Reis aus Silberschalen - Alice Ekert-Rotholz - E-Book

Reis aus Silberschalen E-Book

Alice Ekert-Rotholz

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Beschreibung

Die vielgelesene Autorin schildert hier fesselnd die Atmosphäre des Fernen Ostens. Aus Kriegs- und Nachkriegsnöten zieht eine Hamburger Kaufmannsfrau mit den Kindern zu ihrem Mann nach Thailand. Die hanseatische Familie sieht sich im Land des Lächelns zuerst ungewöhnlichen Schwierigkeiten gegenüber. Begriffe, die für sie selbstverständlich waren – wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit –, haben dort keinerlei Bedeutung. Aber erregend wie die exotische Welt, in die die Gäste eintreten, ist der Kreis von Menschen, denen sie in Ceylon, Siam, Hongkong begegnen. Der Schicksalsweg der Familie führt sie durch Paläste und Spelunken, Häfen und Märkte, Privatgemächer und Büros. Märchenfürsten und asiatische Abenteurerinnen kreuzen ihn. Aus den Verlockungen des Wunderlandes kehrt die Familie, reich an Erfahrungen, in die Heimat zurück.

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Seitenzahl: 792

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Alice Ekert-Rotholz

Reis aus Silberschalen

Roman einer deutschen Familie in Ostasien

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die vielgelesene Autorin schildert hier fesselnd die Atmosphäre des Fernen Ostens. Aus Kriegs- und Nachkriegsnöten zieht eine Hamburger Kaufmannsfrau mit den Kindern zu ihrem Mann nach Thailand. Die hanseatische Familie sieht sich im Land des Lächelns zuerst ungewöhnlichen Schwierigkeiten gegenüber. Begriffe, die für sie selbstverständlich waren – wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit –, haben dort keinerlei Bedeutung. Aber erregend wie die exotische Welt, in die die Gäste eintreten, ist der Kreis von Menschen, denen sie in Ceylon, Siam, Hongkong begegnen. Der Schicksalsweg der Familie führt sie durch Paläste und Spelunken, Häfen und Märkte, Privatgemächer und Büros. Märchenfürsten und asiatische Abenteurerinnen kreuzen ihn. Aus den Verlockungen des Wunderlandes kehrt die Familie, reich an Erfahrungen, in die Heimat zurück.

Über Alice Ekert-Rotholz

Alice Ekert-Rotholz, am 5. September 1900 in Hamburg als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, lebte von 1939 bis 1952 in Bangkok. Nach Hamburg zurückgekehrt, war sie journalistisch für Funk und Presse tätig. 1954 erschien ihr erster Roman «Reis aus Silberschalen», der sie schnell bekannt machte. Zahlreiche weitere folgten. 1959 siedelte Alice Ekert-Rotholz zu ihrem ersten Sohn nach London über. Dort starb sie am 17. Juni 1995.

Inhaltsübersicht

FÜRMEINE ELTERNErstes BuchErstes Kapitel • Die AnkunftZweites Kapitel • Ein Haus in den TropenDrittes Kapitel • Die Lotosesser vom ElbestrandViertes Kapitel • Saigon – Stadt im Sonnenuntergang.Fünftes Kapitel • Im Schatten des BuddhaSechstes Kapitel • Masken und GesichterSiebentes Kapitel • Die Zinn-InselAchtes Kapitel • FeuerfliegenNeuntes Kapitel • TropenhochzeitZweites BuchZehntes Kapitel • Der dunkle Mond von CeylonElftes Kapitel • Heimsuchung im ParadiesZwölftes Kapitel • Weg der ElefantenDreizehntes Kapitel • Johannes Petersen – privatVierzehntes Kapitel • Runde Kuchen aus KantonFünfzehntes Kapitel • Die Gäste des alten Herrn WongSechzehntes Kapitel • Die Elbe bei SturmSiebzehntes Kapitel • Fräulein Knudsens GesellschaftAchtzehntes Kapitel • Pauline und PrasertDrittes BuchNeunzehntes Kapitel • Junger Mann in HongkongZwanzigstes Kapitel • Eine Nacht in MacaoEinundzwanzigstes Kapitel • «Der Jahrmarkt am goldenen Berge»Zweiundzwanzigstes Kapitel • Ein Kind ist verschwundenDreiundzwanzigstes Kapitel • Spinne und SeidenraupeVierundzwanzigstes Kapitel • Tropische WeihnachtFünfundzwanzigstes Kapitel • Reis aus SilberschalenSechsundzwanzigstes Kapitel • Der alte Mann in der Sala

FÜRMEINE ELTERN

Erstes Buch

Erstes Kapitel Die Ankunft

I

Als Petersen im Hafen anlangte, um Martha und die Kinder zu empfangen, war er nervös und ermüdet. Der Schweiß rann ihm in Strömen in den frisch gestärkten Hemdkragen. Im Hinterkopf pochte ihm ein glühender Hammer, der fast den Tropenhelm sprengte. Bangkok war ihm noch niemals so heiß vorgekommen; die Riesenstadt am Menamfluß brodelte in der Nachmittagsglut. Petersen hätte sich gern in seinem elektrisch gekühlten Büro von dem alten chinesischen Boy einen Eiskaffee servieren lassen. Er hielt an geeisten Getränken fest, obgleich seine chinesischen Kunden ihm versicherten, daß heißer grüner Tee das Beste gegen die Tropenhitze wäre. Petersen war Hamburger. Er bewahrte daher auch in ungewohnter Umgebung alle seine Gewohnheiten … Wenn der Hamburger Versuchssommer sich einmal tropische Ausschreitungen erlaubte, hatte Petersen mit einem Eiskaffee im Alsterpavillon gesessen. Aber Chinesen wollten immer alles besser wissen.

Gerade heute früh hatte er sich stundenlang mit einem wichtigen Kunden herumärgern müssen. Selbstverständlich hatte er seinen Ärger nicht gezeigt, sondern so strahlend gelächelt, als ob ihm die Unterhaltung mit Mr. Wang ein unerhörtes Vergnügen gewähre. Petersens Lächeln war berühmt in der Firma. Er konnte es wie einen Wasserhahn an- und abstellen. Es hatte ihm unlängst die Partnerschaft bei Petersen & Co. in Bangkok eingetragen. Nun konnte er Martha und die Kinder zu Besuch kommen lassen.

Martha hatte lange gezögert, denn die politischen Nachrichten aus Siams Nachbarländern waren beunruhigend. Aber dann hatte sie sich doch entschlossen. Ihr wurde ein einzigartiges Erlebnis angeboten, und sie hatte nach den Kriegsjahren eine Abwechslung verdient. Petersens Vorschlag, die Kinder bei Verwandten in Hamburg zu lassen, hatte sie allerdings abgelehnt. Freundlich, aber bestimmt. Petersen lehnte sich niemals gegen Marthas Entschlüsse auf. Sie war fünf Jahre älter und wußte es wohl besser.

In einer Viertelstunde sollte die Barkasse von Paknam in Bangkok einlaufen. Petersen befragte seine Uhr. Die Schiffsgesellschaft rechnete zwar mit Verspätung, aber er war mit deutscher Pünktlichkeit zur Stelle gewesen. Das war er Martha schuldig. Martha! Wie würde sie wohl mit dem Tropenleben fertig werden? Sie war niemals aus Europa herausgekommen. Was würde sie zu der Hitze, zu den asiatischen Dienern und dem Ferienleben der weißen Frau in Ostasien sagen? Martha war keine Minute ihres Lebens untätig gewesen …

Petersen hatte laut aufgelacht, als er heute mittag die Blumenarrangements auf Tischen und Veranden und die Spinnweben in allen Ecken seines geräumigen Tropenhauses musterte. Martha und Spinnweben! Auf seine Anweisung hatte der «Boy Nummer Eins» – ein Enkelsohn von Petersens chinesischem Koch – lächelnd, aber heimlich verärgert mit dem Spielzeugbesen hantiert, die Spinnweben etwas anders arrangiert und den Staub von einer Ecke in die andere gefegt. Danach hatte er sein Werk mit großer Befriedigung betrachtet. Die ganzen Jahre hatte der Master alles sehr sauber gefunden, aber wenn eine Missie ankam, war eben nichts mehr gut. Das sagten alle chinesischen Boys, die europäischen Strohwitwern oder Junggesellen dienten. Die zierliche, siamesische Amah (Kinderfrau), die Petersens Koch in letzter Minute zur Bedienung der «kleinen Missie» besorgt hatte, hockte verängstigt im Kinderzimmer. Der Koch hatte ihr in seinem gebrochenen Siamesisch erzählt, daß eine Mem Ferang (Ausländerin) sehr böse wurde, wenn weiße Ameisen in der Wäschekommode herumliefen. Wo sollten sie denn sonst herumlaufen? Da Amah keine Antwort wußte, spuckte sie nachdenklich den roten Betelsaft auf den weißen, indischen Teppich im Kinderzimmer. Die dunkelroten Flecke, die kein Fleckwasser würde entfernen können, störten weder Amah noch den Boy Nummer eins. Amah wäre am liebsten in ihr Reisdorf bei Paklat in der Menam-Ebene zurückgelaufen, aber der Master hatte ein so großes Gehalt versprochen, daß Khun Paw (Vater) sich einen zweiten Wasserbüffel für die Feldarbeit würde kaufen können. Man hatte wochenlang in der Familie über diesen Wasserbüffel gesprochen; auch Amah wußte, daß er viel wichtiger für Khun Paw war als ihre kleine Person.

Petersen betrachtete gereizt die langen, süßduftenden Jasminketten, die Amah nach Landessitte für die Ankommenden geflochten hatte. Eine große Kette für Martha und zwei kleine für die Kinder. «Wie für eine Beerdigung …» dachte Petersen und wischte sich den Schweiß von der schönen, klaren Stirn. Seine blauen Augen hatten einen trüben Fieberglanz; hoffentlich war das Dengö-Fieber nicht im Anzug. Es gab kein Mittel gegen dieses tropische Fieber, das den Körper in Schauern schüttelte und mit einem juckenden Hautausschlag endete – nur Bettruhe und ein verdunkeltes Zimmer gegen die Kopfschmerzen. Beides konnte Petersen sich im Augenblick nicht leisten. Sein Onkel, der Senior-Chef der Firma Petersen & Co., war vierundsechzig Jahre alt; Petersen bezeichnete ihn im geheimen als «alten Tropenhengst», was unter anderem sagen wollte, daß er, wie die Siamesen, die Arbeit gern andern überließ, aber – wie jeder Hamburger Kaufmann – den Profit auf Heller und Pfennig im voraus berechnete. Er setzte Petersens Vorschlägen für neue Importartikel sein ständiges «Ich lasse mich auf keine geschäftlichen Abenteuer ein» entgegen. Onkel Wilhelm Christians Neigung zu Abenteuern war streng privat: er hatte eine siamesische Aristokratin geheiratet und lebte wie ein asiatischer Fürst seit vielen Jahren in einem Tropenpalast von enormer Pracht und Unordnung. Khunying (Gräfin) Siri Kutharamarn, von ihren Freunden zwanglos Nang Siri (Frau Siri) genannt, ließ alles herumliegen; der Chef von Petersen & Co. hatte sich längst an dieses luxuriöse Chaos in seinem Hause gewöhnt. Er lebte – mit Unterbrechungen – seit vierzig Jahren im Fernen Osten und seit 1930 in Bangkok. Er importierte Maschinen, Präzisionsinstrumente zum Kaputtmachen und allerhand anderes, was seine chinesischen Kunden regelmäßig bestellten und ebenso regelmäßig nach einer Saison wegwarfen. Dennoch war Wilhelm C. Petersen fast immer auf der Gewinnseite. Er verband Vorsicht mit dem Streben nach Qualität. Das hatte ihm in den Jahren vor dem ostasiatischen Krieg ermöglicht, sich gegen die japanische Schundware mit imitierten deutschen Firmenzeichen durchzusetzen. Chinesen schätzten Solidität; sie zogen englische und deutsche Waren allen anderen vor – auch den amerikanischen Waren, was etwas heißen wollte, denn die Amerikaner spielten seit 1945 eine große und vielseitige Rolle in Siam.

Petersen wischte sich wieder den Schweiß ab. Seine Kopfschmerzen wurden immer heftiger, gerade jetzt, wo Martha ankommen sollte! Warum hatte er auch gestern abend noch Abschied vom Strohwitwerdasein gefeiert? Er würde von jetzt ab Limonade statt Whisky trinken und vernünftige Gespräche mit Martha führen. Gott sei Dank!

Der schwüle Duft des Jasmins machte ihn benommen. Plötzlich mußte er an das Mädchen Karin denken. Man dachte immer in ungeeigneten Momenten an Karin Holm. Sie hatte sich einmal eine Jasminkette um die Schultern gelegt und im Mondlicht auf einer Tropenveranda in Bangkok getanzt. Petersen wich in Gedanken der peinlichen Erkenntnis aus, daß es erst vor einer Woche und auf seiner Veranda gewesen war. Er hatte Miss Karins schräge, asiatische Augen und ihr schwedisches Blondhaar angestarrt. Sein berühmtes Lächeln war leicht verzerrt gewesen, aber er wußte, was er Martha schuldig war. «Miss Karin» – wie man sie ohne Beachtung des Nachnamens nannte – wußte es nun auch. Alle Euro-Asiatinnen in Bangkok wurden mit Vornamen genannt. Niemand wußte warum; aber es kam eine leichte Geringschätzung darin zum Ausdruck.

Die Nachricht von Marthas Ankunft hatte die bildschöne Miss Karin eine Menge Tränen und Petersen eine goldene Halskette gekostet. Er hatte sie mit Hamburger Geschäftssinn leicht lädiert und spottbillig bei einem indischen Kunden erstanden, und der Inder hatte die Kette dann für Mr. Petersen so raffiniert aufgearbeitet, daß sie zehnmal so teuer aussah, wie sie war. Nur unter dieser Bedingung konnte sie ihren Zweck bei Miss Karin erfüllen, denn sie hatte kein Verständnis für Gaben, die in der Hauptsache liebende Gedanken darstellten. Niemand in Asien hatte Sinn für so etwas. Die Materie war alles, daran änderte keine Philosophie des Fernen Ostens etwas. Es war eine Welt, in der sich Metaphysik und Sachwerte miteinander vertrugen. Petersens chinesische Kunden feilschten am Tage beim Kauf oder Verkauf einer Ware um drei satangs (siamesische Pfennige) und lasen des Abends taoistische Schriften … So wie siamesische Prinzen mit großer Schlauheit ihre Rennpferde kauften und dann zur buddhistischen Fastenzeit die gelbe Robe des Buddha anlegten. Sie verkauften diese Rennpferde mit erstaunlichem Profit an die einfältigen Europäer und wanderten drei Monate später, die Bettelschale in der feingliedrigen Hand, mit unweltlichem Blick im Morgengrauen durch Bangkok und das ländliche Siam.

Martha würde staunen, dachte Petersen … Sie kam aus einem Erdteil, in dem Kontraste prinzipiell ausgetragen werden mußten. Er würde ihr viel erklären müssen. Er konnte Miss Karin dabei nicht gebrauchen. Übrigens hatte Miss Karin sich schluchzend nach dem Preis der Halskette erkundigt und ihn ohne Übergang so strahlend angelächelt wie Petersen seine asiatische Kundschaft.

Petersen schloß einen Augenblick die brennenden Augen. Dann öffnete er sie weit und betrachtete den Porzellantempel, der am gegenüberliegenden Ufer blitzend und phantastisch in glühenden Wolken stand. Wat Arun hatte vom ersten Augenblick an Siam für ihn verkörpert. Die kambodianischen Türme (pbra prangs) des Tempels sprachen von dem Einfluß der alten Kmer-Völker in Siam; die schillernden Porzellanstücke, welche die Türme bedeckten, gingen auf chinesischen Einfluß zurück. Doch der Tempel atmete den Geist des Landes – buddhistische Stille an einem großen geschäftigen Fluß. Petersen hatte Wat Arun einmal im Mondlicht gesehen und hatte sich am nächsten Morgen nur mit Schwierigkeit ins Geschäftliche zurückgefunden. Die ragenden, bizarren Reliquientürme hatten in seiner Hanseatenseele ein Element der Phantasie entfesselt, das Berechnungen abhold war. Auch Miss Karin verkörperte etwas Fremdes, Schillerndes und Gefährliches, das zum Träumen verführte. «No good» murmelte Petersen und blickte anklagend die kambodianischen Wunderwerke am Westufer an. Der Ferne Osten unternahm immer wieder Generalangriffe auf die nordische Vernunft. Wie sollte er Martha so etwas erklären? Ein Hamburger biß sich lieber die Zunge ab, als daß er zu seiner Entschuldigung die Macht der Phantasie anführte, die in Ostasien stärker als der stärkste Mann ist. Martha würde ihn fassungslos durch ihre Brillengläser betrachten und kalte Umschläge empfehlen.

Petersen blickte auf die Uhr und begann zu seinem Entsetzen zu zittern. Die Viertelstunde war vergangen. Keine Barkasse weit und breit. Zwei Reisboote, ein rotgestrichener Kohlenschlepper und ein Frachtschiff mit Bananen trieben den Fluß entlang. Ein Kuli schob einen Karren mit Reissäcken so dicht an Petersen vorbei, daß der große Jasminkranz einige Blüten verlor. Petersen sprang mit einem unterdrückten Fluch beiseite. Der Kuli grinste und steckte sich zum Spaß einige Jasminblüten an seinen zerlöcherten Bambushut. Einen Ausländer zu ärgern, war fast so unterhaltsam wie ein Abend im chinesischen Theater.

Petersen entzündete die sechste Zigarette und starrte aufs Wasser. So hatte er einmal an den Landungsbrücken in Hamburg gewartet, als Martha für eine Woche nach Cuxhaven gefahren war. Wie Martha wohl jetzt aussah? Bilder sagten so wenig, und Petersen hatte seine Frau so viele Jahre nicht gesehen, daß er sie sich gar nicht mehr recht vorstellen konnte. Er erinnerte sich eigentlich nur an ihr üppiges Blondhaar, ihren schweren Gang und ihre schönen, kraftvollen Hände. Ob Martha immer noch ihre altmodische Brille trug? Oder hatte sie sich im Zuge der Zeit eine Hornbrille angeschafft? Und die lose Haarsträhne hinter dem linken Ohr? Martha war eine wunderbare Frau, aber sie konnte sich nicht frisieren.

«Ich habe keine Zeit, in den Spiegel zu sehen», pflegte sie kurz angebunden zu sagen. Petersen hatte immer gefunden, daß Frauen sich dazu Zeit nehmen sollten. Diese Überzeugung hatte sich in Ostasien verstärkt. Die Siamesinnen betrachteten sich stundenlang im Spiegel, mit der sanften Kritik, die ihnen eigen war. Das Resultat war ausgesprochen erfreulich.

In Hamburg hatte Petersen immer geschwiegen, wenn Martha so kurz angebunden sprach. Sie war die Weisere. Damals hatte sie ihr erstes Baby erwartet. Vor ihrer Heirat war Martha Oberlehrerin an einem Mädchengymnasium gewesen: Mathematik und die alten Sprachen. Die Mädel hatten Fräulein Dr. Jansen niemals angeschwärmt wie den lockigen Zeichenlehrer oder das lustige Fräulein Grimm, aber wenn sie in der Klemme waren, hatten sie sich instinktiv an Martha gewandt. Deren Augen blickten zwar messerscharf durch die historische Brille, aber wenn man nicht mehr ein noch aus wußte, dann leuchtete etwas Tiefes und Warmes aus diesen kühlen, wissenden Augen, und man war wunderbar getröstet. Das mußte auch der junge Petersen gefunden haben; warum hätte er sonst Martha heiraten wollen? Sie war fünf Jahre älter und teilte Belehrungen aus. Petersens Freunde hatten nicht begreifen können, wie der bildhübsche, reiche Junge, der das netteste Mädchen vom Harvestehuder Weg hätte haben können, auf eine so ernste und unmondäne Frau verfallen war.

Martha war am erstauntesten gewesen. «Alter schützt vor Torheit nicht», hatte sie trocken bemerkt, als sie Petersens gestotterten Heiratsantrag nach zwei Abweisungen annahm. Sie hatte eben für jede Situation ein Sprichwort zur Hand. Petersen hatte wenig für Spruchweisheit übrig. Welche Morgenstunde hätte je Gold im Munde gehabt? Aber Martha war am Verlobungsabend, der in der Alstervilla von Petersens Großeltern stattfand, so verklärt gewesen, daß Petersen ihr sämtliche Sprichwörter von den etwas strengen Lippen geküßt hatte. Er konnte großartig küssen; das mußte man ihm lassen.

Zur Hochzeit war Martha ohne Brille und mit der einzigen Dauerwelle ihres Lebens erschienen. Sie hatte beinahe schön ausgesehen. Ihre feinen Züge waren von innen erleuchtet. Sie hatte die Oberlehrerin über Nacht abgestreift. Als ob in einer nüchternen Straße plötzlich Kirschbäume aufgeblüht wären, hatte Petersen gedacht und sich sofort des poetischen Vergleichs geschämt. Seine Großmutter, die seine Erziehung zum korrekten Hamburger Kaufmann nach dem Tode seiner Eltern übernommen hatte, entmutigte jeden Anlauf zur Poesie. Großvater hatte immer geschwiegen, aber er hatte Großmutter in aller Kühle galant verehrt. Für alle Petersens waren Gattinnen eine besondere Art von Frauen, die von einem unsichtbaren Marmorsockel solide und ein wenig streng auf leichtsinnige, aber geschäftstüchtige Ehemänner herabblickten. Nun war Martha eine «Bücherleserin», was auch Großmutters schlimmster Feind nicht von ihr hätte behaupten können. Großmutter war in der Oper und im Schauspielhaus abonniert; und Petersen hatte das bis zu seiner Heirat für den Gipfel geistigen Strebens angesehen. Seit seiner Ankunft in Ostasien hatte er Marthas Buchweisheit skeptischer als bisher betrachtet. Man mußte hier umlernen. Die Erfahrung der Vorfahren aus dem fernen Europa war machtlos in einer Atmosphäre, in der man so anders über Leben und Sterben dachte.

Petersen wußte nicht, warum er jetzt an seine Hochzeit denken mußte. Es lag so viel dazwischen. Ein Weltkrieg … Petersen & Co. in Bangkok … kambodianische Schönheit … Und ein Mädchen, dem die Mischung von Schweden und Java äußerlich gut bekommen war. Doch was waren alle schönen Mädchen gegen Martha?

Wie glücklich waren sie am Anfang gewesen! – Petersen fand in Martha die mütterliche Geliebte, die er gebraucht hatte, ohne es zu wissen. Er hatte grenzenloses Vertrauen zu ihr und begann viele Dinge durch ihre Augen zu sehen. – Martha lebte nur für ihren Mann. Sie hatte auf seine dringende Bitte das Gymnasium aufgegeben und gab nur noch Privatstunden zu Haus, allerdings ohne Honorar, was Petersens Kaufmannsseele beleidigte. Selbst eine Menschenfreundin sollte sich für ihre Dienste bezahlen lassen. Aber Martha half ihren lahmen Enten erbarmend durchs Abitur. Niemand konnte eine Gleichung so erklären wie «Fräulein Doktor». Das blieb sie für ihre Mädels, die kichernd und errötend verschwanden, sobald Petersen in das mathematische Idyll hineinplatzte.

Er war im Jahre 1939 nach Bangkok gekommen. Onkel Wilhelm Christian hatte ihn ohne Kommentar willkommen geheißen. Das war das Gute an Hamburger Familien; sie hatten den Zug ins Weite. – Überall in der Welt saß meistens ein Verwandter unter Fächerpalmen, der Eiskaffee und eine Stellung anbieten konnte … Mit seinem üblichen Leichtsinn hatte Petersen sich seinerzeit in Hamburg ungünstig über das Hitler-Regime geäußert. Er war niemals Parteimitglied geworden, weil er nicht dafür und Martha dagegen gewesen war … Petersen hatte in der Krise vollständig den Kopf verloren, aber Martha war heldenhaft gewesen. Sobald sie eine private Warnung durch einen ergebenen Freund der Familie erhielt, hatte sie Petersen bewacht, beruhigt und Hals über Kopf nach dem Fernen Osten verladen. Sie hatte mit keinem Sprichwort aufgewartet und keine Tränen vergossen, wenigstens nicht in Gegenwart des verstörten Petersen … In der Nacht vor der überstürzten Abreise war er wie ein müder Knabe in Marthas Armen eingeschlafen. Und als es um fünf Uhr morgens am Gartentor klingelte und Petersen keine Luft mehr bekam, war Martha mit ihrem üblichen Dragonerschritt zur Pforte marschiert und hatte eine Depesche einer Nichte in Empfang genommen: Die Dame hatte Zwillinge bekommen, und Petersens in Hamburg mußten es um fünf Uhr früh erfahren …

Martha hatte ein Jahr nach Petersens Flucht in den Fernen Osten nachkommen wollen, aber ihr Töchterchen hatte Typhus bekommen; und nachher hatte der Zweite Weltkrieg allen Plänen ein Ende gemacht. Die kleine Charlotte war überzart und erholte sich im Schneckentempo. Martha hatte nie begriffen, daß dieses ätherische Kind ihre Tochter sein sollte … Und nun stand Petersen in qualvoller Erwartung auf einem Kai in Bangkok und versuchte eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft zu bauen. Er hatte seine Familie seit zehn Jahren nicht gesehen.

Wie wohl die Kinder herangewachsen waren? – Er hatte sie nur als Babys gekannt. Martha hatte zwar nach dem Kriege Bilder geschickt; aber Petersen hatte irgendwie nicht glauben können, daß der bebrillte Schuljunge in dem schäbigen Anzug sein Sohn wäre. Und das dünne, bezopfte Kind in dem Waisenhauskleid konnte doch unmöglich «Pünktchen» sein – sein bezauberndes Töchterchen mit den blonden Locken und dem Porzellan-Gesichtchen! «Pummel» und «Pünktchen» waren doch rosige, strahlende Zwerge in feinen, weißen Wollkleidchen aus der «Hamburger Kinderstube» am Jungfernstieg. – – – Die Bilder der Kinder hatten ihm in seinem Tropenparadies die Folgen des Krieges erschreckend zum Bewußtsein gebracht. Wenn selbst Hamburg eine schäbige Stadt geworden war, dann stand es schlecht um die Welt. Petersen hatte die Bilder der Kinder lange angeblickt und sich gefreut, daß Großmama den Untergang des soliden Bürgertums nicht mehr erlebt hatte …

II

In der Ferne erschien ein dunkler Punkt, der sich langsam in Petersens Richtung vorwärtsbewegte. Der siamesische Schiffsagent kam angelaufen. w«Sie kommen!» rief er aufgeregt und hüpfte wie ein Gummiball auf den glühenden Holzplanken herum. Auch er trug Jasminketten über dem Arm. Sie waren für den Steuermann der Fenonia bestimmt, der sich eine Braut aus einer dänischen Kleinstadt mitgebracht hatte. Nai (Herr) Chuang strafte die Legende vom regungslosen Asiaten Lügen; er bewegte sich wie ein Wiesel und gurrte wie eine Lachtaube …«Kommt Mem (fremde Dame) das erstemal nach Siam?» fragte er und betrachtete Petersen mit verzehrender Neugierde. Petersen nickte. – Er sah die Barkasse wie durch ein beschlagenes Fenster. Er wußte nicht mehr, wie viele Jahre er auf diesem Kai auf Martha und die Kinder gewartet hatte. – – –

Und dann war Martha plötzlich in seinen Armen und klammerte sich an ihn, als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte. Und Petersen streichelte stumm ihre lose Haarsträhne, küßte ihre schönen, kraftvollen Hände und hängte ihr und den fremden Kindern, die jetzt «Albert» und «Charlotte» hießen, die Jasminkränze um den Hals.

Marthas blondes Haar war seltsam leblos geworden. Sie sah trotz ihrer robusten Figur und des erhitzten Gesichts merkwürdig verfallen aus, und dabei hatte Petersen doch seit 1945 regelmäßig Care-Pakete nach Haus geschickt! – Eine Welle von Liebe und Mitleid überflutete seine leichtsinnige Seele, als Martha – die gelassene, selbstbewußte Martha! – angsterfüllt durch ihre tränenblinde Brille zu ihm emporblickte und stammelte: «Bin ich sehr alt geworden, mein Jung?»

«Unsinn, Liebste!» Petersen lächelte mühsam sein berühmtes Lächeln, aber dann nahm er seine Frau fest in beide Arme und küßte sie herzhaft … Martha war seine Heimat. Sie war außerdem die einzige Frau, die gab und nicht immer nur nahm … Ihre jungen Freuden und ihre gemeinsamen Leiden banden sie mit einer Kette, die fester hielt als – siamesischer Jasmin. Ruhe kam über Petersen. – Nun war alles gut.

Das mußte Martha auch fühlen; denn sie schluchzte noch einmal trocken auf, putzte dann mit alter Energie ihre Brille und sah sich endlich ihren Mann an. Petersen war trotz der langen Tropenjahre kaum älter geworden. Seine meerblauen Augen blitzten immer noch entzückend leichtsinnig aus dem tiefgebräunten Gesicht. Seine hohe Gestalt war durch den täglichen Reitsport schlank und sehnig geblieben. Und er hatte nur fünf graue Haare … Martha war stolz auf ihn.

Die Kinder standen Hand in Hand wie vergessene Gepäckstücke da. Hatte Mutti keine Augen mehr für sie? Aber da rief Martha schon fröhlich: «Los, Kinder! Sagt eurem Pappi ‹Guten Tag›!»

Pummel, der nun «Albert» hieß, trat verlegen von einem Riesenfuß auf den anderen. Pummel hatte die größten Füße der Klasse und betrachtete dies als eine besondere Leistung. Er war ein langsamer Hamburger Jung: der hochgewachsene, elegante Fremde im schneeweißen Tropenhelm war noch nicht sein «Pappi». Pummels vierzehnjährige Würde litt außerdem unter dem Jasminkranz um seinen kurzen Hals. Was hätten seine Schulfreunde gesagt, wenn sie ihn so gesehen hätten? Ein Pfingstochse war nichts dagegen! Eigentlich wäre Pummel in diesem Augenblick brennend gern in Hamburg auf dem Fußballplatz gewesen, aber das war leider nicht zu machen. So fragte er Petersen höflich, ob es in Bangkok Radio gäbe. Er war wütend auf sich selbst, daß er knallrot wurde, als Petersen lachend sagte:

«Aber natürlich, mein Junge! – Bangkok ist eine Weltstadt. Du kannst heute abend alle Länder hören.»

Pummel wollte eigentlich nur die Ergebnisse des Hamburger Fußballspiels am Rothenbaum hören, aber er war sichtlich erleichtert. Er hatte die schlimmsten Ängste auf der Überfahrt ausgestanden. Wenn Pummel nur sein Radio und seine Schwester Pünktchen hatte, war er zufrieden. Er blickte scharf und wißbegierig auf dem tropischen Kai herum; nichts entging seinen Augen hinter den Brillengläsern. Er hatte noch nie Reisladen mit Gesang gesehen. Man konnte auf den nackten, glänzenden Rücken der Kulis die Rippen zählen. Warum wuschen sie nicht ihre schmutzigen Khaki-Shorts? Pummel mochte nicht wieder fragen; vielleicht hätte Petersen ihn nochmals ausgelacht … Das war das Schlimmste, was es für ihn geben konnte. Der Arme ahnte nicht, was ihm in dieser Beziehung noch von den Eingeborenen blühen würde. Große und kleine Europäer waren ein traditioneller Gegenstand der Belustigung in Siam … Im übrigen war Pummel Marthas Ebenbild. Er war stämmig, kurzsichtig, zuverlässig und hervorragend intelligent.

Petersen konnte sich an seiner elfjährigen Tochter nicht satt sehen. Sie trug kein «Waisenhauskleid» wie auf dem verblichenen Bild, sondern ein weißes, gesticktes Leinenkleidchen, das Petersen noch nach Hamburg geschickt hatte. Pünktchen war immer noch winzig; aber sie hatte irgendwie Petersens elegante Haltung, dazu Marthas herrliches Blondhaar und – wenn sie nicht gerade weinte – das reizendste Lächeln der Welt. Leider weinte Pünktchen bei jeder Gelegenheit wie ein Wickelkind. Es machte wenig Eindruck auf ihre Mutter, stürzte aber Pummel jedesmal in Besorgnis. Pünktchen mußte lachen und glücklich sein … Im Augenblick strahlte sie. Es gefiel ihr, daß ihr schöner, lustiger Pappi sie wie eine Puppe in die Höhe hob, sie behutsam wieder auf die Holzplanken stellte und zu Martha sagte:

«Pünktchen ist ja eine richtige, kleine Dame geworden! Meine Dame!»

Martha erwiderte etwas schärfer als nötig: «Charlotte hat nur ihren Putz im Kopf. Sonst denkt sie an nichts. Mach die Kleine nur nicht noch eitler!»

In der Aufregung des Wiedersehens waren Marthas Schreibmaschine und noch ein Handkoffer in der Barkasse der East Asiatic Company geblieben. Petersen eilte mit seiner Frau und dem Chauffeur zurück. Man durfte nichts selbst tragen; dazu waren die Diener da. Auch durfte man in Siam keine Wertgegenstände in Barkassen stehenlassen; sie verschwanden in der Regel in wenigen Minuten «Mai hen» (nichts gesehen) war die einzige Erklärung. – Martha hatte zum erstenmal im Leben etwas vergessen, was Petersen nicht wenig belustigte. Er hatte sie eingehakt und sprach über die Kinder. Pummel hatte auf dem Schiff Geburtstag gefeiert. Es war großartig gewesen. Es hatte ihn nur in Verlegenheit versetzt, daß die dänischen Offiziere so viel von ihm hergemacht hatten, besonders der Ingenieur, der ständig seinen Spaß an Pummels Fragen gehabt hatte. Pummel hatte beachtlichen, technischen Verstand.

«Er ist eigentlich schon zu alt für die Tropen», sagte Petersen zögernd. «Jungens in den Entwicklungsjahren gehören nicht hierher.»

«Wir bleiben ja nur ein Jahr», sagte Martha. Sie hätte sich niemals von ihm getrennt. Er war ihr Herzenskind. Er war ihre einzige Schwäche … Martha würde beide Kinder unterrichten. Wofür hatte sie studiert? Charlotte konnte allerdings kaum zweimal zwei zusammenrechnen; sie guckte lieber in den Spiegel.

«Pummel ist meine ganze Stütze», bemerkte Martha voller Mutterstolz. Sie nannte ihn immer noch mit diesem Kosenamen; obwohl Pummel es sich nun endgültig verbeten hatte. Er war seit vier Tagen vierzehn Jahre …«Charlotte ist ein schwieriges Kind», fuhr sie fort. «Ganz unausgeglichen. Das wurde durch die Bombennächte noch schlimmer. Hoffentlich hat sie hier keinen Spiegel im Zimmer! Ich habe ihr wiederholt klarzumachen versucht, daß Eitelkeit aller Laster Anfang ist.»

Petersen schwieg. – Eine ganz leichte Verstimmung hatte sich wie eine Dunstwolke über seine Freude gelegt. Martha blieb eine Oberlehrerin. Und er war nicht aufgelegt für ihre Spruchweisheiten. Noch nicht … Er preßte plötzlich Marthas Arm und blickte sich in dem schmalen Gang der Barkasse um. Es war niemand zu sehen. Er nahm seine Frau, die etwas erstaunt zu ihm aufblickte, in die Arme und küßte sie leidenschaftlich. Sie war so – sauber, so durch und durch sauber. «Martha», flüsterte er heiser. Seine Kehle war ihm zugeschnürt von einer seltsamen Erschütterung. Wie hatte er nur die vielen Jahre ohne Martha leben können? – «Dummer Jung», flüsterte sie. – Das war bei Martha der Ausdruck höchster Zärtlichkeit.

III

Als sie ohne die Schreibmaschine zum Kai zurückkamen, erhielt Petersen einen symbolischen Schlag auf den Kopf. Er starrte und hoffte, er träume … Es konnte doch nicht wahr sein! – Da stand Miss Karin mit einer Jasminkette bewaffnet neben den Kindern. Sie trug ein altrosa Kostüm aus Haifischflossenseide, das ihre herrliche Figur raffiniert zur Geltung brachte. Unter ihrem Turban aus weißem, indischem Brokat blitzten ihre schrägen Augen wie schwarze Diamanten. Sie war mit Juwelen in jeder Preislage beladen. In dieser Richtung kannten die Mischlinge beiderlei Geschlechts kein Maß und Ziel. Ein seltsames Lächeln spielte um ihre vollen, javanischen Lippen. Sie blickte reglos dem Ehepaar entgegen.

«Wer ist denn das?» fragte Martha mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie musterte Miss Karins elegantes Tropenkostüm und den Kopfputz mit dem abgrundtiefen Mißtrauen der sparsamen Ehefrau.

Petersen log durch einen roten Nebel: «Meine Sekretärin. – Die alberne Person bringt mir das Geschäft bis an den Kai nach.»

Auch Miss Karin Holm, die kein Wort Deutsch verstand, hatte Nai Petersens Gattin einer scharfen Musterung unterzogen und mit Befriedigung festgestellt, daß sie unvorteilhaft gekleidet war. Auch hatte sie viel zu breite Hüften. Und warum färbte die Mem sich nicht das Haar? Wollte sie für Nai Petersens Mutter gehalten werden?

«Liebling», sagte Miss Karin in ihrem singenden Englisch, «ich habe dein Abschiedsgeschenk verloren. So sorry! – Ich wollte die Kette gestern weiterverkaufen … Du weißt ja: meine Spielschulden! Ich bin verzweifelt. Ich muß Selbstmord begehen, wenn ich das Geld bis morgen mittag nicht bezahlen kann. Es tut mir so leid, daß ich dich hier stören muß.»

Petersen dankte seinen Sternen, daß Martha alte statt neue Sprachen studiert hatte. Er sagte mit steifen Lippen:

«This is Mrs. Petersen.»

«So glad to meet you», sagte Petersens neueste Sekretärin und blickte in die Luft. –

Martha murmelte etwas Unverständliches. Ihre scharfen, grauen Augen hinter der Brille betrachteten Petersen mit unheimlicher Konzentration.

«Morgen früh hole ich mir zweitausend Ticals aus deinem Büro.» Miss Karin lächelte Petersen trotz ihrer Verzweiflung amüsiert und ein wenig heimtückisch an. Er würde ihr das Geld geben müssen, sonst würde die strenge Mem etwas über ihren Mann erfahren, das ihr nicht gefallen würde …

«Morgen früh um 11 Uhr», wiederholte Miss Karin.

«Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun», sagte Martha zu Petersens Entsetzen in langsamem, korrektem Schulenglisch.

Hatte Petersen Martha für einen Maikäfer gehalten? – Er hatte ihr doch oft genug geschrieben, daß man sich im kosmopolitischen Bangkok hauptsächlich auf englisch miteinander verständigte. Es war nur logisch, daß seine Frau daraufhin ihre Kenntnisse erweitert hatte. Zeit genug hatte sie ja dazu gehabt.

Aus Marthas Ton klang so viel ruhige Autorität, daß Miss Karin vor Schreck ihre Jasminkette fallen ließ. Der ordnungsliebende Pummel, der zum Glück einer englischen Unterhaltung noch nicht folgen konnte, sammelte die Blüten auf, um sie zu Haus ins Wasser zu legen. Er liebte Blumen, wenn er sie nicht gerade um den Hals tragen mußte … In diesem Augenblick begann Pünktchen zu weinen. Die Fremde mit den glitzernden Schlitzaugen war sicherlich eine böse Fee, die sie alle verzaubern wollte. Pünktchen kannte alle Hexen von Bechstein bis zu den Brüdern Grimm und wußte, daß sie manchmal als schöne, junge Damen auftreten. Marthas Versuche, den Hexenglauben zu bekämpfen, hatten nichts gefruchtet.

Sofort zog Pummel ein unsagbar schmutziges Taschentuch heraus und wischte Pünktchen sorgfältig und ängstlich die dicken Tränen ab. Er wunderte sich immer wieder, wie ein so winziges Mädchen so riesige Tränen hervorbringen konnte. Pünktchen hatte kein Taschentuch bei sich. Sie dachte eben an nichts.

Martha nahm ihre Tochter wie einen Säugling auf den Arm, Pünktchen war federleicht mit ihren zarten Knochen. Das Schwerste an ihr war das Haar.

«Still, Liebling», flüsterte Martha mühsam. – Pünktchen hatte dunkle Ringe um die Augen. Sie schluchzte nun etwas heftiger als nötig, da sie Muttis Besorgnis erregt hatte. Wenn sie nun noch Fieber bekommen könnte, würde Mutti nur Augen für sie haben. Von Mutti gepflegt zu werden, war Pünktchens Lieblingsvorstellung.

«Laß uns gehen, Johannes», sagte Martha streng. «Die Kinder müssen zur Ruhe kommen.»

Sie winkte Pummel und ging mit schweren Schritten zu dem wartenden Auto. Der Weltuntergang zwischen Hamburg und Bangkok hatte ganze fünf Minuten in Anspruch genommen. Er war nichts Besonderes östlich von Suez – – –

Petersen folgte mit weißen Lippen und einem Trommelwirbel im Hinterkopf. Martha hatte ihn niemals «Johannes» genannt, nicht einmal nach seiner kleinen «Dummheit» mit einer Handschuhverkäuferin vom Neuen Wall.

Miss Karin stand allein auf dem Kai und schminkte sich kunstgerecht die Lippen. Sie hatte Nai Petersen eine Lehre erteilt. Sie ließ sich nicht wie einen Ölpapierschirm in die Ecke stellen. Dennoch war sie beunruhigt. Petersen hatte solch toten Blick gehabt. Oder war es das weinende blonde Kind, das sich vor ihr zur Mutter geflüchtet hatte? Europäer waren seltsam. Ob Miss Karins Vater, den sie nie kennengelernt hatte, auch so unverständlich gewesen war? Während der Szene auf dem Kai hatte sie etwas wie der Hauch von der Verwesung angeweht, der Ostasiens Orchideengärten unverhofft durchzieht. Miss Karin grübelte … War sie doch zu weit gegangen? Nein – Nai Petersen hatte sie hintergangen! Er hatte ihr nie von seiner Familie erzählt. Miss Karin hatte sich allen Ernstes eingeredet, daß er sie später vielleicht doch heiraten würde, falls sie «sehr, sehr solide» würde. Ihrer Freundin war dieses Kunststück mit einem Schweizer in Singapore geglückt … sie hatte sich in die weiße Welt gerettet. Miss Karin hatte Petersen nie mit ihrer javanischen Mutter bekannt gemacht. Die alte Frau verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit auf einer Bambusmatte, kaute Betel und schnitzte mit ihren Zauberfingern winzige Puppenspielfigurinen. Sie hatte keine Modelle für die Märchenwesen ihrer javanischen Heimat; sie lebten in ihrem Herzen und in ihren sanften glänzenden Augen … Miss Karin verachtete die Puppen ihrer Mutter: «Spielzeug für Eingeborene! …» Doch sie verkaufte die Figurinen mit beträchtlichem Gewinn an Bangkoks und Singapores Kuriositätenhändler. Künstlich geschwärzt wurden sie gutgläubigen Europäern als Museumsstücke verkauft. Miss Karins Geschäftssinn war erstaunlich.

Miss Karin erwachte aus einer der Träumereien, in die sie unversehens verfallen konnte. Sie würde der Mem in einer Woche ein teures Orchideenbukett senden. Dann würde sie wissen, daß alles nicht bös gemeint war … Sie blickte auf ihre Armbanduhr – ein Geschenk des Ersten Offiziers der Selandia. Hierauf winkte sie einer Rikscha. Heute abend gaben die dänischen Offiziere ein Bordfest. Die Ankunft eines Europadampfers war stets ein großer Lichtblick im tropischen Alltag. Miss Karin wollte ein langes, meergrünes Taftkleid tragen. Als einzigen Schmuck würde sie Petersens Goldkette anlegen.

IV

Martha und Petersen saßen wie versteinert im Fond des großen geöffneten Wagens, den Petersen zur Ankunft seiner Frau als Überraschung gekauft hatte. Die Kinder saßen Hand in Hand bei dem siamesischen Fahrer und blickten mit staunenden Blauaugen ins ostasiatische Straßenleben. Pünktchens winziger Zeigefinger, der Pummels heimliches Entzücken war, zeigte aufgeregt auf scharlachrote, grüne und goldene Tempeldächer, die über dem Marktgewimmel in den Tropenhimmel ragten. Die Röcke und Schärpen der Käufer spiegelten die Farben der siamesischen Wats (buddhistische Tempel). – Ein chinesischer Hochzeitszug kam vorbei – ein Schauspiel in Rot und Gold … Siamesische Mütter trugen nackte Säuglinge auf ihrer Hüfte in eine Bambushütte. Ein Inder mit einem karminroten Turban trieb seine Wasserbüffel über eine Straße mit flammendroten Bäumen.

«Was ist das?» fragte Pünkchten. «Und das? Und das da?» – Pummel gab Auskunft, so gut er es vermochte. Er hätte gern Mutti gefragt; aber sie sah müde aus. Auch hatte Pünktchen unbegrenztes Vertrauen in Pummels Weisheit und durfte nicht enttäuscht werden. Sonst würde sie sofort weinen.

Martha betrachtete stumpf die flachen Sampans (Fruchtboote) auf den flimmernden Wassern … Berge von roten, gelben, smaragdgrünen Früchten unter einer glühenden Sonne. Schon der Golf von Siam hatte sie überrascht. Gegen dieses strahlende Wasser war ihre geliebte Alster ein bleichsüchtiger Fluß. Hamburg erschien ihr plötzlich wie ein mattes Pastell gegen die glühende Landschaft Südostasiens. Selbst die Schatten, die in den Winkeln der Straßen hockten, flimmerten vor Licht und Indiskretion. Wie schön war Thailand! – Die extravaganten Tempelbauten waren mit mathematischer Präzision errichtet, und die Bäume leuchteten in einem ewigen Grün, wie es nur die Monsunlandschaften hervorbringen …

Doch Martha konnte diese fremdartige Pracht nicht genießen. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ein Zittern durchfuhr von Zeit zu Zeit ihren robusten Körper. Das Klima schien Aufregungen zu verbieten. Marthas schöne, kraftvolle Hände umklammerten ihre schäbige Handtasche. Sie hatte stets mit jedem Pfennig an sich selbst gespart. Pummels Schuhe und Pünktchens Milch waren in den Nachkriegsjahren stets Finanzprobleme gewesen … Petersen & Co. in Bangkok mußten nach der japanischen Besetzung, die mit dem Jahre 1945 endete, völlig neu aufbauen. Die Haßwelle gegen Deutschland war bis nach Hinterindien gedrungen. Außerdem war das Land mit Japan verbündet gewesen! – Die Chinesen hatten sich sofort englischen und holländischen Firmen zugewandt, neue Verbindungen mit den USA angeknüpft und die ersten deutschen Importwaren ignoriert. Aber Petersen & Co. hatten durch Sturheit und Solidität bereits im Jahre 1950 einen Teil der wichtigsten chinesischen Kunden zurückerobert. Und Johannes Petersen hatte neue Märkte in den Nachbarländern erschlossen. Es war noch kein großes Geschäft; aber es versprach etwas für die Zukunft, wenn es in Siam ruhig blieb.

Petersens Privatleben versprach im Augenblick bedeutend weniger … Er blickte angespannt vor sich hin, als Martha einmal eine Bewegung machte, als ob sie die lose Haarsträhne hinter ihrem Ohr glattstreichen wollte. Doch ihre Hand sank auf halbem Wege zurück … Petersen rührte sich nicht. Wenn Martha doch endlich ihr Schweigen brechen wollte! Und wenn sie nur ein Sprichwort äußern würde! «Eigener Herd ist Goldes wert». – Oder «In Treue fest.» – O mein Gott! War er – Petersen – komplett verrückt?

Er mußte Martha sofort alles erklären. Die Kinder waren zu beschäftigt, um auch nur den Kopf zu wenden. Sie betrachteten gespannt eine chinesische Kulifrau in blauen Leinenhosen und ebensolcher Jacke, die eine unbekannte Frucht mit einem rostigen Messer in winzige Teile teilte. Zehn Kinder sollten etwas davon haben. Da der Wagen wegen der üblichen Verkehrsstockungen im Bangrak (Markt-Viertel) halten mußte, konnten Pummel und Pünktchen die Operation genau verfolgen. «Das Messer ist schmutzig», sagte Pünktchen. «Warum macht sie es nicht sauber?» Pummel ahnte, daß diese Frage im Fernen Osten nicht am Platze war. Er sagte: «Sie hat wohl keine Zeit», was den Tatsachen nicht entsprach. Die sorgliche Chinesenmutter war den Anblick rostiger Küchenmesser schon in Swatow gewöhnt gewesen. Ihre Großmutter hatte ähnliche Früchte mit ähnlichen Messern an sie und ihre vierzehn Geschwister verteilt.

Petersen wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte mit Miss Karin Schluß gemacht. Er hatte nur vergessen, daß zum Schlußmachen zwei Leute gehören. Er dachte eben an nichts … wie seine Tochter. Aber – was wußte Martha von der Einsamkeit der europäischen Strohwitwer in den Tropen? Was verstand sie von der Rastlosigkeit des erhitzten Blutes; was von der geisterhaften Leere auf einer Holzveranda im Mondlicht? Hatte sie im nüchternen Norden jene schwülen, endlosen Nächte durchlebt, die von Erinnerungen und Moskitos schwirrten? Petersen war jetzt dreiundvierzig Jahre alt und gesund wie ein Fisch. Dennoch – er hätte es seiner Frau nicht antun dürfen. Nicht Martha! – Wie sie sich in der Minute des Wiedersehens an ihn geklammert hatte! – Als ob sie zum erstenmal im Leben bei ihm Schutz suche! – Er wußte so wenig von ihrem Leben im Hamburg der Kriegszeit. Plötzlich standen Marthas Briefe aus den ersten Nachkriegsmonaten mit glühenden Lettern vor seinem geistigen Auge. Sie hatten keine Klage über jenen Hunger enthalten, den kein Eßpaket stillen kann, keine Klagen über Pünktchens Kleinkindjahre, die voller Krankheit und Nervengefahr für Mutter und Kind gewesen waren. Bei jedem Tönen der Sirene hatte Martha das wimmernde Baby stumm und äußerlich gelassen in den Luftschutzkeller getragen. Pummel kam mit einem Köfferchen, das unter anderem Petersens Briefe aus der Verlobungszeit enthalten hatte, hinterhergetrottet. Es konnte ja nichts passieren, wenn Mutti dabei war! Das stand für Pummel fest. Es hatte auch immer für Petersen festgestanden. Martha war das Salz der Erde …

Petersen ahnte dumpf, daß die «kleinen Dummheiten», die er auch in Hamburg nicht immer hatte lassen können, Verbrechen gegen den Geist der Liebe gewesen waren. Er war in einer Zeit groß geworden, für welche die Sünde keine Realität mehr besaß. Für viele Menschen seiner Generation und Umgebung waren «Buße» oder «Vergebung» Redensarten, mit denen sich angehende Geschäftsleute nach der Konfirmation nicht weiter befaßten. Er empfand sie nicht als die großen Wirklichkeiten, an denen eine in Materialismus versunkene Gemeinschaft sich neu orientieren mußte, wenn sie aus der Nazi-Finsternis ans Licht zurückwollte. Redensarten waren so mechanisch und ihr Inhalt für ihn so wenig real wie Deutschlands unsägliches Elend …

Petersen empfing in diesem Augenblick nur einen schwachen Reflex dieser Wahrheiten; aber er traf ihn wie ein Hammerschlag. Er ahnte plötzlich, daß er zu Unrecht auf Miss Karin herabgesehen hatte. Sie war eine Spielernatur wie er selbst, nur spielte sie nach den Regeln des Fernen Ostens … Von diesen Regeln, die alle menschlichen Beziehungen und Bindungen über den Kopf der Europäer hinweg ordneten, hatte Petersen trotz jahrelanger Tropenpraxis nur die geschäftlichen Konventionen erfaßt. Privat war er schon lange im Verlust gewesen.

Martha mußte ihn anhören. Man hörte auch einen Mörder vor Gericht an.

«Martha …» stammelte Petersen, «ich schwöre dir …» Er stockte. – Sollte er Martha vorlügen, daß Miss Karin ihm niemals etwas bedeutet hatte? Wollte er zu guter Letzt Marthas Intelligenz beleidigen? Ein trockenes Schluchzen saß ihm in der Kehle. Er ballte die Fäuste, damit kein Laut entschlüpfte. Dann schloß er die Augen wie ein Sterbender. Er wußte nicht mehr ein noch aus …

Martha war aus ihrer Erstarrung erwacht. Aber sie hob nur mit einer müden Gebärde die duftende Jasminkette von ihren Schultern und ließ sie in den glühenden Staub sinken … Doch dann betrachtete sie ihren Mann mit durchdringendem Blick. Und plötzlich blitzte in ihren klugen, grauen Augen etwas Warmes und Tiefes auf. So hatte sie vor Jahren das schwarze Schaf der Unterprima angeblickt. Das Mädchen hatte zum zweitenmal einen Wertgegenstand aus der Garderobe entwendet und war von Martha dabei überrascht worden. Und als das törichte Kind, das aus einer angesehenen Hamburger Familie mit einer zu sparsamen Mutter stammte, nicht mehr ein noch aus wußte, da hatte Fräulein Dr. Jansen nach einer langen Pause gesagt: «Ich will es noch einmal mit Ihnen versuchen, aber – Sie müssen mir helfen!»

Etwas Ähnliches mußte Martha soeben zu Petersen gesagt haben, denn er ließ mit einem Seufzer der Erlösung wie ein müder Knabe sekundenlang seinen Kopf auf ihre Schulter sinken. Die schwarze Sonnenbrille verbarg den Ausdruck seiner Augen. Sie blickten in eine verschollene Phantasiestraße mit Kirschbäumen. Die Bäume standen nicht mehr in überwältigender Blüte; aber sie trugen die Früchte des Lebens …

Er streichelte scheu Marthas alte Handtasche. Der Wagen fuhr jetzt durch paradiesische Gartenstraßen. Silberne Kanäle schlängelten sich am Rande von Orchideenhäusern und blühenden Büschen, hinter denen Villen und Bungalows mit riesigen Veranden auftauchten. Hier lebten Asiaten und Europäer in einer in Ostasien seltenen Eintracht Haus an Haus. Das «Land der Freien» hatte niemals die Europäerviertel der Kolonialländer gekannt. Petersen blickte um sich. Plötzlich war eine leichte – aber nicht leichtsinnige – Heiterkeit in seiner Seele, die sich noch nicht mitteilen konnte. Schließlich murmelte er etwas, was nur Martha verstand. Ein Hamburger biß sich lieber die Zunge ab, als daß er laut und deutlich eine Liebeserklärung machte. Petersen flüsterte noch etwas undeutlicher. Er blickte Martha nicht an, sondern schien es den Gärten am Wegrand zu erzählen.

«Nicht doch …» sagte Martha. Ihre Stimme war plötzlich wie Nachtwind über Lotosteichen: eine Wiegenliedstimme – leise und wunderbar trostvoll …

Doch dann gab Martha sich einen Ruck. Was in aller Welt war Pünktchen eingefallen? Die Tropensonne schien ihr auf den unbedeckten Lockenkopf. Man konnte dieses Kind keine Minute aus den Augen lassen.

«Pummel», kommandierte Martha, «setze der Kleinen sofort den Strohhut auf! Das Kind denkt wieder mal an gar nichts.»

Aber da hielt schon Petersens amerikanischer Wagen vor einem riesigen Tropenhaus mit vier Veranden und einem Park, der Martha größer als der Hamburger Innocentia-Park erschien. Vor dem offenen, mit Bougainvilla-Blüten überhangenen Tor standen und knieten dunkelhäutige Gestalten in schneeweißen Jacken und Baumwollbrokaten. Die weißen Gestalten waren Chinesen und Inder; die zierlichen Figuren in den langen, bunten phanungs (siamesischer Hosenrock) waren Siamesen. Der alte chinesische Koch hatte seine Familie – eine Tochter und drei Enkelsöhne – um sich gruppiert, als ob sie sich zu «Chinesisch Neujahr» fotografieren lassen wollten. Die siamesischen Hausangestellten bildeten eine zweite Gruppe, die unter einem rosenroten Bougainvilla-Zweig kniete. Der indische Nachtwächter mit der hohen weißen Mütze und dem langen Bambusstock stand wie eine Statue allein auf weiter Flur. Aus der siamesischen Gruppe kam unterdrücktes Kichern.

«Dies sind deine gehorsamen Diener, Mem», sagte Petersen.

Martha warf den Kichernden einen scharfen Blick durch ihre Brillengläser zu.

«Sie scheinen ja äußerst vergnügt zu sein», sagte sie trocken.

Als Martha mit den Kindern dann durchs Tor schritt, trat ihr der alte chinesische Koch mit tiefer Verneigung in den Weg. Ah Chang hatte vielen Europäern gedient; aber er war ein Chinese geblieben. Er wußte, was sich gehörte, und warf der kichernden Amah einen Blick zu, in dem sich Überlegenheit und Mitleid mit so viel Unwissenheit mischten. Er murmelte mit feierlicher Stimme und überreichte Martha eine Lotosblüte auf einem winzigen Lacktablett.

Martha blickte Petersen, der hinter sie getreten war, fragend an.

«Ah Chang wünscht der ehrenwerten Herrin Wohlstand und viele Söhne», übersetzte Petersen mit unbewegtem Gesicht. –

Zweites Kapitel Ein Haus in den Tropen

I

Wenn Martha später über die ersten Wochen in Siam nachdachte, fragte sie sich manchmal, ob sie wirklich all dies Seltsame und Widerspruchsvolle erlebt hatte: den Frieden der Natur und den unterirdischen Kampf, den die versammelte Dienerschaft vom ersten Tag an gegen ihre Herrschaft führte. – Die Mem wollte Verschiedenes ändern, was alle in der Ordnung fanden. Sie verlangte Pünktlichkeit, Sauberkeit, Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit. Im Fernen Osten nahmen die Diener aber von altersher ihre eigenen Gebräuche und Neigungen zum Maßstab aller Dinge. Ferner reinigten die Siamesen äußerst widerwillig Möbel und Gegenstände, die ja doch wieder schmutzig wurden.

Organisiertes Arbeiten zu bestimmter Stunde war ihnen ein Greuel. Sie putzten, pflanzten, wuschen und kochten, wann es ihnen beliebte. Nicht früher und nicht später. – Ah Chang servierte Petersens Gästen sein ausgezeichnetes Dinner, wann er es für richtig fand, das heißt: ein und eine halbe Stunde nach Ankunft der Gäste. – So lange reichten «erster und zweiter Enkelsohn» Getränke und kleine Delikatessen, die Ah Chang liebevoll auf silbernen Platten arrangiert hatte. Niemand hatte bis zu Marthas Ankunft etwas gegen ein Dinner um halb zehn Uhr einzuwenden gehabt, wenn die Gäste um acht geladen waren. Es gelang Martha während der ganzen Zeit nicht, Ah Chang dazu zu bewegen, sein Essen zwei Stunden früher anzusetzen und um dreiviertel acht zu servieren. Er hatte der Mem aus ehrlichem Herzen Wohlstand und zahlreiche Söhne gewünscht, aber hineinreden ließ er sich von keinem «weiblichen Fisch» – auch nicht von der deutschen Mem, die ihn so scharf durch ihre Brille anschauen konnte. Ah Chang murmelte bei solchen Gelegenheiten in seinen weißen Spitzbart: «Es ist leicht, reich und unhöflich zu sein; es ist schwer, arm und höflich zu sein.» – Er wußte mindestens soviel Sprichwörter wie Martha; nur seine Sprüche waren von der Weisheit des Konfuzius angehaucht. Daß diese Weisheit Martha außerordentlich ungeduldig machen konnte, war gewiß nicht die Schuld der chinesischen Moralisten. Im übrigen hatte sich der alte Koch vom ersten Augenblick an zum ergebenen Großvater des «kleinen Masters» erklärt. Er überhäufte den erstaunten Pummel mit entzückenden kleinen Gaben, die «zweiter Enkelsohn» auf seinen Befehl herstellen mußte: einen kunstvoll geflochtenen Fächer aus Reisstroh, eine Laterne aus Ölpapier, auf die Ah Chang höchst eigenhändig das Bildnis des «Gottes des Reichtums» geklebt hatte … kleine Figuren aus farbigem Reismehl – eine uralte, chinesische Kunst, die Ah Chang «zweitem Enkelsohn», der lieber Fische fangen wollte, unter blutrünstigsten Flüchen beigebracht hatte.

Pünktchen wurde von dem alten Chinesen und seiner Verwandtschaft, die alle Petersens Reis aßen, wie Luft behandelt. Sie würde später auch eine Mem werden und das Dinner zwei Stunden früher verlangen … «No good», murmelte Ah Chang. Wenn er wollte, sprach er Englisch. Wenn er nicht wollte, verstand er kein Wort von Marthas Befehlen.

Obwohl Martha sich im ganzen ziemlich schnell an das Leben in den Tropen gewöhnte, hatten sie die Kontraste der Lebenshaltung doch zuerst verwirrt und überwältigt. Raum und Zeit waren etwas, was Ostasien auch noch im Jahre 1950 freigebig verteilen konnte, zum mindesten in Siam … Nach der Ausbombung aus der Alstervilla, wo Martha und Petersen so glücklich gewesen waren, hatten sie und die Kinder die Untermieter-Existenz der glücklosen Millionen geteilt. Nun besaß sie sozusagen über Nacht etwas, was man in Europa einmütig als verlorenes Paradies betrachtete: ein geräumiges Haus mit einem Blick ins Grüne … Angestellte, die bei richtiger Behandlung ausgezeichnet funktionierten, und Zeit.

Das Tropenhaus mit seinen hohen, lichten Räumen und seinen überdeckten Veranden voller Liegestühle und Korbtische war eingebettet in eine gepflegte Wildnis – ein Stück von einem fernöstlichen Eden, wie man es noch im Menam-Delta findet.

In früheren Zeiten war der Distrikt von Bangkapi, wo Petersens wohnten, streckenweise Dschungelland gewesen. Eine Ahnung von schweigsamen Urwaldbäumen, üppigen Farnen und malerischem Unkraut lebte immer noch in den weiten Gärten dieses idyllischen Bangkoker Vororts. – Petersens Gärtner, der einfach Khon Suan («der Mann, der den Garten besorgt») genannt wurde, sorgte vor allem dafür, daß die Ausländer dieser tropischen Landschaft nicht ihre lächerliche «Ordnung» aufzwangen. Die Ferangs, so vertraute Khon Suan der Amah an, wollten die Geister der Bäume und Sträucher zu Gefangenen machen. Dabei mußte alles wachsen und gedeihen, wo und wie es «bestimmt» war … Für einen siamesischen Gärtner gab es kein «Unkraut». Nai Petersen hatte Khon Suan schalten und walten lassen; aber die neue Mem, die so rücksichtslos in den Frieden und Schlendrian des Hauses geplatzt war, wollte Khon Suan zur Arbeit antreiben. Das war sehr «grausam» von der Mem, sagte Khon Suan zu Amah. Die kleine Siamesin nickte. Die Mem war so grausam, daß sie von Amah verlangte, sie solle das Kind mit den «goldenen Haaren» nicht aus den Augen lassen. Amah hatte zwar gelernt, einen Wasserbüffel zu bewachen; aber ein fremdes Kind war etwas anderes, besonders wenn es so quecksilbrig war wie dek phu ying («kleines Mädchen»), wie Amah Pünktchen nannte. Der Wasserbüffel daheim hatte sich so langsam vorwärtsbewegt, daß Amah auf seinem breiten Rücken ganze Viertelstunden im Halbschlaf reiten konnte. Amah seufzte und steckte sich eine rote Hibiskusblüte hinters Ohr. Dieser Anlauf zur Koketterie war Khon Suan nicht entgangen. Er grinste von einem Ohr zum anderen, wobei er schneeweiße Zähne enthüllte. «Sue maak» (wunderschön), sagte er. Amah begann zu kichern … Sie fand Khon Suan auch sue maak. Leider platzte «zweiter Enkelsohn» in das Idyll hinein, um Amah zu bestellen, daß die Mem sie sofort zu sprechen wünsche. Amah schlenderte so langsam zum Herrenhaus, daß Martha in der Zeit rund um die Alster hätte marschieren können.

Khon Suan blieb vor einem Gartenbeet liegen und bohrte nachdenklich in der Nase. Die Mem hatte ihm gesagt, wo er neue Beete anlegen sollte. Khon Suan hatte Marthas Anweisungen mit strahlendem Lächeln angehört und ignoriert, obwohl Martha sich in Zeichensprache durchaus verständlich gemacht hatte. «Khao tjai mai?» hatte Martha mit dem Wörterbuch in der Hand zur Vorsicht gefragt. Khon Suan nickte und lächelte, daß es nur so eine Art hatte. Natürlich hatte er verstanden! Aber er würde Blumen pflanzen, wo und wann er dazu Lust hatte … Khon Suan machte in der Mittagsglut keine Gartenarbeit. Er kam gegen Abend aus seiner Behausung angeschlendert und bezog für seine Tätigkeit ein Achtstundengehalt.

Aber er war ein Bursche mit «grünen Fingern». Die Büsche und Blumen, die er nach seinem System pflanzte und pflegte, leuchteten. Wenn ihm eine besondere Blumensorte oder ein Busch gefiel, der nicht in Petersens Garten zu finden war, stahl Khon Suan das Prachtexemplar aus dem Garten, wo er es bewundert hatte. Mehr konnte nicht einmal die Mem von einem ergebenen Diener verlangen …

Khon Suans ganzer Stolz war das Orchideenhaus, seitlich vom Haupthaus. Die siamesischen Orchideen waren für ihre Vielfalt und Farben berühmt, aber sie brauchten sachliche Pflege. Khon Suan hatte das Orchideenhaus, das Pummels ganzes Entzücken war, aus einer vertrockneten Holzlaube in eine Zauberinsel verwandelt, wo seltene Exemplare in Pastellfarben in Tongefäßen an Drähten von Decke und Wänden hingen oder in großen Töpfen ihre rätselhafte Schönheit entfalteten. Er züchtete allerdings die Orchideen nicht nur für seine Herrschaft, sondern verkaufte einige Exemplare, deren Anblick er entbehren konnte, heimlich an einen kleinen Blumenladen in der Silom Road. Das betrachtete er als sein gutes Recht; genau wie der Koch den täglichen Aufschlag auf die Lebensmittelpreise für sein verbrieftes Recht hielt.

Martha konnte sich nicht genug wundern, daß Petersen diese «Betrügereien» – wie sie es nannte – in der Ordnung zu finden schien. Sie wunderte sich ununterbrochen in den ersten Wochen in dem alten schönen Pfahlhaus, das solide und doch träumerisch in einer vorsichtig gezähmten Tropenwildnis stand. Sie, die daheim die Kunst der Menschenbehandlung beherrscht hatte, stand dem ewigen Lächeln ihrer «gehorsamen» Dienstboten ohnmächtig gegenüber. Sie kamen und verschwanden, wann es ihnen paßte. Die Siamesen wichen in den äußersten Winkel der Veranda zurück, wenn Martha einmal mit erhobener Stimme einen Befehl zum viertenmal wiederholte. Sie verbeugten sich demütig und führten den Befehl nicht aus. Es war, als ob das Wunderland des Fernen Ostens die Frau aus dem Westen beständig daran erinnern wollte, daß man im zwanzigsten Jahrhundert für den Aufenthalt im Paradies einen großen Aufschlag zahlen mußte.

Wohin Marthas Auge wanderte, gab es Schönheit und ewige Blüte: Bananenbüsche, leuchtende Blumen, Tamarinden- und Kassia-Bäume wuchsen zwischen riesigen Palmen und Rasenflächen. In den Morgen- und Nachtstunden waren Heim und Garten in unweltliche Stille getaucht. Man hörte nur das Zirpen der Grillen und den Schrei der Hauseidechse.

Die Diener wohnten mit ihren unzähligen Verwandten und «Helfern» einige Meter vom Haupthaus in niedrigen Holzhäusern, die nur Bambusmatten zum Schlafen und Eßschalen enthielten, vielleicht auch noch ein Bild einer Hollywood-Schauspielerin, das aus einem Magazin herausgerissen und in diesem Zustand mit Heftzwecken an die Wand geheftet war. Vor dem Kochhaus hatte Ah Chang seine Hühner- und Entenzucht und pflanzte mit chinesischem Fleiß alle möglichen Gemüse und Kräuter, die er Martha dann ziemlich teuer verkaufte.

Die Diener saßen des Abends in ihren offenen Pfahlhäusern und schwatzten, rauchten und spielten Glücksspiele in einer Welt, die teils von Buddha und den Luftgeistern, teils von Konfuzius zur Zufriedenheit aller Beteiligten geregelt wurde. – Der indische Nachtwächter schlief auf dem Boden der Garage und rief zu unwirklicher Zeit die Hilfe Mohammeds an. Er hatte die Gewohnheit, im Mondlicht zu tanzen und bei Tageslicht Geld zu verleihen … Martha sah ihn fast niemals.

Es war zu Anfang schwer geworden, die Diener und ihre bestimmten Obliegenheiten auseinanderzuhalten. Es schien so, als ob beständig neue Gesichter und Gestalten auf kurze Zeit im Haus erschienen und dann in den Behausungen der Diener untertauchten.

Da war Ampah, «das Mädchen, das morgens die Blumen ordnete». Das war offenbar alles, was Ampah im Hause Petersen zu leisten hatte. Sie war eine Nichte der Waschfrau und mußte ihr sechzig Prozent von ihrem Monatsgehalt abgeben. Alle fanden das in der Ordnung. Nang Sanit – die Waschfrau – hatte Zwillinge und kaufte ihnen von Ampahs Geld Zuckerwerk, Ketten und Ringe, die sie zum Schutz gegen böse Geister um die fetten Hand- und Fußgelenke der nackten Babies streifte. Nang Sanit ging kein Risiko ein, was die Geister anbetraf. Deng und Tong – so hießen die Töchter – waren ja im Hause eines Ausländers besonders gefährdet.

Eine andere Erscheinung, die Martha nur gelegentlich des Morgens erblickte, war der «Fußbodenkuli» – ein junger Siamese mit nacktem Oberkörper, einer roten Schärpe und einem phanung, der tat, als ob er die Fußböden säuberte. Martha hielt ihn für siebzehn Jahre. Zu ihrem Erstaunen erfuhr sie von Petersen, daß Tanbun bereits die Dreißig überschritten und eine Frau und fünf Kinder hatte, die in einer Bambushütte irgendwo in Bangkok hausten. Tanbun besuchte seine Familie niemals; doch bat er Petersen jeden Monat um Vorschuß für die vielen Ausgaben, welche die Familie ihm zu verursachen schien … Eines Tages war Tanbun verschwunden. «Warum denn?» fragte Martha den «Boy Nummer Eins» und hielt ihr Wörterbuch anklagend in die Höhe. Niemand wischte die Böden, da es Tanbuns Arbeit war. «Tanbun pai läo» (Tanbun ist fortgegangen) erwiderte der Boy mit unbewegtem Gesicht. – Martha fragte noch zweimal nach dem Grunde. «Erster Enkelsohn» gab zweimal zur Antwort, daß Tanbun fortgegangen wäre. Dann gab Martha es auf. Sie hatte begriffen, daß sie in alle Ewigkeit nicht erfahren würde, warum der Fußbodenkuli das Haus ohne Kündigung verlassen hatte. Erst als sie drei Tage später das Armband vermißte, das Petersen ihr zu Pünktchens Geburt geschenkt hatte, wurde ihr klar, warum Tanbun verschwunden war. Seine Familie war offenbar mit Petersens Unterstützung nicht länger zufrieden. Niemand wußte Tanbuns Adresse. Die Polizei versprach nach dem Armband zu suchen. Und dabei blieb es.

II

Martha konnte von ihrem Schlafzimmer durch das Moskitonetz die Umrisse des Lampu-Baumes erblicken, dessen Filigranzweige und Blüten sich aus sumpfigem Grund in den Himmel reckten. Der Lampu-Baum stand still und herrlich an dem klong (Kanal), der Petersens Grundstück im Süden abgrenzte. Auf diesem Kanal zogen früh und spät Frucht- und Kohlenboote ihren Weg. Pummel fing dort mit «Zweitem Enkelsohn» Fische; und Pünktchen sammelte mit Amahs Hilfe blaue und rosa Wasserlilien für ihren Pappi, für den sie eine leidenschaftliche Zuneigung empfand. Wenn Martha sah, wie die Kleine Petersen jubelnd entgegenlief und ihm zärtlich ihre kleinen Erlebnisse berichtete, gab es ihr einen winzigen Stich in der Herzgegend. Sie hatte so viele Opfer für dieses Kind gebracht … und es hatte nur Augen für Petersen. Pummel litt Eifersuchtsqualen, die er mit männlicher Würde zum Radio trug … Das Radio war ihm treu geblieben. Seit einigen Wochen gab Mutti ihm Mathematik- und Lateinstunden. Sie saßen auf der Veranda, blickten den Lampu-Baum an und waren glücklich.

Martha verbarg ihre Müdigkeit so gut es ging vor Pummels eifrigen und scharfen Augen hinter der Schülerbrille. Sein Wissensdurst war unersättlich. Wenn sie nur einen Lehrer für ihn hätte! Sie hatte sich das Unterrichten in dem Klima etwas leichter gedacht. «Es sind ja nur zwölf Monate …» dachte sie.

Nach drei Monaten fand sie aber zufällig einen Lehrer für ihn. Man lernte in Ostasien durch Zufall die seltsamsten Menschen kennen. Professor Berger war eines Morgens in ihrer Veranda erschienen und hatte ihr Wiener Gebäck angeboten: ein großer, schlanker, gebeugter Mann mit feinen Zügen und Augen, in denen das Leid des ewig verfolgten Ahasver sich mit der charmanten Lebhaftigkeit des Österreichers mischte. Professor Berger hatte bis zum Jahre 1934 an der Wiener Universität Philosophie gelehrt. Dann war er als Emigrant mit seiner Familie in den Fernen Osten gegangen. Sein Weg führte über ein Massenlager in Shanghai nach Bangkok. Seine Frau betrieb im Hause eine Bäckerei, und Professor Berger trug als weißer Kuli ihr «Wiener Gebäck» zu denjenigen Europäern, deren Höflichkeit erwarten ließ, daß sie ihn nicht in die Behausung ihrer Köche verweisen würden.

«Ich bin ein Philosoph», sagte er zu Martha und lächelte leicht verzerrt. «Ein armer Gelehrter hat im Fernen Osten nichts zu suchen. Ich habe mich bei der Chulalongkorn-Universität in Bangkok bemüht, aber die siamesische Regierung beschäftigt heutzutage immer weniger Ausländer. In der Japanerzeit galt ich als Feind der Achse … Jetzt bin ich Angehöriger eines Landes, das Hitler zugejubelt hat. Das ist halt so … Die Emigranten liegen immer verkehrt.»

Martha hatte eisgekühlte Getränke bestellt und den Professor, der in einem schmutzigen Tropenhelm und einem schweißbedeckten Sporthemd dastand und einen Korb mit Gebäck in den Händen hielt, mit ruhiger Freundlichkeit zum Sitzen aufgefordert. Nichts in ihrem Gesicht verriet, was sie beim Anblick eines Mannes empfand, der ohne persönliche Schuld selbst nach 1945 noch das Schicksal des «weißen Kulis» auf sich nehmen mußte.

«Wollen Sie nicht nach Wien zurück, Herr Professor?» hatte sie behutsam gefragt. Doch Professor Berger erwiderte sanft, daß für ihn die Kärntner Straße von den Schatten geliebter Toter wimmele. Schließlich hatte Martha ihn gebeten, Pummel zu unterrichten, und er hatte freudig eingewilligt. Die sparsame Martha hatte ein viel zu hohes Honorar festgesetzt, wogegen der Gelehrte mit dem Gebäck im Korb sich eine Weile heldenhaft gesträubt hatte. Dann wollte er wenigstens Martha siamesischen Unterricht geben – falls es sie interessierte. Martha erwiderte ebenso heldenhaft, daß sie darauf brenne … Es hatte wenig Sinn für sie. Sie wollte ja nicht in Siam bleiben … Der Professor stellte Pummel einige Fragen und versprach, einen Plan für ihn aufzustellen. Von dem Honorar konnte er sich einen Laufjungen leisten.

Als Petersen von der Abmachung hörte, sagte er mit viel Scharfsinn: «Ich glaube, nun bist du zu Hause, mein Herz! – Du hast endlich wieder eine lahme Ente, die du in einen Schwan verwandeln kannst.»

«Dummer Jung», sagte Martha, aber sie strahlte …

III

Drei Monate nach ihrer Ankunft wäre Pünktchen ertrunken, wenn nicht Marthas Instinkt und eine unerklärliche Unruhe sie an diesem Tage aus ihrer Mittagssiesta durch den Garten an den Kanal getrieben hätte. Pünktchen war mit Amah an den Kanal gegangen, um Wasserlilien für ihren Pappi zu pflücken. Amah sollte ihr dabei helfen. Amahs Hilfe bestand darin, daß sie Zigaretten rauchte und von Zeit zu Zeit ohne hinzuschauen «rawang!» (Vorsicht!) rief. Ein Gewitter war im Anzug. Pünktchen reckte sich immer weiter, um eine blaue Wasserlilie zu erreichen. Als Martha an den Klong kam, rutschte das Kind gerade ins Wasser. Es war zu erschrocken, um zu schreien. Amah saß regungslos auf ihrer Matte im Gras und rief etwas lauter «rawang!» Wenn die Wassergeister das Kind mit den bleichen Haaren als ihr Eigentum beanspruchten, durfte sie, Amah, nichts dagegen unternehmen, sonst würden die gekränkten Geister das Reisfeld ihres Vaters vertrocknen lassen … Martha rettete ihre Tochter mit einem einzigen Griff ihrer schönen, kraftvollen Hände.



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