Der kalte Kuss der Wölfe - Natascha Kribbeler - E-Book

Der kalte Kuss der Wölfe E-Book

Natascha Kribbeler

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Beschreibung

Ewige Liebe und Abenteuer -  mit Jandor, dem ersten Vampir Seit Tausenden von Jahren, seit der letzten Eiszeit, besitzt Jandor die Gabe der Unsterblichkeit. Er ist der erste Vampir, und er hat schon viel gesehen. Vom eisigen Norden über das alte Ägypten bis zu den Glanztagen des großen Rom. In Pompeji wird Jandor schließlich sesshaft. Doch ständig ist er auf der Suche nach seiner verlorenen ewigen Liebe Tanita. Durch all die Jahrhunderte begegnen sie sich immer wieder … Aber er ist verwundbar, und seine einstige Geliebte Akira erweist sich als seine gefährlichste Gegenspielerin. "Vorsicht! Sie laufen Gefahr, Zeit und Raum zu vergessen, wenn Sie mit Jandor, dem ersten Vampir unter den Menschen, durch die Jahrtausende streifen. [...] Endlich mal ein unpathetisches Fantasy-Märchen mit Herz, Verstand und Erotik für erwachsene Fantasy-Fans! – DK, Amazon.de Von Natascha Kribbeler sind bei Forever erschienen: In der Reihe Jandor-der-Vampir: Der kalte Kuss der Wölfe Der geheime Ruf des Raben Die Tränen des Bären Das Lied der Eule In der Reihe Heavy-Nights: Küsse niemals einen Rockstar Ein Rockstar in den Highlands

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Die Autorin Natascha Kribbeler, geboren 1965 in Hamburg, ist ausgebildete Rechtsanwaltsgehilfin. 2002 zog sie der Liebe wegen nach Bayern. Ihre großen Interessen Geschichte und Geographie lebt sie in ihren Hobbys Schreiben, Fotografieren und Reisen aus.

Das Buch Seit Tausenden von Jahren, seit der letzten Eiszeit, besitzt Jandor die Gabe der Unsterblichkeit. Er ist der erste Vampir, und er hat schon viel gesehen. Vom eisigen Norden über das alte Ägypten bis zu den Glanztagen im großen Rom. In Pompeji wird Jandor schließlich sesshaft. Doch ständig ist er auf der Suche nach seiner verlorenen ewigen Liebe Tanita. Durch all die Jahrhunderte begegnen sie sich immer wieder … Aber er ist verwundbar, und seine einstige Geliebte Akira erweist sich als seine gefährlichste Gegenspielerin.

Natascha Kribbeler

Der kalte Kuss der Wölfe

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

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Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2014 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014 Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München Titelabbildung: © Finepic® Autorenfoto: © Foto Studio Koch in Roding

ISBN 978-3-95818-014-7

Alle Rechte vorbehalten.

Kapitel 1

Als mein Freund Kurak starb, stand für einen Augenblick die Zeit still. Erschrocken hielt der Frühlingswind den Atem an, und über die im Sonnenlicht strahlende Ebene zogen düstere Schatten.

Hätte ich damals ahnen können, welche Bedeutung sein Tod für den Lauf der Welt haben sollte? Nein. Nicht einmal die große Erdmutter konnte in die Zukunft sehen.

In diesem Moment war es der Verlust unseres Jagdgefährten und Clanmitglieds, der uns schockierte. In Wirklichkeit jedoch änderte sich in diesen winzigen, unvergesslichen Sekunden etwas Grundlegendes. Alles.

Nun, da ich über diese Tragödie nachdenke, unzählige Zeitalter später, steht sie mir noch so deutlich vor Augen, als wäre sie gerade erst geschehen. Wie wäre das Leben weitergegangen, für die Menschen, für die Welt, wäre Kurak nicht gestürzt? Ich bin schon so unendlich alt, komme der Lösung dieser Frage aber keinen Schritt näher.

Der Tag hatte uns mit Sonne beschenkt, mit so viel belebender Wärme, dass wir für einen kurzen Zeitraum die beißende Kälte des Winters, der hinter uns lag, vergessen konnten. Abgemagert waren wir, unserer Kraft beraubt durch die nagenden Zähne des Hungers. Die Kinder hatten tief liegende Augen und so dürre Gliedmaßen, dass ihre Ellenbogen und Knie wie große Kugeln aus ihnen herausstachen. Zwei der Kleinsten waren zu den Sternen gegangen. Unsere Frauen saßen mit bleichen Gesichtern und strähnigem Haar um die Feuer und besserten Kleidung aus, an der es nichts mehr auszubessern gab, denn die Nadeln aus dünnen Knochen hatten schon zu viele Wintertage gesehen und unsere Jacken und Beinlinge in einen tadellosen Zustand versetzt.

Nun endlich errang die Sonne den Sieg über den Winter und ließ mit ihrem warmen Lächeln den Schnee schmelzen. In immer rascher dahinfließenden Bächen ging er von uns, und niemand weinte ihm eine Träne nach. Die strahlende Feuerkugel zauberte Lichtreflexe in die hungrigen Augen unserer Familien. Dieser Tag brachte das Leben zurück, das spürte jeder von uns.

Und er schenkte uns den Mammutbullen. Er war ein Einzelgänger, verstoßen vom Leitbullen der Herde, schlecht gelaunt und voll überschüssiger Kraft. Neugierig hatte er sich unserer Höhle bis auf etwa eine halbe Meile genähert, und Kurak war es, der ihn entdeckte.

Aufgeregt sprangen wir auf, ergriffen unsere Speere und Messer. Der Bulle bedeutete Nahrung für viele Wochen für unseren ganzen Clan! Vollgefressene Bäuche, Tage und Nächte ohne knurrende Mägen und bohrende Schmerzen in den Eingeweiden. Sorgenfreie Wochen ohne das stumme Flehen in den hohlen Augen der Kleinsten. Sie waren immer die Ersten, die der Hungertod uns raubte.

Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen beobachtete ich, wie Kurak noch einmal mit dem Finger die Schärfe seiner Speerspitze überprüfte. Akira, seine Gefährtin, trat zu ihm, und er umarmte sie. Er konnte sie nicht richtig an sich drücken, ihr schwangerer Leib stand zwischen ihnen. Sein Gesicht leuchtete vor Freude und Aufregung, und er strich ihr mit der Hand eine feuerrote Locke aus der Stirn.

»Sei vorsichtig«, flüsterte sie beschwörend und bohrte ihren Blick in seine Augen. Sie sprach leise, aber ich konnte ihr die Worte von den Lippen ablesen. Es waren Worte, die jeder von uns schon Hunderte Male gehört hatte, dieselben, die nun Tanita aussprach. Sie war meine Gefährtin, mein Herz und mein Leben. Ganz ernst sah sie aus, ein seltener Anblick, sprang sie doch meist umher wie ein junges Reh und sang den ganzen Tag wie ein Vogel. Der nicht enden wollende Winter hatte sich jedoch auch auf ihr Gemüt gelegt, ihr schwarzes Haar hatte seinen Glanz eingebüßt, und ihre bernsteinfarbenen Augen waren ganz dunkel. Sie war so dünn geworden, dass ihr Bauch weit hervorstand, denn auch sie trug ein Kind.

Der kommende Sommer war vielversprechend; unser Clan würde wachsen. Wenn es uns nur gelang, dieses Wollmammut zu töten. Erst durch seinen Tod konnte unser Volk wieder aufblühen. Der Wolfsclan.

»Nur für dich, meine Blume«, flüsterte ich. Ihre Arme schossen vor und schlossen sich so fest um meinen Hals, dass mir fast die Luft wegblieb. Zwei, drei Wimpernschläge lang genoss ich ihre Umarmung, ihren Duft und ihre Wärme. Dann schob ich sie von mir und griff nach meinem Speer.

Wortlose Blicke folgten uns, als wir in die Ebene hinauszogen, Bangen und Hoffnung in unseren heftig klopfenden Herzen.

Elf Männer waren wir, entschlossen und voller Tatendrang. Jeder von uns ein guter Jäger. Der beste jedoch war Kurak. Nur selten entkam ihm ein Wild. Elf Jäger zogen los, dem Mammutbullen entgegen. Nur zehn würden zurückkehren.

Einer von ihnen war ich, Jandor. Ich war jung und lebte in einer unwirtlichen Welt. Die Gletscher des ewigen Eises lagen in Sichtweite unserer Höhle. Die Winter waren lang und kalt, die Sommer nur ein kurzes Aufflackern des Lebens, aber so voller Verheißung, dass sie uns stets Kraft gaben für die dunklen, grausamen Monde, die nur aus beißender Kälte zu bestehen schienen. Und doch war es auch eine Welt voller Wunder. Schmolz für wenige Wochen der Schnee, explodierte das Leben vor unseren Augen. Es wimmelte von Tieren, die überall ihre Jungen gebaren. Wilde Blumen blühten in den phantastischsten Farben, und die Luft war erfüllt von betörenden Düften.

An diesen kurzen Sommertagen endete die Arbeit nie. Wir gingen auf die Jagd, zerlegten die Beute, und unsere Frauen kochten, brieten oder trockneten sie. Aus den Häuten bereiteten sie unsere Kleidung, gerbten und nähten bis in die Nächte hinein.

Kraftvoll schritten wir aus. Nun würde sie wieder kommen, die Zeit ohne Schlaf und Sorgen.

Der Bulle hatte uns längst gewittert. Misstrauisch reckte er seinen Rüssel in die Luft und wackelte mit den Ohren, um uns zu vertreiben. Er dachte nicht daran, vor uns zu fliehen. Sein Körper war voller jugendlicher Energie. Mit diesen kleinen Käfern, die da auf ihn zukamen, würde er mit Leichtigkeit fertigwerden.

Wir näherten uns schweigend. Nicht immer war unsere Beute so furchtlos wie dieser Jungbulle, und Worte hätten viele Tiere in die Flucht geschlagen, weil sie bereits gelernt hatten, Menschen zu fürchten.

Stumm schwärmten wir aus, umkreisten ihn in stillem Einvernehmen und näherten uns dann von allen Seiten. Er war größer, als er von weitem ausgesehen hatte, mehr als doppelt so hoch wie ein ausgewachsener Mann. Beim Gedanken an sein saftiges Fleisch lief mir schon das Wasser im Mund zusammen. Sein Fell hing zottelig an ihm herab, der Winterpelz ging ihm in ganzen Büscheln aus.

Wir konnten deutlich erkennen, dass sein Selbstbewusstsein zu bröckeln begann. Unbewusst versuchte er, sich zurückzuziehen, musste jedoch feststellen, dass das nicht möglich war. Unschlüssig warf er seinen gewaltigen Kopf hin und her, um all die kleinen Gestalten, die da herumwimmelten, gleichzeitig ins Auge zu fassen. Als wir noch näher an ihn heranrückten, begann er nervös herumzutänzeln und mit seinen großen Füßen den Staub aufzuwirbeln.

Wir waren leichtsinnig. Üblicherweise pflegten wir eine Mammutherde mit Feuer vor uns herzutreiben, bis sie über den Rand der Klippen stürzte und beim Sturz verendete. Unten brauchten wir die Überlebenden nur noch zu töten und zu zerlegen.

Dieser Bulle aber war allein. Es war viel einfacher für uns, ihn einzukreisen und dann zu töten, als ihn meilenweit vor uns herzujagen, immer mit der Gefahr im Nacken, er könne ausbrechen. Aber es war auch um ein Vielfaches riskanter.

Es war Kurak, der den ersten Speer warf. Mutig war er bis auf wenige Schritte an das Tier herangelaufen, während es mit uns beschäftigt war, und trieb die scharfe Waffe tief in die bebende Flanke des Mammuts. Wütend fuhr es herum und versuchte, den Verursacher dieses Schmerzes zu finden. Eine feine Spur roten Blutes durchtränkte die langen Zotteln seines Winterfells. Seine großen Füße wirbelten so viel Staub auf, dass wir es rasch nur mehr als Schemen wahrnehmen konnten. Es warf seinen Kopf hin und her in dem vergeblichen Versuch, einen von uns zu fixieren.

Wir schwiegen nicht mehr. Wir brüllten laut, um es zu verwirren, und als es mir für einen kurzen Augenblick seine Aufmerksamkeit schenkte, las ich in seinen Augen seinen

Schmerz und beginnenden Wahnsinn. Abrupt riss es seinen Kopf hoch, und ich wusste, dass es nun nur noch von dem Wunsch beseelt war, zu zerstören. Seine Stoßzähne zerschnitten die Luft und trafen beinahe Baram, der sich gerade noch zur Seite werfen konnte. Dann fixierte es eine unserer Schattengestalten und hob seinen gewaltigen Vorderfuß, um sie niederzutrampeln.

Ich konnte im Dunst nicht genau erkennen, auf wen er es abgesehen hatte, aber ich wollte meine Chance nutzen und hob meinen Speer, um ihn dem Tier in die Kehle zu rammen. »Jandor! Pass auf!«, schrie jemand, vielleicht war es Bakai. Bei allen Tiergeistern! Um jeden Preis wollte ich dieses Mammut töten. Tanitas hungrige Augen standen deutlicher vor mir als dieses vor Wut tobende Wesen in der Staubwolke.

Mir war wohl bewusst, in welcher Gefahr ich schwebte, aber ich blendete den Gedanken daran aus. Meine Jagdgefährten jedoch erkannten sie. Von mehreren Seiten flogen Speere heran und trafen das Tier in die Seite, die Schulter und ein Hinterbein. Mehr Blut floss heraus und tränkte den Boden, bildete glitzernde Lachen. Rasend vor Schmerz trompetete das Mammut seinen Zorn und seine namenlose Angst heraus. Dann fuhr der Fuß herab. Jemand schrie erschrocken auf.

Ich spürte es mehr, als ich es sah. Instinktiv ließ ich mich fallen, rollte durch den Staub zur Seite und sprang sofort wieder auf die Füße. Dort, wo ich eben noch gestanden hatte, tobte das Tier seine Wut am Erdboden aus, nahm mit seinem starken Rüssel meine Witterung auf und sog tief die Luft ein, um mich zu finden und zu zertrampeln.

So weit ließ Kurak es nicht kommen. Er nutzte seine Chance, solange das Tier abgelenkt war, und warf seinen zweiten Speer mit der harten Feuersteinspitze auf die breite Brust des Mammuts. Als die Waffe eindrang, brüllte es auf und trompetete vor Wut. Doch bevor es sich dem neuen Feind zuwenden und auf ihn losstürmen konnte, hagelten von allen Seiten Speere auf es ein. Einer traf die Halsschlagader, das Blut schoss in hellroten Fontänen hervor, und tödlich verwundet stürzte die Kreatur donnernd zu Boden.

Im Fallen streifte sie Kurak, der gerade versuchte, seinen Speer mit der wertvollen Spitze wieder aus dem Körper des Tieres zu ziehen. Er wurde gewaltsam zu Boden gerissen und prallte mit dem Kopf auf einen Stein. Reglos blieb er liegen, und Blut sickerte in den Sand.

»Große Erdmutter!« Mit einem Satz war ich an der Seite meines besten Freundes und kniete neben ihm nieder. Behutsam hob ich seinen Kopf an und fühlte eine klebrige Nässe an meinen Fingern. Schockiert blickte ich auf meine blutverschmierte Hand. »Gütige Mutter, nein!«, flüsterte ich. Vorsichtig tastete ich durch Kuraks dichtes, langes Haar und entdeckte ein Loch im Schädel meines Freundes, aus dem immer mehr Blut hervorsickerte. Sein Gesicht war kreideweiß, und er rührte sich nicht mehr.

Fassungslos sah ich zu meinen Jagdgefährten auf, die uns wortlos umstanden. »Ich glaube, er ist tot! Er atmet nicht mehr!«

»Ach nein, er wird gleich wieder erwachen«, stammelte Baram, aber die Sorge in seinen Augen strafte seine Worte Lügen. Wie festgewachsen stand er da, seine Blicke wanderten unstet zwischen Kurak und mir hin und her.

Bakai, der älteste Mann des Wolfsclans, ließ sich mit knackenden Knien neben uns nieder, betastete mit sanften Fingern die klaffende Wunde und ignorierte meine flehenden Blicke. Dann schüttelte er wortlos den Kopf. Hier war nichts mehr zu machen. Vorsichtig, als könne er ihn noch weiter verletzen, ließ er Kuraks Kopf zurück auf den Boden gleiten.

Ungläubig starrte ich ihn an. »Aber … er ist stark. Er war schon oft verletzt. Und immer hat er sich erholt! Er …«

Sanft strich Bakai über meinen Arm. »Es tut mir leid, Jandor. Das Leben hat ihn verlassen.«

»Und Akira?« Ihr schönes Gesicht stand mir vor Augen, die Hoffnung in ihrem Blick, endlich den Hunger stillen und sich für die Geburt stärken zu können.

Nur Schweigen antwortete mir, sorgenvolle Mienen und Gesichter voll Trauer.

Still machten wir uns daran, Kuraks Körper auf eine der mitgebrachten Tragen zu legen. Dann zerlegten wir das Mammut und nahmen so viel von seinem Fleisch mit, wie wir tragen konnten. Wortlos und erschüttert traten wir den Heimweg zum Lager an.

Akira sah auf, als wir uns näherten, und unsere Blicke trafen sich. Ihr freudiges Lächeln drang wie ein Messer in mein Herz. Sie las in meinem Gesicht und erkannte die Zeichen, verstand, dass etwas nicht stimmte. Das Lächeln verschwand wie hinter einer schwarzen Wolke. Ihre Hände begannen zu zittern und ließen die Hirschhaut, die sie gerade gerbte, sinken. Ich konnte ihr förmlich ansehen, wie sich die Angst in ihr Herz fraß und es zum Rasen brachte. Andere Frauen traten neben sie, helle Vorfreude in den ausgezehrten Gesichtern, und ein kleiner Junge wollte losrennen, die großen Jäger zu begrüßen. Doch die schnelle Hand seiner Mutter hielt ihn zurück, als auch sie erkannte, dass etwas nicht war, wie es sein sollte.

Unsere Schritte verlangsamten sich, je näher wir dem Lager kamen, als hofften wir, dadurch unser bitteres Geständnis hinauszögern zu können. Akira sprang auf ihre Füße, versuchte, die Entfernung zu durchdringen und Einzelheiten zu erkennen. Dann hielt sie die Spannung nicht mehr aus und rannte uns entgegen.

Schwer atmend blieb sie vor uns stehen und hielt sich den geschwollenen Leib. Der Trage schenkte sie keinen Blick. Ihre roten Locken ringelten sich wie zornige Schlangen. Aus ihren grünen Augen sprühten Funken, als sie rief: »Was ist hier los? Was habt ihr mit ihm gemacht?«

Keiner von uns sagte ein Wort. Mein Mund war wie ausgetrocknet, meine Lippen gelähmt. Ich starrte sie an und versuchte, ihr allein durch den Blick meiner Augen mein Mitgefühl auszusprechen.

Ihre Blicke streiften mich nur, wollten nicht lesen, was sie erkannte. Angstvoll sah sie von einem zum anderen, wollte nicht wahrhaben, was sie längst wusste, weigerte sich, der Tatsache ins Auge zu sehen.

Meine Kameraden blickten zu Boden, als könne der ihnen helfen, sie aufnehmen und verschlucken. Schließlich wagte ich es, vorsichtig aufzusehen, aber auch ich hielt dem Blick ihrer verzweifelten Augen nicht stand. »Ich … er …« stammelte ich hilflos und drehte den Speerschaft in meinen Händen. »Ich hätte versuchen müssen …« Kläglich verstummte ich. Ich wusste, dass es nicht meine Schuld war, aber als sein Freund hätte ich doch etwas tun müssen. Irgendetwas. Und wenn es mich selbst das Leben gekostet hätte.

Endlich warf Akira einen Blick auf die Trage. Im Nu erlosch ihr Zorn, und sie schien zu schrumpfen. Sie fiel auf die Knie und schlug die Hände vor das Gesicht. Ihr aus tiefster Brust kommendes, lautes Stöhnen würde ich niemals vergessen.

Es war eine Tragödie für unseren Clan. Einer unserer besten Jäger war tot.

Im warmen Schein der flackernden Feuer hielt Akira eine einsame Totenwache am Lager ihres verstorbenen Gefährten. Am folgenden Morgen würde er bestattet werden, und dann war er fort, für alle Zeiten. Nun saß sie hier und starrte ihn an, als müsste sie seinen Anblick im Voraus in sich aufsaugen, als Vorrat für all die folgenden einsamen Jahre ohne ihn.

Sie hatte uns alle davongejagt. Tanita und die anderen Frauen, die ihr Gesellschaft leisten, sie trösten wollten, waren mit ratlosen Gesichtern zu uns zurückgekehrt. Nicht einmal Maschura, unseren Schamanen, duldete sie in ihrer Nähe. Sie wollte allein Abschied nehmen. Wir saßen in respektvoller Entfernung und beobachteten sie, um notfalls helfend eingreifen zu können. Niemand sprach ein Wort, das furchtbare Erlebnis hielt uns alle umfangen.

Akiras Augen waren trocken. Ihr Schock saß so tief, dass sie nicht weinen konnte. Seit einem Sommer erst war sie Kuraks Gefährtin, und in ihrem Leib wuchs das Kind heran, das die Erdgöttin ihnen schenken würde. Nun würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als die zweite Gefährtin eines anderen Mannes zu werden, wenn sie und ihr ungeborenes Kind nicht verhungern wollten. In ihrem Kummer wiegte sie ihren Oberkörper hin und her, summte die Melodie des Totenliedes und streichelte zaghaft über Kuraks Gesicht.

Sanft berührte sie seine Jacke aus Kaninchenfell und seine Hose aus Hirschleder. Diese Hose hatte sie für ihn genäht, bevor sie einander als Gefährten gegeben wurden, und ihre Hand strich über die feinen Nähte.

»Wieso lässt du mich allein?«, flüsterte sie und streichelte zärtlich seine Wangen. Zögernd ergriff sie seine schlaffe Hand und legte sie auf ihren sich wölbenden Leib. »Hier, spürst du das? Dein Sohn ist stark. Er wird ein großer Jäger werden. Aber er braucht deine Hilfe. Du musst ihm zeigen, wie man die Tiere findet und dazu bewegt, sich für uns zu opfern. Wer soll ihm nun all dies beibringen?« Nun fiel doch die erste Träne hinab und netzte seine leblosen Lippen.

Akira schluchzte auf und strich mit den Fingerspitzen über den Mund, der sie nie wieder küssen würde.

In dem Moment tat Kurak einen tiefen Atemzug. Akiras Hand zuckte zurück, alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Entsetzt sah sie, wie ihr Gefährte langsam die Augen aufschlug und sich verwirrt umsah. Ein hoher Schrei entrang sich ihrer Kehle, und sie sackte ohnmächtig zusammen.

»Wie kann er leben? Kein Atem war mehr in ihm, und sein Herz schlug nicht mehr. Wir haben alle gesehen, dass er tot war.« Baram sprach entschlossen, aber seine Miene zeigte Unsicherheit.

»Vielleicht haben wir uns geirrt. Es muss noch Leben in ihm gewesen sein«, wandte ich zögernd ein. Ich wagte es ja selbst nicht, zu glauben, mein Freund könne wider Erwarten doch noch am Leben sein. Im Grunde war es ja auch unmöglich. Es konnte gar nicht sein, war wider die Gesetze der Natur. Und doch … Als ich auf Akiras Aufschrei hin zum Totenlager rannte, sah ich mit eigenen Augen, dass Kurak lebte! Er konnte noch nicht sprechen, war sehr schwach, aber er atmete und öffnete für kurze Zeit seine Augen, bevor sie ihm wieder zufielen.

»Ich weiß, was ich gesehen habe!«, beharrte Baram. »Und es macht mir Angst!«

»Ja, so etwas darf es nicht geben«, setzte Bakai hinzu. »Oder hat schon einmal jemand einen Löwen oder einen Büffel erlebt, der plötzlich wieder aufsteht und herumläuft?«

Niemand lachte. Wir alle waren hin- und hergerissen zwischen zwiespältigen Emotionen.

»Wir sollten lieber dankbar sein, anstatt hier herumzustreiten!«, schimpfte Numur und wies mit dem Kopf auf Akira. Sie war vor Erschöpfung, aber glücklich lächelnd, neben dem Lager ihres Gefährten eingeschlafen.

Maschura, unser Schamane, beendete die Diskussion. »Die Himmelsgeister haben entschieden, dass es für ihn noch nicht an der Zeit ist, zu den Sternen zu gehen. Kurak war, nein, ich meine, er ist ein tapferer Jäger, einer unserer Besten. Die Geister meinen es gut mit uns. Sobald die Sonne heute ihren Zenit erreicht hat, werden wir das Mammutfleisch, das ihr zurücklassen musstet, verbrennen, damit es mit dem Rauch zu den Sternen fliegt, als Dankesopfer für die Himmelsgeister. Es ist entschieden.«

Normalerweise zweifelte niemand die Entscheidungen des Schamanen an. Aber es hatte auch noch nie einen Vorfall wie diesen gegeben. Baram weigerte sich, das Urteil zu akzeptieren. Wütend widersprach er: »Wir brauchen das Fleisch! Wir konnten nur einen kleinen Teil mitbringen, das meiste musste zurückbleiben. Ohne das Fleisch werden wir den nächsten Winter nicht überstehen!«

Mit einer zornigen Handbewegung brachte Maschura ihn zum Schweigen. »Willst du die Geister erzürnen? Sie haben uns einen unserer größten Jäger zurückgegeben, damit er wieder für uns jagen und Nahrung beschaffen kann. Wir müssen ihnen das Mammut opfern, sonst werden sie sich von uns abwenden und uns keine Tiere mehr schicken, die wir jagen können.«

Zornig blitzte er Baram an, und als ich genauer hinsah, schien es mir, als würde der Wolfsschädel, den der Schamane auf dem Kopf trug, im Feuerschein blutrot aufleuchten.

Scheinbar resignierend hob Baram die Hände und wandte sich ab. Ich beobachtete, wie er heimliche Blicke mit Bakai wechselte, und wusste, dass die beiden Kurak genau im Auge behalten würden. Im Stillen waren wir alle weiterhin der Meinung, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Kurak erholte sich nur langsam. Unermüdlich saß Akira an seinem Lager, flößte ihm heiße Fleischbrühe und zerkaute Fleischstückchen ein. In ihrem unermesslichen Glück, ihn wiederzuhaben, bemerkte sie nicht, dass Kurak, sobald sie einmal sein Lager verließ, sich erbrach und all die Nahrung wieder von sich gab.

Schwach auf seinem Lager liegend, wusste er selbst nicht, was mit ihm los war. Er bemerkte, dass all seine Sinne geschärft waren. Wenn im Laufe der Nacht die Feuer fast erloschen waren und sich tiefe Finsternis über das Land legte, blickte er zum Höhleneingang hinüber und konnte trotzdem noch alles so scharf und deutlich erkennen, als wäre es heller Tag. Er konnte die Schwingen der Nachtvögel hören, die lautlos durch die Luft schwangen. Und er roch das Blut. Wie köstlich dieser Duft war! Wenn Akira neben ihm saß und sich über ihn beugte, um ihm Suppe einzuflößen, fiel sein Blick gierig auf ihre pochende Halsschlagader, ohne dass er sagen konnte, wieso ihn dieses Verlangen überfiel. Er war schockiert und beschämt über sich selbst. Sie war seine Gefährtin und kümmerte sich Tag und Nacht um ihn, und sie trug sein Kind in sich.

»Jandor, etwas stimmt nicht mit mir«, vertraute er mir einige Tage später flüsternd an, als Akira einmal für kurze Zeit sein Lager verlassen hatte.

Besorgt sah ich ihn an. »Was meinst du damit?« Nach wie vor lebte auch in mir neben aller Freude weiterhin dieser nagende Zweifel, der unseren gesamten Clan in seinen Klauen hielt. Kuraks Scheintod und sein neues Leben waren einfach widernatürlich. Noch allerdings überwog die Freude, ihn wiederzuhaben. Es musste einfach so sein, dass Maschura recht hatte mit seiner Behauptung, die Himmelsgeister hätten Kurak verschont und ihn unserem Clan zurückgegeben. »Fühlst du dich nicht wohl? Hast du Schmerzen?«

Schwach schüttelte mein Freund den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Ich bin noch sehr schwach, aber das ist wohl kein Wunder. Aber ich … Ich höre viel besser als vorher. Und ich kann auch viel schärfer sehen. Und riechen …« Mit einem Mal sah er schon sehr viel wacher aus. Und … Erschrocken zuckte ich zurück, schämte mich aber sofort meines Verhaltens und beugte mich wieder vor. Mir schien, als hätten die Augen meines Freundes soeben geleuchtet, als wäre ein gelber Schein in ihnen gewesen. Aber nein, das konnte ja nicht sein. Sicher war es nur der Widerschein des Feuers. »Du hast sehr stark geblutet. Maschura sagt, im Blut sitzt das Leben und die Kraft. Dein Körper hat viel davon verloren. Aber er kämpft gegen die Schwäche. Ich kann mir vorstellen, dass er dich besser sehen oder hören lässt, weil …« Ich wusste nicht weiter. Eigentlich glaubte ich selbst nicht, was ich da sagte.

»Es ist nicht nur das«, fuhr Kurak wispernd fort. »Es ist das Essen. Ich kann keine Nahrung mehr bei mir behalten. Alles, was Akira mir gibt, kommt sofort wieder heraus.«

»Was?« Alarmiert fuhr ich hoch.

Kurak beschied mir mit an die Lippen gelegtem Zeigefinger, still zu sein, und sah mich streng an.

Beschämt zog ich den Kopf zwischen die Schultern und flüsterte: »Aber dann ist es ja kein Wunder, dass du nicht zu Kräften kommst. Du musst unbedingt etwas essen! Ich werde dir gleich etwas bringen, vielleicht bekommt es dir besser als Akiras …«

»Nein, das ist es nicht. Akira kocht wundervoll, und sie bringt mir stets die besten und zartesten Stücke. Es ist, als würde ein böser Geist in mir wohnen. Mir wird übel, und ich erbreche alles sofort wieder.«

Nun hatte er es geschafft, mich vollends in Sorge zu versetzen. »Aber was machen wir denn dann mit dir? Du musst etwas essen!«

Kurak überlegte. Zaghaft begann er: »Weißt du, ich habe gewaltigen Hunger auf …« Abrupt verstummte er, und ich sah ihn erstaunt an. »Nein, es tut mir leid, das kann ich nicht von dir verlangen. Ich bekomme ja Angst vor mir selbst, wenn ich nur daran denke … Vergiss es einfach.« Er schloss die Augen, und ich sah, dass das Gespräch für ihn beendet war.

Mein Misstrauen war erneut erwacht, stärker noch als zuvor, aber ich sagte zu niemandem ein Wort.

Schließlich wurde Kuraks Verlangen nach Blut übermächtig. Er konnte an nichts anderes mehr denken und wusste instinktiv, dass er die Schmerzen in seinen Eingeweiden nur mit Blut würde besänftigen können. Mit heiserer Stimme wies er Akira am nächsten Abend an, ihm ein großes Stück blutigen Fleisches zu bringen. »Achte darauf, dass es roh ist und saftig. Bereite es nicht für mich zu. Bring es mir einfach her, erspare dir die viele Arbeit damit.«

Verwirrt ging Akira, um sich ihren Anteil des erbeuteten Kaninchenfleisches abzuholen. Freudig dachte sie darüber nach, dass sein Appetit zurückzukehren schien. Und er wollte ihr wohl auch nicht länger zur Last fallen, hatte er doch angeboten, dass sie sich keine Arbeit mit dem Fleisch machen solle.

Ihre Freundin Subna machte Anstalten, ihr das tote Kaninchen, das sie ihr soeben gegeben hatte, wieder abzunehmen und über das Feuer zu hängen. »Komm, setz dich zu mir, wir können das Essen zusammen zubereiten. Du musst doch nicht immer so allein an deinem Feuer sitzen.«

Rasch riss Akira das Tier jedoch wieder an sich. »Nein!«

Subna zuckte zusammen, und Akira lenkte ein. »Es tut mir leid. Aber Kurak möchte es so haben, wie es ist. Du weißt, dass er viel Blut verloren hat.« Sie wandte sich um und ging.

Nachdenklich sah Subna ihr nach.

Akira zeigte Kurak das tote Tier. »Ich will es nur schnell abziehen.«

Mit raschem Griff entwand er ihr jedoch das Fleisch, biss dem Kaninchen gierig in die Kehle und saugte es aus.

Akira stand wie erstarrt. Was um der Himmelsgeister willen tat er da? Entgeistert beobachtete sie ihren Gefährten, der ihr so fremd erschien, dass sie sich fragte, ob sie ihn jemals richtig gekannt hatte, und rannte hinüber zu meinem Feuer.

Ich hatte die Szene besorgt beobachtet und Anstalten gemacht, aufzuspringen. Aber Tanita hielt mich zurück. »Lass ihnen Zeit. Sie haben Schweres durchgemacht. Sie müssen sich erst wiederfinden.«

Nun stand Akira schwer atmend vor unserem Feuer und starrte uns an, als hätte sie direkt in die Unterwelt geblickt. Tanita zog sie am Arm hinunter, und Akira setzte sich, als wäre mit einem Mal jegliche Kraft aus ihr gewichen.

»Seine Augen … Sie … Sie waren gelb!«

»Was?« Tanitas Augen wurden riesengroß. »Akira, du musst unbedingt wieder einmal schlafen. Seit Tagen kümmerst du dich pausenlos um Kurak. Du brauchst Ruhe. Denk an dein … an euer Kind. Ruh dich aus.«

Hellhörig geworden blickte ich hinüber zu meinem Freund, der nach wie vor auf seinem Lager ruhte, halb aufgerichtet, und immer noch seine Zähne in den Hals des Kaninchens geschlagen hatte. Verwirrt blinzelte ich. Es musste wiederum der Feuerschein sein. Oder doch nicht? Noch einmal sah ich genauer hin. Akira hatte recht. Seine Augen waren gelb!

Kuraks Genesung schritt nun schnell voran, und bald konnte er wieder aufstehen und herumgehen. Sein Hunger wuchs und wuchs. Akiras zubereitete Mahlzeiten aber erbrach er weiterhin, und bald erfand er immer wieder Vorwände, das Lager allein zu verlassen. Er legte Schlingen für kleine Tiere wie Mäuse oder Hamster, und er stellte Mardern und Hasen nach. Hatte er ein Tier erbeutet, tötete er es mit einem Biss in die Kehle und saugte es aus. Ganz kleinen Nagern biss er einfach den Kopf ab. Er wunderte sich, dass er zuvor dem Geschmack von Blut nichts abgewinnen hatte können. Dabei gab es doch nichts Köstlicheres! Gleichzeitig aber grauste es ihm vor sich selbst. Was war mit ihm geschehen? Und vor allem: Wie konnte er vor den anderen verheimlichen, was mit ihm los war? Wobei er ja noch nicht einmal selbst wusste, was es war. Während er noch darüber nachdachte, hörte er in einiger Entfernung das Herz eines Wiesels schlagen und machte sich daran, das Tier zu fangen.

»Jandor, nein! Bleib hier! Ich habe Angst vor ihm!«

Sanft befreite ich mich aus Tanitas festem Griff. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren weit aufgerissen, und fast gelang es ihr, mich mit ihrer Angst anzustecken. Aber nein. Kurak war mein Freund, schon als Kinder hatten wir zusammen gespielt und Streiche ausgeheckt. Es bestand kein Grund, sich vor ihm zu fürchten, auch wenn er sich … verändert hatte. Das war eine harmlose Umschreibung für den Wandel, der mit ihm vorging. Jeder hatte inzwischen Angst vor ihm.

Zärtlich strich ich über Tanitas nachtschwarzes Haar. »Mach dir keine Sorgen. Bakai kommt mit, und wir werden schon nicht zulassen, dass er etwas merkt.« Er. Niemand mochte mehr seinen Namen aussprechen. Er war nicht mehr der Kurak von einst. Er … wer auch immer er jetzt war, war nicht mehr unser Gefährte. Er war ein Fremder geworden, und nun war es an der Zeit, herauszufinden, was mit ihm los war.

Gerade war er wieder im Dunkel der Nacht verschwunden, lautlos, unsichtbar. Ebenso unauffällig folgten wir ihm, keinen Laut verursachend, um uns nicht zu verraten.

Kurak ging leise und lauernd wie ein Jäger, aber etwas war anders an ihm. Er schien in der Luft zu wittern wie ein Wolf, und manchmal legte er den Kopf schief, als würde er lauschen. Ich hielt den Atem an und versuchte ebenfalls, etwas zu verstehen, konnte aber außer dem Rauschen des Windes und dem Rascheln einer Maus im trockenen Gras nichts hören. Schließlich blieb Kurak wie angewurzelt stehen. Bakai und ich befürchteten, entdeckt worden zu sein, duckten uns und wagten uns nicht mehr zu rühren. Wir konnten selbst nicht sagen, woher unsere Angst kam. Was wäre so schlimm daran, wenn Kurak uns entdeckte? Wir waren Jagdgefährten. Dann jedoch bemerkten wir, dass er in die entgegengesetzte Richtung starrte. Lautlos schlich er ein paar Schritte weiter, um dann plötzlich wie ein Wolf eine Ratte anzuspringen. Entsetzt beobachteten wir, wie Kurak das Tier zwischen die Zähne nahm – spielten uns unsere Augen im Licht des Mondes einen Streich, oder waren seine Eckzähne tatsächlich länger geworden? –, dem Nager den Kopf abbiss, ihn ausspuckte und sein Blut trank. Bakais Herz pochte so laut, dass sogar ich es hörte und fürchtete, Kurak könne es bemerken und uns entdecken. So leise wie möglich schlichen wir rückwärts fort, nur weg von dem, der einst unser Kamerad gewesen war.

Sekundenlang stand mir eine Vision vor Augen, in der Kurak Bakai und mich anfiel, unsere Kehlen aufriss und unser Blut trank. Ein Schauer rann meinen Rücken hinunter, und meine Nackenhaare sträubten sich. Mit aller Kraft musste ich den Impuls bekämpfen, einfach davonzustürzen und mein Heil in einer kopflosen Flucht zu suchen. Mit zitternden Händen suchte ich Halt bei Bakai, ergriff seinen Arm und konnte dessen eigene Panik fast mit meinen Händen greifen.

Mit weichen Knien schlichen wir so lange fort von … ihm …, bis ein paar niedrige Birken seine Sicht verdeckten. Dann rannten wir wie auf ein geheimes Kommando los, so schnell wie noch nie zuvor in unserem Leben. Was immer Kurak nun war, menschlich war er nicht mehr.

Ein Frühsommertag, erfüllt von prächtigen Farben, neigte sich seinem Ende zu, Blumen und Blüten im vollen Spektrum überbordender Lebensfülle, einer Farbenpracht, die Kurak nicht mehr zu Gesicht bekam, da er die Tage nun verschlief und nur nachts die Höhle verließ. Und so schlief er auch, als sein Sohn sich auf den Weg ins Leben begab. Der Abend war mild und die Luft erfüllt von Milliarden umherfliegender Pollen und berauschenden Düften, wie gemacht für den ersten Atemzug eines neuen Lebens.

Tabatai, die alte Heilerin, half Akira bei ihrem Kampf mit den Wehen und ermutigte sie, zu atmen, wenn der Mut sie verlassen wollte. Ihre Freundin Subna stellte sich vor sie hin, sodass Akira sich gegen sie lehnen und auf sie stützen konnte, und sich mit ihrem Gewicht an Subnas Hals hängend holte Akira zum letzten Mal tief Luft und presste, und fast von allein glitt Kiran, ihr Sohn, aus ihr heraus. Sein erster Schrei vertrieb die Sonne hinter den Horizont und lockte den Mond herbei.

Tabatai hüllte den Säugling in ein weiches Fell und ließ nach Kurak, dem Vater, rufen. Ihr war nicht wohl dabei, ihm dieses hilflose Baby in die Arme zu legen. Wie alle Mitglieder unseres Clans traute auch sie ihm nicht mehr über den Weg, seit er von den Toten wiederauferstanden war. Aber sie hatte keine Wahl. Der Säugling war gesund, und es oblag Kurak, ihn als seinen Sohn anzuerkennen und somit dem Clan zuzuführen.

Er stand so plötzlich vor ihr, dass sie zusammenzuckte. Er schien wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein; wir hatten ihn weder kommen sehen, noch irgendetwas gehört. Atemlos beobachteten meine Gefährten und ich, wie Kurak reagieren würde, bereit, ihm das Kind sofort zu entreißen, sollte er … Niemand wagte es, den Gedanken weiterzuführen.

Alles in mir sträubte sich dagegen, seine Reaktion abzuwarten. Ich hatte Angst um dieses kleine, hilflose Wesen, Angst, dass Akira auch noch ihren Sohn verlieren würde, und ein starker Beschützerinstinkt breitete sich in mir aus.

In diesen Augenblicken, in denen die Zeit stillzustehen schien, kam mir ein Ereignis in den Sinn, das bezeichnend für den neuen Kurak war. Vor wenigen Wochen waren wir der Spur eines Riesenhirsches gefolgt. Sobald die Sonne hinter der Welt verschwunden war, erschien Kurak und bot uns seine Hilfe an. Niemand mochte sie ihm versagen, und so blieb er bei uns. Vor unseren Augen wurde dann der Riesenhirsch, den wir verfolgten, unvermittelt von einem gewaltigen Höhlenlöwen angefallen und getötet. Höhlenlöwen waren unbändig starke und angriffslustige Tiere, die sich ihre Beute von nichts und niemandem würden streitig machen lassen. Dieser Löwe zerrte nun den Riesenhirsch hinter sich her in seine Höhle und verschwand mit ihm darin. Wir waren zutiefst enttäuscht, denn wir wären alle längere Zeit von ihm satt geworden.

»Lasst uns gehen. Es ist sinnlos, hier noch länger zu warten, der Hirsch ist für uns verloren.« Baram wandte sich zum Gehen.

Kurak lachte so laut, dass sich die Härchen auf meinen Unterarmen aufrichteten. »So ein Unsinn! Leichter können wir an das Fleisch des Hirsches gar nicht herankommen. Der Löwe hat uns nur die Arbeit erleichtert.«

Ohne es zu wollen, kicherte ich. Dieses Argument kam mir allzu irrsinnig vor.

Baram blickte Kurak finster an. »Ach ja? Du kannst ja gerne hingehen und es ihm abnehmen, wenn du so schlau bist.«

Atemlos warteten wir, was nun geschehen würde. Als Kurak sich wortlos umwandte und auf die Höhle zumarschierte, war mein erster Impuls, ihn zurückzuhalten, und schon streckte ich die Hand nach ihm aus. Ich konnte doch meinen Freund – auch wenn der sich so sehr verändert hatte – nicht offenen Auges in den sicheren Tod laufen lassen!

Baram jedoch hielt meine Hand mit eisernem Griff fest, und der Blick, den er Kurak hinterherwarf, war hasserfüllt. »Lass ihn! Vielleicht ist dies die beste Gelegenheit, ihn endgültig loszuwerden.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, erscholl von der Höhle her ein furchterregend lautes, wütendes Brüllen. Die Worte gefroren mir auf den Lippen, und ich war sicher, Kurak eben das letzte Mal lebend gesehen zu haben. Das Brüllen des Löwen ging über in ein wildes Fauchen und dann in eine Art infernalisches Kreischen. Wie von Furien gehetzt, stürzte er aus dem Höhleneingang, und Kurak hing wie eine Klette an ihm. Der Löwe versuchte, ihn abzuschütteln, aber er schwang sich auf seinen Rücken und drückte ihm von hinten den Hals zu. Der Todeskampf des Tieres dauerte viele Minuten, aber schließlich schwand die letzte Kraft aus ihm und es sank zu Boden. Stolz stand Kurak über dem Kadaver, und seine hell leuchtenden Augen ließen uns alle zurückschrecken. Noch nie hatte ein Mann Derartiges vollbracht, und niemand würde uns glauben, wenn wir beim großen Sommertreffen davon erzählen würden. Betreten schweigend und mit einem mulmigen Gefühl in den Eingeweiden, machten wir uns auf den Weg in die Höhle, um den toten Riesenhirsch zu bergen. Niemand bemerkte in diesem Augenblick, dass Kurak uns nicht folgte, sondern draußen bei dem toten Löwen blieb, und niemand sah, wie er ihm seine noch kräftiger gewordenen Eckzähne in den Hals trieb und sein Blut austrank. Als wir mit dem zerlegten Hirsch wieder ins Freie traten, sahen wir im Fackelschein, dass Kurak dem Löwen bereits das Fell abgezogen und die großen, spitzen Zähne und Krallen herausgebrochen hatte. Niemand machte ihm sein Recht streitig, die Krallen und Zähne für sich zu behalten. Aber selbst mir lief beim Anblick meines ehemals besten Freundes ein Schauer über den Rücken.

Nun stand Kurak mit leuchtenden Augen vor Tabatai und nahm mit sanften Händen seinen Sohn entgegen. Er ging mit dem Säugling zum kleinen Bach hinunter, hielt ihn fest und tauchte ihn einmal kurz in das eiskalte Wasser. Das Baby hielt instinktiv die Luft an und schrie, sobald es wieder aus dem Wasser heraus war, seine Empörung in die Welt hinaus. Sein kleines Gesicht war von der Kälte puterrot geworden, und Kuraks Gesicht zeigte eine erstaunliche Rührung und Zärtlichkeit. Selbst Tabatai wurde von diesem Ausdruck berührt und dachte bei sich, dass dieses Kind Kurak vielleicht sein altes Selbst wiedergeben könnte. Stolz hielt der junge Vater den Säugling hoch über seinen Kopf und verkündete mit lauter Stimme: »Dies ist mein Sohn Kiran, und von diesem Augenblick an gehört er dem Wolfsclan an.«

Kapitel 2

Lautes Stimmengewirr umfing Tanita und mich, als wir Hand in Hand durch das gewaltige Zeltlager schlenderten und uns umsahen. Seit drei Tagen waren wir beim großen Treffen der Clans, das alle zwei Sommer stattfand, und noch immer hatten wir uns nicht an den Lärm, den Gestank und die vielen Menschen gewöhnen können.

Das große Lager nahm kein Ende. Die Menschen waren von weither gekommen und hatten hier ihre Zelte aufgeschlagen, um Verwandte und Freunde wiederzusehen. Neuigkeiten wurden ausgetauscht, über Hochzeiten, Geburten und Todesfälle und Tipps für die besten Jagdgebiete gegeben. Die Sommertreffen waren auch ein hervorragender Heiratsmarkt. Akira hatte beim letzten Treffen vor zwei Sommern Kurak hier kennengelernt und war dann zum Wolfsclan gekommen. Sie stammte vom Eulenclan, der in den Ebenen zehn Tagesreisen westlich von hier lebte.

Neugierig ließ ich meine Blicke umherschweifen und saugte förmlich all die Gesichter, Gerüche und Stimmen in mich auf. Tanita zerrte an meiner Hand und zog mich lachend hierhin und dorthin. Ich hatte Glück, dass sie schwanger war, denn ihr geschwollener Leib hinderte sie daran, allzu schnell von einem Händler zum nächsten zu eilen, sodass ich wenigstens etwas zu sehen bekam.

Die Menschen kamen von überall her und boten die unterschiedlichsten Waren an. Es gab fein gegerbtes Leder in unzähligen Farbtönen, von Cremeweiß über Sonnengelb bis hin zu Blutrot. Felle von Dutzenden Tierarten hingen von den Zeltstangen herab. Da waren braune Felle von Kaninchen, weiße mit schwarzen Schwanzspitzen von Hermelinen, graue von Rentieren, rötliche Rehfelle und sogar ein paar vereinzelte von Löwen oder gefleckten Leoparden. Aus Kochbeuteln aus Tierhaut, die über das Feuer gehängt wurden, dampfte es und duftete verführerisch nach gekochtem Fleisch mit Wurzeln und Steppenkräutern. Ein paar Meter weiter brutzelte eine große Riesenhirschkeule über einem Feuer, und der Duft ließ uns das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Liebster, komm, holen wir uns ein Stück, ich habe Hunger!« Energisch zerrte Tanita mich zu dem Stand, und lächelnd bot uns der Händler große Stücke dampfenden Fleisches an. Seit sie schwanger war, hatte Tanita immerzu Hunger. Ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten, als sie herzhaft in das saftige Fleisch biss und ein großes Stück davon herausriss. Mit der freien Hand schob sie sich eine dicke Strähne ihres rabenschwarzen, seidigen Haares hinter das Ohr und lachte mich an.

Wie ich sie liebte und begehrte! Sie war schön wie eine Göttin und immer fröhlich. Wir kannten uns von Kindesbeinen an, waren zusammen aufgewachsen, aber erst vor einem Sommer war sie meine Gefährtin geworden. Schnell hatte sie mein Kind empfangen, und ich ließ meine Blicke bewundernd ihre schlanke Gestalt entlangwandern, die mit Ausnahme ihres Bauches nicht unter ihrem großen Appetit zu leiden schien.

Erneut lachte sie und stopfte mir ein großes Stück Fleisch in den Mund. »Hier, bevor du verhungerst. Du starrst mich so an, dass dein Fleisch ganz kalt wird.«

Selbstvergessen rief ich mich in die Gegenwart zurück, lachte und kaute. Doch plötzlich und unvermittelt war sie da, die schwarze Wolke. Sie war nur für mich sichtbar, hing drohend über uns. Erschauernd zog ich Tanita fest an mich. Ein bedrohliches Gefühl kommenden Unheils lastete mit einem Mal schwer auf mir, und schnell versuchte ich, es abzuschütteln. »Ich kann mich eben nicht sattsehen an dir.«

»Auf jeden Fall solltest du dich trotzdem satt essen«, mahnte sie lächelnd.

»Du redest wie deine Mutter!«, neckte ich sie, wohl wissend, dass sie das gar nicht gerne hörte.

Schon drohte sie mir mit dem Zeigefinger, überlegte es sich dann aber anders und fuhr mit ihrer Hand durch mein dichtes, langes Haar. »Weißt du, dass dein Haar in der Sonne leuchtet wie helles, trockenes Wintergras?«

Entschlossen schüttelte ich die letzten Schatten ab und versuchte einen Scherz. »Was soll das heißen, trocken? Sieh doch nur, wie es glänzt.« Mit strengem Blick hielt ich ihr eine lange, blonde Strähne unter die Nase. »Siehst du? Es leuchtet wie ein Winterfuchs. Ach, was sage ich. Wie die Sommersonne selbst!«

Sie nieste. »Nein, es kratzt wie trockenes Wintergras.« Dann sah sie mich an und lachte, und ich musste sie einfach sofort küssen. »Den Nachtisch bekommst du heute Nacht im Zelt!«, flüsterte ich in ihr Ohr.

Einen Augenblick lang genoss ich ihr Kichern, aber dann rief wieder das Geschäft, und ich ging zu meinem kleinen Stand, an dem ich selbst gefertigte Feuersteinspitzen feilbot. Ohne mich selbst loben zu wollen, fand ich mich sehr geschickt in deren Herstellung. Während ich einige Steine nach Größe, Schärfe und Verwendungszweck sortierte, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief.

»Hallo, Jandor!« Scheu lächelnd stand Akira mit Kiran auf dem Rücken bei Tanita, winkte mir zu und ging schnell weiter.

Ich sah ihr sinnend hinterher. Sie schien tief in Gedanken versunken, und selbst von hinten konnte ich erkennen, wie ihr Lächeln schwand. Sie ging mit hängenden Schultern, und ich wusste, welche Sorgen auf ihr lasteten. Kurak war wieder irgendwo unterwegs, sie konnte nicht sagen, wo. Sie sah ihn immer seltener. Meistens war er die ganze Nacht unterwegs und kam erst im Morgengrauen heim, um dann den ganzen Tag zu verschlafen.

Ein weiterer Ruf riss Akira aus ihren düsteren Gedanken. Freudig beobachtete ich, wie ihre jüngere Schwester Ladai, die noch beim Eulenclan lebte, lachend auf sie zugelaufen kam und sie mit ihrer Umarmung fast erdrückte. Strahlend verlangte sie, Kiran auf den Arm nehmen zu dürfen, und ich sah Akira wieder lächeln. Ich war froh, dass sie auf andere Gedanken kam.

»Nein, das ist zu wenig. Du machst wohl Witze!« Dem Waffenhändler war nicht nach Scherzen zumute.

Dieser Kunde verlangte einen Speer, den der Händler aus einem Erlenstamm gefertigt und mit einer Feuersteinspitze versehen hatte, die so scharf war, dass sie ein Stück Mammuthaut ohne Kraftanstrengung durchtrennte, im Tausch für zwei Kaninchenfelle. Dieses Angebot war lachhaft, der Speer war das Zehnfache wert. Empört sah er dem Kunden in die Augen und erstarrte. Es waren keine Menschenaugen, die ihn anstarrten. Dies waren die Augen eines Wolfes, oder Nein … Noch nicht einmal ein rasender Wolf hatte derartige Augen. Sie schienen zu glühen und ihn zu durchbohren.

Ihn fröstelte, und rasch wandte er den Blick ab. »Tut mir leid, aber das kann ich nicht machen. Du musst noch etwas drauflegen.« Er wagte nicht, den dunkelhaarigen Mann mit den gelben Augen noch einmal anzusehen, und wühlte hektisch in seinen Waren herum.

Kurak knurrte. Es war sein Glück, dass der Händler die Augen niedergeschlagen hatte und ihn nicht ansah, sonst hätte er die messerscharfen, langen Eckzähne entdeckt und sicher sofort Alarm geschlagen. Wütend drehte er sich um und ging. Mit diesem Händler war er noch lange nicht fertig.

Als der Verkäufer wieder aufsah, war der Kunde verschwunden. Ungläubig kniff er die Augen einmal kurz zusammen und öffnete sie sogleich wieder. Nein, der Mann mit den Tieraugen war nicht mehr zu sehen. Wohin war er so schnell gegangen? Schnell ließ er seine Blicke suchend umherschweifen, voller Angst, er stünde hinter ihm, die Zähne bleckend, aber der Tiermann war verschwunden. Der Händler ließ seufzend die angehaltene Luft aus seinen Lungen und entspannte sich ein wenig. Er hoffte, dieser unheimlichen Gestalt nie wieder zu begegnen.

Der schwüle Abend war in eine stickige Nacht übergegangen, und Kurak atmete auf. Seit seinem Unfall bekam ihm das helle Sonnenlicht nicht mehr. Seine Augen begannen zu tränen, sobald er sich in der Sonne aufhielt, und seine Haut brannte. Im Schatten war es erträglicher, aber am wohlsten fühlte er sich, sobald die Sonne unterging. Die Nacht wurde ihm die liebste Zeit. Sie war voller aufregender Gerüche und Laute. Wenn seine Familie und seine Jagdgefährten vor den Feuern saßen und lachend und sich angeregt unterhaltend ihr gebratenes oder gekochtes Fleisch genossen, setzte er sich ein wenig abseits und lauschte in die Nacht hinein. Er hörte die Nachtfalter umhersirren, er sah Hasen und Wiesel, und er hörte den Herzschlag der Tiere – und der Menschen – noch auf Hunderte Meter Entfernung. Am erregendsten aber waren die Düfte. Blut, alles war voller Blut. Er konnte es sogar durch die Adern der Menschen strömen sehen, angetrieben von ihrem starken Herzschlag. Es kostete ihn seine ganze Kraft, sich zu beherrschen und nicht aufzuspringen und dem Erstbesten an die Kehle zu gehen.

Er war immer noch entsetzt über sich selbst, aber je mehr seine neuen Fähigkeiten wuchsen, desto weniger machte es ihm etwas aus, wie er sich veränderte. Er spürte und sah, dass seine Gefährtin Akira versuchte, ihm, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen, aber das machte ihm nicht einmal etwas aus. Er verspürte kein Verlangen mehr nach ihrer Umarmung. Vielmehr träumte er davon, ihr die Kehle aufzureißen und in ihrem Blut zu schwelgen, aber er wusste, dass er dies auf keinen Fall tun durfte. Der gesamte Clan würde ihn sofort töten. Also hielt er sich von ihr und allen anderen Menschen fern und ging seiner eigenen Wege.

Ich dachte viel über ihn nach, erschüttert über die Veränderungen, die mit meinem Freund vor sich gingen, aber so oft ich versuchte, mit ihm zu sprechen, zog er sich wortlos von mir zurück. Ich spürte seine tiefe, innere Zerrissenheit, seine Angst vor sich selbst, vor dem, was mit ihm geschah. Aber er ließ mich nicht an sich heran. Und wenn ich ehrlich sein sollte, so hatte auch ich Angst vor ihm. Nichts an ihm erinnerte mehr an meinen besten Freund, mit dem ich lachen und weinen konnte. Also ließ ich ihn bald mehr und mehr in Ruhe, auch wenn ich voller Trauer war. Ich hatte meinen Freund Kurak verloren. Dieser Mann hier war mir fremd, und er war mir unheimlich. Sollte er seiner Wege gehen.

Suman, der Waffenhändler, seufzte und wühlte sich aus seinen Fellen. Er hatte am Abend zu viel getrunken, nun musste er schon wieder hinaus und sich erleichtern. Leise vor sich hin schimpfend, trat er aus seinem Zelt und ging langsam den Pfad zwischen den anderen Zelten entlang bis zum Rand des riesigen Lagers. Prüfend warf er einen Blick zum Sternenhimmel empor, um abschätzen zu können, wie viel Schlaf ihm noch blieb, bevor er früh am Morgen sein Geschäft wieder eröffnen würde. Der frühe Vogel fängt den Wurm, dachte er grinsend und schlug sein Wasser ab.

Ein Rascheln im Gebüsch vor ihm ließ ihn aufsehen. Er ordnete seine Kleidung und wollte sich umwenden, als es erneut raschelte, lauter diesmal und näher. »Hallo? Ist da jemand?« Er konnte selbst nicht sagen, woher ihn diese plötzliche Angst überfiel, die sich wie eine Faust in seinen Magen bohrte, und war erstaunt über das Zittern in seiner Stimme. Sicher war das nur eine Wühlmaus. Das Gebüsch im Auge behaltend, ging er langsam ein paar Schritte rückwärts. Nichts rührte sich mehr, und er ließ erleichtert die unbewusst angehaltene Luft aus seinen Lungen und sagte laut: »Suman, du bist ein alter Angsthase!« Kopfschüttelnd und mit einem Lächeln wandte er sich um und trat den Rückweg an.

»Aah!« Sein Schrei blieb ihm fast im Halse stecken. Zu Tode erschrocken, blieb er wie angewurzelt stehen – und wagte nicht mehr, zu atmen. Nur zwei Meter von ihm entfernt leuchteten zwei gelbe Augen in der Dunkelheit. Ganz kurz überkam ihn die Erinnerung an den seltsamen Kunden. Er hatte genau dieselben Augen gehabt. Das waren seine letzten Gedanken. Etwas sprang ihn an und riss ihn um. Er spürte noch eine heiße Nässe an seinem Hals, und ihm ging auf, dass das sein eigenes Blut sein musste. Dann umfing ihn endlos tiefe Schwärze.

Befriedigt richtete Kurak sich auf und wischte sich über den Mund. Er war noch ganz berauscht von dem, was er soeben getan hatte. Sekundenlang spürte er Skrupel und kämpfte gegen den Impuls, neben dem toten Mann niederzuknien und zu sehen, ob er noch etwas für ihn tun konnte. Dann war das Gefühl der Schwäche vorbei, und er fühlte sich großartig. Die Nacht umfing ihn mit weichen Schwingen, und er wusste, er war ihr Geschöpf.

Wie köstlich dieses Blut war! Er hatte ja nicht gewusst, dass es Nahrung gab, die ihm solch unfassbare Wonnen bereiten konnte. Er spürte, wie sich jede einzelne Zelle seines Körpers mit der Lebenskraft des Mannes füllte. Abscheu erfüllte ihn, als er an das wässrige Tierblut dachte, das er bisher für eine Köstlichkeit gehalten hatte. Nein, die Zeit des Tierbluts war für ihn vorbei. Dieses hier war genau die richtige Nahrung für ihn. Sie hielt ihn nicht nur am Leben, sondern sie bot ihm Fähigkeiten, von denen er zuvor nicht einmal etwas geahnt hätte. Er fühlte sich unbesiegbar und unantastbar. Als er vor Freude einen Satz tat, befand er sich mit einem Mal hoch über dem gewaltigen Zeltlager und konnte die Menschen winzig klein dort unten erkennen.

Tag für Tag, Winter für Winter kämpften diese schwachen Sterblichen um ihr Überleben. Er aber, er hatte das nun nicht mehr nötig. Sein Blick durchdrang die Schwärze der Nacht, und er witterte all die Menschen mit ihrem köstlichen Blut. Hunger würde es für ihn nicht mehr geben.

Am nächsten Tag wurde die Leiche des Waffenhändlers Suman gefunden. Seltsam bleich lag er auf dem Rücken am Rande eines Gebüsches, und deutlich waren an seinem Hals große Wundmale zu erkennen.

»Wahrscheinlich war es ein Säbelzahntiger. Seht euch die großen Bisslöcher an.«

»Aber wenn es einer war, wieso hat er ihn nicht gefressen? Bis auf die Wunden am Hals scheint er unverletzt zu sein.« Misstrauisch betrachtete einer der älteren Männer Sumans Leichnam.

»Er wird durch irgendetwas gestört worden sein und ist verschwunden«, mutmaßte ein anderer Mann.

Sumans sterbliche Überreste wurden begraben und eine kurze Begräbnisfeier abgehalten. Das Sommertreffen neigte sich dem Ende zu, und niemand wollte allzu lange über diesen Fall nachgrübeln, denn es galt, die kurze Zeit auszunutzen, in der man seine Verwandten und Freunde aus entfernten Lagern noch sehen konnte.

Bakai und ich machten uns jedoch weiterhin Gedanken, wer Suman dies angetan haben könnte. Im Grunde wussten wir es bereits, weigerten uns aber noch, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Es konnte nur Kurak gewesen sein. Wir hatten uns den Tatort detailliert angesehen. Nirgendwo waren Spuren eines Raubtieres zu entdecken, es gab lediglich menschliche Fußabdrücke. Aber wieso hätte Kurak das tun sollen?

Sicher, wir hatten von dem kleinen Streit zwischen ihm und Suman gehört, aber wegen dieser Lappalie würde Kurak doch niemanden umbringen. Aber was, wenn doch? Konnten wir uns ihn betreffend überhaupt noch sicher sein? Er veränderte sich mehr und mehr, zog sich immer mehr von uns allen zurück, ja, oft bekamen wir ihn tagelang nicht zu Gesicht. Er sprach kaum noch, und niemand wusste, was in ihm vorging. Was war bloß bei diesem Unfall mit ihm geschehen? War seine Seele gestorben und ein fremder Geist hatte seinen Körper in Besitz genommen? Wo war der Kurak, den wir einst kannten?

Er war stets ein humorvoller, gerechter und aufrichtiger Mann gewesen. Voller Freude hatte er auf sein erstes Kind gewartet. Ich sah ihn vor mir, wie sein Gesicht strahlte und seine Zähne blitzten, als er mit wehendem Haar auf mich zu rannte, um mir zu erzählen, dass Akira ein Kind erwartete. Nun hatte er einen Sohn und allen Grund, stolz darauf zu sein. Aber Akira war immer allein. Wenn sie morgens aufwachte, hatte Kurak sich bereits schlafen gelegt, und meistens hatte er ihr von seinen nächtlichen Ausflügen ein paar erbeutete Tiere mitgebracht. Das war aber auch schon alles, was er für seine Familie tat.

Ich beobachtete Akira voller Sorge. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen vor Kummer und Angst. Es musste dringend etwas passieren.

Wenige Tage später waren zwei weitere Männer und eine Frau verschwunden. Einer der Vermissten wurde kurz darauf gefunden, mit eben solchen Bissmalen am Hals wie Suman, und inzwischen glaubte niemand mehr, dass ein Tier dafür verantwortlich war. Ein Mörder musste unter uns umgehen.

Kurz vor Ende des Sommertreffens fand die traditionelle Großjagd statt, an der die besten Jäger der jeweiligen Clans teilnahmen. In diesem Jahr ging die Jagd auf Auerochsen. Eine große Herde dieser gewaltigen Tiere graste einen halben Tagesmarsch südlich des Lagers. So behäbig diese massigen Tiere auch wirkten, so waren sie doch gefährlich. Man sah es ihnen nicht an, aber sie konnten sich blitzschnell bewegen und einen Mann mit Leichtigkeit auf die spitzen Hörner nehmen.

Wir näherten uns der Herde gegen den Wind, sodass die Tiere uns nicht wittern konnten. Hinter niedrigem Birkengestrüpp und Krüppelkiefern schlichen wir uns an und waren vor allzu misstrauischen Blicken geschützt. Die Herde bestand in erster Linie aus Mutterkühen mit ihren zarten, im Frühjahr geborenen Kälbern. Die meisten Kühe lagen wiederkäuend im Gras, ihre Kälber tollten um sie herum, und einige weideten noch in der Nähe des breiten Flusses, dessen Ufer von Geröll und großen Felsbrocken übersät waren. Am Rand der gewaltigen Herde, die einige Hundert Tiere zählte, standen aufmerksam ein paar alte Kühe und witterten.

Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als wir auf Angriffsnähe herangekommen waren. Das letzte Stück waren wir gekrochen, um von den misstrauischen Tieren nicht entdeckt zu werden. Es wurde höchste Zeit, mit der Jagd zu beginnen, denn Unruhe breitete sich in der Herde aus; für die Nacht wollten die Tiere an einen anderen Ort ziehen. Schwerfällig erhoben sich die Kühe, um ihre Kälber noch einmal trinken zu lassen, bevor sie sich auf den Weg machten.

Als der erste Speer flog und eine Kuh in die Flanke traf, vergrößerte das die Unruhe der Tiere, sie muhten nervös, machten aber noch keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen.

Weitere Speere flogen, abgeworfen aus der Deckung, um die Tiere so lange wie möglich ruhig zu halten, und trafen Kälber und Kühe oder auch nur den sandigen Boden. Inzwischen waren alle Tiere auf den Beinen, und rasch steigerte sich die Unruhe zu Panik. Sie begannen zur Seite hin auszubrechen. Genau das durfte nicht geschehen, und so griffen wir nun endgültig an. Mit lautem Geschrei liefen wir direkt auf die Tiere zu, fächerförmig, um sie von den Seiten her einzukreisen und ihnen den Fluchtweg abzuschneiden. Den Tieren blieb nur der Fluss als Ausweg. Blind vor Angst rannten die Kühe über das Geröll und zwischen den Felsbrocken hindurch zum Fluss. Die Steine behinderten ihre Flucht, einige stürzten und brachen sich die Beine. Ihre Körper hinderten nachfolgende Tiere daran, schnell das Wasser zu erreichen, und die Speere trafen immer häufiger ihre Ziele.

Mit tödlicher Ruhe rannte ich neben den anderen Jägern her, sprang über Steine hinweg und visierte das erste Tier an. Die kräftige Kuh war aufgesprungen und bereits auf halbem Weg zum Fluss. Sie führte kein Kalb und rannte blind vor Angst auf das Wasser zu. Ihr rechter Vorderhuf stieß gegen einen Stein, aber sie fing sich wieder und raste weiter. Sofort blieb ich stehen, hob den Arm und warf meinen Speer mit aller Kraft. Er beschrieb in der Luft einen Bogen, senkte sich dann hinab und traf die Kuh in die Flanke. Das massige Tier brüllte, lief noch zwei oder drei Schritte, getragen vom eigenen Schwung, und fiel in das flache Wasser des Flusses, das hoch aufspritzte. Schon hatte ich die Kuh erreicht, zog meinen Speer heraus und wollte dem Tier den Todesstoß geben, aber es war bereits verendet, die Waffe hatte sein Herz direkt durchbohrt. Rasch blickte ich mich um, das nächste Tier suchend.

Es war ein Gemetzel. Inzwischen waren auch die anderen Jäger bei den brüllenden Tieren angekommen und töteten die Gestürzten mit ihren Messern, indem sie ihnen in die Kehle stachen. Über die Hälfte der Herde war über den Fluss entkommen, aber was machte das schon. Die Jagd war überaus erfolgreich, das Fleisch würde für alle Clans wochenlang reichen.

Das Ufer des Flusses, die Steine und der zertrampelte Sand waren inzwischen rot von Blut. Auch das Wasser des flachen Ufers hatte sich rot gefärbt, und immer noch strömte Blut aus den unzähligen Wunden der Tiere in den Sand und ins Wasser. Herzzerreißendes Brüllen und Röcheln lag in der Luft und vermischte sich mit dem Angstschweiß der Tiere und dem Geruch des Blutes, der sich wie ein Ölfilm über alles legte.

»Habt Dank, ihr Geister dieser Kühe, dass ihr für uns gestorben seid und wir mit eurer Hilfe weiterleben dürfen. Nehmt unseren tiefen Dank und verzeiht uns, dass wir euch töten mussten. Wir werden eurer auf ewig gedenken.«

Mit diesem Gebet auf den Lippen ergriffen die Männer um mich herum ihre Messer, um ihre Jagdbeute zu zerlegen. Auch ich setzte mein Messer an, um mit dem Häuten einer Kuh zu beginnen. Da erklang ein Schrei, schrill und durchdringend. Alarmiert sah ich auf und bemerkte dabei, dass die Sonne inzwischen vom Horizont verschluckt worden war. Blutrot wie das Ufer und das Wasser leuchtete nun auch der Himmel. Vor dieser Kulisse entdeckte ich die Silhouette eines menschlichen Körpers, der von den Hörnern einer Kuh hoch in die Luft geschleudert wurde. Als er dumpf auf dem Boden aufschlug, raste die Kuh heran und trampelte auf ihm herum.

Bevor ich aufspringen konnte, waren ein paar Männer heran und töteten das Tier. Es war bei der Jagd verletzt, aber nicht getötet worden, und hatte sich rasend vor Wut und Schmerz auf einen der Männer gestürzt. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Er war von den Hörnern und Hufen auf grausame Art zu Tode gebracht worden.

Während allgemein noch Aufregung herrschte, hatte ich plötzlich eine Vision. Aber … War es eine Vision, oder war es … »Kurak!«, flüsterte ich und weigerte mich, meinen Augen zu trauen. Ich sah meinen ehemaligen Freund zwischen den toten Tieren herumlaufen, sah, wie er sich niederbeugte, um Blut aus der Kehle einer Kuh zu trinken, und entdeckte ihn dann zwischen den Männern, die vorsichtig versuchten, den getöteten Jäger höher das Ufer hinauf zu tragen. Er beugte sich über den Leichnam, und gelb blitzten seine Augen auf. Ich hatte das Gefühl, als wisse er genau, dass ich ihn beobachtete, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Dann leckte er voller Genuss das Blut von den Wunden des toten Mannes. Der Magen drehte sich mir um; angewidert und ungläubig verzog ich mein Gesicht, als mit einem Mal die Männer, die den Toten trugen, aufschrien. Einer von ihnen griff sich an den Hals, und voller Grauen sah ich Kurak dort hängen.

Mit einem Satz war ich bei ihm. Der Mann war zu Boden gestürzt. An seinem Hals klaffte eine große Wunde, aus der das Blut im Takt seines Herzschlages hervorschoss.