. Sie kam als junges Zimmermädchen ins Bonnard. Heute wüßten wir nicht, was wir ohne sie machen sollten. Es gibt nichts, was Madam nicht mit ihr bespricht, einschließlich Soziologen. –

Natürlich hatte Hilda recht. Marie trug einen Traum von einem Hut. Erik und ich warteten in der feierlichen Halle des Bonnard in Mayfair. Marie ist so unpünktlich wie Natalya. Ihre Mutter warf sie deswegen aus ihrer Ballettschule in Paris hinaus. In ihrer Schule versteht Natalya Bonnard keinen Spaß.

Wo immer meine Kusine Marie mit ihrer zarten Eleganz und ihrem starren Blick erscheint, drehen sich sämtliche Leute nach ihr um. Die Frauen wollen ihrer Schneiderin erzählen, wie sie Maries Kleid kopieren kann, und die Männer starren sie einfach an: ein Blickrausch, aus dem ihre Begleiterinnen sie aufrütteln müssen. –

Marie ist mittelgroß, aber sie kann groß wirken, wenn sie will. Sie kann auch klein und hilflos aussehen. Das richtet sich ganz nach dem Mann, der gerade in Frage kommt. – Ich muß leider gestehen, das Marie bezaubernd aussah. Sie trug einen weiten, grünkarierten Tweedmantel mit passendem schmalem Rock und einen weißen Pullover. Der Mantel war weiß gefüttert. Der Hut war aus weichem weißem Leder. Ihr silberblondes Haar schimmerte kostbar unter dem Hut, dessen Rand sich bei der kleinsten Bewegung des Kopfes sanft bog, wie ein Weidenblatt im Wind. Dadurch veränderte sich ihr Profil jeden Augenblick, und Erik hatte immer wieder etwas Neues anzusehen. Marie trug ihre Ohrringe und ihre Halskette aus grüner Jade und schwarze Lederhandschuhe. Der Pullover und der schmale Rock betonten ihre enge Taille, die ein breiter schwarzer Ledergürtel vor dem Zerbrechen bewahrte. Ich weiß für gewöhnlich nicht, was Frauen in unsern Hotels tragen, aber dieses Bild hat sich mir eingeprägt. Maries Eleganz war ein Zerstörungsmittel.

Unsere Pariserin schritt langsam neben Paul in die Halle, damit jeder sie verstohlen bewundern konnte. Engländer blicken niemals jemandem so ungeniert ins Gesicht, wie es auf dem Kontinent üblich ist. Aber sie sehen trotzdem alles, was sie sehen wollen. Marie! Ganze zweiundzwanzig Jahre, bildschön, elegant und kapriziös – so stand sie plötzlich vor Erik und lächelte ihr langsames Lächeln. Sie begrüßte mich so flüchtig, daß ich rot wurde. In ihren starren Blick kam ein Flimmern, als sie zu Erik aufblickte. Vielleicht hatte Marie niemals einen baumlangen Schweden mit einem strengen Gesicht näher betrachtet. Erik ist nicht streng, aber man könnte ihn im ersten Augenblick dafür halten, weil er wie ein verschlossenes Haus wirkt. Hilda sagt, Marie wäre in einfacheren Zeiten wahrscheinlich als Nummer-Eins-Hexe (Spezialität: böser Blick) verbrannt worden. Leider leben wir im komplizierten Jahr 1959, und bei Bonnards in Mayfair wird sowieso nichts verbrannt …

Ich hatte Erik gerade ein gutes Abführmittel empfohlen, da er sich nicht wohl fühlte. Die Bonnards in Singapore haben das Zeug in der Familie eingeführt. Es ist ein englisches Rezept, aber die Chinesen machen es in billig nach. Sie würden die Nelsonsäule auf dem Trafalgar Square in billig nachmachen, wenn es sich lohnte.

Paul Bonnard übernahm die Vorstellung. Er war ziemlich stolz auf unsere junge Pariser Schönheit und auf die Harris-Tweeds, die Marie so elegant trug. Man sieht leicht rundlich in den karierten Mustern aus. Marie wirkte aber dadurch noch zarter.

«Was hast du für einen merkwürdigen Hut auf?» fragte Marie und musterte mich so ungeniert, als ob sie eine Wachspuppe bei Madame Tussaud vor sich hätte.

«Das letzte Modell aus Paris», murmelte ich und verschluckte mich am Sherry.

«Es muß das Allerletzte gewesen sein», sagte Marie sanft. «Die Kaiserin Eugénie hat es seinerzeit verauktioniert, weil Napoleon III. Krämpfe bei dem Anblick bekam.»

Erik lachte in seiner Unschuld. Mir war so dumpf im Kopf, als ob die ganze Hutabteilung von Harrods zusammen mit der Katze Cleopatra auf meinem Kopf hockte. Maries Augen – diese hellen, steinernen Augen – begannen zu flimmern wie glühende Polarsterne. Ihr Gesicht war glatt und reglos wie weiße Jade. Erik lachte immer noch über die Kaiserin Eugénie in meinem Hut …

«Nicht doch», murmelte Marie und legte ihre Hand sacht auf Eriks Hand. Ihre Hand ist ein Kunstwerk, darüber gibt es keine Diskussion.

«Sie sind nicht sehr galant zu Ihrer Braut», sagte Marie mit ihrer dunklen, leicht heiseren Stimme und zog ihre Hand zurück. Sie nahm mir den grünen Hut vom Kopf und quetschte ihn trotz des hohen Preises wie Kartoffeln in der Presse. Der Hut war jetzt ein Dreimaster. Käpten Cook muß so etwas getragen haben, als er den Stillen Ozean befuhr. Marie schüttelte ihre Locken und setzte sich das Ding auf den Kopf. Wir saßen mittlerweile in Pauls gelbem Salon mit Maries Portrait des Kavaliers und aßen gebackenen Hummer.

«Wie sehe ich aus?» fragte Marie. Sie fragte nicht etwa Paul oder mich. Sie fragte Erik.

«Sie sehen bezaubernd aus.» Erik sagte es widerwillig, das muß ich zu seiner Ehre sagen. Aber er sagte es. – «Sie können sich einen Kochtopf aufsetzen, und alles fällt Ihnen zu Füßen.» Dies mußte ein Nachgedanke sein, und Erik äußerte ihn ebenfalls. Paul Bonnard, der sonst nie etwas merkt, weil er sich nur für Herzoginnen interessiert, goß mir einen edlen Wein ein. Ich trank. Es war das einzige Mittel, um Haltung zu bewahren. Paul kannte Frauen – er hatte Marie nie leiden können, er zeigte sie nur gern in seinem distinguierten Laden herum. Aber Paul kannte eben auch Maries Geheimnis … Wenn man das kannte, war es schwer, Marie Bonnard gern zu haben. – Ich hatte mich nie weiter um Marie und ihre Geheimnisse gekümmert. Paris ist meilenweit entfernt, und wir haben in Haverstock Hill alle Hände voll zu tun. Wir telefonieren manchmal mit Natalya, und so erfuhren wir später Maries Geheimnis. Natalya kann nichts für sich behalten. Sie bespricht mit vollkommen fremden Leuten ihre intimsten Angelegenheiten. Es ist ihr ein großer Trost, wenn möglichst viele Leute die Affären der Bonnards kennen.

«Fühlst du dich nicht wohl, Louise?» Marie heftete ihren starren Blick auf mich.

Erik blickte mich besorgt an. «Wollen wir gleich nach dem Lunch fortfahren? Du bist überanstrengt, Louise!»

«Es geht mir gut. Vielen Dank.» Ich hielt Paul mein Glas hin. Er blickte mich prüfend an. In seinen kalten blauen Augen war etwas, was ich niemals bei Paul gesehen hatte. War es möglich, daß Paul Bonnard – «Eisschrank» genannt – fühlte, was vorging?

«Du hast genug getrunken, Louise», sagte er ruhig. «Iß erst einmal etwas von den Hühnern à la Marengo.»

Marengo erinnerte mich an die Familie Bonaparte. Ich konnte keinen Bissen herunterbringen. Paul tat, als ob er nichts merkte. Erik merkte wirklich nichts. Er blickte Marie an. Ich glaube noch heute, er wollte sie nicht ansehen. Aber ihr glühender Polarsternblick zwang ihn wohl dazu.

Maries Hände lagen reglos in ihrem Schoß, aber ich hatte das unheimliche Gefühl, daß diese überzarten, kühlen Hände Erik streichelten. Die Hände waren nackt. Marie trug niemals Ringe. Sie saß nackt in ihren herrlichen Harris-Tweeds und starrte Erik an. Sie erweckte wahrscheinlich Visionen in ihm: «Strahlender Frost in irrsinnigem Mondlicht.» Ein Pariser Maler sagte das von Marie, und Natalya teilte es uns auf telefonischem Weg mit … Marie war damals siebzehn Jahre. Auf jeden Fall gelang es ihr in diesem Augenblick, Erik zu hypnotisieren und seinen Protest lächelnd zu ersticken. Erik hatte mich ein ganzes Jahr geliebt. Es gibt mindestens dreihundertzwanzig Arten von Liebe, und eine davon war seine Liebe zu mir gewesen. Vielleicht liebte er mich immer noch, aber dann war diese Liebe in wenigen Stunden kraftlos und blutlos geworden. Wenn plötzlich ein Derwisch in Paul Bonnards Luxuswüste herumgetanzt wäre, hätte Erik nicht in tieferen Trance verfallen können. Es war sehr unbehaglich für Paul und mich. Das stumme Spiel dauerte vielleicht nur einige Sekunden oder Minuten. Marie wurde unruhig. Sie wird immer unruhig, wenn niemand spricht. Als ob sie verborgene Feindseligkeit spürte und nicht genau wüßte, aus welcher Richtung der schneidende Wind weht. Wenn Marie feindliche Schatten auftauchen sieht, werden ihre Augen leer. Sie sieht plötzlich aus wie ein kleines, harmloses, verängstigtes Mädchen – ohne List und ohne Busen –, und jeder Mann will sie beschützen. Ich könnte mich auf den Kopf stellen und würde immer noch nicht schutzbedürftig wirken. Das ist ein Unglück für eine Frau.

Paul Bonnard hat stumme Spiele nicht gern. Er sprach, und wir hörten zu. Paul ist natürlich nicht Louis Bonnard. Maries Vater ist ein Virtuose des Gesprächs. Alle Zuhörer freuen sich an den glitzernden Bällen, die Louis mühelos in die Luft wirft und wieder fängt. Paul tat sein Bestes. Er erzählte seinem neuen Verwandten – Erik würde ja in der Familie bleiben, wenn er Marie heiratete – vom alten Mayfair. Sein Vater hatte es noch erlebt. Bis 1918 war Mayfair das vornehmste Wohnviertel von London gewesen. Heut gab’s dort zu viel Geschäfte, Mädchen in blue jeans und Büros. Paul hatte sich einmal bei Marble Arch an einer Säule festhalten müssen, weil ihm bei dem Anblick der neuen Damen elend wurde. Er fing an, über Stockholmer Hotels zu sprechen, und Erik mußte sich endlich von Maries Anblick losreißen. Marie hatte ihre Schrecksekunde überwunden. Sie sah aus wie die Katze, die den ganzen Rahm aufgeschleckt hat. Ihr Appetit ließ übrigens nichts zu wünschen übrig. Sie aß sogar den warmen Pudding – Eriks Lieblingsgericht, das ich Paul verraten hatte. Marie verabscheute warme Puddings …

Ich habe mich später oft gefragt, wieso ich schon an diesem Tag wußte, daß Erik mich nach einigem Hin und Her nicht heiraten würde. Ich hätte ihn wahrscheinlich ziemlich glücklich gemacht. Ein glückliches Leben ist zum großen Teil ein ruhiges Leben. Das hätte ich Erik trotz seines Berufes als Kultur-Reisender geschaffen. Ich wollte nichts von ihm haben. Ich hätte versucht, ihm etwas zu geben, was er gebrauchen kann … Aber ich wußte bei jenem Lunch mit Sicherheit, daß ich Erik an Marie verlieren würde. Ich hätte mir natürlich sagen können, daß selbst kokette Ungeheuer wie Marie eines Tages wieder abreisen und daß Erik schließlich wußte, was er an mir hatte. Das sagt sich jede verkaufte Braut oder verlassene Ehefrau. Man vergißt nur, daß der Mann nicht weiß, was er an der Neuerscheinung hat. Das scheint ihm eben doch besser zu gefallen … Ich meine, dieses kindische Rätselraten! Wissen Männer wirklich nicht, daß die meisten Frauen sich viel rätselhafter geben, als sie sind? Und daß sie es lediglich dem Mann zuliebe tun? Sobald sie ihn an der Kette haben, ist’s aus mit den erotischen Kreuzworträtseln. – Dann ist jede Frau wie jede andere Frau … Wenn die Männer nicht immer wieder auf die Sphinx aus dem Kosmetiksalon hereinfielen, gäbe es nur glückliche Ehen. Die Londoner Scheidungsanwälte könnten dann auch an Wochentagen in ihrem Garten arbeiten und sich über den Zaun hinweg mit dem Nachbaranwalt über den Verfall der Romantik unterhalten. –

Paul und Erik sprachen angeregt über Schweden, da Marie und ich bescheiden schwiegen … Paul Bonnard war öfters in Stockholm gewesen und konnte genau sagen, was und wo er jedes Mal gespeist hatte. Er ist ein erstklassiger Hotelier. Daher sitzt sein Gedächtnis im Magen. Man kannte ihn im Grand-Hotel genausogut wie in dem berühmten historischen Keller-Restaurant Gyldene Freden. Dort hatte Paul einen unvergeßlichen Wein getrunken. Die Kerzen und der Schatten des Dichter-Komponisten Carl Mikael Bellman hatten keinen Eindruck auf Paul Bonnard gemacht. Er reist nie zum Vergnügen … –

 

Plötzlich war unsere kleine Feier zu Ende. Marie gähnte. Sie riß nicht etwa den Mund auf, wie Naturkinder wie ich das tun. Marie machte eine Ballettstudie daraus – eine ermüdete Nymphe in Harris-Tweeds …

Marie wohnte bei Paul, wo sie auch hingehört. Im übrigen hat unsere Großtante längst auf die Ehre verzichtet, unsere Berufsnymphe in Haverstock Hill zu beherbergen. Sehr zum Bedauern unserer alten Dauergäste, die wir die «Eingeborenen» – im Gegensatz zu den Touristen und Eintagsfliegen – nennen. Marie ist großes Gesprächsthema in Haverstock Hill. Mrs. Bellingham schüttelt den Kopf über ihre extravagante Eleganz; Mrs. Pollitt findet Marie hochnäsig und nicht ein bißchen «nett»; Mrs. Biggs fragt sich, ob Marie regelmäßig zur Kirche geht, und Major Waterhouse sieht sie verstohlen von der Seite an und wundert sich über gar nichts … Da Marie unsere Großtante höchstens alle Jubeljahre einmal besucht, haben die Eingeborenen jetzt nur noch Fernsehen nach dem Dinner, eine Unmenge Fragen an Hilda und Madams barmherzige Teenachmittage. – Madam lädt manchmal einige einsame Hühner am Sonntag in ihre Privaträume. Sie fühlt es, wenn Mrs. Pollitt ihr das Neueste über ihren gleichgültigen Schwiegersohn erzählen muß oder wenn Major Waterhouse es nicht mehr mit seinen Erinnerungen aushält. Madam weiß auch, wann Rosalind Bellingham zum Tee fällig ist. Sonntags geht sie doch nicht in die Universität …

 

Paul fuhr mich persönlich nach Haverstock Hill zurück. Es war alles so schnell gegangen, und andrerseits war es eine Ewigkeit her, daß wir alle zusammen aßen und tranken und Fremde wurden. Wer kennt das Herz eines Fremden? Ich hatte Erik falsch beurteilt und würde ihn auch weiter nicht richtig sehen. Zuerst war zuviel Zuneigung und jetzt zuviel Abneigung in meinem Blick. Ich blickte aus dem Fenster von Pauls riesigem Wagen. Eben waren wir noch in Brook Street gewesen. London war wieder eine nüchterne Stadt. Ich hatte nie ein Mirakel in Piccadilly erlebt. Ich würde schon mit der Enttäuschung fertig werden. Ich mußte nur einige Nachhilfestunden bei Madam nehmen. Sie hatte Mut und Würde und war ohne Bitterkeit. Allerdings war sie etwas älter als ich. –

In Oxford Street wurde mir schwindlig, und ich schloß die Augen im richtigen Augenblick. Denn Selfridges zeigten ein ganzes Schaufenster mit Hochzeitskleidern, Blumen und allen Details, die sich die kommerzielle Phantasie ausdenken kann … Brautschleier gingen mich wirklich nichts an. – Paul diskutierte mit Erik über Djurgardsbrunns Wärdshus. Hohe kosmopolitische Klasse! Vielleicht nicht ganz so viele Herzoginnen wie bei Paul in Mayfair, aber ein unvergeßliches schwedisches Restaurant. Das kleine Stück über die Herzoginnen gab Paul nicht zum besten. Man diskutiert sie nicht. Man hat sie …

Endlich waren wir in Haverstock Hill. Paul und Erik fuhren nach Brook Street zurück. Paul nahm es gern auf sich, einen schwedischen Gast aus einer berühmten Familie über das Fehlen des heimischen Smörgåsbord hinwegzutrösten. Und dann gab’s Marie als Dessert … Ich würde Eriks Familie nun nicht kennenlernen. Alles Juristen. Erik sagte einmal, bei Ekelunds herrsche eine Luft wie beim Jüngsten Gericht … Ich hatte ihn angestarrt. Ich muß Maurice Bonnard fragen, ob das Anstarren fremder Leute eine schlechte Angewohnheit oder ein neurotisches Symptom ist. Wozu haben wir einen weltbekannten Psychiater in der Familie? Maurice weiß sicherlich auch, warum Marie so nervös wird, wenn alles schweigt. Mein Gott, wie ich sie verabscheute! –

Ich sah Erik noch einmal an. Morgen fuhr er nach Stockholm. Wie blaß er war! Seine Augen stehen etwas zu dicht zusammen. Maurice Bonnard sagt, solche Augen ließen auf Schlauheit schließen. Wenn Erik nur einen Funken Schlauheit hätte, dann … Aber was geht mich das an? –

 

In Haverstock Hill ruhte alles. In einer halben Stunde würde es Tee geben. Nur Hilda war in der Rezeption.

«Ich hab’s dir gleich gesagt, Louise! Du hättest den grünen Hut nicht tragen sollen!»

Unsere Hilda blickte mich an. In ihren großen, dunklen Augen war unwilliger Kummer. Hilda hat immer alles vorher gewußt. Das ist ihr einziger Webfehler. –

Ich betrachtete den Vogel Garuda, als ob ich ihn niemals zuvor gesehen hätte. Dabei steht dieser mythische Bronzevogel in allen unsern Hotels auf einem Sockel in der Eingangshalle. Selbst Paul hat den Vogel Garuda nicht durch eine Statue aus Adelskreisen ersetzt … Prinz Rama bestieg diesen Legendenvogel, als er seine Braut verließ, um angeblich mit Riesen zu kämpfen. Auf jeden Fall reiste Prinz Rama ab.

«Hilda», sagte ich so leise, daß selbst der Vogel Garuda seine Bronzeohren spitzte.

«Mary kann dir den Tee ins Zimmer bringen.»

«Ich möchte nichts trinken. Nur schlafen!»

«Nach heißem Tee schläft man wunderbar», sagte Hilda streng. «Ich habe niemals erlebt, daß jemand sich nach einer netten Tasse Tee nicht besser fühlte. Was hast du, Louise? Fall uns hier nicht um!»

In diesem Augenblick betrat ein breitschultriger Herr in mittleren Jahren die Halle. Er hing dem Vogel Garuda seine Reisetasche um den überlangen Hals und sammelte mich mit Hilda vom Teppich auf.

«Grüetzi», sagte mein Vetter Dominik Bonnard. Sein Hotel in Zürich ist für die reichlichen Portionen berühmt. Mit Karotten geben sich Dominiks Gäste nicht zufrieden. Die bekommen sie bei Professor Maurice Bonnard im Sanatorium, wo es noch mehr kostet als bei Paul in Mayfair. Maurice und Dominik schicken sich gegenseitig ihre Kunden zu …

Wenn Dominik bei uns auftaucht, will er meistens etwas. Einmal will er Madam sehen, die er sehr liebt. Zweitens will er Londoner Luft atmen wie in seiner Junggesellenzeit. Und dann möchte er unsere Hilda in der Rezeption in Zürich haben. Hilda ist mit allen Bonnards in Ost und West befreundet. Dominik denkt im stillen, daß Hilda wegen der Freundschaft mit einem lächerlichen Gehalt zufrieden wäre … Er lehnt Geldausgaben ab, die sich bei einiger Vorsicht vermeiden lassen. – Trotz seiner englischen Anzüge sieht Dominik immer aus, als ob er gerade das Matterhorn bestiegen oder wieder verlassen hätte.

«Was ist mit Louise los?» fragte er und leuchtete mit seinen scharfen Augen mein Gesicht ab.

«Nichts ist mit ihr los», sagte Hilda grimmig, während ich mich benommen umblickte. «Louise hat ein Fest bei Herrn Paul gefeiert. Sie trug einen grünen Hut.»

«Deswegen fällt man doch nicht in Ohnmacht», meinte Dominik.

«Seid ihr alle hier verrückt geworden? Paul benahm sich am Telefon wie ein Trappist. Wann gibt’s Tee? Ich möchte nur Sandwiches, Sandtorte, Buttertoast und natürlich eure Muffins. Und Wasserkresse. Bitte alles in angenehmen Mengen! Ich bin bei Paul zum Dinner … Ich habe zwei Leidenschaften», sagte Dominik in unser Schweigen hinein. «Frische Wasserkresse und natürlich eure Hilda.»

«Wie geht es Ihrer Frau?» fragte Hilda.

«Danke verbindlichst», sagte Dominik. Er beantwortet niemals Fragen. Und schon gar nicht Fragen nach Ellen Bonnard …«Verbreiten Sie etwas mehr Sonnenschein, Miss Sunshine!» –

Hilda zupfte an ihrem Pullover herum. Sie war wütend, daß sie den Panzer aus der Grosvenor Street nicht anhatte …

«Wo ist Madam?» fragte Dominik.

«Neuerdings hält sie Mittagsruhe im Bett», sagte Hilda. «Immer noch der einzige Ort, wo einem bestimmt nichts passiert.»

II Am Telefon

«Meine liebe Louise», sagte Madam zögernd, «ich fürchte, du machst einen Fehler!»

Ich blickte sie an und wunderte mich wieder einmal über ihre leuchtenden Augen: Irisches Blau …

«Ich mache nur Fehler», murmelte ich. «Da kommt es auf einen mehr nicht an.»

«Du strengst dich zu sehr an, mein Kind! Denke ruhig an Erik! Es wird dir von selbst langweilig werden … Im übrigen … Entschuldige, dear! Ich werde am Telefon verlangt.»

Bei uns finden alle wichtigen Unterhaltungen einen vorzeitigen Abschluß durchs Telefon. –

Einige Wochen nach dem Freudenfest in Brook Street erhielt ich einen Brief. Er mußte von Erik sein. – Ich riß den Brief auf. Ich war gespannt, was Erik zu seiner Entschuldigung vorzubringen hätte. Madam findet, daß ich in der Tiefe meines Wesens selbstgerecht bin. Sie versucht mir beizubringen, daß ich kein Monopol auf die feineren Gefühle habe. Sie findet es lächerlich, daß jemand sich bei mir entschuldigen soll, weil der Blitz eingeschlagen hat … So etwas lasse ich mir nur von der alten Dame sagen. Ich glaube, ohne Madam und Hilda könnte ich nicht weitermachen, aber Madam sagte gestern, auch das wäre blühender Unsinn. Das Leben ginge unter einer Bedingung weiter: wir müssen mitgehen!

Ich wollte also Eriks Brief lesen, als Mr. Tomlinson erschien. Mr. Tomlinson können wir so wenig warten lassen wie den Präsidenten der Vereinigten Staaten. – Mr. Tomlinson ist nämlich ein Klempner. Das ist in London eine Persönlichkeit, die mit seidenen Handschuhen angefaßt werden muß. Sonst tropfen die Hähne weiter, und nachher muß neu dekoriert werden …

Mr. Tomlinson, der seit Jahrzehnten den Wasserhähnen im Bonnard gut zuredet, schüttelte den Kopf. Er und sein Gehilfe hatten soeben ihre 11-Uhr-Morgenmahlzeit in der Hotelküche eingenommen und wären gern nach getaner Arbeit wieder nach Haus gegangen. Deshalb schüttelte Mr. Tomlinson den Kopf. Entsetzlich, was man alles von ihm verlangte! – Dennoch machte er die passende Einleitungsbemerkung über die Junisonne, und wie schlecht es vorigen Sommer mit der Sonne gewesen wäre, und wie famos die Sonne im Jahr 1951 geschienen hätte, als er und sein Hund und Mrs. Tomlinson in Blackpool gewesen wären. – Und welche Hähne es denn nun eigentlich wären? Im linken Flügel müßte alles in Ordnung sein. Es könne aber auch 1949 gewesen sein, als sie in Blackpool …

«Es sind die Hähne im linken Flügel, Mr. Tomlinson», sagte ich fest. «Major Waterhouse hat sich beklagt. Und er sagt seit Jahren keinen Ton, wenn etwas nicht funktioniert.»

Mr. Tomlinson erhielt von Major Waterhouse gelegentlich Marken aus fremden und seiner Ansicht nach heidnischen Gegenden. Tja – dann mußte er sich wohl die Sache ansehen! Er brummte zu seinem Gehilfen gewandt: «Komm!» und verschwand. Ich wußte, daß er verstimmt war. Ich hörte, wie Mr. Shelley, sein Freund und Gehilfe, vom letzten Fußballspiel in Kilburn berichtete und wie Mr. Tomlinson sich mit einem Nachtrag zur Biographie seines Hundes revanchierte. – Mr. Shelley war ein erstklassiger Fußballer und war sehr gekränkt, wenn man Rückfragen nach einem Dichter gleichen Namens stellte, von dem er nie etwas gehört hatte. Er selbst war der Stolz von Kilburn – das genügte ihm. Ich fühlte in jedem Knochen, daß die Herren sich anschließend über mein «Pech» unterhalten würden. Es hätte doch im Mai Hochzeit sein sollen, und hier war ich im Bonnard und belästigte jeden Menschen wegen der Wasserhähne! «Er war Ausländer», sagte Mr. Tomlinson bestimmt in diesem Augenblick. «Das mußte ja schiefgehen.» Mr. Shelley würde zustimmen. Londoner waren wohl nicht gut genug?

 

Erik schrieb, wie schwer ihm dieser Brief fiele. Wie sehr er mich schätzte und bewunderte, und wie bekümmert auch Marie wäre, daß sie mir soviel Unannehmlichkeiten bereitet hätte. Es klang, als hätte ich eine Verabredung mit unserm Friseur getroffen und Marie wäre mir zuvorgekommen … Erik ließ nicht eine einzige Konvention aus, die zu Abschiedsbriefen gehört. Selbstverständlich bliebe er mein Freund, an den ich mich immer wenden könne; selbstverständlich wolle er den Smaragdring nicht wiederhaben. Und selbstverständlich danke er mir sehr aufrichtig für alles …

Hier sparte Erik sich alle Einzelheiten. Der Brief war ein Dankbrief an eine nette, tüchtige Sekretärin, die Erik zu seinem aufrichtigen Bedauern wegen ihres hohen Alters nicht heiraten wollte. Ein ehrendes Andenken war ihr sicher.

Ich stand auf und blickte in den Hotelgarten, weil die Natur angeblich beruhigt. Aber ich sah nur Mrs. Pollitt und den kleinen Amor am Springbrunnen, der seit Jahren Mrs. Pollitts Mißfallen erregt. Warum hatte der Bengel nichts an?

Ich ging zu Hilda in die Rezeption. Sie zog mich in den kleinen Salon links von der Empfangshalle, in dem niemals jemand saß. Aber Mrs. Bellingham könnte sich einmal dorthin setzen, dafür mußte man den Salon haben. Louis Bonnard hatte uns die Empire-Möbel besorgt und zur Hälfte geschenkt. Der Salon hatte auch einen Spiegel aus der Empirezeit. Ich blickte hinein und sofort wieder weg.

Hilda las den Brief so aufmerksam wie eine schwedische Speisekarte, die sie nicht verstand. Dafür verstand Hilda mich um so besser …

«Wie gefällt dir der Brief?»

Gegen ihre Gewohnheit schwieg Hilda. Sie zündete sich eine Zigarette an und steckte mir auch eine in den Mund. Ich begann, den Brief in kleine Stücke zu zerreißen.

«Nicht doch, Louise. Ich meine, der Papierkorb ist in der Halle.»

Nach dieser interessanten Eröffnung stand Hilda auf und räusperte sich.

«Vielleicht ist er ein ganz Schlauer! Vielleicht schreibt er so idiotisch, weil er annimmt, daß du mir den Brief zeigen wirst!»

In diesem Augenblick raste Miss Stevens herbei und meldete, Louis Bonnard sei in Paris am Apparat und wolle mich sprechen. Ich habe Maries Vater sehr gern. Er ist wie ein chinesischer Geschichtenerzähler. Man bezahlt seine Pfennige, und Louis liefert Liebe, die Ballade vom Goldfisch, Schurken, Mondlicht und Intrigen … Aber jetzt wollte ich nichts hören.

«Ich denke, er ist noch in Bangkok», erwiderte ich stumpfsinnig. Miss Stevens blickte mich aus hellen, kühlen Augen an – auch sie erinnerte sich, daß ich letzten Monat heiraten sollte. Miss Stevens ist zweiundzwanzig Jahre, genauso alt wie Marie, und versteht es mit den Männern. Sie hat eine zu niedrige Stirn und einen flachen Hinterkopf, den sie durch prächtige Locken verbirgt. Maurice Bonnard mag sie besonders gern. Er sagt, Stirn und Hinterkopf deuteten an, daß die höheren Geistesgaben fehlten, und das findet Maurice erholsam.

«Es tut mir leid – das Gespräch kommt aus Paris.» – Miss Stevens konnte schwer ihre Ungeduld verbergen. Sie las den ganzen Tag entweder Kriminalromane oder Liebesbriefe von ihrem Verehrer – einem angegrauten Don Juan aus der City, der mit einer Jammertante verheiratet war und um die Ecke in Belsize Park wohnte. Sie aßen jede Woche zweimal bei uns im Restaurant, weil die Jammertante nicht kochen wollte. – Miss Stevens ließ sich ungern im Briefelesen stören. Sie wartete so unverkennbar, daß die Luft knisterte. Während sie mich anstarrte, fühlte ich, wie ich rot wurde und ein enges Gefühl in der Brust aufkam. So weit war es mit mir gekommen! Ich wurde rot, weil Miss Stevens mich ansah. Mein Minderwertigkeitskomplex blühte wie die Rosen in Regents Park …

«Was will er wohl?» fragte ich Hilda. Miss Stevens war abgetreten. Ihre steifen weiten Unterröcke hatten majestätisch gerauscht. Wie hübsch sie war! Und wie sicher! Unsere Zwanzigjährigen sind alle so sicher. Vielleicht wissen sie schon zuviel vom Leben oder noch zuwenig.

«Ich kann nicht mit Louis sprechen», sagte ich heiser. «Bitte, Hilda! Sprich du mit ihm! Er mag dich so gern!»

«Er kann mich nicht riechen», sagte Hilda. «Und was so nett dran ist, es beruht auf Gegenseitigkeit.»

Sie schob mich in unser privates Telefonzimmer und schloß die Tür. – Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

 

Louis Bonnard hat uns längst verboten, ihn Onkel zu nennen. Er behauptet, er fühle sich sonst als der alte Herr, für den Natalya ihn ausgebe. Aber Natalya ist einfach auf Fräulein Pao Pei (Kleiner Schatz) eifersüchtig. Sie führt Louis den Haushalt in Bangkok und überwacht das chinesische Restaurant, das er dem Hotel angegliedert hat. Pao Pei rührt französische Küche nicht an, was Louis viel Spaß macht. Er amüsiert sich auch über ihre großen Ohren, die sie nicht durch Haar verdeckt. Pao Pei ist wahnsinnig neugierig und denkt, große Ohren hörten mehr als kleine. Sonst ist sie selbstlos, bescheiden und zartfühlend. Marie kann sie nicht ausstehen, weil Pao Pei sie bei ihrem einzigen Besuch in Paris bat, ihr nicht den chinesischen Charakter zu erklären. Sie wäre mehrere tausend Jahre Chinesin gewesen … Pao Pei hat in Louis’ Pariser Familie nichts zu suchen. Natalyas Freunde sind gräßlich. Und Maries künftiger Ehemann kann mir auch gestohlen bleiben … Ich nahm resigniert den Hörer in die Hand. Was hatte Louis Bonnard mir noch zu sagen? Kondolenzbesuche hatte ich mir verbeten …

«Hier Louis! Wie geht es, Louise?»

«Danke, gut.»

«Du sprichst, als habest du den Staub der ganzen Welt in der Kehle.»

«Das macht das Telefon.»

«Das machst du, meine Gute! Habt ihr Hustensyrup in London? Ich schicke dir lieber welchen aus Paris.»

Gegen meinen Willen mußte ich lachen. Louis Bonnard kennt die ganze Welt, denkt aber wie alle Franzosen, es gäbe nur in Paris das Richtige zu kaufen …

«Bist du meiner ungeratenen Tochter sehr böse? Marie sagte mir am Telefon, wie unglücklich sie deinetwegen wäre.»

«Du erwartest, daß ich das glaube?»

«Du lieber Himmel, du willst doch nur recht behalten, Mädchen! Laß mich doch auch etwas sagen! Ich verstehe dich, Louise! Aber ich möchte diese ärgerliche Affaire aus dem Weg schaffen. Wie bitte? Ich will Marie nicht entschuldigen! – Ich muß zu deinem eigenen Wohl einen Irrtum berichtigen. Du beurteilst die ganze Sache falsch.»

«Das ist großartig», sagte ich laut. Der Staub der Welt saß nicht mehr in meiner Kehle. «Du bist einzig, mein Lieber! Deine Tochter stiehlt mir …»

«Sag nichts, Louise! Ich werde dir etwas sagen! Marie und euer Schwede lernten sich schon vor drei Jahren kennen. – Marie war damals neunzehn.»

«Sie lügt wie gedruckt. Sie hat dir wieder einmal ein Märchen erzählt. Ihr liegt etwas an deiner guten Meinung.»

«Ich lasse mir niemals Märchen erzählen, meine gute Louise! Und meine Tochter bemüht sich nicht um meine Bewunderung. Sie hat seit Jahren trotz größter Mühe keinen einzigen Fehler in sich entdecken können und glaubt, ich teile ihre Meinung. Übrigens – du hast kein Monopol auf die Tugend, wir lügen alle, wenn es sein muß.»

«Ist das alles, was du mir dringend zu sagen hast?»

«Warum solche Eile? Ich zahle doch dies Gespräch! – Also – Marie hat mir die Sache überhaupt nicht erzählt. Sie war schon – pardon – in Stockholm, als ich jetzt in Paris ankam. Madeleine erzählte mir, wie lange Marie diesen Schweden schon kennt.»

«Wer ist Madeleine?»

«Madeleine Boussac natürlich.» – Louis wurde bereits ungeduldig. Er denkt immer, die ganze Welt kenne seine kostbaren Bekannten …

«Madeleine singt ohne Stimme irgendwo in einem Ausschank in Saint-Germain-des-Prés», erklärte Louis noch ungeduldiger. «Sie lebt mit Marie im Atelier – das heißt seit dem ‹Großen Krach› zwischen Marie und meiner Frau. Natalya hat natürlich keine Ahnung von irgend etwas. Marie und sie sehen sich niemals.»

«Gut für deine Frau!» – Es war gemein und unwürdig, dem lieben Louis so etwas zu sagen. Niemand kennt das Ausmaß der eigenen Gemeinheit.

«Sprich dich ruhig aus, wenn es dich erleichtert.» Ich sah Louis’ zynisches Lächeln durchs Telefon. «Die Tatsache bleibt bestehen, daß du meiner Tochter diesen Schweden ausgespannt hast! Madeleine erzählte mir die ganze Geschichte für ein gutes Diner. Nicht bei uns im Haus, natürlich! Die junge Dame sieht leicht verkommen aus. Hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Marie. – Kurz und gut – sie verloren sich aus den Augen.»

«Wer verlor wen aus den Augen?»

«Marie natürlich diesen Schweden! Oder umgekehrt. Marie nennt nie ihren Nachnamen bei neuen Bekanntschaften. Ganz diskret, nicht wahr?»

«Ich nehme an, Marie will sich nicht anpumpen lassen. Sie gibt doch so ungern Geld aus.»

«Die einzige vernünftige Haltung für eine Erbin! Außerdem weiß ich nicht, wann ich sie anpumpen werde … Du hast jetzt etwas gegen Marie, meine gute Louise! Vielleicht heiratet sie den Burschen gar nicht. Meistens sind ihre Abenteuer ja aus Luft gewebt. Was sagst du? Gewiß – ihre erste Affaire war ernster. Eine Jugendsünde. Marie war siebzehn, und Natalya versteht soviel von Erziehung wie jede Russin … im übrigen – es war ziemlich undurchsichtig. Vielleicht hatte Marie keine Schuld … Sie hat diesen jungen Idioten ja nicht erschossen, das steht einwandfrei fest.»

«Wo lernten Marie und Erik sich kennen?» – Ich fragte gegen jeden Instinkt und gegen jedes bessere Wissen.

«Ich schicke dir morgen den Hustensyrup!» – Louis Bonnard schien wegen meiner plötzlichen Tonlosigkeit ganz besorgt zu sein. Aber die Sache mit «unserem» Schweden nahm er nicht ernst. Ich kenne seine Auffassung von der Liebe oder, was er so nennt … Louis glaubt an das flüchtige Vergnügen, an angenehme Melancholie, wenn er wieder eine Zuhörerin losgeworden ist – und an die französische Vernunft. – «Wo lernten sie sich kennen?»

«Sie trafen sich auf der Autostraße zwischen Paris und Chantilly, wenn ich nicht irre», sagte Louis merkwürdig zögernd. «Mon Dieu, Erik muß es dir doch erzählt haben! Nicht einmal ein Schwede kann die Zurückhaltung so weit treiben. Hast du es vergessen, Louise?»

«Ich habe es nie gewußt. Also – was spielte sich ab?»

«Neugierig sein ist ein unbehagliches Vergnügen, meine gute Louise! Aber euch Briten gefallen ja traurige Belustigungen! Kurz und gut – auf der Autostrecke passierte doch das Unglück mit Ulrika.»

«Mit wem?»

«Hast du ein Teebrett vorm Kopf, Louise? Ich sagte: Ulrika? Warum bleiben diese Schwedinnen nicht in Stockholm? Es soll eine entzückende Stadt sein! – Marie war doch Zeuge bei der Bescherung. Erik war kopflos. Wirklich merkwürdig, daß Marie bei jedem Unfall in der Gegend dabei sein muß … Natalya sagt, daß unsere Tochter das Unglück anlocke … Aber Natalya macht aus allem ein Melodrama mit Tanz! Wovon sprachen wir noch?»

«Von Ulrika!»

«Es kommt mir so vor, als sprächen wir schon eine ziemlich lange Zeit von Ulrika! Wie gesagt – Marie sah die Katastrophe. Ihr jungen Leute rast alle wie die Verrückten in euren Wagen herum! Ich staune immer, wieviel Überlebende es unter Autofahrern gibt … Tja – du mußt dich doch an Ulrika erinnern, Louise! Schließlich war sie doch Eriks … Hallo, hallo! Ich spreche noch! Bist du noch am Apparat, Louise? Warum sagst du nichts? Louise! – Louise!! –»

Erstes Buch Die Gärten des Adonis

«Die Gärten des Adonis waren mit Erde gefüllte Töpfe oder Körbe, in denen die Frauen alle möglichen Gemüse und Blumen gesät und acht Tage lang gepflegt hatten. Durch die Sonnenglut schossen die Pflanzen rasch in die Höhe, doch da sie keine Wurzeln hatten, welkten sie ebenso rasch dahin. –

Nach acht Tagen wurden die Pflanzen mit dem Bildnis des Gottes Adonis zusammen für tot erklärt und in die See geschleudert.»

 

Sir James Frazer «Studien über Magie und Religion»

Erstes Kapitel Hotel Bonnard, London N.W. 3

I

«Miss Louise wird am Telefon verlangt», sagte Miss Stevens und gähnte. Sie hatte gestern abend Soho unsicher gemacht. «Ist das Telefon bei Miss Louise abgestellt?»

«Sie ruht jetzt und darf nicht durch Anrufe gestört werden», erwiderte Miss Sunshine. «Wer ist am Apparat? Etwa wieder Mr. Louis Bonnard? – Bitte, Monica, geben Sie mir den Apparat.»

Miss Stevens war es durchaus recht. Sie wandte sich ihrem Kriminalroman zu.

«Es tut mir leid, Sir», sagte Hilda durchs Telefon. «Ich kann Ihren Namen nicht verstehen. Wie bitte? Miss Bonnard ist leider im Augenblick nicht zu sprechen. Nein, nein – sie ist in London! Hier spricht die Rezeption. Kann ich etwas ausrichten?»

«Vielen Dank», sagte eine harte Stimme. «Ich komme nach dem Essen ins Hotel. Wo ist Haverstock Hill? In N.W. 3? Soso … Ich bin in London W. 1! Also: den Bus bis Swiss Cottage und dann eine Taxe! Nett, daß Sie für mich sparen wollen …! Übrigens, Miss Bonnard erwartet mich. Guten Abend!»

«Komisch», sagte Hilda zu Miss Stevens. «Der Herr sprach so hart wie ein Russe. Miss Louise kennt keine Russen hier.»

«Sie muß Ihnen doch nicht alles erzählen!» Miss Stevens stand auf und gähnte nochmals. Ihre Unterröcke rauschten verächtlich. «Ich kann mich nur wundern! Sie machen alle ein Theater um Miss Louise, als ob ihr Gottweißwas passiert wäre! Es gibt doch mehr Männer auf der Welt! Nach einiger Zeit ist sowieso einer genau wie der andere.»

«Ich bin ganz Ihrer Meinung, Miss Stevens.»

Miss Stevens warf Hilda einen verfassungswidrigen Blick zu. «Sie glauben wohl, daß ich Unsinn rede?»

«Ich glaube es nicht – ich weiß es», sagte Miss Sunshine.

II

Eine Stunde später saßen die Gäste des Bonnard beim Abendessen. Madam pflegte die «Eingeborenen» von den Fremden zu scheiden, die kamen und gingen. Die alte Garde saß im Kleinen Speisesaal, dessen Wände Szenen aus der griechischen Mythologie schmückten. Diese Fresken erregten Mrs. Pollitts Mißfallen, da die Damen zu knapp bekleidet waren. Sie war einmal mit ihrem verstorbenen Mann in Griechenland gewesen und hatte gefroren. Es war pure Ungezogenheit, sich nicht anständig anzuziehen. Gegen den Gott Adonis, dessen Geschichte die Mittelwand hinter dem Büfett schmückte, hatte Mrs. Pollitt eine Abneigung. Er erinnerte sie an ihren Schwiegersohn, der ihr eine gehorsame Tochter gestohlen hatte und sich nun am Badestrand von Blackpool wie Adonis benahm … Mrs. Pollitt ging niemals nach Blackpool, sondern erholte sich Jahr für Jahr in Suffolk. Sie verabscheute die Abwechslung.

Hilda und Louise verbrachten ihre Ferien regelmäßig im Ausland. Sie waren jung und wollten die Welt statt Mrs. Pollitt oder Mr. Moffat sehen. – Mr. Moffat gehörte ebenfalls zur alten Garde. Er war pensionierter Staatsbeamter und Junggeselle. Er beklagte sich ständig über das Essen im Bonnard, zog aber nie in ein anderes Hotel. –

Auf einer Ferienreise hatte Hilda vor einigen Jahren Dominik Bonnard zufällig in Lugano getroffen. – Seine Erholungsreisen machte er ohne seine Frau. – Louise hatte im vorigen Jahr eine Reise nach Schweden gemacht. Paul Bonnard hatte ihr viel von den schwedischen Vorgerichten erzählt. – Im Grillroom des Riche hatte Louise einen Eingeborenen kennengelernt: Dr. Erik Ekelund erholte sich in seiner Heimatstadt von einem langen Studienaufenthalt in Indien. – Der formelle Schwede wurde beredt, als er Louise von den «Gärten des Adonis» in Indien erzählte. In den Dörfern um Calcutta hatte Adonis sich in den Karma-Baum verwandelt, den die Reisbauern zusammen mit den mit Blumen und Getreide gefüllten «Gärten» ins Meer werfen. Adonis war ein Baumgeist – aber die Menschen des Westens brauchten eine menschliche Form … Adonis blieb übrigens niemals an einem Ort. Er tauchte auf und verschwand wieder. Sein Schicksal war hohe Blüte und ein plötzlicher Tod in den Elementen. –

Louise hatte niemals solche Dinge gehört. Sie lauschte mit großen Augen. Sie traf den Schweden jeden Tag. Sie hatten sich schließlich in Drottningholm ganz vertraut unterhalten. Die königliche Sommerresidenz auf einer Insel im Mälarsee erschien Louise von magischer Schönheit – aber sie war bedrückt. Sie war nicht für Zwischenspiele geschaffen. Sie brauchte eine einfache und klare Zuneigung. – Was wußte sie von diesem Mann? Sie schritt stumm durch den Park und die Räume des Schlosses – alles war fremd und feierlich in der stillen Perlmutterluft von Drottningholm. Im Park fand Louise etwas Vertrautes – den chinesischen Pavillon. Rokoko-Grazie des achtzehnten Jahrhunderts und die zeitlose Heiterkeit Chinas … Windglocken tönten aus der Vergangenheit. Louise erzählte Erik stockend von ihrer Kindheit in Hongkong. Dort gab es Geschäftspaläste wie in der Kungsgatan und Pavillons wie in Drottningholm …

Sie fuhren in die Stadt zurück und aßen Weißbrotschnitten mit geräuchertem Hering und tranken Schnaps dazu. Das moderne Stockholm brachte Louise mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. Morgen ging es nach London. Morgen abend würde Mr. Moffat sich über das Essen beklagen und Mrs. Pollitt würde wissen wollen, ob man in Stockholm Roastbeef mit Yorkshire-Pudding bestellen könne. Louise hatte sich verlaufen – das durfte nicht sein! – Sie blickte Erik verstohlen an. Sein verhängter Blick sagte ihr nichts. Louise fand sein Schweigen bedrückend. Sie fragte, ob Dr. Ekelund Paris kenne? Dort lebten Verwandte von ihr. Dr. Ekelund machte sekundenlang ein Gesicht, als habe er Zahnschmerzen. Dann gab er zu, daß man sich in Paris unter Umständen recht angenehm die Zeit vertreiben könne. Danach gab es eine Kunstpause. Paris war offenbar das verkehrte Gesprächsthema gewesen.

Am späten Abend bummelten sie noch auf der Kungsgatan herum, obwohl sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Trotzdem schien Dr. Ekelund Louisens Gesellschaft immer noch seiner eigenen vorzuziehen … Sein Talent, von einem Augenblick zum anderen eine Atmosphäre der Unbehaglichkeit zu schaffen, grenzte an Magie … Die Kungsgatan war unpersönlich – eine rastlose internationale Hauptstraße mit Filmpalästen, elektrisch beleuchteten Reklametexten und unentdeckten Passanten. Der Stureplan war die letzte Station. Louise und Erik standen isoliert zwischen fröhlichen Nachtschwärmern unter dem «Regenschirm» – einem runden, steinernen Schutzdach, und wurden von substanzlosen Lichtquellen angestrahlt. Es waren natürlich die Neonlichter des Zeitalters, aber die hektischen Strahlen und die flatternden Schatten erfüllten die nordische Nacht mit quälender Unrast. Louise war erschöpft. Sie war zu langsam für dieses Erlebnis. Ein heller Morgen, Vertrautheit am Mittag und Abschied im Nachtwind. – Adonis war tot. Seine Gärten waren verdorrt. Lag der rastlose Marmorgott im Mälarsee? Starrte sein Auge in eine nächtliche Unterwelt? Zu welchen Ufern trieben die Körbe mit der toten Frucht der Erwartung?

Was war geschehen? – Was verursachte Eriks Schweigen, die plötzliche Kälte, die Folter der Höflichkeiten? Madam hatte recht: man sollte keine Reisebekanntschaften machen! Sie müsse in Schweden ihren gesunden Menschenverstand verloren haben, dachte Miss Bonnard. Oder die Stockholmer Luft enthielt ein Fluidum heimlicher Erregung. Unsinn! Stockholm war eine moderne Metropolis! Filmpremieren und ‹Neues Wohnen› waren die Sensationen; genau wie im restlichen Nachkriegs-Europa. Oder gab es doch ein schwedisches Mysterium? Louise dachte verwirrt an die treibenden Wasser, die Felsenklippen, die endlosen Wälder des Gottes Pan, die das reiche, geschäftstüchtige Stockholm umgaben. Und dann die steinerne Inzucht der Altstadt! Erik hatte sie festgehalten, als sie in den dunklen Abgrund der Mårten Trotzig-Gasse gestarrt hatte. – Diese Straßenschlucht – ein Albdruck am Tag – war ein Teil von Eriks Kindheit. Aber das wußte Louise nicht. Dort war er als Knabe die steilen Stufen hinuntergesprungen, erfüllt von geheimer Lust an Abgründen. Doch seine schwedische Sucht nach Licht und greifbarer Schönheit hatte ihn mit Louise in die Milles-Gärten getrieben, wo Steingötter sich in maßlosem Höhenrausch in den Himmel warfen … Erik hatte Louise einen Einblick in Kontrastwelten gegeben, die sie verwandelt hatten. – Erik Ekelund war ein Produkt der dualistischen nordischen Existenz. In ihm waren Bellmans klingender Rausch und Strindbergs dunkler Frauenhaß. Sie hätte diesen Eindruck nicht formulieren können, aber er saß in ihrer Seele und ließ sie nicht los.

Sie kannte damals Dr. Erik Ekelund erst seit zehn Tagen.

III

«Du bist blaß, Louise», sagte Hilda beim Wiedersehen in Haverstock Hill. «Ist Stockholm dir nicht bekommen?»

«Ich muß mir den Magen verdorben haben.»