Der kalte Hauch des Flieders - Judith Hawkes - E-Book

Der kalte Hauch des Flieders E-Book

Judith Hawkes

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Beschreibung

Sally und David Curtiss, von Beruf Parapsychologen, mieten sich für den Sommer in einem alten Haus in Neuengland ein. Dort soll es angeblich spuken. In der Tat geschehen bald unheimliche Dinge – unerklärliche Geräusche, abrupte Temperaturstürze, plötzliche Berührungen durch unsichtbare Hände. Recherchen bringen die dunkle Geschichte des Hauses ans Licht, und bald werden Sally und David selbst unmerklich immer stärker in den Bann der Vergangenheit gezogen …

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Judith Hawkes

Der kalte Hauch des Flieders

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sally und David Curtiss, von Beruf Parapsychologen, mieten sich für den Sommer in einem alten Haus in Neuengland ein. Dort soll es angeblich spuken. In der Tat geschehen bald unheimliche Dinge – unerklärliche Geräusche, abrupte Temperaturstürze, plötzliche Berührungen durch unsichtbare Hände. Recherchen bringen die dunkle Geschichte des Hauses ans Licht, und bald werden Sally und David selbst unmerklich immer stärker in den Bann der Vergangenheit gezogen …

Über Judith Hawkes

Judith Hawkes, geboren in Memphis, lebt in New York.

Inhaltsübersicht

Für KellyWas, wenn du ...Juni 1983 Zuerst ...Erster Teil – David1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelZweiter Teil – Colin13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelDritter Teil – Sally23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. KapitelDankBildteil

Für Kelly

Was, wenn du schliefest? Und was, wenn im Schlaf du träumtest? Und was, wenn im Traum du in den Himmel kämst und dort eine fremdartige, schöne Blume pflücktest? Und was, wenn erwachend du die Blume in der Hand hieltest?

Ach, sag, was dann?

Samuel Taylor Coleridge

Juni 1983 Zuerst sind die neuen Stimmen nicht von den alten zu trennen. Sie erheben sich allmählich, ein Teil des Raunens, von dem das Haus Tag und Nacht erfüllt wird, ein Gemurmel aus all den Stimmen, die je innerhalb dieser Wände ertönten und sie mit Worten sättigten. Nach und nach werden sie vernehmlicher, diese eifrigen neuen Stimmen samt dem Spektakel, das sie begleitet – dem Schlurfen und dem Hallen von Schritten, die die Echos verscheuchen und den Staub aufwirbeln. Nach und nach werden die neuen Stimmen lauter, klarer, bis sie schließlich alle anderen übertönen. Oder fast alle. Oben läßt ein kaputtes Rouleau unermüdlich einen Lichtfleck an der Wand anwachsen und zerplatzen. Immer und immer wieder, ein unablässiges Wispern des alten Hauses mit sich selbst. Unten schlägt eine Tür: Ein Luftzug saust, durch Treppenschacht und Flure gesogen, vom Grund des Hauses nach oben, das Rouleau knallt gegen das offene Fenster wie ein Segel im Wind. Die Stille, die folgt, ist eher ein Lauschen.

 

Unten in der schummrigen Eingangsdiele gibt es eine Deckenlampe, aber keine Birne. Der alte Mann geht schlurfend zum Salon, dort zieht er die Gardinen auf, und Sonnenlicht ergießt sich in den Raum, verwandelt Grautöne in Gold. Hinter seinem Rücken sehen die beiden sich an. Sie wollten eigentlich das ganze Haus besichtigen und sich dann beraten. Aber als der junge Mann das Licht über die verschossenen Bezüge der Sessel fluten sieht, kann er nicht länger an sich halten.

«Haben Sie verstanden, was in unserem Brief stand, Mr. Gilfoy? Wir möchten das Haus für experimentelle Zwecke nutzen.»

Der Alte in seinem schwarzen Mantel schaut den jungen Mann an, sieht nur ein gespanntes Gesicht, Hände, die einen Zettel falten, auseinanderklappen und wieder falten – offenbar die Wegbeschreibung, die er während ihres Telefonats notiert hat. Die junge Frau steht ein kleines Stück hinter ihrem Mann; wie er trägt sie Jeans. Beide sehen nicht gerade wie Wissenschaftler aus. Sie schaut sich in dem Raum um, aber der Alte sieht, daß sie dem Gespräch nicht folgt. Ihretwegen übertreibt er jetzt seinen näselnden Neuengland-Akzent.

«Pa-ra-psy-cho-lo-gie», sagt er. «Ist ja ein mächtig schicker Name für Spökenkieken.»

Die beiden lächeln. Das Lächeln des jungen Mannes ist mechanisch, überspielt seine Verärgerung, ihres hingegen ist echt, er kann sich fast die Hände dran wärmen.

«Na ja, ohne wissenschaftliche Beobachtung läßt sich nicht definitiv sagen» – es ist der Ehemann, der jetzt redet –, «in welche Kategorie die Phänomene fallen, oder ob sie auch nur …»

Aber der Alte unterbricht ihn. «Ich kenne die Geschichten. Die Leute sagen, hier spukt’s. Na ja, vielleicht stimmt’s ja. So ein altes Haus muß ja Erinnerungen bergen. Mein Großvater hat es erbaut. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, habe nie einen Geist gesehen, keinen einzigen. Aber jetzt heißt es, hier spukt’s, und wer will schon ein Spukhaus mieten – wer außer Geisterjägern? Wenn Sie’s wollen, können Sie’s gern haben.»

Die junge Frau sieht ihn an: Er hat das Gefühl, daß sie ihn bemitleidet, aber warum? Das ernste, junge Gesicht rührt ihn. Irgendwann, vor langer Zeit – hat ihn da mal jemand so angeschaut? Er kann sich nicht erinnern und kramt in seinen Manteltaschen nach dem Mietvertrag.

Erster Teil David

Ehemalige Mieter des Gilfoyschen Hauses

1

Der Junge war wie hypnotisiert von dem Kassettenrecorder. Er starrte gebannt auf das Mikrophon, als wäre es eine zusammengerollte Schlange, die jeden Moment zustoßen konnte. David mußte ihm einen Schubs geben.

«Los, Bobby. Erzähl mir einfach, was passiert ist. Vergiß das Gerät.»

Die Augen des Jungen huschten zu Davids Gesicht, dann wieder zu dem Mikrophon zurück. Er kaute auf seiner Unterlippe, endlich kam etwas aus ihm heraus. «Ja, Sir. Ich bin, äh, ich war an dem Morgen grade auf dem Weg durch den Garten – weil’s die Abkürzung ist, wollt ich da lang gehen, und zack! kommt dieser Backstein runtergeflogen und kracht mir fast auf den Kopf. So viel hat gefehlt.»

David taxierte die Entfernung zwischen den kleinen Händen. «Ein knapper halber Meter. Okay. Und was ist dann passiert?»

«Na ja, ich guck hoch. Und da ist er, guckt oben aus dem Speicherfenster!»

«Wer ist da?»

«Der Landstreicher! Er ist da drin gestorben, in dem Haus. Ist irgendwann mal in der Nacht eingebrochen und auf den Speicher raufgestiegen und hat sich aufgehängt. Und jetzt ist sein Geist da drin und will kleine Kinder umbringen und sie auch zu Geistern machen.» Ein verstohlenes Lächeln spielte um seine Lippen, unwillkürliches Ergötzen an seinem eigenen Gruseln. Er schluckte. «Damit er nicht allein ist.»

«Bist du sicher, daß du dort jemanden gesehen hast, Bobby?»

«Ja, Sir!»

«Wie sah er aus?»

«Er war – sein Gesicht, das war so grünlich. Wie wenn ihm schlecht wär oder was. Und er hat sich an der Fensterbank festgehalten, und seine Hände waren – die waren Haken!»

«Und dann?»

«Bin ich weggerannt», sagte der Kleine.

 

Bericht Nr. 3. Robert Campbell, elf Jahre. David saß am Samstag vormittag allein im Wohnzimmer und kritzelte in sein Notizbuch. Das Haus erhob sich still und geräumig um ihn herum, und David dachte, daß ihm Bobbys Geschichte am besten gefiel. Allmählich hatte er schon eine ganz schöne Sammlung. Die alte Mrs. Hopkins von nebenan, die sich erinnerte, Licht in dem Haus gesehen zu haben, obwohl es gerade leerstand. Jonathan Masters, zehn Jahre, hatte durchs Küchenfenster gelugt und etwas gesehen, was er nur als einen «Mann aus Zeitungspapier» beschreiben konnte. Aber Bobby – Bobby war ein Künstler.

Will kleine Kinder umbringen und sie auch zu Geistern machen. Damit er nicht allein ist.

David hielt das Band an, lehnte sich zurück und reckte sich, bis irgend etwas – seine Wirbelsäule oder der wacklige Stuhl unter ihm – protestierend knackste. Das ganze Haus knarrte und krachte, wie alle alten Häuser, sicher nichts Übernatürliches. Nur das Holz, das redete, betagte Dielen, die das Wetter spürten. Dem alten Kasten steckten die Jahre in den Knochen, die er leergestanden hatte – Winter ohne Feuer im Herd oder auch nur einen menschlichen Atem, der sich an den Scheiben niedergeschlagen hätte, schwüle Sommer, in denen die Türen aufgequollen waren und sich im Rahmen verkeilt hatten. Aber es war ein geräumiges, gemütliches altes Haus; irgendwie fühlte er sich hier willkommen. Sein eigenes Spukhaus. Na ja, nicht ganz seins, von Mr. Gilfoy gemietet, für drei kostbare Monate wissenschaftlicher Beobachtung, Untersuchung und Dokumentation. Der kommende Sommer erschien ihm genauso golden und endlos und voller Möglichkeiten wie die Sommer in seiner Kindheit.

Sein eigenes Spukhaus. Sein erster Alleingang. Und er war bereit. Mehr als bereit. Sie hatten schon bei über einem halben Dutzend Fällen assistiert, er und Sally, waren Handlanger für erfahrenere Forscher gewesen und hatten dabei ihr Handwerk gelernt. Und nach fast drei Jahren wissenschaftlicher Arbeit war das hier genau das, was er brauchte – Feldforschung, draußen vor Ort, weit weg vom Labor mit seinen Bergen von Computerausdrucken. Was ihm fehlte, war ein richtiger Geist.

Wie eine Verheißung regten sich die weißen Gardinen am Fenster. Es war ein gutes Gefühl, hier zu sein. Nicht, daß er im Labor nicht eine Menge gelernt hätte. Er wußte, er konnte sich glücklich schätzen, an einem privaten Forschungsinstitut arbeiten zu dürfen, unter einem Mann wie Jack Pennybacker, einem der Großen auf diesem Fachgebiet. Und er wußte auch, wie wichtig die Laborarbeit war – die systematischen Versuche mit Symbolkarten und elektronischen Münzwerfern, deren Ziel es war, die Existenz paranormaler Phänomene statistisch nachzuweisen. Statistik war der letzte Schrei, das Aushängeschild der Respektabilität. Aber das wissenschaftliche Establishment neigte immer noch dazu, naserümpfend auf die Parapsychologen herabzuschauen und den ganzen Fachbereich als einen Verein von Verrückten und Leichtgläubigen abzutun.

Die Wissenschaft von Dingen, die es nicht geben kann, aber trotzdem gibt. David war an die Blicke gewöhnt, die er erntete, wenn er zugab, daß sein Job darin bestand, einer ungreifbaren Kraft namens «Psi» nachzuspüren – dem, was Phänomenen wie außersinnliche Wahrnehmung, Psychokinese, Reinkarnation, Spukerscheinungen etc. gemein haben. Psi war der Sündenbock, wenn die Naturgesetze auf dem Kopf standen, wenn Leute die Zukunft vorhersahen, eine Glocke durch einen Blick zum Klingen brachten oder mit den Toten kommunizierten. Doch meistens war die Beschäftigung mit Psi nicht so spannend, wie es sich zunächst anhörte. Meistens waren die Laborversuche so streng, so trocken, so hyperwissenschaftlich – während einen alle Außenstehenden für einen Spinner hielten, erstickte man geradezu in Sterilität und Routine. Wenn sich so etwas wie ein Spukhaus bot, schnappte man natürlich danach wie ein Verhungernder nach einem Steak.

Die Haustür fiel krachend zu. Sally war wieder da. Sie kam mit einem Arm voller Einkaufstüten herein und stellte sie neben dem Recorder auf den Tisch. Eine Tüte fiel um, der halbe Inhalt kullerte heraus: Isolierband, eine Spule Lötdraht, Batterien.

«Was ist das alles für Zeug?»

«Lebensmittel. Ich hab was von dem Brot geholt, das du so gern ißt. Muß gleich Mittag sein.»

Sie setzte sich auf einen der brüchigen Stühle ihm gegenüber, das dunkle Haar in einem losen Zopf über der einen Schulter, die Augen leuchtend in dem sonnengebräunten Gesicht. Sie schwitzte ein bißchen, und ihm ging auf, daß es draußen heiß war. Hier im Wohnzimmer war es immer noch kühl, in dem Laub vor dem Erkerfenster flimmerte Sonnenlicht. Am Nachmittag würde es den Raum erfüllen, sich wie eine Goldstaubschicht über den Fußboden legen und die ohnehin schon von unzähligen solcher Nachmittage verschossenen Möbelbezüge noch weiter ausbleichen. Sally sah auf David, dann auf den Recorder. «Und? Irgendwas erreicht heute vormittag?»

Er blätterte in seinem Notizbuch. «Ich hab mir gerade die Sachen von gestern noch mal angehört. Vorhin hatte ich noch ein Gespräch mit Mrs. Hopkins, aber ich konnte es nicht aufnehmen. Sie sagt, es gab wirklich mal einen Landstreicher, der umkam, als er im Garten von einem Baum fiel oder so was. Anfang der fünfziger Jahre. Sie ist eine richtige Schwatzdrossel.»

«Sie findet dich süß», sagte Sally.

«Oh, das beruht ganz auf Gegenseitigkeit.»

Sie zog eine der Tüten zu sich und fischte darin herum. «Jack hat uns was mit der Post geschickt. Willst du’s aufmachen?»

«Tu dir keinen Zwang an.»

Sie fand den Umschlag und riß ihn auf. Darin steckte ein Zeitungsausschnitt. Sally sah drauf und reichte ihn David.

«MIETER WEGEN VERBREITUNG VON SPUKGERÜCHTEN VON HAUSEIGENTÜMER VERKLAGT. Wie taktvoll von Jack. Will er uns damit sagen, wir sollen diskret sein?»

«Das kann man ihm nicht verübeln», sagte sie. «Wenn wir verklagt werden, muß das Labor Schadenersatz zahlen. Er verbringt jetzt schon zuviel Zeit damit, Geld aufzutreiben.»

David warf den Zeitungsausschnitt weg. Er war ein bißchen verärgert. Jack wollte ihnen zu verstehen geben, sie seien bloß Kinder, die sich einen Jux machten, und sollten es gefälligst nicht übertreiben. Und das war nicht fair. Nur weil Spukerscheinungen außerhalb des Labors stattfanden, nur weil man sie nicht bis in jedes Detail überwachen konnte, hieß das noch lange nicht, daß sie als Nachweis von Psi untauglich waren. Spukerscheinungen waren eben unberechenbar. Es waren spontane Phänomene, die irgendwie von ihrer physikalischen Umgebung hervorgebracht wurden: Eine Spukerscheinung war Psi in seiner natürlichen Umgebung, und die Manifestationen konnten unter entsprechenden Bedingungen spektakulär sein. Manchmal flogen Möbel durch die Luft. Schemenhafte Gestalten konnten sich manifestieren, man hörte körperlose Stimmen oder Schritte. Wenn so was passierte, gab es David das erregende Gefühl, sich Auge in Auge mit einem Mysterium zu befinden, an die Geheimnisse der Natur zu rühren wie ein moderner Hexer, der statt Zauberformeln und Bannflüchen moderne Elektronik anwendete. Mit ein wenig Glück konnte man vielleicht das Wirken des Psi auf Band oder Film bannen, etwas beobachten, das sich der Erklärung durch Naturgesetze entzog. Und dafür lohnte sich jeder Aufwand.

«Jack ist neidisch», sagte er. «Weil wir uns mit diesem Spukfall vergnügen dürfen und er nicht.»

Sally lugte in eine der Einkaufstüten. «Na ja, bislang gibt es noch keinen Beweis, daß es überhaupt ein Spukfall ist.»

Es war aber einer. Und zwar seiner. Wieder überkam ihn dieses Gefühl, willkommen zu sein. Spielerisch drückte er auf die Play-Taste des Recorders.

«… sein Gesicht, das war so grünlich.» Die Stimme des Kleinen, leise und ein wenig zittrig. «Wie wenn’s ihm …»

Sally verzog das Gesicht. Er stellte das Gerät ab. «Hab ich vorhin irgendwas von Mittagessen gehört?»

«Wir müssen heute nachmittag einen Erkundungsausflug unternehmen», sagte sie. «Jetzt sind wir schon fast drei Tage hier und kaum je aus dem Haus gekommen. Ich möchte mir die Gegend anschauen.»

«Willst du nicht das grüne Gesicht sehen?»

«Nein», sagte Sally.

«Montag, Dienstag, Mittwoch – du hast recht. Heute ist schon unsere dritte Nacht. Greenie ist scheu.»

Sie sah ihn an, und er hob kapitulierend die Hände. «Okay. Mittagessen. Dann die Gegend.»

 

Fast viertausend Menschen leben in dieser Kleinstadt in Neuengland. Die Täler West-Massachusetts’ beherbergen viele solcher Ortschaften, die sich ziemlich ähnlich sind – die Main Street mit ihrem Dutzend Ladenfronten und den Parkverbotsschildern, am einen Ende ein Platz mit etwas Grün, ein paar Parkbänke rings um einen Steinblock mit den Namen der gefallenen Söhne der Stadt. Rathaus, Postamt, Bücherei, die Congregational Church gleich am Platz, dahinter breite, schattige Straßen, die Häuser ein bißchen zurückgezogen wie schüchterne Kinder, weiß unter den Lindenbäumen. Im Sommer sitzen die Leute nach dem Abendessen auf ihren Veranden, bis es dunkel wird. Die Sommerdämmerung duftet nach Geißblatt; Bäume werfen Schatten, die im dunkelnden Gras versinken; die Nachbarskatze schlüpft durch ein Loch in der Hecke – «Hey, Ginger!» – und verschwindet unter der Treppe vor der Haustür. Das Zwielicht trägt die Geräusche weit; ein Stück die Straße hinunter, am Fuß des Hügels, schreien Kinder: «Du bist! Ich hab dich!» Grillen zirpen auf dem Rasen, und langsam bricht die Nacht herein.

 

Der Erkundungsausflug endete auf dem episkopalischen Friedhof droben auf dem Hügel, wo hohe Platanen mit gescheckter Rinde einen von der Sonne durchbrochenen Baldachin bildeten.

«Ich habe das Gefühl, ich schwimme in Limonensaft», sagte David. «Ist dieses Licht nicht bizarr?»

Sally ging langsam die Gräberreihen entlang, den Kopf gesenkt, las die moosüberwachsenen Namen. Er beobachtete, wie sie sich zwischen den Grabsteinen bewegte, zögernd stehenblieb, in dem klargrünen Licht weiterging. Er hob den Kopf. Über ihm formten die hohen Äste ein spinnwebfeines Gerüst für das leuchtende Laubgezitter. Geblendet glitt sein Blick wieder in das laubgedämpfte Licht des Friedhofs zurück, tauchte wie ein Gegenstand, der in tiefem Wasser versinkt, durch die Luft herab auf den schattengrünen Grund, wo die Grabsteine in Reihen standen. Und da war Sally, die zwischen den Steinen herumwanderte, sich vorbeugte, um eine Inschrift zu lesen, dann weiterging.

Sie saß an einem Tisch in einer Testkabine. Es war seine erste Woche im Labor; er und zwei andere Wissenschaftler beobachteten sie durch eine Spiegelscheibe. Sie schrieb eine Reihe von Zahlen auf ein Blatt Papier. Es sah nicht weiter beeindruckend aus, wenn man nicht – wie er – wußte, daß sie die Zahlen aus den Gedanken einer anderen Person in einer ähnlichen Kabine zwei Stockwerke höher las. Nach jeder Zahl hielt sie inne, die Stirn leicht gerunzelt, den Mund ein wenig geöffnet, dann bewegte sich der Stift weiter übers Papier.

Er hatte sich in diesen wartenden Gesichtsausdruck verliebt. Für ihn war es ein Schock gewesen, als er später erfuhr, daß sie ihre telepathischen Fähigkeiten haßte, sich ihretwegen wie eine Mißgeburt vorkam. Ihr Universum müßte doch unendlich viel reicher sein als seins, ihr sechster Sinn wie eine Farbe alles auf subtile Weise tönen, hatte er gedacht. Hier, auf dem grünen Friedhof, fühlte er wieder all das, was er damals hinter der Scheibe empfunden hatte: Erregung, Ehrfurcht, den blanken Neid auf ihre Gabe, der sich seit ihrer Heirat in eine Art Besitzerstolz verwandelt hatte, und vor allem dieses sehnliche Verlangen, sie zu besitzen, als könnte er dadurch ebenfalls Zugang zu der Dimension erlangen, in der sie zu Hause war.

Sally war vor einem der Grabsteine stehengeblieben, und er schlängelte sich vorsichtig zwischen den aus dem hohen Gras ragenden Grabsteinen hindurch. Der verwitterte Granitblock vor ihr war schmucklos, nur ein Name und ein Datum auf der Vorderseite.

«‹Samuel Collins Gilfoy›», las er laut vor. «‹1808–1861.›»

Sie sah sich den Nachbarstein an. «‹Hier liegt Dorothea, innig geliebte Gattin des Samuel Collins Gilfoy›. Möchte wissen, ob alle Gilfoys hier begraben sind.»

David schaute die Reihe entlang. «Tja, da ist noch einer. ‹In Memoriam Leutnant Samuel Collins Gilfoy, Junior, geboren 1843, am 2. Juli 1863 für sein Land bei Gettysburg gefallen›. In Memoriam heißt ja wohl, daß er in Wirklichkeit auf dem Schlachtfeld begraben wurde.» Er ging zum nächsten Stein. «‹Mary Dove Gilfoy, innig geliebte Tochter usw. 1842–1859›. Was ihr wohl widerfahren ist? Sie war erst siebzehn, als sie starb.»

«Hilf mir mal, David. Ich möchte einen Stammbaum zeichnen.» Sally hatte einen Stift herausgenommen und machte sich Notizen auf einem kleinen Zettel, wobei sie die Gräberreihe in entgegengesetzter Richtung abschritt. Sie bückte sich, las die Inschrift auf dem Sockel unter einem Marmorengel mit mahnend erhobenem Arm. «‹Reverend Joshua Gabriel Gilfoy, Pfarrer dieser Gemeinde von 1866 bis 1907. Wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit›.»

David ging zu ihr und sah sich ebenfalls den Stein an. «‹Geboren 1840, gestorben 1926›. Nicht ganz ewig – aber schon ganz gut, Joshua.» Er wollte Sally aufheitern, doch sie war schon weitergegangen. Das Licht flirrte, als eine Brise durch die Blätter über ihren Köpfen fuhr, Sonnen- und Schattentupfen huschten über die marmornen Locken des Engels. Während David in dessen starre Augen sah, hörte er Sally sagen: «‹Hier liegt Sophie, innig geliebte Gattin des Joshua. Geboren 1855, gestorben 1885, betrauert von ihrem Ehemann und acht Kindern›. Acht Kinder mit dreißig!» Ein Moment der Stille, dann: «Hier liegt Joshuas zweite Frau.»

Er ging hin. Sally stand vor einem anderen Grab neben dem Stein von Sophia und trug Namen und Daten in ihren provisorischen Stammbaum ein. Er las die Inschrift laut vor.

«‹Virginia Blake Gilfoy, Gattin und Gefährtin des Joshua G. Gilfoy, 1880 bis 1931. Mein Angesicht soll vorangehen, ich will dich zur Ruhe leiten›.» David drehte sich zu dem Engel um. «Muß ja ein ganz schöner Bock gewesen sein, der gute Reverend Joshua. Er war vierzig, als dieses Mädchen hier geboren wurde.»

Sally war schon beim nächsten Stein, den er sich ebenfalls anschaute. Lily, 1883–1940, geliebte Tochter des Joshua und der Sophia Gilfoy. «Hm», sagte er, «das scheint die dritte Generation zu sein. Müßten wir nicht auch bald mal die Eltern von unserem Mr. Gilfoy finden?»

«Vermutlich war der Reverend Gilfoy sein Großvater», sagte Sally und ging weiter. «Dann müßte einer von diesen beiden, Gabriel oder Prentiss, sein Vater sein. Aber hier ist nirgends von einer Ehefrau die Rede.»

«Na ja, da fehlen wohl ein paar Leutchen. Ich meine, auf Sophias Stein steht doch, daß sie acht Kinder hatte, aber hier sind, soweit ich sehe, nur drei verzeichnet. Ergo …» Er trat beim Sprechen ein Stück zurück, und sein erstes Gefühl war, daß ihm jemand die Füße unter dem Körper weggetreten hatte, das zweite, daß sich die Erde plötzlich aufgebäumt und ihm hinterrücks einen Hieb gegen die Schultern verpaßt hatte. Dann landete der unsichtbare Angreifer noch einen Tritt gegen seinen Kopf. Einen Augenblick lang sah David Sterne. Sie verblaßten, und er lag rücklings im Gras und schaute in die Blätter hinauf. Sally beugte sich mit besorgter Miene über ihn.

«Alles okay?»

Er widerstand dem Drang, Mitleid zu heischen. «Glaube schon. Was war das?»

«Du bist wohl gestolpert.»

Er setzte sich auf; die Sterne kamen wieder. Diesmal nahm er ihre Farben deutlich wahr. Vor allem Violett und Orange. Allmählich erschien der Friedhof wieder. Sally hielt seinen Arm.

«Langsam. Du hast dir den Kopf gestoßen.»

«Ach, ja? Wird wohl so sein.» Seine linke Schläfe schmerzte. Er berührte sie vorsichtig.

«Blutet nicht», sagte sie. «Wird aber eine ganz schöne Beule geben. Ist dir noch schwindlig?»

«Ist schon okay.» Ihre Fürsorglichkeit gab ihm das Gefühl, etwa zehn Jahre alt zu sein. Ich bin gestolpert. Na, toll. Er stand auf. Keine Sterne mehr. «Hat mir keiner gesagt, daß hier Tretminen liegen.»

Sally klopfte ihm Gras und Blätter vom Rücken. «Vielleicht solltest du dich erst noch ein bißchen hinsetzen.»

«Hey, ist schon okay.» Er fühlte sich ohnehin schon wie ein Trottel, auch ohne ihr Geglucke. Er schüttelte ihre Hände ab und inspizierte den Stein, an dem er sich den Kopf angeschlagen hatte. Da stand er: verwittert und rissig, über der Inschrift ein kunstlos eingeritzter Totenkopf. Der Stein selbst hing schief, als hätte sich der Schläfer darunter in unruhigen Träumen gewälzt. Er bückte sich und las:

Was du bist, war ich einst.

Was ich bin, wirst du werden.

Sein Lachen war unwillkürlich, mehr Ausdruck von Schock als von Belustigung. Der Stein trug weder Namen noch Datum noch sonst irgendeinen Hinweis auf den Inhaber des Grabes, nur die spöttisch kühle Botschaft und darüber den Totenschädel, der grinste wie eine Kürbismaske. Die eingemeißelten Augenhöhlen fixierten ihn. In seinem Kopf pochte ein Schmerz, und er wandte sich Sally zu, um irgendeine witzige Bemerkung zu machen, die diese leisen, unwissenschaftlichen Schauer vertrieb, aber sie war schon am Ende der Gräberreihe.

«Wenn es noch mehr Gilfoys gab, müßten sie hier liegen», sagte sie, als er zu ihr stieß. «Aber hier liegt nur ein gewisser … du liebe Güte, Ripley Waters. Soll das ein Scherz sein?»

«Auf einem episkopalischen Friedhof?» David sah in die Blätter empor.

2

Spukerscheinungen sind für die Parapsychologie deshalb so einzigartig, weil sie sich an einem bestimmten Ort abspielen. Andere paranormale Phänomene scheinen mehr oder minder transportabel, aber eine Spukerscheinung ist immer an ein Haus, einen bestimmten Raum innerhalb eines Hauses oder sogar eine bestimmte Ecke eines Raums gebunden. Die Theorie lautet, daß sich ein bestimmtes Bild oder Ereignis der physischen Umgebung eingeprägt hat und dort auch dann noch nachhallt, wenn es längst vergangen ist. Doch was das Verständnis der Ursachen oder der Wirkungsmechanismen dieses Vorgangs anbelangt, steckt die Parapsychologie immer noch ungefähr am selben Punkt fest wie 1888, als Edmund Gurney, einer ihrer Begründer, erklärte, eine Spukerscheinung sei «ein eingeprägtes Bild, von dem wir nicht ahnen, wie oder worin es sich eingeprägt hat».

 

Jeder Architekturstudent würde rasch erkennen, daß es in der Kleinstadt Skipton bessere Beispiele für den viktorianischen Baustil gibt als das alte Gilfoysche Haus in der Lilac Street. Dr. Bristows Haus an der Ecke Main- und Tanglewood Street ist mit seinen Türmchen und Erkern, Rosettenfenstern und Lunetten, Außengalerien und schnitzereiverzierten Balustraden, den lavendelfarbenen Schindeln, die wie eine schillernde Drachenhaut das Dach bedecken, sehr viel typischer für jene Epoche. Das Gilfoysche Haus wurde zu früh erbaut, noch ehe das Jahrhundert jene verschnörkelte Aufwendigkeit hervortrieb, für die es zu Recht berühmt ist; und Samuel Collins Gilfoy, der Erbauer, war der Überlieferung zufolge ein schlichter Mensch, der nichts weiter wollte als ebenjenes steilgieblige Haus mit der breiten vorderen Veranda, das bis heute an dieser Stelle steht. Gewiß hätte er keine jener architektonischen Marotten gutgeheißen, die die herausragendsten Beispiele der viktorianischen Schule auszeichnen – all die Spiralen, Konsolen, Keilsteine, Spindeln, falschen Fassaden, Blumen-, Herz und Girlandendekors, Wasserspeier, Rosetten und sonstigen Verzierungen, die Häuser optisch in Hochzeitstorten verwandeln. Das Gilfoysche Haus weist nichts dergleichen auf, allenfalls findet sich vielleicht eine Spielerei irgendwo halb versteckt in dem verwunschenen Garten, aber die stammt aus späteren Zeiten und scheint sich nicht näher an das Haus herangetraut zu haben.

Obwohl das Gilfoysche Haus also keinen architektonischen Modellcharakter hat, besitzt es doch, wenn man es für sich allein unter den schattenspendenden Linden jenseits des Lattentors stehen sieht, eine zutiefst viktorianische Atmosphäre, wie sie Türmchen oder bunte Dachschindeln nicht erzeugen können. Hinter dem Tor, das so dicht von Geißblattranken überwuchert ist, daß es nicht mehr frei schwingt, sondern sich vielmehr gegen das Geöffnetwerden zu sträuben scheint, fällt der Vorgarten ganz leicht zum Haus hin ab, und wer sich dem Haus nähert, wird feststellen, daß er unwillkürlich seinen Schritt beschleunigt. Die breiten Platten des Gartenwegs sind gesprungen und von zahllosen Füßen abgewetzt; in den Ritzen sprießt Gras, und die einst exakten Kanten sind weich bemoost. Hinter dem Tor senkt sich Stille herab. Blätter rascheln und verharren reglos. Am Fuß der Eingangstreppe wird die Stille noch tiefer, sie wird umhüllt vom Duft der rosa Stockrosen, die sich an den Pfosten emporwinden und die breiten Bohlen der Veranda in ihren Blätterschatten tauchen. Aber es ist mehr als nur Stille, wenn die Blätter rascheln und wieder verstummen: es ist die Stille angehaltenen Atems, kissenerstickten Schluchzens, die Stille nach einem Fausthieb auf den Tisch. Wenn die Blätter rascheln, scheint diese Stille im Schlaf zu flüstern – von zu vielen geschlossenen Türen, Schlüsseln, die sich leicht in gutgeölten Schlössern drehen, wortlos gewechselten Blicken. Dort in dem Licht, das zwischen Blätterschichten hindurchflimmert, scheint die Stille auszugreifen und alles andere in sich aufzunehmen: die schäbig-weißen Holzwände des Hauses, die staub- und lichtschlierigen Fenster, den Schatten der Bäume, den abfallenden Plattenweg und das rankenüberwucherte Tor.

Vielleicht ist es ja nicht die Stille selbst, sondern das Flüstern dahinter, das die Nachbarskinder anlockt, aber gleichzeitig auch abschreckt. Amy Campbell erinnert sich, wie sie mit ihrem großen Bruder Bobby und zweien seiner Freunde zum Haus schlich, um durch eins der Fenster zu linsen. Sie erinnert sich, wie der Schatten des Hauses eisig über den strahlendheißen Samstagmorgen fiel und wie sie sich umdrehte und zum Tor zurückrannte und es den Jungen überließ, einander anzustacheln, sich noch näher heranzutrauen. Wenn es zu dämmern beginnt, wagen sich auch die kühnsten von ihnen nicht mehr durch das Tor, ohne zu rennen, mit eingezogenem Kopf und gesenktem Blick, und schon das leiseste Knacken eines Eichhörnchens im Geäst läßt das Herz hämmern. Wenn es zu dämmern beginnt, heben sich die Fliederblüten hinter dem Tor für eine Weile hell von dem dunkelnden Himmel ab, und in dieser kurzen Zeitspanne, wenn der Flieder leuchtet, scheint das Haus aus Träumen zu erwachen – zu warten, auf ein Geräusch, das Quietschen einer unwilligen Türangel oder das plötzliche dumpfe Hallen von Schritten auf der Veranda. Die Blätter regen sich nicht, kein Hauch in den Rosen, im Gras; noch zu früh für Glühwürmchen. Die Zeit steht still, Sommerabenddämmerung, lauernde Stille, bis die Fliederblüten schließlich von der unmerklich erstarkenden Dämmerung verschluckt werden und nur süßer Duft zurückbleibt.

Darum ist das Haus ein Spukhaus. Es ist nicht ruhig. Die Leute im Ort registrieren mit einem gewissen Stolz, daß das Haus durch die rasche Abfolge von Mietern über die Jahre diesen Ruf erworben hat. Doch jetzt schien ebendieser Ruf, mittlerweile über den Ort hinausgedrungen, die neuen Mieter – ein kinderloses junges Ehepaar – nach Skipton gelockt zu haben. Roberta Hopkins hatte Mary Buck erzählt, der junge David Curtiss habe ihr gesagt, ein Spukhaus sei genau das, was sie suchten. Sie hätten den Tip von jemandem bekommen, der vor Jahren in Skipton gelebt hatte. Genau das, was sie suchten. Sie hätten sich sofort mit Sam Gilfoy in Verbindung gesetzt.

Aber dann, sagte Leonie Saunders aus dem Lebensmittelgeschäft, die mit dem jungen Mann mit dem Bluterguß an der Schläfe geredet hatte, als er den Kaffee holte, den seine Frau vergessen hatte – dann, so erklärte Leonie ihrem Mann Mitch, sei die Sache noch verrückter geworden. Die beiden seien nämlich Wissenschaftler und führten irgendwelche komischen Untersuchungen in dem alten Gilfoyschen Haus durch; und der junge Mann habe gefragt, ob sie, Leonie, jemals irgendwelche außergewöhnlichen Dinge in Zusammenhang mit dem Haus erlebt habe. Aber damit habe sie nicht dienen können.

«Nein, Sir», hatte sie auf ihre knappe, trockene Neuengland-Art gesagt. Sie reichte ihm das Wechselgeld und stand, mit der Hand auf dem Instant-Kaffee-Glas da, ohne es einzupacken, weil sie so ernsthaft über das Spukhaus nachdachte. David fand sie schön, trotz des verschossenen Blümchenkleids und der Tatsache, daß sie seine Mutter hätte sein können. «Nein, kann nicht sagen, daß mir so was passiert wär», antwortete sie.

 

David hatte dieses Gespräch angefangen, weil er von seinem Projekt begeistert und über die Kleinstadtatmosphäre entzückt war. Mrs. Saunders hatte ihn prompt als «den Neuen drüben im Gilfoy-Haus» erkannt. Aber es war auch sein Bestreben, gezielt Informationen zu sammeln. Chris Claiborne, der Freund, von dem der Tip mit dem Haus stammte, hatte nichts Genaues sagen können: Seine Familie war aus Skipton weggezogen, als er zwölf gewesen war, und seine Erinnerungen waren zwar kindlich-farbig, aber wenig detailliert. Also hatte sich David – Jacks Zeitungsausschnitt über die Gerichtsprozesse als stete Mahnung im Hinterkopf – darangemacht, die Leute aus der Nachbarschaft nach ihren Erfahrungen mit dem Haus zu befragen und die Interviews nach Möglichkeit aufzunehmen.

Die Leute redeten gern. Er bekam die Landstreicher-Story in unzähligen Versionen zu hören. Der Landstreicher war ein durchreisender Fremder gewesen; ein Mann aus dem Ort, mit einem schweren Schicksal und einem Hang zur Flasche; ein Irrer, der aus einer Anstalt entflohen war; ein ausgebrochener Mörder; ein lang verschollener Verwandter von Sam Gilfoy, heruntergekommen und auf der Suche nach einem Unterschlupf. Er hatte auf der Veranda des leerstehenden Hauses geschlafen und war in der Nacht erfroren; er war eingebrochen und hatte sich auf dem Speicher an einem Dachbalken erhängt; er war von einem Baum gefallen, auf den er sich vor einem bissigen Nachbarshund geflüchtet hatte. Harte Fakten gab es nicht, aber darauf war David auch noch gar nicht aus. Er sammelte vorerst nur die Mythen, die sich um jedes Spukhaus rankten, ein Gespinst aus Übertreibung und Aberglauben, in das vielleicht auch der eine oder andere Wahrheitsstrang eingewoben war.

Sallys Aufgabe war es, die Aussagen der Leute zu sammeln, die in dem Haus gewohnt hatten. Irgendwie hatte sie den alten Gilfoy dazu gekriegt, ihr die Namensliste der früheren Mieter zu schicken. Sie hatte sich auf der Post die Nachsendeadressen der Leute besorgt und allen die üblichen standardisierten Fragebögen geschickt. Das Hintergrundmaterial war ebenfalls ihre Domäne – eine Sammlung von Daten über das Haus und die ursprünglichen Eigentümer. Sie war noch einmal in der Kirche oben auf dem Hügel gewesen und hatte ihren Gilfoy-Stammbaum mit Hilfe der Kirchenbücher ergänzt. Dabei hatte sie entdeckt, daß ihr Vermieter der jüngste Sohn des Reverend Joshua Gilfoy war. Als nächstes stand die Stadtbücherei auf ihrer Liste.

Im Moment war das alles, was sie machen konnten. Seit ihrer Ankunft (die jetzt schon fast eine Woche zurücklag) hatte sich im Haus absolut nichts getan. Sie hatten es über ein dutzendmal von oben bis unten durchsucht – den staubigen Dachboden ebenso wie den Keller und all die hallenden Räume dazwischen, zu verschiedensten Tages- und Nachtzeiten – aber da waren keine anderen Stimmen oder Schritte als ihre eigenen, und als Geistermusik konnte allenfalls das gedämpfte Bimmeln des Eiswagens drunten am Fuß des Hügels herhalten.

David zeichnete Grundrisse der verschiedenen Geschosse. Das gehörte zum Standardprozedere bei der Erforschung von Spukerscheinungen. Es machte ihm Spaß, die Räume zu vermessen, die Ergebnisse maßstabsgetreu umzurechnen und das dreidimensionale Haus in eine Serie ordentlicher Linien und Zahlen auf dem Papier zu verwandeln. Die Eingangstür führte in eine hohe Diele, von der die verschiedenen Erdgeschoßräume und die steile Treppe zum Obergeschoß abgingen. Im Erdgeschoß gegenüber dem Salon mit seinem Erkerfenster und den sonnenlichtfleckigen Sesseln lag eine Bibliothek, vollgepfropft mit Büchern, von denen die meisten ledergebunden waren; in der Küche auf der Rückseite des Hauses residierte ein mächtiger gußeiserner Herd, den Sally auf den Namen Jezebel getauft hatte, und vom Eßzimmer sah man hinaus in den verwilderten Garten. Das Haus war ihnen möbliert vermietet worden, und das Mobiliar war alt: pralle Sessel, Fransenlampen auf wackligen Tischchen, im Eßzimmer eine Anrichte wie ein barockes Grabmal. An der Wand darüber ein Ölporträt. «Reverend Joshua», tippte Sally, und bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß die dargestellte Person tatsächlich einen Pfarrerskragen trug. Das Bild bedurfte dringend der Säuberung.

Zwischen Bibliothek und Eßzimmer lag ein kleiner Raum, der ganz offensichtlich als Büro der Hausherrin gedient hatte. Hier waren die Haushaltsgeschäfte abgewickelt worden: Buchführung, Inventarisierung, die Entlassung unbotmäßiger Bediensteter. Der schmale Raum enthielt nur einen Sekretär mit Fächern und Dutzenden von Schubladen sowie einen Stuhl mit steifer Spindellehne. An der Wand hing der gerahmte Scherenschnitt eines Frauenkopfs. Vom einzigen Fenster sah man über ein paar Meter Rasen auf eine hohe Hecke, hinter der die Bäume des unbebauten Nachbargrundstücks auf der Ostseite emporragten. Außen an einer Scheibe war der schmierige Abdruck einer Kinderhand erkennbar. Sie nannten den Raum das kleine Zimmer, mit der Betonung auf klein.

Im Obergeschoß zog sich das Treppengeländer nach links und begrenzte eine kleine Galerie, von der man in die Diele hinabsah. Um die übrigen drei Seiten des Treppenschachts zog sich ein geschlossener Gang, von dem die einzelnen Räume abgingen. Es handelte sich um sechs Schlafzimmer, ein Bad, eine Wäschekammer und einen als Wohnzimmer eingerichteten Raum. David gab den Schlafzimmern Nummern und teilweise auch Namen. Der große Schlafraum, der nach hinten hinaus über der Küche lag, firmierte jetzt als Elternschlafzimmer.

Sally, die das Elternschlafzimmer als erste betrat, blieb stehen und schnupperte prüfend; er bemerkte es. «Was ist los?» fragte er.

«Irgendwas brennt.» Und schon war sie an ihm vorbeigesaust und auf dem Weg hinunter in die Küche. Er schnupperte ebenfalls, konnte aber nichts riechen. Der Raum schien allenfalls ein bißchen kalt. Eine mächtige Linde schirmte das Westfenster gegen die Nachmittagssonne ab. Ein gewaltiges Bett und ein Schreibtisch waren das ganze Mobiliar. Beide Stücke gefielen ihm nicht; das schwere, dunkle Holz hatte etwas Rohes. Den Kaminsims zierte ein Gravurmuster aus ineinander verschlungenen Kreisen, dem er geistesabwesend mit dem Finger folgte. Sally kam kopfschüttelnd wieder.

«Ich finde nichts. Der Geruch ist nur hier drinnen.»

David sog die Luft ein. «Ich rieche nichts. Wie riecht es – nach was Elektrischem?»

«Nein. Eher wie Holzfeuer.»

Er sah sie achselzuckend an.

«Vergiß es», sagte sie.

Ein kleines, zur Straße hin gelegenes Schlafzimmer, dessen Fenster von den Kletterrosen am Verandadach umrahmt war, wurde wegen seines Tapetenmusters spontan «Distelzimmer» getauft. Der einzige weitere Raum, der eines Namens für würdig befunden wurde, war das Zimmer neben dem Distelzimmer, an der Südostecke des Hauses. Wegen eines großen, über dem Bett hängenden Bildes, das einen Indianerkrieger auf einem gescheckten Pferd zeigte, war es fortan Tontos Zimmer. Die übrigen Zimmer bekamen lediglich Nummern, vom Elternschlafzimmer aus im Uhrzeigersinn durchgezählt. Im Dachgeschoß befand sich der Speicher, staubig und vollgepfropft mit Kartons, Schrankkoffern, kaputten oder von Vormietern ausrangierten Möbeln. Der Keller war trocken und kühl und beherbergte nichts Gefährlicheres als einen betagten Boiler.

Während der ersten Tage waren sie viel zu beschäftigt gewesen, um sich an der Ruhe zu stören. Die Leute im Ort, die (sofern sie überhaupt einen Gedanken auf sie verschwendeten) davon ausgingen, daß sie Fußböden schrubbten und Betten lüfteten, Fenster putzten und Messing polierten, hätten sich sehr gewundert, wenn sie die beiden, mit Schraubenziehern, Drahtschneidern und Isolierband bewaffnet, auf allen vieren hätten herumrutschen sehen, um die altehrwürdigen Räume mit Geräusch-, Licht-, Wärme- und Kältedetektoren auszustaffieren. Vibrationsmesser wurden an den tragenden Balken angebracht, um jede Erschütterung zu registrieren. Die engen Flure beherbergten Tonbandgeräte, Kameras und Thermographen samt dem dazugehörigen Kabelgewirr, und an dem Galeriegeländer über der Diele hing ein Lautsprecher. Neben dem Lautsprecher befand sich eine Anzeigetapfel mit Lämpchen und Nummern, die denen der Räume auf Davids Grundrissen entsprachen.

Die teure Ausrüstung gehörte dem Labor. Ihr Sinn und Zweck war das Aufspüren physikalischer Veränderungen, die möglicherweise auf das Wirken von Psi hindeuteten. Sie hatten diese Geräte bereits in anderen vermeintlichen Spukhäusern installiert. Allerdings hatte der ganze elektronische Schnickschnack die Bewohner jener Häuser eingeschüchtert und verärgert; ein Mann fand die Untersuchung sogar noch schlimmer als die Gespenster. Sogar in diesem Haus, wo sie auf niemanden außer sich selbst Rücksicht nehmen mußten, stellten sie die Geräte so unauffällig wie möglich auf und zogen die Kabel unter Teppichen oder hinter Sesseln entlang. David konnte nicht umhin festzustellen, wie gut sie zusammenarbeiteten. Die Spannungen ihrer einjährigen Ehe hatten sich auf wundersame Weise gelegt, als habe es ihnen nur gefehlt, ihre Kräfte auf etwas Drittes zu konzentrieren. Seit er in diesem Haus war, hatte er fast jede Nacht erotische Träume gehabt, zu vage, um sich genau daran zu erinnern, aber eindringlich genug, um ihn den ganzen Tag zu verfolgen und auf seine Wachgedanken abzufärben. In der dritten Nacht hatten sie zum erstenmal seit Monaten versucht, miteinander zu schlafen. Natürlich war es eine Farce gewesen, er hätte es wissen müssen. Die Träume hielten sich hartnäckig, aber er tat sein Bestes, um sie in ihre Schranken zu weisen.

Endlich waren sie mit ihren Vorbereitungen fertig. Die Geräte waren überprüft, justiert, abermals überprüft. Jedesmal, wenn er die Treppe hinaufging, betrachtete David wohlgefällig die Anzeigetafel. Er war bereit, mehr als bereit – aber nichts geschah. Das Sonnenlicht ergoß sich am späten Nachmittag über die Dielen, und in der Bibliothek tickte die verschnörkelte Standuhr, die Sally abgestaubt und aufgezogen hatte, stur vor sich hin: eine ereignislose Sekunde nach der anderen. Das war die Gelegenheit, mit der Ausarbeitung des Vortrags zu beginnen, den er im Rahmen der Herbst-Seminarreihe des Instituts vor interessierten Laien halten sollte. Das Thema lautete «Theorie und Praxis der Erforschung von Spukerscheinungen», und der Vortrag sollte anregend, geistreich und nicht zu technisch sein. Er hatte sich geschmeichelt gefühlt, als Jack ihn darum gebeten hatte; schließlich war es eine Ehre – aber im Moment fühlte er sich gerade völlig technikfixiert und kein bißchen geistreich.

Nicht, daß die Ruhe im Haus ungewöhnlich gewesen wäre. Spukerscheinungen waren äußerst eigenwillig. Wenn man auf der Lauer lag, passierte gar nichts; aber sobald man dem Ganzen einmal den Rücken kehrte, brach womöglich die Hölle los. Und wenn sie losbrach, dann liefen im typischen Fall ein Dutzend Leute durcheinander und behinderten sich gegenseitig: die Hauseigentümer, Verwandte und neugierige Nachbarn, die zermürbten Forscher selbst, manchmal sogar die örtliche Polizei und der Pfarrer. Hier, an diesem idealen Ort, würde ihnen wenigstens dieses Getümmel erspart bleiben. Doch allmählich hätte David schon lieber ein bißchen mehr Getümmel und ein bißchen weniger Frieden gehabt.

3

Fragebogen für ehemalige Mieter des Gilfoyschen Hauses in Skipton

Bitte benutzen Sie die folgenden Seiten, um Ihre Erlebnisse im Gilfoy-Haus mit eigenen Worten zu schildern.

Wir, d.h. mein Mann und ich und unsere vier Kinder, zogen im Juni 1964 in das Gilfoysche Haus. Wir hatten schon eine ganze Weile nach einem Haus in einem kleineren Ort in der Gegend gesucht, und dieses schien uns ideal. Wir mieteten das Haus von Mr. Gilfoy mit der Option, es nach sechs Monaten zu kaufen. Er lehnte einen sofortigen Verkauf strikt ab, wollte aber nicht recht sagen, warum. Wir sollten es bald herausfinden!

Ich weiß noch, daß wir ziemlich spät dort ankamen. Es war schon fast dunkel. Mein Mann und ich glaubten, in einem der oberen Fenster ein Licht zu sehen, aber als wir reinkamen, war alles dunkel. Wir dachten in dem Moment nicht weiter drüber nach, weil wir ja erst mal genug damit zu tun hatten, daß alle satt wurden und ins Bett kamen. Die Kinder waren völlig überdreht (sie hatten noch nie soviel Platz gehabt), und selbst unser Hund Kris, der normalerweise nichts anderes tat als schlafen, rannte wie wild herum. So gegen elf kehrte schließlich Ruhe ein, und mein Mann und ich gingen etwa um Mitternacht ins Bett. Er schlief gleich ein, aber ich lag noch wach und dachte drüber nach, was ich am nächsten Morgen alles zu tun hatte. Da begann plötzlich jemand, das Haus mit einem Vorschlaghammer zu demolieren.

So klang es jedenfalls. Mein Mann saß senkrecht im Bett und fluchte. Wir dachten natürlich beide, es seien die Kinder. Bis mein Mann aus dem Bett gestiegen und durch den Flur zu den Jungenzimmern gegangen war, hatte der Lärm aufgehört. Die Jungen schoben die Sache auf die Mädchen und umgekehrt, und mein Mann schimpfte die ganze Bande aus. Als wir uns wieder hinlegten, waren wir alle ziemlich verstimmt – vor allem der Hund, der sich jaulend und knurrend unter einer Kommode verkroch. Ich muß betonen, daß das für Kris ein sehr ungewöhnliches Verhalten war, da er normalerweise ungefähr soviel Elan zeigte wie ein Couchtisch. Wir dachten, er wäre einfach verstört vom Umzug.

Die ersten Wochen in diesem Haus waren ein Alptraum. Der Spektakel ging zwar nicht jede Nacht los und war auch nicht immer so laut wie beim erstenmal, ab und zu war es eher so eine Art Pochen. Aber es passierte doch drei, viermal die Woche, und mein Mann war kurz vor dem Siedepunkt. Er wußte, es waren die Kinder, aber die wollten es einfach nicht zugeben – oder genauer gesagt, die beiden Jungen und die beiden Mädchen schoben die Schuld aufeinander. Schließlich sprachen wir mit unserem Hausarzt. Er meinte, jemand habe offensichtlich Eingewöhnungsprobleme, und wir sollten den Krach einfach ignorieren, dann würde er schon irgendwann aufhören.

Irgendwann in dieser Horrorzeit (tut mir leid, daß ich mir die Daten nicht genauer gemerkt habe, aber damals war mir nicht klar, daß das wichtig sein könnte) weckte mich unsere Jüngste, Susan (damals 9), mitten in der Nacht, um mir zu sagen, die Fee Glöckchen sei in ihrem Zimmer. Ich erklärte ihr natürlich, sie habe nur geträumt, und schickte sie wieder ins Bett. Sie ging und holte ihre Schwester Debbie (14), die mit ihr in mein Zimmer kam und mich erneut weckte. Debbie sagte, in Susans Zimmer sei so ein komisches Licht. Um sie zu beruhigen, stand ich auf und ging nachsehen.

Die Mädchen hatten recht: Da war wirklich ein Licht. Es hatte ungefähr den Durchmesser eines Taschenlampenstrahls und war im Zentrum sehr hell. Es erinnerte wirklich an Glöckchen, so wie sie auf der Bühne dargestellt wird. (Wir waren kurz vorher mit den Kindern in einer Theateraufführung von Peter Pan gewesen). Ich dachte, irgendwas im Zimmer reflektiert das Mondlicht oder so. Also suchten die Mädchen und ich nach einem baumelnden Kettchen oder etwas Derartigem, konnten aber nichts finden. Dann ging ich meinen Mann wecken. Er hielt mich für verrückt, kam aber mit. Inzwischen waren die Jungen ebenfalls aufgewacht, und wir saßen alle etwa eine halbe Stunde lang da und betrachteten unseren mysteriösen Besuch, bis der schließlich wieder verschwand.

Danach sah Susan das Licht noch ziemlich oft in ihrem Zimmer, manchmal sogar in mehreren Nächten der Woche, und ein paarmal meinte es jemand auch woanders zu sehen. Es ist mir peinlich, gestehen zu müssen, daß wir es weiterhin Glöckchen nannten. Aber vielleicht hat es deshalb keinem von uns je angst gemacht, schon gar nicht Susan. Sie lud sogar öfter ihre Cousine Sharon aus Boston übers Wochenende ein, in der Hoffnung, daß Glöckchen ihre Show abziehen würde.

Wir mochten Glöckchen auch deshalb, weil das Gepoche oder Gehämmer nie in den Nächten losging, in denen sie uns besuchte. Aber es kam immer noch vor. Die Kinder schworen, daß sie nichts damit zu tun hatten, aber mein Mann war fest davon überzeugt, daß mindestens eins von ihnen dahintersteckte. Er verdächtigte vor allem die Jungen, weil sie nach hinten raus schliefen (wo der Radau immer herzukommen schien). Ich habe auf Ihrem Grundriß eingetragen (ist etwas chaotisch geraten!), wer wo schlief. Wie Sie (hoffentlich) erkennen können, hatten mein Mann und ich das Schlafzimmer vorn neben dem Bad, die Mädchen die beiden anderen vorderen Schlafzimmer und die Jungen die kleineren Zimmer auf der Rückseite des Hauses. Das große Eckzimmer, über der Küche, wollten wir zu einem Spielzimmer für die Kinder machen.

Eines Nachts weckte Debbie uns, um uns zu sagen, sie höre Klopfgeräusche – nicht laut, aber ziemlich stetig – aus dem Spielzimmer, das von ihrem Zimmer aus am Ende des Gangs lag. Statt Licht anzumachen und einfach loszustürmen, wie er es sonst immer tat, nahm mein Mann eine Taschenlampe und schlich den Gang entlang zu den Jungenzimmern, in der Erwartung, sie leer zu finden. Aber beide Jungen saßen im Dunkeln in Mikes Zimmer, gleich neben dem Spielzimmer, horchten auf die Geräusche und schienen zu Tode erschrocken. Blieb also noch Susan, aber als ich nach ihr sah, schlief sie tief und fest. Mein Mann verkündete, er werde die Spielzimmertür aufmachen und nachsehen, was den Lärm verursache, aber die Kinder hatten sich in eine Mordsangst hineingesteigert und flehten ihn an, es nicht zu tun. Debbie fing sogar an zu heulen. Inzwischen hatten die Geräusche ohnehin aufgehört.

Da beschlossen wir, daß etwas passieren mußte. Während der Szene in Mikes Zimmer hatten uns die Kinder gebeichtet, daß ihnen irgendwelche Nachbarskinder erzählt hatten, in unserem Haus gehe der Geist eines Irren um, der vom Dach gesprungen sei. Mein Mann tat das mit einem Lachen ab und erklärte, wenn er den Urheber dieses Krachs erst erwische, würde der sich wünschen, er wäre vom Dach gesprungen. Vom nächsten Abend an schlief er im Spielzimmer.

Ein paar Nächte passierte gar nichts – kein Spektakel, kein Glöckchen, nichts. Mein Mann kam sich ziemlich schlau vor. Er befand schließlich, daß er den Geist in die Flucht geschlagen habe und wieder in seinem eigenen Bett schlafen könne. Zu früh gefreut! Ich weiß nicht mehr, ob es dieselbe Nacht war oder die folgende, aber das Hämmern ging wieder los, als fühle sich, wer immer es war, so richtig schön ausgeruht und gestärkt und bereit, das Haus auseinanderzunehmen. Wir wachten alle auf. Mein Mann hatte jetzt endgültig die Nase voll, und wir stellten uns alle im Flur vor dem Spielzimmer auf, um seine Heldentaten zu bewundern. Wir hatten alle Lampen im ganzen Haus angeknipst, und er hatte sich den Schürhaken von unten geholt – wenn man diesen Spektakel hörte, mußte man einfach davon ausgehen, daß jemand dort drinnen war.

Wir waren also alle versammelt. Die Kinder und ich standen im Gang zwischen dem Spielzimmer und Debbies Zimmer. Mein Mann blieb vor der Spielzimmertür stehen und rief «Hey!». Dann stieß er die Tür auf. Das Klopfen hörte augenblicklich auf, und in dem stockdunklen Zimmer war es mucksmäuschenstill. Dann – Kälte. Aus diesem Zimmer wehte ein Eiswind, wie ich in meinem ganzen Leben noch keinen gespürt hatte. Es war immerhin Ende Juli und so heiß, wie es um die Jahreszeit nun mal ist. Mein Mann ließ den Schürhaken fallen und sprang zurück. Wir übrigen spürten diesen kalten Windstoß noch dort, wo wir standen. Ich fürchte, wir haben total die Nerven verloren. Wir sind losgerannt, mein Mann kam hinter uns hergesaust, und wir haben uns alle in Debbies Zimmer gequetscht und die Tür zugeknallt. Mein Mann fluchte, Kris kauerte in einer Ecke und bellte, was das Zeug hielt, die kleineren Kinder heulten, und die größeren schrien auf den kläffenden Hund ein. Ich muß gestehen, das Verhalten des Hundes machte mir fast noch mehr angst als die Kälte. Er war doch normalerweise so ein harmloser Bettvorleger, aber in dem Moment traute ich mich nicht an ihn ran. Schließlich beruhigte er sich – so nach fünf Minuten –, und wir öffneten die Tür, und alles schien ruhig. Als wir wieder raus auf den Gang gingen, war die Kälte verflogen.

Wir wußten nicht, was wir davon halten sollten, aber es war eindeutig nichts, womit wir leben wollten. Da waren ja nicht nur die Geschichten der Nachbarskinder. Als ich Mrs. Hopkins nebenan von den Geräuschen erzählte, erklärte sie mir, in dem Haus spuke es schon seit Jahren. Es kam sogar ein anonymer Brief, der uns davor warnte, dort wohnen zu bleiben! Schließlich hielten wir es für besser, uns etwas anderes zu suchen, bevor im September die Schule wieder losging. Also sahen wir uns wieder um und fanden in Northampton ein Haus, das uns gefiel. Seien Sie versichert: Wir haben jede Menge Fragen gestellt, bevor wir eingezogen sind! Mr. Gilfoy war sehr nett, was die vorzeitige Kündigung anging, aber er sagte kein Wort von irgendwelchen Spukerscheinungen und wir auch nicht. Ich wollte es, aber mein Mann ließ mich nicht.

Ich sollte vielleicht noch zwei Dinge hinzufügen: erstens, daß wir Kris während unserer letzten Zeit im Haus in einen Zwinger steckten (um seines und um unseres Seelenfriedens willen), und zweitens, daß wir zwischen der «bewußten Nacht» und unserem Auszug die Geräusche noch ein paarmal hörten, aber in keiner Weise daran rührten. Einmal reichte!

Ich hoffe, daß dieser Bericht nicht zu chaotisch ist und daß Ihre Forschungstätigkeit von Erfolg gekrönt ist. Wenn Sie irgendwas herausfinden, würde ich es schrecklich gern wissen. Das Haus ist so wunderschön, daß es wirklich ein Jammer ist, wenn es einem auf diese Weise vergällt wird. Ach, eh ich’s vergesse – bei den Fragen 16 und 17 auf Ihrem Fragebogen sieht es vielleicht so aus, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Aber das Licht und das Gehämmer hatten tatsächlich etwas von einer Präsenz, wenn ich auch nicht von einer Persönlichkeit oder gar einem Geist reden würde. Das Licht wirkte freundlich und sanft, wenn vielleicht auch nicht direkt neckisch, und die Geräusche empfand ich als feindselig und gefährlich.

Sie müßten demnächst wenigstens von einigen meiner Kinder hören. Ich lege, neben dem Grundriß und dem Fragebogen, noch eine Erklärung meines Mannes bei. Viel Glück!

Mit freundlichen Grüßen

Karen Abbey

Der persönliche Bericht war dilettantisch auf die Formularseiten getippt. Die Erklärung des Ehemannes, mit Tinte auf ein Notizblockblatt geschrieben, lautete kurz und knapp:

«Tja», sagte Sally. «Also kennen wir jetzt wenigstens einen Bereich, in dem es spukt. Zufrieden?»

«Nein. Es ist kühl dort drinnen, aber nicht so, daß es einen Marine umhauen könnte.»

«Die Kälte geht mit den Geräuschen einher», sagte sie langsam.

«Und die Geräusche sind nicht kooperativ.»

Sally saß auf dem Teppich vor dem Kamin des Salons und musterte den Grundriß, den Mrs. Abbey zurückgeschickt hatte. David sah ihr ein Weilchen zu.

«Ich frage mich, ob wir ein professionelles Medium hinzuziehen sollten, um die Dinge in Gang zu bringen. Jack sagt, er kennt ein paar zuverlässige Medien in der Bostoner Gegend.»

Sie sah von dem Plan auf, runzelte leicht die Stirn und schüttelte den Kopf.

«Nur, um die Sache anzuleiern, Sal. Wir vergeuden soviel Zeit.»

«Sei nicht so ungeduldig.»

«Und wenn wir reingefallen sind? Vielleicht produziert das Haus ja gar keine Phänomene mehr.»

Sie lächelte leise. «Gib ihm eine Chance.»

«Zehn Tage sind ja wohl Chance genug.»

«Acht Tage.»

«Meinetwegen acht Tage. Aber bei den Abbeys hat es sich nicht so lange Zeit gelassen.»

«Vielleicht ist es träge geworden.»

David schnaubte. «Dann rütteln wir’s eben wach. Ein Medium …»

«Nein. Ich glaube wirklich, daß das ein Fehler wäre.»

«Aber warum, Sally?»

Sie legte den Plan hin, wandte sich zu dem gestreiften Sessel, in dem er saß, und richtete sich vor ihm auf, die Hände auf seinen Knien. «Ich weiß nicht. Es ist einfach nur – laß uns noch ein bißchen warten.»

«Und dann?»

«Und dann noch ein bißchen.»

Er sah sie an und dachte, daß es wohl die Intensität ihres Gesichts war, die es so schön machte: dieses ernst-versonnene Leuchten, prophetenhaft. Wenn sie lächelte, war ihr Lächeln strahlend; sie hatte nie gelernt, mechanisch höflich zu lächeln. Er legte das Kinn auf ihren Kopf. «Das wird vermutlich der friedlichste Sommer unseres Lebens.»

4

Lieber Dr. Curtiss,

als Anlage erhalten Sie die Formulare zurück, die sie mir zugeschickt haben, sowie meine persönlichen Erinnerungen an meine Zeit im Haus des Mr. Samuel Gilfoy in Skipton. Ich muß darauf bestehen, daß mein Name keinesfalls in Verbindung mit diesem Bericht publiziert werden darf. Ich danke Ihnen für Ihr diesbezügliches Verständnis.

Mein seliger Vater und ich wohnten fast ein Jahr in diesem Haus, vom 1. April 1951 bis zum 26. März 1952. In dieser Zeit erlebten wir eine ganze Reihe störender Vorfälle, zumeist nachts, insbesondere Klopfgeräusche unterschiedlicher Lautstärke sowie erratisches Verhalten von Lampen und anderen Haushaltsgegenständen.

Als gebildete Menschen vernahmen wir mit Belustigung, daß das Haus im Ort als Spukhaus galt. Uns war völlig klar, daß das vermeintliche «Pochen» und die «gespenstischen Schritte» von einer Eichhörnchenfamilie verursacht wurden, die sich auf dem Speicher eingenistet hatte, und daß es auch für die übrigen Merkwürdigkeiten ähnlich banale Erklärungen gab. Dennoch empfanden wir die andauernden Störungen als lästig und ärgerlich.

Ein solcher Vorfall war die Sache mit dem Weinglas, das eines Abends auf dem Tisch zersprang. Niemand hatte es angerührt. Der Kelch war zersplittert, während der Stiel unversehrt dastand. Jemand muß einen Stein durchs offene Fenster geworfen haben, und Sie wissen sicher, was ich meine, wenn ich sage, daß die Kinder aus der Nachbarschaft eine ausnehmend boshafte Bande waren, die uns offen feindselig begegnete. Sie wollten lieber, daß das Haus leerstand, damit sie sich weiter an ihren Gespenstergeschichten weiden konnten. Unsere Anwesenheit war ihnen jedenfalls eindeutig ein Dorn im Auge. Sie machten sich einen Jux daraus, so zu tun, als seien wir selbst Gespenster, und bei unserem Anblick schreiend davonzurennen. Ich habe dieses ungehobelte Benehmen natürlich ignoriert, aber meinen Vater, der ein scheuer und etwas empfindlicher Mensch war, hat es irritiert und gekränkt.

Miss Miranda Sterlings Brief ging noch weiter, aber David reichte es. Als Sally den Rest gelesen hatte, sagte er: «Nur die Highlights, bitte.»

«Na ja, das Dienstmädchen hat ihr den Wecker vom Nachttisch gestohlen und wollte es nicht zugeben. Im Elternschlafzimmer klappte es nicht mit der Beheizung. Die Bratpfanne (das gefällt mir) pflegte auf dem Herd herumzukreiseln. Der Kammerjäger war ein Gauner, weil er erklärte, er habe den Eichhörnchen den Garaus gemacht, obwohl das nächtliche Spektakel weiterging. Die Nachbarn hatten einen lästigen Hund, der die ganze Zeit jaulte.»

«Irgendwie scheint dieser Ort einen schlechten Einfluß auf Hunde zu haben», sagte David.

«Jetzt hält Mrs. Hopkins Katzen», sagte Sally. «Wir sollten mal überprüfen, ob sie wirklich einen Hund hatte, als die Sterlings hier gewohnt haben.» Sie warf das Haar zurück. «Oh, ich habe das Interessanteste vergessen. Weißt du noch, daß Mrs. Abbey von diesem anonymen Brief schrieb, mit dem sie vor dem Spuk gewarnt wurde? Die Sterlings haben auch einen gekriegt.»

Während sie den Brief gelesen hatte, war David immer tiefer in seinen Sessel gerutscht. Jetzt setzte er sich mit einem Ruck auf. «Verdammt, Sally! Weißt du, was das heißt? Das ist der Beweis, daß es in diesem Haus schon Psi-Aktivitäten gab, bevor dieser Landstreicher überhaupt aufgekreuzt ist. Die Sterlings waren einundfünfzig und Anfang zweiundfünfzig hier. Mrs. Hopkins sagt, der Landstreicher wurde in den frühen fünfziger Jahren hier gefunden. Okay, wenn er fünfzig umgekommen ist, könnte er die Sterlings heimgesucht haben. Aber die letzten Mieter vor den Sterlings waren in den dreißiger und vierziger Jahren hier. Was immer bei ihnen gespukt hat, der Landstreicher war es jedenfalls nicht.»

«Du glaubst, daß der Brief von einem dieser Vormieter stammte», sagte sie. «Könnte aber auch einfach jemand aus dem Ort gewesen sein, der sich wichtig machen wollte. Mit diesen ersten Mietern haben wir ja keinen Kontakt aufgenommen. Wir haben keinerlei Hinweis darauf, daß es vor den Sterlings überhaupt irgendwelche Spukerscheinungen gab.»

David erhob sich und begann auf- und abzutigern. «Aber mal angenommen, wir hätten einen. Angenommen, wir könnten beweisen, daß der Landstreicher erst nach dem Auszug der Sterlings umgekommen ist. Das würde ihn schon mal als Urheber des Spuks ausschließen.» Er machte am Fenster kehrt und marschierte wieder auf sie zu. «Wir müssen ein paar Fakten über ihn herausfinden. Das ist wichtig.»

«Ich weiß nicht, wieso das so wichtig sein sollte.» Sally faltete Miss Sterlings Brief zusammen.

«Du hörst mir nicht zu! Wenn hier schon vor dem Landstreicher Psi-Aktivität geherrscht hat, dann ist er nicht derjenige, der hier spukt.»

«Das ist mir klar. Aber was ändert das schon? Es ist interessant, aber darum geht’s doch gar nicht. Wir sind hier, um Beweise dafür zu sammeln, daß die Spukerscheinungen existieren, nicht um die Identität des Geistes aufzudecken.»

David setzte sich seufzend wieder hin, grinste dann aber. «Ach, komm, willst du nicht auch wissen, wem das grüne Gesicht hinter der Scheibe gehört?»

 

Es trafen noch weitere Berichte von früheren Mietern ein. Ausgefüllte Fragebögen kamen von Mr. und Mrs. Rogers aus Oklahoma und von Susan Abbey aus San Francisco. Mrs. Rogers glaubte inbrünstig an die Existenz einer Geisterwelt. Sie füllte zwei handbeschriebene Seiten mit gefühlvollen Ergüssen über den armen unglücklichen Geist, der in dem Haus wohne. Insbesondere berichtete sie von einem Geräusch, das sie als «flatternd» charakterisierte. Die Erklärung ihres Mannes war sachlicher, er berichtete von den Klopfgeräuschen, die er als «Pochen» beschrieb, und von Kälteempfindungen im Schlafzimmer, auch wenn er diese nie so dramatisch erlebt hatte wie die Abbeys. Außerdem erklärte er noch, mehrfach, ohne daß es eine reale Grundlage dafür habe geben können, ganz deutlich das Geräusch gehört zu haben, das entstehe, wenn man eine Uhr mit einem Schlüssel aufziehe. Susan Abbey bestätigte das Auftreten der Lichterscheinung, die auf den Namen Glöckchen getauft worden war, die Hämmer- und Klopfgeräusche sowie den Schwall kalter Luft. Sie fügte noch hinzu, daß sie und ihre Schwester, als sie eines Nachmittags allein zu Haus gewesen seien, ein «unheimliches Gemurmel» gehört hätten. Vom Tonfall her habe es geklungen, als ob jemand immer wieder dieselbe Frage wiederhole, wenn sie auch keinen Wortlaut hätten heraushören können.

Nach den Berichten gab es ermutigende Übereinstimmungen in einigen Punkten, aber insgesamt krankte die Erhebung an mangelndem Rücklauf. Zu wenig Mieter hatten geantwortet. Die Murrays und die DuBois hatten nicht ausfindig gemacht werden können, und Thomas Kirks Nachsendeadresse aus den Archiv-Akten des Skiptoner Postamts von 1948 schien nicht mehr gültig, da Sallys Brief mit dem Vermerk EMPFÄNGER UNBEKANNT zurückkam. Die beiden alten Damen, die das Haus 1934 für ein paar Monate gemietet hatten, waren verstorben. Mrs. Rose Pindar, die einzige Ex-Mieterin auf der Liste, die noch in Skipton lebte, hatte auf Davids Anrufe nicht reagiert. Und Mrs. Gardner, deren Aufenthalt im Haus im Jahr 1975 mit zehn Tagen der kürzeste überhaupt gewesen war, machte mit einem knappen Brief deutlich, daß sie über dieses Thema nicht reden wolle.

«Was haben diese Leute nur?» fragte David eines Abends, als sie wieder einmal die Mieter-Akte durchgegangen waren. «Kapieren die denn nicht, daß ihnen die Chance geboten wird, ihr Scherflein zum Erkenntnisschatz der Wissenschaft beizutragen? Sie müßten uns doch anflehen, mit uns reden zu dürfen.»

Sie saßen im Salon, dort hielten sie sich nach dem Abendessen meistens auf. Die Vorhänge waren offen, und vor dem Dämmerdunkel spiegelten sich die Lichter und Farben des Raumes im Erkerfenster. Sally las in einem Buch, das sie sich aus der Bibliothek jenseits des Flurs geholt hatte. Jetzt sah sie auf.

«Welche Leute?»

«Die Pindar. Die Gardner. Wie die Stockfische.»

«Vielleicht macht es ihnen einfach zu viel Mühe», sagte sie.

«Der Pindar vielleicht. Aber der Brief von dieser Gardner ist mehr als abweisend. Als hätte sie das, was sie erlebt hat – was immer es war –, so fertig gemacht, daß sie uns haßt, weil wir sie dran erinnern.» Er stand auf, setzte sich neben Sally auf den Teppich vor dem Kamin, ihr Lieblingsplätzchen, und faltete den Brief vor ihr auseinander. Ich möchte nicht über dieses Haus reden, weder jetzt noch in Zukunft. Bitte unterlassen Sie jede weitere Kontaktaufnahme, dieses oder irgendein sonstiges Thema betreffend. Es fiel schwer, keine Emotionen aus den hastig hingeworfenen Zeilen herauszulesen.

«Ganz schön heftige Reaktion auf ein paar Klopfgeräusche und ein bißchen kalte Luft», sagte er. «Vielleicht hat sie ja was richtig Aufregendes erlebt.»

Sally warf ihm einen Seitenblick zu. «Zum Beispiel? Das grüne Gesicht?»