Der kahle Berg - Lex Reurings - E-Book

Der kahle Berg E-Book

Lex Reurings

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Beschreibung

In den Niederlanden ist »Der kahle Berg« schon seit 2002 das Buch für alle, die den Mont Ventoux erklimmen wollen, mit oder ohne Fahrrad, alleine oder in der Gruppe. Jetzt endlich ist dieser laufend aktualisierte Dauerbrenner auch in deutscher Übersetzung erhältlich. Mythische Eigenschaften werden dem Mont Ventoux zugeschrieben. Der 1.909 Meter hohe Berg am Rande der Provence regt seit jeher die Fantasie an und zieht heute insbesondere Rennradfahrer in seinen Bann. Die kahle, weithin sichtbare Spitze. Die oft sengende Hitze und der heftige Wind. Die finalen Kilometer, die an eine Fahrt durch eine Mondlandschaft erinnern. Die legendären Dramen, die sich hier während der Tour de France zugetragen haben. Es gibt viele Gründe, warum der Mont Ventoux ganz anders ist als alle anderen berühmten Pässe und Anstiege, die sich mit dem Rad bezwingen lassen. Deshalb ist ein ganzes Buch diesem einen Berg gewidmet. »Der kahle Berg« beschreibt den Mont Ventoux in all seinen Facetten, beleuchtet seine Entstehungsgeschichte und seine Radsporthistorie ebenso wie die drei Straßen, die nach oben führen, und seine faszinierende Umgebung. Die beiden Autoren stellen Trainingspläne speziell für das Abenteuer Ventoux vor, geben praktische Tipps zum Radfahren in den Bergen und zu herrlichen Radtouren in der Region und liefern natürlich auch alle essenziellen Infos für die Vorbereitung der nächsten Rennradreise in die Provence. Inspirierende Berichte, Erzählungen und Gedichte bekannter Literaten, Radrennfahrer und Radsportexperten, darunter Petrarca, Mart Smeets, Bert Wagendorp, Wilfried de Jong und Peter Winnen, runden diesen Band ab.

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Seitenzahl: 534

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Der kahle Berg

LEX REURINGS &WILLEM JANSSEN STEENBERG

DER KAHLE BERG

AUF UND ÜBER DEN MONT VENTOUX

Mit einem Vorwort von Peter Winnen

Aus dem Niederländischen von Ulrike Nagel und Rainer Sprehe

Die Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel »De kale berg. Op en over de Mont Ventoux« (in dreizehnter überarbeiteter und erweiterter Auflage) bei Uitgeverij Thomas Rap, Amsterdam, und wurde von den beiden Autoren extra für die deutschsprachige Ausgabe nochmals aktualisiert.

© 2017/2020 Lex Reurings und Willem Janssen Steenberg

© der deutschsprachigen Übersetzung: Covadonga Verlag 2020

Covadonga Verlag, Spindelstr. 58, D-33604 Bielefeld

ISBN (Print): 978-3-95726-046-8

ISBN (E-Book): 978-3-95726-050-5

Übersetzung aus dem Niederländischen: Ulrike Nagel und Rainer Sprehe

Umschlagfotos: © Gruber Images

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

Stand der Informationen: Frühjahr 2020

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.covadonga.de

www.dekaleberg.nl

»Tu fais du mal comme la Peste

Mais nous t’aimons, O Roi des Vents.«

»Du wütest rücksichtslos wie die berüchtigte Pest

Aber wir lieben dich, oh Herrscher des Winds.«

– Frédéric Mistral

»Le Ventoux ne se donne pas, chaque course est une conquête.

Notre bonheur, c’est celui des alpinistes: se sentir bien en haut,

savoir qu’on l’a fait, qu’on s’est dépassé.«

»Man bekommt den Ventoux nicht geschenkt, man muss ihn

jedes Mal aufs Neue erobern. Unser Glück ist das der Bergsteiger:

dieses wohlige Gefühl oben am Gipfel, im Wissen, dass wir es

getan haben, dass wir uns selbst übertroffen haben.«

– Robert Aubéry, Radfahrer aus Mollans-sur-Ouvèze,der den Mont Ventoux an seinem 60. Geburtstagzum 58. Mal mit dem Rad erklommen hat

INHALT

Vorwort

Die ersten Meter

14 Prozent

Der Berg

Schönheit

Der Mont Ventoux in großen Radrennen

Major Tom

Der Spatz

13. Juli 1967

Der Spatz und seine Tochter

Radrennfahrer sterben nicht

Appellation Contrôlée

Begegnung

Für alle, die ein bisschen verrückt sind: Mehrfach-Auffahrten

Confrérie des Cinglés du Mont Ventoux

Die NBG De Kale Berg

Vom Cinglé zum Grandonneur

Der längste Tag meines Lebens

Mont Ventoux: Rekorde und andere Statistiken

Notre-Dame-de-Pareloup

Vorbereitung auf den Berg: Die Frage nach dem richtigen Training

Das Wie und Warum verstehen: Die Theorie hinter den Trainingsplänen

Wie die Trainingspläne zu lesen sind: Die Praxis

Mein Mont Ventoux

Zwischen Traum und Tat…

Zurück nach Malaucène

Mit kleiner Übersetzung gegen das Altern

Das Geheimnis des Mont Ventoux

Danke, Mont Ventoux, wir sehen uns wieder!

Mont Ventoux

Wie stark ist der einsame Radfahrer?

Über Widerstand, Arbeit und Leistung

Über Kletterzeiten und geeignete Übersetzungen

Ventoux-Held auf dem Dachboden

Tipps

Cappuccino

Ganz kurz Engel, heilig auch

»C’est dur, hé?!« – Bedoin

Et on est loin du sommet… – Malaucène

Über Zeiten und Geschwindigkeiten – Sault

So geht’s natürlich auch

Glanznummer – Mit dem Einrad

Zurückgelehnt in der Sonne – Mit dem Liegerad

Mont Ventoux Runner’s High – In Laufschuhen

Ewige Liebe auf dem Mont Ventoux – Von zwei Seiten

Scheibe SF-25 – Hinter einem Steuerknüppel

Eine Runde im Vaucluse

Bedoin (Vaucluse, F)

Radfahren rund um den Mont Ventoux

Hirten

Der Aktionsberg

Einmal oben… – Ein Entwurf zur Neugestaltung des Ventoux-Gipfels

Erläuterung des Architekten

Montagne de Lure – Die kleine Schwester des Mont Ventoux

Verkündigung

Der literarische Berg

Ventörtchen

Mont Ventoux

Mont Ventoux

Au fond du Ventoux

Mont Ventoux

Avez-vous vu mon père?

Mont

Die Besteigung des Mont Ventoux

Die Fahrt auf den Mont Ventoux

Jean des Baumes

Müde

Kahler Berg

Das Zuckerbrot

Nebel auf dem Ventoux

Der namenlose Malocher

Mit beiden Beinen wieder auf dem Boden

Literatur, Links & Co.

Anmerkungen

Danksagung

Bildnachweis

VORWORT

Wer Ventoux sagt, sagt Tommy Simpson. Ich war noch ein kleiner Junge von gerade mal zehn Jahren, als dieser Engländer sich in der Mondlandschaft des Mont Ventoux buchstäblich zu Tode fuhr. Ich erinnere mich an dieses Ereignis, als wäre es gestern gewesen. Im Kopf des Zehnjährigen geschah etwas Merkwürdiges.

1) Der Mont Ventoux verwandelte sich von jetzt auf gleich in einen Berg, der mich in Angst und Schrecken versetzte.

2) Eine heftige Sehnsucht nach dem Gipfel ergriff mich.

Ich hatte vor, Radprofi zu werden, und ich wollte Heldentaten vollbringen. Und wo könnte das besser gelingen als auf einer Bergstrecke, die sich am Abgrund zum Tode entlangschlängelte.

Zwiegespaltenheit war Trumpf.

Die Abneigung gegenüber und die gleichzeitige Sehnsucht nach dem Mont Ventoux ist später allgemein Usus geworden. Nicht nur unter Radfahrern, sondern auch unter den Organisatoren von Radrennen. Nur selten wird dieser Berg in den Etappenplan einer Rundfahrt aufgenommen. Aber wenn der Ventoux auf dem Programm steht, kann man es kaum erwarten, dass die Karawane am Fuße des Berges ankommt. Der Ventoux ist ein Nervenkitzel hors catégorie.

Ist es ein glücklicher Umstand oder ist es ein Makel, dass ich das »Zuckerbrot« in den elf Jahren, die ich im Profi-Peloton lebte, nur einmal erklommen habe? Auch darauf gebe ich eine zwiegespaltene Antwort: Es ist beides, sowohl ein Makel als auch ein glücklicher Umstand.

Dieses eine Mal war an einem sehr heißen Juni-Tag während der Dauphiné Libéré 1983. Ich fuhr das Rennen als Vorbereitung auf die Tour de France und war noch weit von meiner Topform entfernt. Irgendwo in der Mitte des Feldes, mehr als zehn Minuten hinter der Spitze des Rennens, durchquerte ich die Mondlandschaft. Mein Schneckentempo und das der Leidensgenossen um mich herum war beschämend. In unserer Not warfen wir das Reglement über Bord und jedes Mal, wenn uns ein Begleitfahrzeug passierte, schnappten wir nach dem Türgriff, um uns ein paar Meter nach oben ziehen zu lassen. Damals zeigte der Mont Ventoux sein wahres Gesicht: Selbst unsere Arme befanden sich im Nu im Zustand allgemeinen Unbehagens.

Bei der Tour de France 1987 gab es ein Bergzeitfahren am Ventoux. Ich hatte einen Supertag. Ich saß in einem Strandpavillon im italienischen Lido di Jesolo. Mit einem großen Krug Bier vor mir. Im Fernsehen schaute ich mir die Live-Übertragung an. Jean-François Bernard und Stephen Roche versuchten beide, die Tour für sich zu entscheiden. Und ich verfolgte den Auftritt von Erik Breukink. Besser sie als ich, dachte ich nicht ohne Schadenfreude.

In jenem Jahr habe ich die Tour de France aus gutem Grund ausgelassen. Hätte ich auch noch die Tour bestritten, hätte ich nach der Tour de Suisse und dem Giro mehr als acht Wochen ohne Unterbrechung im Sattel gesessen. Das hält der stärkste Gaul nicht aus. Und dennoch, als ich mein Bier trank, spürte ich etwas in mir sprudeln, das mir wie Reue erschien. Schämte ich mich etwa wegen des Mangels an Leiden?

Am nächsten Tag kaufte ich mir eine niederländische Zeitung. Die Journalisten des Blattes hatten die Mutter von Erik Breukink eingeladen, den Auftritt ihres Sohnes am Ventoux live und aus nächster Nähe aus ihrem Auto heraus zu verfolgen. Ich las, dass sie hinten auf der Rückbank des Autos heftig geweint hatte. Es war herzergreifend. Danach war ich mir ganz sicher: Den Ventoux sollte man nie und nimmer auslassen. Und sei es nur, um der Held seiner Mutter zu werden.

Peter Winnen

DIE ERSTEN METER

Freitag, 5. Juli 1996. Mit Frau und Kindern habe ich mein Lager direkt vor den Toren von Bedoin aufgeschlagen, der Ausgangsbasis für die Fahrt auf den Mont Ventoux. Vom Campingplatz aus scheint der Berg schon seit ein paar Tagen ein Auge auf mich zu werfen und sein Blick ist unwiderstehlich. Ich habe mir schon ein paar Mal gesagt: »Ich muss und werde ihn bezwingen«, aber meine einzigen Erfahrungen als Kletterer bestehen aus einer Runde durch den Utrechtse Heuvelrug, aus dem Radweg durch die Dünen zwischen Noordwijk und Zandvoort und aus einer kleinen Ausfahrt in der Nähe der Pyrenäen. Und das ist sicherlich keine gute Grundlage, um den Riesen der Provence mit Zuversicht in Angriff zu nehmen. Deshalb beschließe ich, erst mal eine Erkundungstour in der Gegend zu unternehmen, ein wenig um den Berg herum.

Sommer 2000. Irgendwann während unserer gemeinsamen Trainingsausfahrten im Sommer des Jahres 2000 fragt mich Karel: »Wie wär’s, Willem, sollen wir nächstes Jahr mal zum Mont Ventoux fahren?« Unser Freund Wim ist dort im Juli sehr schön gefahren und seine Erzählungen haben das Feuer, das in Karel und mir schon längere Zeit glomm, aufs Neue entfacht. Als Jacquie und ich 1997 unseren Urlaub in Bedoin verbrachten, machte der Wächter des Südens großen Eindruck auf mich. Jeden Morgen, wenn ich auf dem Weg zur Boulangerie war, faszinierte mich der kahle Gipfel aufs Neue. Und wo auch immer wir gerade im Vaucluse unterwegs waren, überall schien mir das Observatorium zuzurufen: »Hey, Willem, wo bleibst du? Hol dein Fahrrad, Mann!« Doch leider – leider! – stand es zu Hause und erholte sich von der Vorsaison.

Und nun fällt plötzlich dieser Name. Mont Ventoux. Huch. Wie verlockend das klingt.

Während ich so fahre, werde ich jedoch beinahe magnetisch in Richtung Berg gezogen. Ehe ich mich versehe, bin ich mit meinem Rad in Saint-Estève, wo der eigentliche Anstieg beginnt. Ich bin absolut nicht auf eine Kletterpartie vorbereitet. Es ist schon später Nachmittag und ich habe wirklich nicht vor, die Sache durchzuziehen, denn es wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ich fahre noch etwa drei oder vier Kilometer weiter und drehe dann um. Ich habe genug gesehen, um zu wissen: Der Anstieg zum Ventoux ist unglaublich hart, aber einen ernsthaften Versuch wert. Wenn ich früh am Morgen starte, habe ich genug Zeit, um bis nach oben zu kommen. Zehn Minuten später bin ich wieder auf dem Campingplatz.

»Ich kann das Zelt von Ruud haben«, fährt Karel fort, »und wenn wir uns am Steuer abwechseln, können wir in einem Tag in Bedoin sein. Ein Tag für die Hinfahrt, vier Tage Radfahren, ein Tag für die Rückfahrt, so müsste es gehen.« Sein Blick ist leicht amüsiert – er weiß, dass er mich längst am Haken hat, der Gauner.

Wir haben schon früher einmal darüber gesprochen, denn nach neun Jahren kennen wir die Vogesen inzwischen in- und auswendig. Zwischen Hohwald und Giromagny gibt es nur wenige asphaltierte Straßen, die wir nicht bereits unter den Rädern hatten. Auf dem Schnepfenried hatte ich mir jedoch seinerzeit geschworen, mir den Ventoux aus dem Kopf zu schlagen. Während dieses Anstiegs wurde ich von der Hitze und von Massen von Fliegen gequält, die in meine Nase und hinter meine Brille krochen. Anschließend sagte ich mir: Wenn diese knapp sieben Kilometer mit durchschnittlich zehn Prozent Steigung schon so eine Plackerei sind, was müssen dann erst die 21 Kilometer bis zum Gipfel des Ventoux für eine Folter sein?

Sonntag, 7. Juli 1996. Heute die verwegenen (Rad-)Schuhe angezogen: Es wird passieren! Das Wetter ist gut: nicht zu heiß, nicht viel Wind. Um acht Uhr sitze ich auf dem Rad; das Wasser spritzt fast aus den Bidons, die Trikottaschen sind mit ein paar Bananen und drei Packungen Sultana gefüllt. Vom Campingplatz fahre ich zuerst zurück nach Bedoin, weil ich vom Brunnen aus starten möchte, dem »offiziellen« Ausgangspunkt für die Auffahrt von der Südseite. Meistens stehen hier einige Radfahrer, aber im Moment ist niemand zu sehen. Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde, denn ich muss es ja doch alleine schaffen. Ich steige auf, drücke den Startknopf am Tacho und fahre aus dem Dorf heraus wieder in Richtung Campingplatz, denn der liegt direkt an der Strecke.

Das eine führt zum anderen. Wie ein Haufen kleiner Jungs verbringen wir die folgenden Wochen damit, auf dem Rad Pläne zu schmieden. Natürlich habe ich den Schnepfenried nicht vergessen, aber der Ventoux, das wäre natürlich ein richtiger Berg… Wenn ich es auf meine alten Tage in einem Zug dort raufschaffen würde… Nun, ich habe keinen Zweifel daran, dass ich es irgendwie bis zum Gipfel packen würde, aber in einem Zug? Ohne Pause, ohne einmal abzusteigen? Ich bin zu schwer und habe nicht genug Talent, um das zu schaffen, nehme ich an. Und was für einen Haufen Trainin gich abreißen müsste, um…

Bis Saint-Estève läuft es prima, dann beginnt der eigentliche Anstieg: neun bis elf Prozent Steigung. Zum Glück ist es nicht heiß, aber ich mache es selbst heiß! Der Schweiß trieft aus meinem Körper und meine Handgelenke sind schwarz vor Fliegen. Ich versuche, sie zu vertreiben, aber es ist den Viechern egal – sie haben einstimmig beschlossen, mich als Mitfahrgelegenheit zu gebrauchen.

Kilometerlang schlängelt sich die Straße durch den Wald nach oben. Erst nach zehn Kilometern kommt der Gipfel in Sicht und verschwindet plötzlich wieder. Und obwohl es hart ist, fällt es mir bisher nicht wirklich schwer. Nicht absteigen, Lex, sage ich zu mir selbst, sitzen bleiben und weitertreten. Solange sich die Pedale drehen, komme ich voran, und solange ich vorankomme, komme ich dem Gipfel näher. Ich höre es mich selbst sagen, und ich werde es später noch etliche Male sagen. Laut.

Dienstag, 29. Mai 2001. Um acht Uhr brechen wir mit unseren Rädern am Campingplatz auf, zwanzig Minuten später halten wir am Ortseingangsschild von Bedoin. Wir starten unsere Radcomputer, wünschen uns gegenseitig viel Erfolg, und los geht’s: Auf zum Gipfel! Mehr als einundzwanzig Kilometer, durchschnittlich 7,7 Prozent Steigung, über 1.600 Höhenmeter. »C’est un col qui fait peur«, um mit Tour-Direktor Leblanc zu sprechen. Ich spüre die Anspannung in der Magengegend.

Jeder fährt sein eigenes Tempo, haben wir abgemacht, also fährt Karel mir sofort davon. Nach nicht mal einem Kilometer, an der Abzweigung nach Flassan, ragt direkt vor mir, stolz in der Morgensonne leuchtend, der Gipfel des kahlen Berges auf. Da muss ich rauf.

Die erste Trinkflasche ist inzwischen fast leer und ich frage mich, ob ich genug Wasser dabeihabe. Laut meinen Berechnungen müsste ich jetzt fast beim Chalet Reynard sein. Dann hätte ich fünfzehn Kilometer geschafft, also nur noch sechs weitere vor mir.

Aber was für ein Schlag ins Kontor. Das Chalet Reynard will einfach nicht in Sicht kommen. Wie kann das sein? Mein Tacho zeigt bereits 16 Kilometer an. Hier sollte es laut dem Kletterführer für Radfahrer etwas leichter sein, aber ist dem tatsächlich so? Ha, ist das nicht das Chalet?

Ja, DAS IST DAS CHALET! Und da ist auch der kahle Gipfel. Jetzt nicht aufgeben, dann wird es gelingen!

Ich habe meine Pulsuhr ständig im Blick. Die angezeigten Werte schwanken zwischen 155 und 162, genau in der Nähe meiner Schwelle. Wenn ich das durchhalten kann, sollte ich es bis nach oben schaffen können. Einfach nur weiterkurbeln, immer weiter. Sicher, es ist ziemlich steil, und doch läuft es ganz gut. Ich keuche leicht. Wirklich schnell komme ich nicht mehr voran; selbst ein fröhlich flatternder Kohlweißling überholt mich.

Noch etwa sechs Kilometer. Zu Hause bei einer Tour über die Polder würde ich darüber lachen, aber hier ist das alles andere als ein Klacks. Immerhin, es geht jetzt etwas leichter, denn es ist etwas weniger steil. Nach einem Kilometer zieht die Steigung wieder an. Zum Glück gibt es nicht viel Wind; das gibt mir die Kraft weiterzumachen. Ich kriege die Pedale immer noch irgendwie rum, aber damit ist auch schon alles gesagt. Eigentlich ist es verrückt, aber jetzt, wo ich so weit gekommen bin, ziehe ich die Sache auch durch, bis ich buchstäblich umfalle.

Am Denkmal für Tommy Simpson, auf 1.770 Metern, spüre ich eine Gänsehaut. Ich tippe mit dem Finger an die Schläfe: Sei gegrüßt, Tommy, sei gegrüßt! Ich werde dafür sorgen, dass ich auf jeden Fall heile oben ankomme.

Sehe ich dort nicht das Denkmal für Tom Simpson? Dann muss ich noch einen weiteren Kilometer durch diese unwirkliche Mondlandschaft fahren.

Als ich endlich zur Gedenkstätte komme, halte ich nicht an – ich fahre seit dem Start im Sitzen und ich werde bis zum Ende im Sattel sitzen bleiben! Nun denn, ich sage: »Mach’s gut, Tom«, denn das hat Tim Krabbé früher auch immer getan. Es ist, als ob Tom mir als Dankeschön ein wenig Antrieb verleiht, denn ich beschleunige nun tatsächlich! Wie viele Kurven müssten es noch bis zum Gipfel sein? Ich habe das Observatorium jetzt fortwährend im Blick, aber es kommt einfach nicht näher oder bestenfalls unmerklich. Bis Jetzt bin ich fast allein gefahren, aber hier oben begegne ich immer mehr Leidensgenossen. An einigen fahre ich vorbei, andere überholen mich. Ich versuche, mich an sie dranzuklemmen, gebe das Unterfangen aber schnell wieder auf. Ich muss mein eigenes Tempo fahren, um es nach oben zu schaffen.

In der letzten Kurve fahre ich ganz außen: mehr Meter Wegstrecke, weniger steil. Ich sehe noch genau vor mir, wie die Köpfe von Armstrong und Pantani hinaufkommen, direkt nebeneinander, ihre Schultern, ihre Beine, ihre Füße. Das war im Jahr 2000. Und jetzt ich. Jetzt ich!

Am Ende der Kurve, wo das Gipfelplateau beginnt, steht Karel, mit dem Fotoapparat im Anschlag. Ich hebe den Zeigefinger meiner rechten Hand, während ich die letzten Meter fahre. Ohne abzusteigen, Junge, ohne einmal abzusteigen! Nach zwei Stunden und dreiunddreißig Minuten passiere ich die Ziellinie.

Sehe ich das richtig? Ist das da vorn die letzte Kurve? Das wäre zu hoffen, denn lange halte ich nicht mehr durch. Ich muss die Kurve weit außen nehmen, denn innen ist es viel zu steil. Einmal noch aus dem Sattel gehen und ICH HABE ES GESCHAFFT! Ich lehne mein Rad an eine Mauer, nehme meinen Helm ab und lasse mich zu Boden sinken.

***

Bei jedem Radfahrer, der den Gipfel erreicht, sucht sich die aufgestaute Anspannung auf die eine oder andere Weise einen Ausweg. Der eine lässt seinen Tränen freien Lauf, der andere wird sehr ruhig, ein Dritter beginnt zu glucksen oder starrt mit leeren Augen auf die weißen Gipfel der Alpen. Jeder braucht ein paar Minuten, um seine Emotionen zu verarbeiten und bis sich der Adrenalinspiegel wieder auf ein normales Maß eingepegelt hat. Dann geht der eine zum Verkaufsstand, um sich was Süßes mit Fliegendreck zu kaufen, der andere lässt sich einen Stempel auf ein teuer bezahltes T-Shirt setzen oder bittet einen netten Franzosen, ein Foto von ihm zu machen, während er sich quasi-nonchalant vor dem Schild mit der Aufschrift »Sommet du Ventoux 1909 m« gegen sein Fahrrad lehnt. Aber egal, wie lange es dauert, sich zu erholen und zu genießen, es kommt der Moment, in dem der Zauber gebrochen wird: Jacke an, Helm auf – die Abfahrt ruft.

Auf dem Campingplatz oder im Hotel gibt es als Belohnung die Bewunderung der Familie und anderer Urlauber. Es gibt eine Dusche, ein kaltes Bier aus dem Bach hinter dem Zelt oder aus dem Drei-Sterne-Kühlschrank des Hotels, und eines ist klar: Dies ist ein Tag, den man einrahmen muss, ein Tag, den man nie vergessen wird.

***

Manche Radfahrer gehen die Begegnung mit dem Mont Ventoux schüchtern an, andere treten ihm voller Bravour entgegen, aber jeder von ihnen erlebt sein eigenes Abenteuer. Und wer viel erlebt, kann auch viel erzählen.

Der kahle Berg – Auf und über den Mont Ventoux lässt Sie als Leser »den großen Tag« von Jungspunden und Veteranen, von Fahrradtouristen und ambitionierten Radsportlern, von Einzelgängern und »Waffenbrüdern« miterleben. Dieses Buch schildert die Geschichten von Männern und Frauen, die einmal im Leben mit dem Rad nach oben gefahren sind, aber auch die jener Wagemutigen, die den Berg elfmal an einem Tag bezwungen haben, wie üblich auf Asphalt, aber auch auf unbefestigten Wegen. Ihre authentischen Berichte erzählen von Unsicherheit und Leid und vom Glücksgefühl, das alle Mühsal und alle Unannehmlichkeiten vergessen lässt, sobald man einmal oben ist, am Fuße des Observatoriums.

Aber Der kahle Berg belässt es nicht dabei. Dieses Buch erläutert mittels ausgeklügelter Trainingspläne, wie man sich am besten auf die Bezwingung des Riesen der Provence vorbereitet. Es liefert Tipps von erfahrenen Experten zur Wahl der richtigen Kleidung, Ernährung, Ausrüstung und Übersetzung. Es enthält Steigungsprofile und Übersichtskarten der verschiedenen Routen hoch zum Observatorium, bietet einen Überblick über schöne Radtouren und jährliche Radsportereignisse in der Umgebung und verweist auf weiterführende Lektüre in Form vieler hilfreicher Bücher, DVDs, Websites etc., die sich mit dem Mont Ventoux, der Provence oder dem Radfahren beschäftigen.

Zudem erzählt dieses Buch auch von der besonderen Rolle, die der Mont Ventoux in der Geschichte von u.a. Paris–Nizza, der Dauphiné Libéré und der Tour de France spielt – und von Tommy Simpson, dessen Schicksal die natürliche mythische Wirkung des Mont Ventoux nur noch verstärkt hat.

Auch all diejenigen, die zwar nie verstehen werden, was einen Menschen antreibt, solche Berge mit dem Fahrrad hochzufahren, aber sich doch schon für diesen wundersamen Berg interessieren, finden ebenfalls noch genug Lesestoff. Es gibt Kapitel über seine Entstehungsgeschichte und seine denkwürdigen geografischen Eigenheiten, über die Geschichte der Provence und die Besonderheiten der Dörfer im Schatten des Ventoux und auch über die herausragende Rolle, die dieser Berg im Werk etlicher Schriftsteller und bildender Künstler spielt. Denn auch der Nicht-Radfahrer kann sich dem Zauber des Ventoux nicht entziehen. Auch für ihn ist er ein Berg zum Einrahmen.

14 PROZENT

Heesch (Noord-Brabant, Niederlande). Ich habe in letzter Zeit oft mit meinem Kumpel darüber gesprochen: In der kommenden Saison müssen wir was dagegen unternehmen. Sieben Kilo müssen runter, vorerst kein Bier mehr und auch keine Süßigkeiten, viermal die Woche trainieren, auch bei miesem Wetter, und Ende Mai, Anfang Juni jagen wir den Mont Ventoux hoch. Müdes Geplapper mit einem Unterton von: Ach, Junge, wir werden alt, wir gehen aus dem Leim, es muss etwas passieren. Wenn wir weiterhin glaubwürdig über diesen Berg mitreden wollen, dann müssen wir etwas tun!

Dienstag, 27. Dezember. Und wir haben angefangen. Wir hatten richtigerweise geahnt, dass der Körper sich nach Weihnachten nach Betätigung sehnen würde, nach Bewegung. Der vom Fitnessstudio organisierte Spinningmarathon bietet eine Lösung: vier Stunden Radfahren am Stück. Okay, zwar drinnen, aber angesichts des schlechten Wetters und der noch winterlichen Straßen eine nette Alternative.

Ein Beamer, der unsere Videofilme von den Ventoux-Auffahrten und -Abfahrten von Bedoin und Malaucène groß an die weiße Wand projiziert, 26 Spinningbikes, exzellentes Catering, dröhnend bollernde Musik, »Hintern aus dem Sattel, achte auf deine Haltung«, und treten, treten, treten, treten. Langsam, aber sicher verschwinden die Spiegel hinter tropfender Kondensation. Vier Stunden nach dem Start fühlen sich die Beine hervorragend an, aber das Sitzfleisch protestiert: Es liegt noch viel Arbeit vor uns…

Samstag, 31. Dezember. Die »Top 2000«, der Radio-Hit-Marathon zwischen den Jahren, dröhnt durchs Haus, ein Rindertopf köchelt seit fast acht Stunden langsam vor sich hin. Und aller Anfang ist schwer: Eine Rum-Rosinen-Kugel findet ihren Weg nach unten, begleitet von einem kräftigen Schluck von fast 14 Prozent. 14 Prozent, die letzte Kurve der Südrampe von Bedoin…

Dreimal pro Woche stampfen und schwitzen wir im Spinningsaal mit zu viel Lärm auf den Ohren, Schweißpfützen auf dem Boden und pitschnassem Shirt. Deep Purple, »Smoke on the Water«, auf Platz 64.

In zwei Wochen werde ich 65. Fünfundsechzig… Und ich mache mir Sorgen wegen dieses dämlichen Bergs. Vierzigmal bin ich inzwischen mit dem Rad dort hinaufgefahren, rund hundertzwanzigmal hat das Auto den Job für mich erledigt, aber jetzt – jetzt! – muss ich mir so dringend wieder was beweisen: ohne absteigen bis nach oben oder ohne Schlangenlinien oder ohne eingeholt zu werden oder noch mal dreimal an einem Tag oder vielleicht mal rückwärts mit dem Fahrrad oder was auch immer. Eine verzögerte beziehungsweise hartnäckig anhaltende Midlife-Crisis? Mit fünfundsechzig? Höre ich da den Ventoux sich ins Fäustchen lachen?

Aus: Willem Janssen Steenberg, Voor eigen parochie – Columns 2003-2011

DER BERG

»Man kann Rad fahren, was man will, aber letztlich geht es umdie 20 Kilometer, die auf den Gipfel des Mont Ventoux führen.«

– Bart Jungmann: Fietsroutes – Zeven favorieten,in: de Volkskrant, 2. März 2013

Der Name

Riese der Provence, weißer Wächter der Provence, Zuckerbrot, kahler Berg, Midlife Mountain. Es sind Spitznamen, die keiner weiteren Erklärung mehr bedürfen, und für den Literaturliebhaber ist auch die Bezeichnung Olymp des Südens eindeutig. Viele Radfahrer werden sich auch ihren eigenen Kosenamen ausgedacht haben, aber lassen Sie uns nicht darüber reden – in der Öffentlichkeit benutzt man nicht den Kosenamen seiner Geliebten.

Mont Ventoux – Höhe: 1.909 Meter; geografische Koordinaten: 44° 10’ 26’’ N, 5° 16’ 38’’ O. Woher hat das etwa 25 mal 15 Kilometer große Massiv an der Grenze der Départements Drôme und Vaucluse, etwa 40 Kilometer nordöstlich von Avignon gelegen, seinen Alltagsnamen, so wie er im Michelin-Führer steht?

Die offensichtlichste Erklärung hat mit dem Französischen le vent zu tun: der Wind. Mont Ventoux bedeutet in dieser Interpretation »windiger Berg« oder »windumtoster Berg«. Diese Erklärung kommt nicht von ungefähr. Jeder, der schon einmal inmitten eines starken Mistrals1 an der Spitze der Mondlandschaft gestanden hat, wird diese Erklärung sehr plausibel finden. Und wenn wir die meteorologischen Daten und Fakten betrachten, bestätigt sich, was viele Radfahrer während ihrer Plackerei bergauf persönlich erlebt haben: Auf dem Ventoux kann es gehörig toben; die D 974 heißt 70 Meter unterhalb des richtigen Gipfels nicht umsonst Col des Tempêtes oder »Pass der Stürme«. Hören wir also besser gut auf die Warnungen, wenn das Wetterinstitut »starke Windböen mit Spitzen von 120 bis 150 km/h« kommen sieht; auf dem Ventoux wurden als Rekord schon 320 km/h gemessen.

Die zweite Erklärung für den Namen Ventoux ist etwas subtiler. Das Wort Ventoux geht möglicherweise zurück auf das Keltische des ersten oder zweiten Jahrhunderts, die Sprache des Stammes, der damals in diesen Gegenden lebte. Bodenfunde auf dem Gipfel des Berges deuten auf die Möglichkeit hin, dass die Kelten dort den Berggott Vintur verehrten. Dessen Name soll sich von ven-topp ableiten, was so viel wie »schneebedeckter Gipfel« bedeutet. Der Vorsilbe ven wird übrigens auch die Bedeutung »weithin sichtbare Anhöhe« zugeschrieben. Dies sind durchaus nachvollziehbare Bezeichnungen für einen Berg, der von November bis Ende März/Anfang April unter einer Schneedecke begraben liegt und auch im Sommer eine glänzend weiße Spitze besitzt. Auch im Juli oder August kann hier noch mal kurz Schnee fallen und es ist alles andere als ungewöhnlich, wenn Ende Mai/Anfang Juni in einer schattigen Ecke an der Nordflanke des Massivs noch Schnee liegt.

Eine dritte »Übersetzung« des Namens Mont Ventoux, die ebenfalls mit der Götterverehrung auf dem Gipfel zusammenhängt, soll, so meinen einige, »Berg aller Geister« lauten. Wer die Wahrheit kennt, soll es sagen.

Die Höhe

Die Höhe des Ventoux war im Laufe der Jahrhunderte recht variabel, wenn man den Messungen vertrauen darf. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts glaubte man den Gipfel auf 2.027 Metern Höhe, später kam man auf 1.976 Meter, auf 2.019 Meter und im Jahr 1823, sehr genau, auf 1911,4 Meter. Im Jahr 1882 wurden 1907,870 Meter gemessen – ja, auf den Millimeter genau. Die französische Luftwaffe gibt an, dass der Ventoux 1.912 Meter hoch ist. Diese Höhe nannte auch das Schild, das bis vor einigen Jahren über dem »Laden« hing, obwohl man hier bei genauerem Hinsehen noch undeutlich 1.909 Meter lesen konnte, die Höhe, die sich auch auf den berühmten Michelin-Karten findet.

Das Schild an dem prosaischen Pfosten gegenüber dem Laden behauptete 2010, dass der Berg 1.910 Meter hoch sei, fand aber 2012 heraus, dass der Gipfel auf 1.912 Metern Höhe liegt. Mitte 2015 gab es ein neues Schild … und somit eine neue Höhe: 1.911 Meter. Gegenüber, direkt am Fuße des weißen Turms, ist der Netzbetreiber Télédiffusion de France (TDF) auf einem Schild nahe des Eingangs zum Centre émetteur du Mont-Ventoux der Meinung, dass es genau 1.900 Meter sein müssen. Guy Gérard Durand2, der ein Buch über die Historie von Bedoin geschrieben hat, nennt 1.907 Meter. Die Wanderkarte des IGN gibt 1.910 Meter an. Und die Tour de France? Die schickt die Fahrer hinauf auf 1.895 Meter.

Und sie liegt damit tatsächlich am nächsten dran. Das wissen wir seit Juni 2016. Am 10. Juni jenes Jahres haben nämlich géomètres-experts de la chambre départementale du Vaucluse, die Landvermesser des Départements, ihre Ausrüstung am Gipfel aufgebaut, und inzwischen wurde das Ergebnis ihrer Berechnungen offiziell bestätigt, und zwar vom Institut national de l’information géographique et forestière – so heißen inzwischen, seit ihrem Zusammenschluss zum 1. Januar 2012, das Inventaire forestier national (IFN) und das Institut géographique national (IGN, bekannt von den gleichnamigen Karten). Der Col du Mont Ventoux, die asphaltierte Straße vor dem »Laden«, ist von nun an 1897,10 Meter hoch. »Bis auf weiteres«, wäre man geneigt zu sagen…

Es heißt, dass die Verwaltung des Départements Vaucluse nun oben auf dem Gipfel die richtige Höhe angeben wird. Dies ist zum Zeitpunkt der Recherchen für diese Ausgabe von Der kahle Berg allerdings noch nicht geschehen. Am 16. Mai 2017 wurde jedoch ein neues Schild mit einer neuen Höhenangabe – 1.909 Meter – angebracht, nachdem das alte Schild mit der Höhenangabe 1.911 Meter seit Januar desselben Jahres verschwunden war. Im Sturm davongeweht? Oder abgenommen, um es zu ersetzen? Von Souvenirjägern gestohlen? Das Verschwinden führte jedenfalls zu einer eigenen Twitter-Kampagne unter dem Hashtag #touchepasamontventoux (Hände weg vom Mont Ventoux) mit zahlreichen Bildern des Höhenschildes oder eines seiner Vorgänger. Der Initiator hoffte, dass dies den Dieb davon überzeugen würde, das Schild zurückzubringen…

Nach der Arbeit der géomètres-experts hat sich jedoch bisher noch nichts geändert. Das Schild an dem Pfosten am Rande des Aussichtsplateaus zeigte zuletzt noch immer 1.909 Meter an. Gut für das Ego aller Radfahrer, die die Plackerei auf sich genommen haben. »Locker über 1.900 Meter« klingt bei der Berichterstattung an der Heimatfront nun mal etwas beeindruckender als »nicht ganz 1.900 Meter«.

Aber, ach, worüber machen wir uns Sorgen. Jeder, der nach vollbrachter Tat irgendeine Zahl in der Nähe von 1.900 Metern erwähnt, liegt der Wahrheit bedeutend näher als die Menschen im Mittelalter, als man noch glaubte, der Ventoux wäre 6.000 Meter hoch…

All diese Unterschiede sind darauf zurückzuführen, dass nicht jede Messung auf dem gleichen Nullpunkt basiert und dass manche Vermesser die »Passhöhe« – in diesem Fall also das asphaltierte Gipfelplateau, die D 974 – nehmen, während andere die absolute Spitze des Berges messen. Und dann stellt sich die Frage, was Kartografen, Straßenverwaltungen und andere mit diesen Daten machen. Wenn die Pläne zur »Neugestaltung« des Ventoux durchkommen, soll auch die eher inkonsequente Beschilderung entlang der verschiedenen Zufahrtsstraßen erneuert werden. Man sollte es hoffen…

Abschließend noch einige weitere Messdaten aus dem Bericht der géomètres-experts. Das Chalet Reynard liegt auf 1.417,75 Metern Höhe, die Kurve bei Saint-Estève auf 529,91 Metern und der Start in Bedoin auf 309,39 Metern.

Die Entstehungsgeschichte

Der Mont Ventoux ist aus geologischer Sicht gar nicht mal so alt. Vor etwa 60 Millionen Jahren schoben sich tief unter der Provence Erdschichten wie wandernde Eisschollen gegen- und übereinander. Ähnlich wie bei einem DIN-A4-Blatt, dessen Ober- und Unterkante man auf einer ebenen Fläche aufeinander zubewegt, sodass sich eine Falte erhebt, entstanden durch diese Erdaktivität verschiedene in Ost-West-Richtung verlaufende Gebirgszüge wie die Pyrenäen, die Baronnies, die Montagne de Lure, der Luberon, die Alpillen und eben auch das Massiv des Mont Ventoux. Die Nordseite des Ventoux ragt steil und schroff in die Höhe. Auf der Südseite indes erhebt sich der Berg viel allmählicher aus der Ebene – zum Plateau de Vaucluse hinab erstrecken sich sanft abfallende, von der Sonne verwöhnte Hänge.

Ein markantes Merkmal des Berges ist natürlich der kahle Gipfel. Wie der Untergrund des gesamten Vaucluse besteht er aus Kalkstein. Kalkstein ist das Sediment, das sich im flachen Meer, das vor Hunderten Millionen Jahren die gesamte Provence bedeckte, abgelagert hat. Als sich das Wasser später zurückzog und der Ventoux sich zu erheben begann, nahm er den einstigen Meeresuntergrund mit in die Höhe. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte zerbarst die einstmals massive Gesteinsschicht unter dem Einfluss von Wind und Wetter zu den Milliarden von Felsbrocken, die heute die berühmte »Mondlandschaft« formen.

Übrigens hat im Süden Frankreichs nicht allein der Ventoux aus diesem Grund eine nackte Spitze aus kalkhaltigem Geröll. Wenn Sie ein Stück weiter östlich die Montagne de Lure hinauffahren (siehe Montagne de Lure: Die kleine Schwester des Mont Ventoux,S. 272), liegt der Gedanke nahe, dass deren Entstehungsgeschichte parallel zur derjenigen des Mont Ventoux verlaufen sein könnte. Und tatsächlich, so ist es: Die prähistorischen Urkräfte, die den kalksteinhaltigen Meeresuntergrund in die Höhe gedrückt und das geschaffen haben, was heute der kahle Riese der Provence ist, bildeten auf die gleiche Weise auch die Montagne de Lure. Und so ist es kein Wunder, dass sich die beiden so ähnlich sind.

Das Klima

Klimazonen. Auf dem Mont Ventoux kommen ganz besondere klimatische Bedingungen zum Tragen. Man könnte sich den Ventoux als einen mehrschichtigen Kuchen vorstellen, der beim Backen auf der einen Seite – seiner Nordflanke – durch einen falschen Luftzug im Ofen (den kalten Mistral) am unteren Rand etwas eingesunken ist.

In den unteren Lagen des Mont Ventoux herrscht ein mediterranes Klima. Auf der Nordseite endet es in einer Höhe von etwa 500 bis 600 Metern, auf der Südseite auf 800 bis 900 Metern. Die nächste Klimazone erstreckt sich auf der Nordseite über etwa 500 Höhenmeter, auf der Südseite über 300. Dann folgt ein Bereich, der auf beiden Seiten bis auf etwa 1.700 Meter hinaufreicht. Auf dem Gipfel findet man dann Bedingungen vor, denen man auch auf Grönland oder in Lappland begegnet.

Es liegt auf der Hand, dass man nicht überall genau sagen kann, auf welcher Höhe sich die Grenze zwischen einer Klimazone und der nächsten befindet. Natürliche Gegebenheiten wie Landschaftsfalten, Schluchten, die Lage eines Hanges in Bezug auf die Sonne und dergleichen schaffen vielerorts ein besonderes Mikroklima.

Für Kenner ist es faszinierend zu sehen, welche Folgen dieser Übergang von einem mediterranen Klima am Fuße des Berges zu den Polarkreisbedingungen am Gipfel für die Pflanzen- und Tierwelt hat. So beginnt tatsächlich der größte Zedernwald Europas im für diese Spezies geeigneten Klima auf Höhe des Pavillon de Roland, während im fast polaren Klima am Gipfel naturgemäß kaum etwas wachsen will. Doch wer gut hinsieht, entdeckt zwischen den Felsbrocken die prächtigsten Pflanzen und Blumen, die sonst nur im hohen Norden vorkommen.

Wind. Es ist unmöglich, ihm zu entgehen: Auf dem Mons Ventosus, dem windigen Berg, muss man darauf gefasst sein, dass es öfter mal weht. In der Provence unterscheidet man 32 verschiedene Arten von Wind; in der Tat wird niemand den Provenzalen einen Mangel an Feinsinnigkeit vorwerfen können! Für Radfahrer aus unseren Landstrichen sind solcherart Nuancierungen indes wenig geeignet: »[…] der einsame Radfahrer, der sich tief über den Lenker gebeugt seinen Weg gegen den Wind bahnt«3, lehnt sich am Ventoux vor allem gegen den berühmten Mistral, den kalten Wind, der hier immer auf der Spitze des Rennens zu stehen scheint.

Dass es auf dem Ventoux so zugehen kann, ist nicht weiter verwunderlich. Der Gipfel des Ventoux ist »ominiprésent dans les paysages«, wie die Franzosen sagen. Er erhebt sich hoch oben über dem Land, und wo man sich in der Provence auch gerade befindet: Man kann ihn praktisch immer und von überall aus sehen. Das bedeutet, dass es nichts gibt, was den Wind aufhalten würde, sodass er ungebremst auf den Ventoux zustürmen kann.

Unsere Vorfahren glaubten, dass der Mistral irgendwo auf der Nordseite des Ventoux, tief im Inneren des Bergs, in einer Höhle bei Brantes geboren wurde, die heute noch Grotte du Vent (Höhle des Windes) genannt wird, oder auch Trou Soufflant (wörtlich: »pustendes Loch«) oder Trou du Souffleur, was so viel bedeutet wie »Souffleurkasten«.

Die heutige Wissenschaft weiß es besser. Der Mistral, ein kalter, meist trockener Wind polaren Ursprungs, weht durchschnittlich 151 Tage im Jahr aus Norden/Nordwesten Richtung Frankreich. Dort wird er durch die Alpen zur Rhône hin umgeleitet. Das lange, untere Rhônetal wirkt dabei wie ein Tunnel: Der Luftstrom wird dort gleichsam hineingepresst, sodass seine Geschwindigkeit, ungebremst durch natürliche Hindernisse, stark zunimmt.

Der Mistral ist also immer ein Nordnordwestwind. Das erklärt, warum man sich oben in der Mondlandschaft in einem Moment die Seele aus dem Leib treten muss, um voranzukommen, und im nächsten Moment etwas durchatmen kann. Schließlich schlängelt sich die D 974 dort in einem kurvenreichen Zickzackkurs hinauf: ein Stückchen nordwärts (Gegenwind), nach der Kurve dann Richtung Westen (Seitenwind), nach der nächsten Kurve wieder gen Norden (Gegenwind) und so weiter.

Als Radfahrer hat man es in der Regel mit dem sogenannten weißen Mistral zu tun. An einem überwiegend blauen Himmel schweben hier und da hohe Wolken, die die Form von Linsen oder Sepiaschalen haben, diesen weißen Rückenknochen von Tintenfischen, die man manchmal am Strand findet. Aber gelegentlich hat man Pech und der Himmel hat sich zugezogen und es regnet; dann ist man dem ausgesetzt, was schwarzer Mistral genannt wird.

Am häufigsten bläst der Mistral Ende Winter/Anfang Frühling und im Juli, und je höher man kommt, desto kräftiger.

Daneben gibt es noch den Marin, einen feuchten Wind, der vor allem im Herbst aus Süden/Südosten vom Mittelmeer her nach Frankreich hineinweht; das geschieht durchschnittlich 91 Tage im Jahr. Wenn der Marin sich erhebt, wissen die Menschen, dass es bald aus Kübeln schütten wird.

Aber es gibt nicht nur Grund zum Klagen, denn wir haben auch noch den Ventoureso, »die Brise vom Ventoux«. Die Einwohner von Arles, einer Stadt südwestlich des Mont Ventoux, gaben diesem Namen jenem trockenen, frischen Wind, der für sie gelegentlich aus Nordosten kommt, also aus Richtung des Ventoux. Besonders in heißen Sommern ist diese angenehm frische Brise mehr als willkommen.

Extreme Windgeschwindigkeiten. Es ist klar, dass in großen Höhen – und der Gipfel des Ventoux liegt ziemlich hoch – der Wind häufiger und heftiger weht als in der Ebene der Provence. Hinzu kommt, dass der beinahe senkrecht aus der Ebene aufsteigende Ventoux den heranströmenden Wind zu noch höheren Geschwindigkeiten antreibt.4 Einige behaupten, dass oben auf dem kleinen Gipfelplateau an 256 Tagen im Jahr ein starker Wind weht, andere sprechen von 173 Tagen, wieder andere kommen auf 130 Mistraltage im Jahr. An 118 davon soll der Nordwind mehr als 100 km/h erreichen; mehrmals wurden schon über 250 km/h gemessen.

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums steht der absolute Windgeschwindigkeitsrekord seit dem 15. Februar 1967 bei 320 km/h, ein Wert, der am 19. November desselben Jahres noch einmal gemessen wurde; übrigens war es seinerzeit nicht der Mistral, sondern der Marin, der über den Berg hinwegfegte. Am 20. März 1967 erreichte der Mistral seine (vermeintliche) Höchstgeschwindigkeit: 313 km/h.

Zum Vergleich: Als Windrekord in den Niederlanden gilt bisher ein Stundenmittelwert von 132,2 km/h, den die Messstelle KNMI Maastricht am 4. Juni 1912 vermeldete. Die bisher stärkste offiziell auf dem niederländischen Festland gemessene Böe bekam Hoek van Holland ab: Am 6. November 1921 zeigten die Messgeräte dort einen Ausreißer von 162 km/h an – Peanuts im Vergleich zur geschätzten Geschwindigkeit des Wirbelsturms auf Vlieland am 5. November 1948: 202 km/h. Aber Vorsicht: Unterschiedliche Quellen liefern jeweils abweichende Zahlen.

Man erzählt sich – und mehrere Leute behaupten, es mit eigenen Augen gesehen zu haben –, dass bei den oben genannten Windgeschwindigkeiten auf dem Ventoux die Steine die Hänge hinaufgeweht werden. Se non è vero, è bon trovato – wenn es nicht stimmt, ist es zumindest gut erfunden… Es ist generell ratsam, all diese Informationen mit Vorsicht zu betrachten. In der Vergangenheit haben sich die Windmesser nicht gerade durch ihre Genauigkeit ausgezeichnet, sie zeigten oft zu hohe Werte an. Dies ist seit dem 7. Juli 2016 anders – siehe Der braune Turm in: Der Berg,S. 33.

Weil der Gipfel dieses Berges nun mal so vortrefflich die Fantasie anregt, im Folgenden noch ein paar weitere Daten und Fakten zu den Wetterbedingungen dort oben – mit Dank an die französischen Meteorologen, das Verteidigungsministerium sowie verschiedene Tourismusbüros und Naturschutzorganisationen.

Die Winter auf dem Gipfel des Ventoux wollen kein Ende nehmen. Mehr als 140 Tage im Jahr liegt dort oben Schnee, an 173 Tagen herrscht Frost und es kann wirklich sehr kalt werden: Die durchschnittliche Jahrestemperatur liegt zwischen 3 und 4 °C, aber die niedrigste in der kalten Jahreszeit gemessene Temperatur beträgt jedes Jahr etwa –27 °C. Selbst im Juli und August können die Temperaturen manchmal unter den Gefrierpunkt sinken. Andererseits: Während der Hitzewelle Ende Juni 2019 wurden oben auf dem Gipfel 33 °C gemessen – siehe Wetter in: Tipps,S. 177.

Im Sommer sind es am Gipfel meist zwischen 10 und 18 °C, was etwa elf Grad kühler ist als am Fuße des Berges – nicht wenige Besucher lassen sich davon überraschen.

Das Wetter auf dem Ventoux ist nicht nur eigenwillig, es kann auch in kurzer Zeit von einem Extrem ins andere umschlagen, und es ist oben immer ein Stückchen kälter als im Tal. La Provence, die lokale Tageszeitung des Vaucluse, formuliert es so: »En terme de météo, il se passe toujours quelque chose au Ventoux. Sa normalité, c’est l’excès. On y est, le plus souvent, dans le trop. Trop chaud, trop froid ou trop venté…«. Frei übersetzt: »Was das Wetter betrifft, ist auf dem Ventoux immer etwas los. Das Abnormale ist dort die Norm und meistens ist es hier ›zu‹: zu heiß, zu kalt oder zu windig.« Etwas, was insbesondere Radfahrer und Wanderer stets bedenken sollten.

Und dann versteckt sich der Gipfel auch noch an 200 Tagen im Jahr in den Wolken, auch das natürlich keine perfekten Fahrradbedingungen entlang der leeren Hänge. Obwohl, leer? Das Syndicat Mixte d’Aménagement et d’Equipementdu Mont Ventoux (SMAEMV), das sich mit der Organisation von allen möglichen Dingen befasst, die sich auf dem Gipfel des Berges abspielen, schätzt, dass jedes Jahr rund 700.000 Menschen das Vaucluse von oben herab in Augenschein nehmen… Fast 70 Prozent davon sind Franzosen, die Gäste aus dem Ausland kommen hauptsächlich aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Nach Angaben der Gemeinde Bedoin erreichen von diesen 700.000 Besuchern rund 130.000 den Gipfel mit dem Fahrrad.

Beeindruckende Zahlen, aber man sollte der Ehrlichkeit halber noch mal betonen, dass keine zwei Quellen die gleichen Zahlen liefern. Eine Frage der Definitionen? Von Messmethoden? Das berühmte französische Laissez-faire? Die einzige zuverlässige Schlussfolgerung, die Sie aus all den Daten ziehen können, sollte lauten: Beim kahlen Berg weiß man nie wirklich, woran man ist.

Wälder

Der Ventoux ist ein erstaunliches Phänomen. Man sollte meinen, dass es so weit im Süden überall ein mediterranes Klima mit der dazugehörigen Flora und Fauna geben würde. Im Tal stimmt das auch, aber wenn man den Berg genauer betrachtet, sieht man bemerkenswerte Dinge. Klimatisch gibt es große Unterschiede zwischen z.B. der Nord- und der Südseite – siehe Klimazonen in: Der Berg,S. 22.

Aber es gibt noch mehr Auffälligkeiten. Nur der Gipfel des Ventoux über 800 Metern besteht aus reinem Kalkstein; in den unteren Lagen wechselt der Kalkstein mit anderen Gesteins- und Bodenarten. Vor allem die Südflanke weist zahlreiche Störungen der ursprünglichen Erdschichten auf. Dies hat Konsequenzen für die Wasserversorgung und damit für die Vegetation.

Die Nordhänge sind im Allgemeinen feucht und dem kalten Mistral voll ausgesetzt. Hier leben nicht sehr viele Menschen; auf dieser Seite des Berges wachsen hauptsächlich Nadel- und Laubbäume.

Die Südhänge liegen direkt in der Sonne. Sie sind trockener und werden von den Menschen viel stärker kultiviert. Denken Sie nur an die Obstplantagen rund um Bedoin und die Weinberge, die man auf dem Weg nach Saint-Estève passiert. Das bedeutet natürlich nicht, dass man auf der Südflanke keinem Baum begegnen würde. Im Gegenteil: Wer von Bedoin zum Chalet Reynard will, kann ihr nicht entgehen, der »kleinen grünen Hölle mit schwarzem Asphaltstreifen«, wie Bart Aardema sie in seinem Berggids voor fietsers nennt, dem »Bergführer für Radfahrer«.

Kahlschlag. Die Aufforstung auf dem Berg ist noch relativ jung. In der Frühgeschichte beanspruchte der Mensch den Wald nur in sehr geringem Maße, aber als sich mehr Menschen an festen Orten niederließen und Äcker anlegten und begannen, Vieh zu halten, wurde die Nutzung des Waldes intensiver. Irgendwann war es so weit, dass Hirten mit großen Herden umherzogen, die alles auffraßen, was ihnen vor die Hufe kam. Doch hatte man offenbar begriffen, dass sich die Dinge in die falsche Richtung entwickelten, denn bereits 1549 forderte der Rektor des Comtat Venaissin, dass Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Dieser Appell wurde später regelmäßig wiederholt, doch ohne Ergebnis.

Im Laufe der Zeit wurde immer mehr Holz zum Heizen und für wirtschaftliche Aktivitäten wie den Schiffsbau, Kalkbrennereien und Eisengießereien benötigt. Die Wälder in den unteren und mittleren Lagen des Berges fielen buchstäblich der Axt zum Opfer. Infolgedessen war es um die Waldbestände bereits im 17. Jahrhundert schlecht bestellt. Denn obschon es natürlich Phasen gab, in denen sich der Wald erholen konnte, fanden diese auch immer wieder ein Ende. So forderte zum Beispiel die Französische Revolution ebenfalls ihren Tribut. Schließlich befanden sich viele Wälder im Besitz des Adels und als die Macht an die revolutionäre Bourgeoisie überging, wurden nicht nur die Adligen, sondern auch ihre Bäume einen Kopf kürzer gemacht…

Als im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution mit ihren Dampfmaschinen den Holzbedarf nochmals enorm forcierte, war auch der Wald in den höheren Lagen des Ventoux zum Tode verurteilt: Alles wurde rücksichtslos abgeholzt. Auch wütende Waldbrände infolge von Blitzeinschlägen – ein berüchtigtes Phänomen in Südfrankreich – trugen ihren Teil dazu bei. Kurzum, Bäume wurden am Ventoux zu einer relativ seltenen Erscheinung.

Die Folgen waren katastrophal: Das Wasser, das nach Regengüssen den Berg hinabfloss, riss den Boden mit sich, junge Pflanzen hatten keine Chance und die Erosion nahm verheerende Ausmaße an. Um 1840 wuchsen auf 550 bis 1.150 Metern Höhe nur Thymian und Lavendel; lediglich hier und da stand noch eine knochige Eiche, Buche oder Kiefer – siehe Jean des Baumes in: Der literarische Berg,S. 304.

In dem Maße, in dem der Anblick des Berges im Laufe der Zeit immer kahler wurde, wurden auch die Katastrophen für Mensch und Tier immer zahlreicher und heftiger. Allein im 19. Jahrhundert schwemmte das Wasser achtmal alles von den Hängen zu Tal: Straßen, Brücken, Dörfer, Äcker, Vieh – nichts entging der zerstörerischen Kraft der Natur.

Nationales Forstgesetz (1827). Am Ende setzte sich die Vernunft durch und die Regierung intervenierte. Das Nationale Forstgesetz von 1827 legte eine Reihe von Regeln fest, die darauf abzielten, den Wald für diejenigen, die dort lebten und arbeiteten, zu erhalten. Für Bedoin bedeutete dies, dass die Nutzung von 4.473 Hektar Wald reglementiert wurde. Auch in völlig kahlen Gebieten und auf offenen Flächen im Wald konnte man nun nicht mehr einfach tun und lassen, was man wollte.

Am Mont Ventoux war es Joseph Charles Eymard, der sich im Jahr 1858 unmittelbar nach seiner Wahl zum Bürgermeister von Bedoin als erster Amtsinhaber für die Wiederherstellung des Waldes in »seinem« Teil des Berges einsetzte. Auf der Nordseite folgte Malaucène ein Jahr später seinem Beispiel.

Die Leitung der Aufforstungsarbeiten wurde Charles Labussière als »Conservateur des Eaux et Forêts à Aix en Provence« (Oberförster der französischen Forstbehörde) übertragen. Er und seine Leute hatten jedoch keine Ahnung, wie und wo sie am besten welche Bäume pflanzen sollten, um die fast 4.500 Hektar degenerierter Flächen, über die Bedoin zu dieser Zeit verfügte, zu »revitalisieren«. Die steilen Hänge waren fast kahl gewaschen und es fehlte an vernünftigen Wegen. So wurden routes forestières angelegt (sandige, mit losen Steinchen verstärkte Wege), um den Berg zugänglich zu machen, und man experimentierte viel mit allerlei Arten von Nadel- und Laubbäumen und mit verschiedenen Anpflanzungsweisen. Aus Schaden wurde man klug, und Labussière und seinen Leuten gelang es allmählich, ihre Arbeitsmethoden stetig zu verbessern.

In den ersten zwanzig Jahren der Arbeiten wurde bis auf eine Höhe von ungefähr 1.000 Metern die Technik des Aussähens und der anschließenden Verpflanzung auf alle Arten von Kiefern wie etwa Lärche, See-, Wald- und Schwarzkiefer angewandt. Auch Eicheln wurden auf umgegrabenen Böden ausgestreut. Als nach etwa 15 Jahren in den gepflanzten Eichenwäldern, die in Zukunft eigentlich als Brennholz dienen sollten, wertvolle Trüffel gefunden wurden, trug dies wesentlich zur Popularität der Wiederaufforstungsmaßnahmen bei.

Im Zuge der Experimente fassten Labussière und der Inspektor der staatlichen Forstverwaltung François Tichadou den Plan, die Zeder auf dem Ventoux einzuführen. Es handelte sich um eine Baumart, die zwar im Vaucluse bis dahin nicht vorkam, aber in der französischen Kolonie Algerien von großer Bedeutung war.

Mit Hilfe französischer Soldaten sammelten algerische Forstwirte im Jahr 1861 im Atlasgebirge Zedernfrüchte, die dann in Fässern nach Frankreich verschifft wurden.

Im April 1862 wurden die ersten sechzehn Säcke Saatgut auf ehemaligen Lavendelfeldern im Kanton Mauvallat ausgesät, 1863 dann weitere fünfundfünfzig bis sechzig Säcke. Ganze Dorfgemeinschaften fanden Arbeit auf den provisorischen Plantagen. Die Männer und Frauen bereiteten den Boden auf, säten oder pflanzten, während die Kinder auf den Feldern spielten, um die Vögel zu verscheuchen. Die erste Generation von Setzlingen wurde 1863 gepflanzt. An einem prächtigen, heute anderthalb Jahrhunderte alten Exemplar auf der linken Straßenseite, etwa anderthalb Kilometer nach der Kurve bei Saint-Estève, wird durch eine Tafel daran erinnert.

Dank ihrer natürlichen Widerstandsfähigkeit hat sich die Zeder perfekt an ihren neuen Lebensraum angepasst. Wegen ihrer enormen Vitalität, der Qualität ihres Holzes und ihrer Robustheit gegen Feuer und Ungeziefer wird sie regelmäßig in Wiederaufforstungsprogrammen im Mittelmeerraum berücksichtigt.

Mit Hilfe des Mistrals hat sich die Zeder am Ventoux spektakulär ausgebreitet; seit vier Generationen bildet sie das berühmte Massif des Cèdres, den mit mehr als 800 Hektar größten Zedernwald Europas.

Langsam, aber sicher hat der einst fast völlig kahle Berg wieder eine anständige Vegetation erhalten. Bedoin verfügt heute über einen der größten Gemeindewälder Frankreichs – mit 6.300 Hektar entfällt auf ihn fast ein Drittel der gesamten Waldfläche auf dem Ventoux und er bedeckt rund 70 Prozent der Gemeindefläche. Der Ventoux ist inzwischen zum waldreichsten Gebiet der Vaucluse mit dem größten Artenreichtum geworden: Mehr als 1.200 verschiedene Pflanzen wachsen dort, darunter sechzig seltene Arten.

Die im 19. Jahrhundert gepflanzten Bäume sind heute ausgewachsen. Sie werden bereits abgeholzt, um den Wald zu verjüngen und den wirtschaftlichen Ertrag zu sichern, der teilweise in Instandhaltungs- und Pflegemaßnahmen reinvestiert wird.

Auch neue Entwicklungen wie der Tourismus erfordern eine veränderte Herangehensweise an die Waldbewirtschaftung: Entlang des Waldrandes wurden Picknickplätze eingerichtet, Mülltonnen und Informationstafeln aufgestellt, Feuerschneisen angelegt und Zisternen gebaut, Wassertanks, die im Falle eines Waldbrandes gut gefüllt sein sollten.

Restauration des Terrains en Montagne. Man hat ohne Zweifel aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und behandelt heute alles, was zum Berg gehört, überaus behutsam. Der Wald wird von der Restauration des Terrains en Montagne (RTM) betreut, einer Abteilung des Office National des Forêts (ONF), der nationalen französischen Forstbehörde. Das ONF agiert nach den Maßgaben eines allgemeinen Bewirtschaftungsplans, in dem die neuesten Erkenntnisse über Natur und Umwelt berücksichtigt werden.

Unter den Wäldern auf dem Ventoux erhält der von Bedoin die größte wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Das Fachwissen von Biologen, Ökologen und anderen Wissenschaftlern verbessert zum Beispiel die Chancen im Kampf gegen Schädlinge, gibt Aufschluss darüber, wo man am besten welche Pflanzen und Bäume pflanzen sollte, steigert die Holzproduktion und dergleichen. In Zusammenarbeit mit dem ONF entsteht auf diese Weise ein ökologisch und ökonomisch verantwortungsvoller Umgang mit dem Wald. Dieser Ansatz führte im Dezember 1990 zur Einrichtung der Réserve de Biosphère du Mont Ventoux. Dabei handelt es sich um eine Naturschutzzone, in der versucht wird, die Interessen von Mensch und Umwelt so weit wie möglich in Einklang zu bringen. Da allein der Wald von Bedoin etwa die Hälfte des Biosphärenreservats ausmacht, hat dies für die Gemeinde natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Bewirtschaftung des Gebietes. Der Schutzstatus bedeutet unter anderem, dass alle menschlichen Aktivitäten wie Forstwirtschaft, Jagd, Trüffelsuche, aber auch Tourismus etc. genehmigungspflichtig sind, ebenso wie alle Arten von wissenschaftlichen Aktivitäten. 1994 wurde das Projekt offiziell von der UNESCO anerkannt.

Non au Parc!

Wenn Sie von Bedoin aus hoch zum Gipfel fahren, können Sie an mehreren Stellen auf dem Asphalt und zum Beispiel auch an den Scheunen in der Kurve kurz vor den Ferienhäusern am Chalet Reynard die eindringliche Forderung »Non au Parc!« lesen. Was hat es damit auf sich?

Überall im Land schafft der französische Staat Regionalparks. Diese oft großen Flächen zeichnen sich durch eine einzigartige Landschaftsstruktur oder eine empfindliche Natur aus. Der Parc Naturel Régional du Luberon, ein Stück weit südlich des Ventoux, ist ein solcher Park: 185.000 Hektar, 171.000 Einwohner.

Die Idee hinter der Einrichtung regionaler Naturparks ist, dass die betreffende Landschaft geschützt und nachhaltig entwickelt werden soll. Das bedeutet, dass beispielsweise wirtschaftliche und touristische Aktivitäten, die in irgendeiner Weise schädlich für die Natur sein könnten, eingeschränkt werden müssen.

Die Bewohner Bedoins, insbesondere diejenigen, die ihren Lebensunterhalt am Ventoux verdienen, sind über die Pläne zur Einrichtung eines Parks gespalten, und auch in den anderen Dörfern der Region gibt es viele Bedenken.

Aber der Park wird kommen! Noch im Jahr 2020 wird der neunte regionale Naturpark Südfrankreichs eingerichtet: ein Gebiet rund um den Mont Ventoux, das etwa von Carpentras im Westen bis an die Grenze des Départements Alpes-de-Haute-Provence im Osten und von Vaison-la-Romaine im Norden bis zu den Monts de Vaucluse im Süden reicht. Der Park wird 91.600 Hektar umfassen, von denen 58 Prozentauf Naturgebiete entfallen und 33 Prozent auf landwirtschaftliche Nutzflächen, und er wird gut 90.000 Einwohner haben.

Gebäude

Wenn es wahr ist, dass zu Beginn unserer Zeitrechnung oben auf der Kuppe des Ventoux der Gott Vintur verehrt wurde, muss es dort so etwas wie ein Heiligtum, einen Tempel oder dergleichen gegeben haben, wo der Gottesdienst zu seinen Ehren stattfand. Dabei dürfte es sich dann wohl um das erste Gebäude auf dem Berg gehandelt haben. Archäologen haben jedoch nicht mehr als ein paar Überreste von Gegenständen finden können, die möglicherweise für den Gottesdienst verwendet wurden.

Chapelle de la Sainte-Croix. Wahrscheinlich war die Chapelle de la Sainte-Croix (die Kapelle des Heiligen Kreuzes) das nächste echte Gebäude auf dem Ventoux. Die Kapelle wurde Ende des 15. Jahrhunderts im Auftrag des Bischofs von Carpentras, Pierre de Valetariis, errichtet. Ganz oben auf dem Gipfel gelegen, wurde die Chapelle de la Sainte-Croix bald zu einem Wallfahrtsort, denn der Bischof brachte dort im Jahr 1500 eine wertvolle Reliquie unter: Ein Einsiedler passte auf Fragmente des Kreuzes auf, an dem Jesus gestorben sein soll.

Während der Religionskriege – vom 13. bis zum 17. Jahrhundert – und der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Gebäude mehrmals zerstört und wiederaufgebaut. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es eine komplette Ruine, und der geplante Bau der militärischen und zivilen Einrichtungen auf dem Gipfel war ebenfalls ein Grund, warum die Kapelle endgültig weichen musste. Am 19. Juli 1936 wurde auf einem kleinen, nach Südwesten ausgerichteten Grat unterhalb des Restaurants Vendran eine neue, moderne Kapelle eingeweiht. Vom Vendran aus ist sie über einen Pfad erreichbar. Regelmäßig finden hier Gottesdienste statt.

Vendran. François Vendran, der erste Betreiber des heutigen Gasthauses, beherbergte die allerersten Touristen, die auf dem Ventoux übernachten wollten, anfänglich noch in drei Zimmern des Observatoriums. Unterstützt von Bürgermeister Maxime Favier und auch von den Wetterbehörden, die sich durch das Verhalten der Gäste in ihrer Arbeit gestört fühlten, errichtete er bald eine richtige Herberge: Am 20. September 1903 wurde am Südhang des Gipfels das Hôtel de l’observatoire du Mont Ventoux, auch bekannt als Hôtel Vendran, eröffnet. Es hatte damals acht Zimmer und die Küche erwarb sich einen ausgezeichneten Ruf.

Auch in heutiger Zeit ist das »Vendran«, wie Besucher aus unseren Landen die Brasserie in den Promenadendecks kurz und bündig nennen, noch ein ausgezeichneter Zwischenstopp mit einer herrlichen Aussicht auf die Plaine de Vaucluse. Über den Tischen auf der Südterrasse hängt mittlerweile eine schöne Gedenktafel mit dem schnurrbärtigen Antlitz von Paul de Vivie, besser bekannt als Vélocio. Wie ein Heiligenschein umgibt seinen Kopf der Schriftzug: »Les cyclotourists à Vélocio«5.

Zweiter von links: Paul de Vivie. Neben ihm Thérèse Roumanille, die erste Frau, die 1929 (einige Quellen meinen sogar bereits im September 1927) im Alter von gerade mal 16 Jahren von Malaucène aus mit dem Fahrrad querfeldein den Mont Ventoux hinauffuhr. Begleitet wurde sie von ihrem Onkel Hippolyte Roumanille und dem damals 76-jährigen (!) Paul de Vivie.

Die NBG De Kale Berg, eine Vereinigung niederländisch-belgischer Radsport- und Ventoux-Enthusiasten, hat eine der Routen, die Teil des »Forestier« und des »Grandonneur« ist, nach ihr benannt. Man sagt, dass bereits im Juni 1927 jemand per Fahrrad den Gipfel erreicht haben soll. Sein bzw. ihr Name ist nicht bekannt.

Observatorium. Der auffälligste Blickfang ist natürlich der weiße Turm mit der hoch aufragenden »Feuerwerksrakete« oder »Mondrakete«, wie die Franzosen seine rot-weiße Spitze nennen. Obwohl die meisten Radfahrer (und auch viele andere) das bemerkenswerte Gebäude umgangssprachlich Observatorium nennen, ist es eigentlich gar keines. Das ist es auch nie gewesen. Die Büros der Beobachtungsstation und die Unterkünfte für deren Mitarbeiter und ihre Familien befanden sich vielmehr in dem Gebäude, in dem heute unter anderem der »Laden« untergebracht ist. Die eigentlichen Beobachtungen erfolgten auf der Plattform, die sich etwas höher auf dem Berg befindet, hinter dem Hauptgebäude. Man kann dort leider nicht mehr hoch, denn genau wie die Treppe, die zu ihr hinführt, bedarf sie dringend ein paar Instandsetzungsarbeiten, um es vorsichtig auszudrücken. Auf dieser Plattform waren die verschiedenen Messinstrumente aufgestellt, ungeschützt Wind und Wetter ausgesetzt. Um immerhin die Besatzung der Wetterstation nicht mehr als unbedingt notwendig den teilweise schlechten Wetterbedingungen auszusetzen, wurde eine überdachte Verbindung zwischen der Plattform und dem »Bürogebäude« errichtet. Dieser oberirdische Korridor existiert noch.

Der damalige Landwirtschaftsminister (!) François de Mahy und der Bürgermeister von Bedoin, Maxime Favier, legten am 16. Mai 1882 den Grundstein für das Observatorium. Sie wären keine echten Franzosen, wenn sie dieses Ereignis nicht mit Grandeur begangen hätten. Laut der Pressemitteilung, die die Association Infoclimat anlässlich der Inbetriebnahme der neuen Messstation im Jahr 2016 herausgab – siehe Der braune Turm in: Der Berg,S. 33 –, begannen die Bauarbeiten offiziell mit den Worten: »Herr Minister, wir bitten Sie, den Grundstein für einen Tempel zu legen, der der Wissenschaft geweiht sein wird, jener Göttin, die den Menschen erhebt und adelt.« De Mahy, einer pompösen Sprache ebenfalls nicht abgeneigt, antwortete: »Ich bin mit Freude hergekommen, um zu sehen, wie man Wind und Sturm seinen Willen auferlegt.« Schön gesagt, nicht wahr?

Bei dieser Gelegenheit belohnten die beiden Herren zudem auch Gabriel Provane6 für seine Initiative und seine Hartnäckigkeit, den Weg von Bedoin hinauf zum Gipfel angelegt zu haben, indem sie ihm den Verdienstorden verliehen – siehe Die Straßen in: Der Berg,S. 36.

Im Dezember 1884 wurde der erste Teil des Observatoriums in Betrieb genommen, aber erst um 1890 herum war dieses Geisteskind des Ingenieurs Henri Bouvier vollständig umgesetzt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden die meteorologischen Beobachtungen eingestellt. Von 1916 bis 1920 gab es zwar wieder einen Meteorologen dort oben, aber aus organisatorischer Sicht war alles ein einziges Chaos, weshalb die Verwaltung des Vaucluse das Gebäude im Jahr 1926 mit allem Drum und Dran für den symbolischen Betrag von einem Franc an den französischen Staat verpachtete. Kurz darauf tauchten die ersten Antennen auf dem Dach auf.

Später wurde die Verarbeitung der Wetterdaten einfacher. Der technische Fortschritt ermöglichte es der Wetterstation, die aufgrund der klimatischen Bedingungen für einen großen Teil des Jahres nicht erreichbar war, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen: Es wurde eine permanente telegrafische Verbindung mit Carpentras und Bedoin eingerichtet. Bis 1968 war das Observatorium auf dem Ventoux die einzige Wetterstation im Vaucluse; dann zog Météo-France nach Carpentras.

Ein interessantes Detail am Rande: Am 27. Juni 1889 wurde im Observatorium der erste und einzige Mensch geboren, der bisher auf dem Gipfel des Ventoux das Licht der Welt erblickte. Der Sohn des ersten Wetterbeobachters François-Auguste Blanc erhielt den Vornamen Philippe-Ventoux…

Der weiße Turm. 1966 begann der Bau des weißen Betonturms. Das Gebäude an sich ist 42 Meter hoch, einschließlich der »Mondrakete« ragt es 62 Meter in den Himmel. Natürlich musste eine solche Konstruktion fest im Boden verankert werden. Nun denn, das Fundament ist stolze 16 Meter tief.

1970 wurde das Gebäude komplett fertiggestellt. Es erfolgen dort auch meteorologische Beobachtungen, aber es ist hauptsächlich eine Station für die zivile und militärische Telekommunikation. Seit 1968 gewährleistet die französische Luftwaffe zusammen mit Télédiffusion de France (TDF), dem ehemals staatlichen französischen Betreiber von Rundfunk- und Telefonienetzwerken, von diesem Turm aus verschiedene militärische und zivile Radio- und Fernsehverbindungen.

Der braune Turm. Der holzverkleidete Turm hat eine ähnliche Funktion. Es handelt sich um eine sogenannte Station hertzienne des télécommunications, also einen Unterstützungs- bzw. Hilfssender. Dieser steht seit 1954 auf der Nordseite des Gipfels. Der Sender wurde gebaut, um der französischen Bevölkerung das Phänomen des Fernsehens durch eine Übertragung der Krönung von Elisabeth II. zur Königin von England näherzubringen. Derzeit wird er von Orange genutzt, dem ehemaligen France Télécom.

Die französische Luftwaffe, l’Armée de l’Air, ist schon seit geraumer Zeit auf dem Berg ansässig. Nach dem Ersten Weltkrieg benötigte der neue Zweig der Streitkräfte zuverlässige Wetterdaten; ab 1920 bezog man diese vom meteorologischen Dienst auf dem Ventoux, aber wie bereits erwähnt war dieser nicht sehr professionell. Ab 1930 wurde der Luftraum von der Bergspitze aus visuell überwacht. 1945 installierte das Militär eine Funkbake, die 1961 durch einen Funkstützsender ersetzt wurde. Im Laufe der 1990er Jahre wurde dann so ziemlich alles, was auf dem Ventoux passiert, digitalisiert.

Am 7. Juli 2016 wurde in Kooperation des Syndicat Mixte d’Aménagement et d’Éuipement du Mont Ventoux (SMAEMV) mit dem Département Vaucluse, der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, Météo-France und Orange eine neue Wetterstation in Betrieb genommen. Die Anlage befindet sich in und auf dem braunen Turm, der bereits vom Telekommunikationsanbieter Orange genutzt wurde.

Die meteorologischen Daten werden alle zwei Minuten aktualisiert und nicht nur Wissenschaftlern, sondern allen Interessierten via Internet zur Verfügung gestellt. So können Sie beispielsweise mit Ihrem Laptop oder Smartphone (auf www.meteo-ventoux.fr