Die Tränen des Bären - Natascha Kribbeler - E-Book

Die Tränen des Bären E-Book

Natascha Kribbeler

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Beschreibung

"Unendlich viele Jahrtausende lang war es nur der Gedanke an Tanita, der mich am Leben gehalten hatte. Die winzig kleine Chance, sie eines Tages wiederzusehen, ihren Duft riechen, ihre Haut spüren, ihre Stimme hören zu können." Jandor, der erste Vampir, hat bei den Wikingern in Norwegen eine neue Heimat gefunden. Und er kann sein Glück kaum fassen: er begegnet dort Tanita wieder, seiner großen, nie vergessenen Liebe. Doch sie ist inzwischen eine Sklavin und nicht frei in ihren Entscheidungen. Als Tanita von Vampirjägern entführt wird, kommt Hilfe von unerwarteter Seite: Akira, Jandors einstige Widersacherin, ist in den Norden gekommen, um sich mit ihm zu versöhnen. Zufällig stößt sie auf Tanitas Entführer. Wird sie ihre Konkurrentin retten? Oder die Gelegenheit nutzen, um Jandor für sich zu gewinnen? Von Natascha Kribbeler sind bei Forever erschienen: In der Reihe Jandor-der-Vampir: Der kalte Kuss der Wölfe Der geheime Ruf des Raben Die Tränen des Bären Das Lied der Eule In der Reihe Heavy-Nights: Küsse niemals einen Rockstar Ein Rockstar in den Highlands

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Die AutorinNatascha Kribbeler, geboren 1965 in Hamburg, ist ausgebildete Rechtsanwaltsgehilfin. 2002 zog sie der Liebe wegen nach Bayern. Ihre großen Interessen Geschichte und Geographie lebt sie in ihren Hobbys Schreiben, Fotografieren und Reisen aus.

Das Buch»Unendlich viele Jahrtausende lang war es nur der Gedanke an Tanita, der mich am Leben gehalten hatte. Die winzig kleine Chance, sie eines Tages wiederzusehen, ihren Duft riechen, ihre Haut spüren, ihre Stimme hören zu können. «

Jandor, der erste Vampir, hat bei den Wikingern in Norwegen eine neue Heimat gefunden. Und er kann sein Glück kaum fassen: er begegnet dort Tanita wieder, seiner großen, nie vergessenen Liebe. Doch sie ist inzwischen eine Sklavin und nicht frei in ihren Entscheidungen. Als Tanita von Vampirjägern entführt wird, kommt Hilfe von unerwarteter Seite: Akira, Jandors einstige Widersacherin, ist in den Norden gekommen, um sich mit ihm zu versöhnen. Zufällig stößt sie auf Tanitas Entführer. Wird sie ihre Konkurrentin retten? Oder die Gelegenheit nutzen, um Jandor für sich zu gewinnen?

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Originalausgabe bei Forever.Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinSeptember 2015 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat/Fotostudio Koch Roding

ISBN 978-3-95818-060-4

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Kapitel 1

Mit der Morgendämmerung lichtete sich der Nebel, und wir glitten direkt in die ersten Strahlen der Sonne hinein. Gleichmäßig pflügten die Ruder durch das klare Wasser, und als sie es verließen, als wollten sie Luft schöpfen, zauberte das rote Licht des Sonnenaufgangs unzählige Funken wie glitzernde Diamanten in jeden einzelnen Tropfen, der von ihnen herabfiel, zurück in die eisigen Fluten des Fjords.

Staunend sah ich mich um. Während der Nacht hatte das Langschiff regungslos in einer Bucht verharrt, während der Nebel waberte und ich meine Gefährten auf dem Schiff nur als Schemen erkennen konnte. Der dichte Dunst schluckte nicht nur die Sicht, sondern auch die Geräusche. Das Licht der Fackeln zeichnete orangefarbene Punkte in den Nebel, und das Klappern und Klirren der Männer klang gedämpft.

Sie bereiteten sich vor. Spannung lag in der Luft, so dicht, dass ich sie beinahe mit Händen greifen konnte.

Ich begann eine Ahnung davon zu bekommen, wie es kurz vor einem Angriff sein mochte. Vor einem der zahlreichen Überfälle auf Klöster und Dörfer.

Doch dies war kein Überfall. Heute war ein besonderer Tag.

Wir kehrten heim.

Nein, das war nicht ganz richtig. Ich kehrte nicht nach Hause zurück. Ganz im Gegenteil. Ich würde in wenigen Augenblicken zum ersten Mal mein neues Zuhause erblicken.

Für meine Kameraden jedoch waren diese Augenblicke erfüllt von nervöser Erwartung und Anspannung.

Wie würden ihre Familien reagieren? Würde die Beute reichen für einen eigenen Hof, für die Werbung um die begehrte Braut?

Was mich betraf, so war ich noch angespannter als die Männer um mich herum. Die Wikinger, die von ihrer Beutefahrt in Britannien zurückkehrten.

Denn ich wusste nicht, was nun auf mich zukam. Noch nie in den Tausenden von Jahren meines Lebens war ich so weit im Norden gewesen. Was würde mich hier erwarten? Würde ich meine Freunde wiederfinden? Oder neue Freunde kennenlernen?

Lächelnd hatte ich während der endlosen Nachtstunden ihre Vorbereitungen beobachtet. Niemand schlief. Selbst das wunderbare Schiff schien von der Aufregung angesteckt worden zu sein. Obwohl es fast windstill war, hob und senkte es immer wieder seinen Bug, als würde sein vor Spannung rasendes Herz seine Atmung beschleunigen, ganz so, als könnte es die Ankunft nicht mehr erwarten.

Ich sah zu, wie der blonde Sven sein langes Haar kämmte. Sorgfältig glättete er Strähne für Strähne.

»Machst du dich schön für deine Ragnhild?«, fragte ich neugierig.

Der junge Mann sah mich nervös an. »Noch ist sie ja nicht meine Ragnhild. Aber ich hoffe, sie wird es bald.«

Ich grinste. »Du bist schön genug. Pass auf, dass ihr Vater dich nicht für einen eitlen Pfau hält und seine Tochter doch noch jemand anders gibt.«

Erschrocken hielt Sven in der Haarpflege inne. »Meinst du wirklich?« Er ließ den Kamm sinken.

Ich wies mit einer Kopfbewegung zu Olaf hinüber. »Siehst du? Er könnte eine ernsthafte Konkurrenz für dich sein. Väter stehen auf wehrhafte Männer, die ihre Töchter beschützen können.«

In Wahrheit war Olaf sicherlich kein ernst zu nehmender Konkurrent. Sein Gesicht war so zugewachsen von seinem dichten schwarzen Bart, dass man es kaum erkennen konnte. Das, was nicht von dem Gestrüpp bedeckt war, seine Stirn und seine Augen, war hinter seinem krausen schwarzen Haar verborgen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass eine Frau Lust hatte, sich erst einen Weg durch dieses Dickicht bahnen zu müssen, bevor sie Olafs Lippen küssen konnte.

Falls er Lippen besaß. So genau wusste das niemand.

Aber er besaß das Talent, das Beste aus sich zu machen. Tagelang hatte er sein Kettenhemd mit Sand poliert, bis sein Funkeln selbst durch den Nebel drang. Auch sein Helm glänzte, und auf einen Vater würde er sicherlich Eindruck machen.

Sven stand immer noch regungslos da, unsicher, was er nun tun sollte.

Ich lachte und schlug ihm auf die Schulter. »Ich habe nur einen Spaß gemacht. Aber es stimmt schon, was ich über Väter sagte. Präsentiere deinen Anteil. Lass ihn im schönsten Licht leuchten. Beweise ihrem Vater, dass du ihr ein großartiges Leben bieten kannst. Dann hast du nichts zu befürchten.«

Ich verstummte. Auch ich war ein Vater. Aber meine Kinder waren fort. Pheos, mein erster Sohn, war tot. Gestorben in der Gluthitze des Vulkans in Pompeji. Urs, mein zweiter Sohn, lebte weit entfernt in Britannien. Und dann war da noch Gudrun, meine Tochter. Sie war den fürchterlichsten aller Tode gestorben. Lebendig verbrannt war sie, während ihr ungeborenes Kind, mein Enkel, noch versucht hatte, ihren Leib zu verlassen.

Still stieg ich über Kisten und Ruderbänke hinweg und blickte vom Heck des Schiffes in die Nacht hinaus. Selbst meine scharfen Augen vermochten den Nebel nicht zu durchdringen, der über dem Fjord lag. Den Nebel meiner Vergangenheit jedoch überwanden sie mühelos, und ich durchlebte all die Dinge noch einmal, die mich schließlich hierher geführt hatten.

In die Länder des Nordens.

Hinter mir hörte ich die leisen Stimmen der Männer, die dieses Land bewohnten. Rau, hart und kantig waren sie, wie dieser Fjord. Und doch auch so klar wie das Wasser unter dem Schiffsrumpf. So mutig wie die Bären, die hier lebten. So rein und schön wie die Strahlen der Sonne, die uns empfingen.

Ob ihre Frauen so lieblich waren wie die blumenübersäten Wiesen, an denen wir vorbeigesegelt waren? So wild wie die Wasserfälle, die sich von den hohen Felsen herabstürzten? Oder waren sie wie ihre Männer? Als ich mir eine passende Frau neben Olaf vorstellte, musste ich grinsen, und die Wehmut meiner Erinnerungen fiel von mir ab.

Ich ging zu Nachtwind hinüber, meiner wunderschönen Stute, die mich leise schnaubend empfing, und streichelte ihr samtiges Maul. »Nun hast du es bald geschafft«, flüsterte ich. »Nicht mehr lange, und du darfst wieder deine Hufe über das Gras fliegen lassen.«

Sie stieß mich sanft an, ihre langen Ohren richteten sich abenteuerlustig auf, und ich klopfte an ihren schwarzen Hals.

Die Geräusche an Bord wurden lauter, und im Osten erkannte ich einen ersten zaghaften Lichtschimmer.

Plötzlich wurde auch ich wieder von der Nervosität heimgesucht, die sich auf dem Schiff breitgemacht hatte. Aber ich hatte nichts, das ich zusammenpacken konnte. Nichts, das ich herrichten musste.

Nur mich und mein Pferd.

Endlich hob sich der Nebel, und einmal noch nahmen die Wikinger ihre Plätze an den Ruderbänken ein. Kräftige Arme führten das Schiff noch einmal auf den Fjord hinaus. Ganz schmal war er hier schon geworden. Immer näher rückten auf beiden Seiten die steil aufragenden Felswände an unser Schiff heran, als wollten sie es zermalmen.

Oder mit einer Umarmung begrüßen.

Und dann wichen nach der nächsten Biegung auf der linken Seite die Berge plötzlich zurück und machten Platz für eine weite Ebene. Hellgrün leuchtete sie in der Morgensonne, durchzogen von einem klaren, rasch dahinfließenden Bach und bestanden von einem Dutzend Häusern aus dem Holz der vielen Bäume um die Ebene herum.

Wir waren zu Hause.

»Willkommen in Thorsdal!«

Es gelang mir kaum, den Blick von dem Mann zu wenden, der uns am Strand erwartete und mit dröhnender Stimme begrüßte. Hinter ihm warteten Dutzende weiterer Menschen, und ich las die Ungeduld in ihren Gesichtern. Doch in diesem Moment hatte ich nur Augen für den Häuptling. Er war ein Hüne, sogar noch größer als meine Reisegefährten, die allesamt hochgewachsen waren, und mich überragte er gar um eine Haupteslänge. Aber es war nicht nur seine Größe, die mich faszinierte. Sein langer Umhang aus Bärenfell gab ihm ein wildes Aussehen, ja sogar der Geruch des Tieres haftete ihm noch an und verlieh ihm etwas Raubtierhaftes. Das Beeindruckendste jedoch waren seine Augen. Sie waren von einem hellen Blau und zeugten von einem schier unbezwingbaren Willen. Kein Wunder, dass dieser Mann ein Häuptling war. Selbst ich spürte die Macht, die von ihm ausging.

Nun ließ er seinen Blick prüfend über die zurückkehrenden Männer gleiten. Seine blonden Augenbrauen waren zusammengezogen, und es hätte mich nicht gewundert, wenn er mit seinen nächsten Worten Blitze und Donner ausgespuckt hätte! Genau so stellte ich mir Thor vor, den Gott des Donners, der Namensgeber dieses Ortes war.

Ich brauchte nicht zur Seite zu sehen, um zu erkennen, wie Sven neben mir zusammenzuckte und den Kopf zwischen die Schultern zog. Oh, wie gut ich ihn verstehen konnte!

Denn endlich gelang es mir, meinen Blick loszureißen von diesem Hünen und die Frau neben ihm zu betrachten. Sie wirkte neben ihm wie ein Kind, obwohl sie ebenfalls von stattlicher Größe war. Ihr rotbraunes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der über ihrer Schulter lag und das Sonnenlicht widerspiegelte. Sie trug ein wundervolles grünes Kleid über einem hellen Unterkleid, und auf ihrer Brust prangten zwei goldene Fibeln in der Form von sich in den Schwanz beißenden Schlangen. Dazwischen hing eine Kette aus großen Bernsteinen.

Wie hypnotisiert hingen Svens Augen an ihr, und während unsere Gefährten nun lautstark lachend und rufend das Schiff verließen, stieß ich ihm mitfühlend meinen Ellenbogen in die Rippen.

»Ich vermute, dass dies Ragnhild ist«, sagte ich fröhlich. »Und weißt du was? Ich bin froh, nicht in deiner Haut zu stecken!«

Lachend ergriff ich Nachtwinds Zügel und führte sie über den Landesteg vorsichtig von Bord. Geflissentlich ignorierte ich Svens böse Blicke, die meinen Rücken durchbohrten.

Doch mein Grinsen verging so schnell, wie es gekommen war.

Meine Füße hatten kaum den feuchten Strand betreten, da rannte ich, immer noch lachend, gegen einen braunen Felsbrocken.

Nein, gegen einen Bären. Einen Riesen. Und während ich quälend langsam meinen Kopf hob, um ihm ins Gesicht zu sehen, bemerkte ich die neugierigen Blicke von allen Seiten. Einige hatten gar mitten in der Begrüßung ihrer Familien innegehalten, um nicht zu verpassen, was Thengill mit diesem Fremden anstellen würde.

Inzwischen hatte mein Blick seine Augen erreicht. Entschlossen straffte ich meinen Rücken. Ich war ein Vampir! Was sollte ich mir Sorgen machen wegen eines menschlichen Häupt…?

»Wer ist das denn?«

Seine Stimme klang in der Tat wie Donnergrollen. Erschrocken zuckte ich zusammen, und Nachtwind warf ihren Kopf hoch. Rasch packte ich ihre Zügel fester. Es fehlte mir gerade noch, dass mir mein Pferd davonlief! Dann könnte ich gleich in den Fjord springen und nach Britannien zurückschwimmen.

Sofort fuhren sämtliche Köpfe zu uns herum. Neugier, Vorfreude, Mitleid, all das konnte ich lesen, und es trug nicht dazu bei, mein Wohlbefinden zu steigern.

»Verzeih«, sagte ich und hörte verärgert, wie kratzig meine Stimme klang. Ich räusperte mich und holte erneut Luft. »Ich hatte dich nicht gesehen und …«

»Mich nicht gesehen?«

Nun war auch der Letzte aufmerksam geworden. Sollte ich einfach einen Riesensatz tun und in den Wald dort hinten springen?

Natürlich nicht. Die daraus resultierenden Fragen würde ich niemals beantworten können, ohne mein Geheimnis zu verraten, und das war das Letzte, was ich tun würde.

Empört holte Thengill tief Luft, und sein Brustkorb schien dabei um das Doppelte in die Breite zu gehen.

Unwillkürlich tat ich einen Schritt zurück und stieß gegen Nachtwinds Nase, die verärgert schnaubte.

Die ersten Lacher erklangen.

Ich musste rasch handeln, ehe ich mich schon bei meiner Ankunft komplett zum Trottel machte!

»Ja.« Erneut straffte ich meine Schultern und erhob mich stolz zu meiner vollen Größe. »Gerade eben hattest du noch nicht genau dort gestanden.«

Verblüfft ließ Thengill die Luft aus den Lungen. »Willst du damit sagen, dass ich …« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Genau. Du hast mir im Weg gestanden.«

Ich hielt die Luft an. Alle hielten die Luft an! Reglos standen sie da und beobachteten uns.

Hinter Thengills breiter Stirn konnte ich es arbeiten sehen. Sollte er mich in der Luft zerreißen, mit dem Schwert zerteilen oder im Fjord ertränken?

Als er seinen Blick von mir nahm, war mir, als lösten sich unsichtbare Gewichte von meinen Schultern. Mit einem Mal konnte ich freier atmen. Mein Besuch im Norden würde wohl sehr kurz werden. Schade! Ich hätte gern nach meinen Freunden gesucht. Heimlich zog ich Nachtwind am Zügel näher zu mir heran, um mich schnell auf ihren Rücken schwingen und verschwinden zu können.

»Wer ist das?« Mit einem Mal klang die Stimme des Häuptlings nicht mehr dröhnend wie ein Gewitter, sondern so verwirrt, dass ich versucht war, ihm tröstend meine Hand auf den Arm zu legen.

»Wir haben ihn in Britannien gefunden«, wagte es Olaf, das Wort zu ergreifen.

»Gefunden?« Thengills Verwirrung steigerte sich noch, und seine Blicke sprangen von Olaf zu mir und wieder zurück wie ein nervöses Eichhörnchen.

»Ja. Er stand auf einmal neben uns und fragte nach einer Mitfahrgelegenheit.« Verlegen scharrte Olaf mit seiner Stiefelspitze im Sand herum.

»Und da habt ihr ihn einfach mitgenommen?« Der Häuptling schrie so laut, dass alle zusammenfuhren und ganz klein wurden. »Habt ihr Hohlköpfe auch nur einen Augenblick lang daran gedacht, dass er ein Spion sein könnte?«

Mutig erhob ich meinen rechten Zeigefinger. »Ich bin kein Spion! Seltsam, dass ich immer wieder dafür gehalten werde! Noch nie habe ich …«

Thengill fuhr zu mir herum wie zu einer dicken, ekligen Spinne in einer Ecke. »Immer wieder? Was soll das denn heißen?«

Ich öffnete meinen Mund – und schloss ihn wieder. Wie sollte ich erklären, wann und wo ich bereits diesen Verdacht erregt hatte, ohne mein Geheimnis zu verraten? Ohne mich noch verdächtiger zu machen?

Doch da mischte sich Sven ein. »Natürlich hatten wir das Gleiche gedacht«, begann er unsicher, aber mit jedem Wort wurde seine Stimme fester. Ragnhild hatte ihn fest im Blick, und ich hoffte, dass ihr Vater nicht den Ausdruck in ihren Augen bemerken würde. In dem Fall würde wohl nicht nur ich im Fjord landen.

»Aber er ist völlig harmlos. Sicher ein wenig verrückt. Aber ganz bestimmt kein Spion. Glaube mir, er wüsste gar nicht, wie das funktioniert.«

Unwillkürlich sah er zu Ragnhild hinüber und errötete vor Freude, als er die Bewunderung in ihren Augen sah.

»Er ist nicht nur ein wenig verrückt, sondern komplett irre«, mischte Björn sich ein, und Olaf nickte heftig. »Du hättest ihn sehen müssen, wie er aus dem Feuerschein kam und direkt auf uns zuritt. Und dann fragte er, ob er bei uns mitfahren könne. Stell dir das einmal vor! Wir kamen gerade von dem Kloster, das wir, nun, ein wenig erleichtert hatten. Und da steht er plötzlich vor uns.«

Thengill sah ratlos von einem zum anderen. »Wie kommt ihr bloß auf die Idee, dass er völlig harmlos ist? Nach dem, was ich da höre, muss er sehr gefährlich sein! Aber wie dem auch sei, auf jeden Fall wird es das Beste sein, wenn er erst einmal mein Gast ist.«

Ich konnte mir vorstellen, was er unter Gast verstand. Aber ich beschloss, das Spiel mitzuspielen. Schon allein deshalb, weil ich unbedingt erfahren wollte, was der Häuptling mit Sven anstellen würde, sobald er Wind davon bekam, wie seine Tochter ihn ansah.

Als wir uns zum Gehen wandten, fiel mir etwas ein, das Sven in Britannien zu mir gesagt hatte. Ich hatte seitdem nie wieder ein Wort darüber verloren, aber nun musste ich es wissen.

»Wie geht es Hervir?« Sven hatte behauptet, dass in seinem Dorf ein Mann dieses Namens lebte.

Abrupt blieb Thengill stehen. »Du kennst ihn?«

»Ja.« Falls es denn der Hervir war, den ich meinte. Sicher gab es nicht nur den einen. Mir war längst aufgegangen, dass Olvur untertrieben hatte, als er behauptete, der Norden sei nur sehr dünn besiedelt.

Thengills Gesicht verdüsterte sich, falls das überhaupt noch möglich war. »Er ist nicht mehr hier.«

»Was? Aber warum denn nicht?« Tiefes Bedauern durchfuhr mich. Wie schön wäre es gewesen, meinen guten Freund in die Arme schließen zu können!

»Es gab da einen Vorfall, als ihr fort wart«, brummte der Häuptling. Sein Blick streifte Sven, der jedoch davon nichts mitbekam.

Was ging hier vor?

Der Zug aus Zurückkehrenden und ihren Angehörigen setzte sich langsam in Bewegung und enthob Thengill einer Antwort. Während ich langsam am Rande der Menschenmenge mitlief, sah ich mich neugierig um.

Der Platz, an dem Thorsdal lag, war weise gewählt. Der nahe Wald lieferte genügend Holz für die Häuser und Schiffe und diente im Winter als Brennmaterial. Der klare Bach, der in den Fjord mündete, bot frisches Wasser, und die grüne Ebene war fruchtbar und weit. Hier würden Getreide und Gemüse gut gedeihen. Reichlich Fisch gab es im Fjord, und genug Wild im Wald. Diesen Menschen musste es gut gehen.

Und das sah man ihnen auch an. Fröhlich plaudernd wanderte die Gesellschaft auf den Dorfplatz zu. Der ganze Ort war auf den Beinen. Männer hatten die Arme um die Schultern ihrer Frauen gelegt, Kinder rannten aufgeregt voraus, gefolgt von kläffenden Hunden. Ich hörte die rauen Stimmen der Männer, die von ihren Abenteuern in Britannien erzählten, die neugierigen Fragen der Frauen und das Kichern der jungen Mädchen.

Als wir die Häuser erreichten, stellte ich fest, dass sie größer und robuster waren, als es von Weitem den Anschein gehabt hatte. Sie waren aus dicken, halbierten Baumstämmen gefertigt und wirkten, als würden sie auch den stärkten Stürmen standhalten. Ihre Giebel und die Eingangstüren waren herrlich verziert mit kunstfertigen Schnitzereien, die ineinanderverschlungene Tierleiber darstellten, meist Schlangen oder Drachen, aber ich entdeckte auch Wölfe, Pferde und Raben.

Die Menge zerstreute sich, und als mich unvermittelt Thengills Blick traf, war mir klar, dass mir nichts anderes übrig blieb, als ihm in sein Haus zu folgen.

Er hob kurz die Hand, und sofort war ein Mann mit kurz geschorenem Haar zur Stelle; ein Sklave, wie ich vermutete.

»Sela, kümmere dich um das Pferd meines Gastes.«

Der Angesprochene nickte, und mir blieb nichts übrig, als ihm Nachtwind zu überlassen. Sie wandte fragend den Kopf zu mir, als er sie fortführte, und ich nickte ihr zu, als würde sie mich verstehen können.

Wahrscheinlich konnte sie das.

Dann zog ich den Kopf ein und trat durch die niedrige Tür ins Langhaus ein.

Auch ich hatte einst ein prächtiges Langhaus besessen, im Land der Chauken in Germanien. Es unterschied sich kaum von diesem hier, was mir die gemeinsame Vergangenheit meines Stammes und dieser Nordgermanen bewies.

Aber welch Reichtum wurde hier zur Schau gestellt! Mein Heim war gemütlich und zweckmäßig eingerichtet. Es war alles vorhanden, um das Leben so angenehm wie nur möglich gestalten zu können, weiche Felle, Bänke zum Sitzen, Lager zum Schlafen, eine Kochstelle.

All das gab es hier auch. Doch die Wände zierten hier farbenfrohe Teppiche und Decken. Der Fußboden war mit einer dicken Schicht Binsen bedeckt, und die Tische und Bänke bestanden aus festem Holz und waren mit wunderschönen Schnitzereien verziert. Auf ihnen standen Kelche und Becher aus Silber oder gar Gold, große Trinkhörner mit versilberten Rändern in verzierten Haltegestellen, und soeben stellte Ragnhild persönlich einen Becher hin, in dem sich frisch gepflückte Blumen befanden.

Das Großartigste jedoch war der Hochstuhl des Häuptlings, in dem dieser soeben mit einem Seufzer Platz nahm. Sein dunkles Holz war so lange poliert worden, bis es glänzte, und seine Arm- und Rückenlehnen besaßen ebenfalls prächtige, mit Gold verzierte Schnitzereien.

Dieser Mann war wahrlich ein Häuptling!

Nun saß er da, atmete schwer und sah mich prüfend an. Ich fühlte mich wie ein Ochse auf dem Viehmarkt. Oder gleich wie ein Stier auf dem Weg zum Schlachter.

»Woher kennst du Hervir?«

Die Frage kam so unvermittelt, dass ich zusammenzuckte. In Sekundenschnelle fühlte ich mich zurückversetzt in mein eigenes Langhaus. Olvur, mein alter Freund, war aus dem Norden zurückgekehrt und hatte einige Freunde dabei, und einer von ihnen war Hervir. Ich hatte diesen Mann mit den ernsten grauen Augen sofort in mein Herz geschlossen, und er hatte sich als treuer Freund erwiesen, dem ich voll und ganz vertrauen konnte.

Aber ich konnte Thengill schlecht von den Chauken in Germanien erzählen. Beides gab es nicht mehr. Das Land und seine Bewohner hießen nun Sachsen. Was, wenn Hervir nie davon erzählt hatte, dort gewesen zu sein? Was mochte er Thengill überhaupt über seine Herkunft erzählt haben?

»Er ist mein Freund«, sagte ich. »Schon seit sehr vielen Jahren.« Das war zumindest nicht gelogen.

»Dein Freund, so, so …« Der Häuptling klopfte mit seinen Fingern auf seiner Armlehne herum, mit einem nach dem anderen und wieder von vorn, und machte mich noch nervöser. Sein Blick schien sich durch meine Augen direkt in meine Seele zu bohren und dort jede Lüge sofort zu entlarven.

»Woher kennst du ihn?«, fragte ich kühn. Schon häufig hatte ich erfahren, dass Angriff oftmals die beste Verteidigung war.

Das Erstaunen in seinem Blick milderte den Vorstoß in mein Innerstes ein wenig ab.

»Einst war er auch mein Freund«, gab er zögernd zu.

»War?«, fragte ich.

»Ja. Es ist vorbei.« Mehr würde er nicht sagen, das spürte ich. Herrisch hob er seine Hand, und sofort huschte eine junge Sklavin herbei und füllte Met in seinem Becher nach.

Als sie sich zurückziehen wollte, wies er wortlos auf mich, und sie kam zu mir, drückte mir einen der vielen Becher in die Hand und goss ebenfalls Met hinein.

Mir blieb nichts übrig, als den Becher zu heben, dem Häuptling dankend zuzunicken und so zu tun, als tränke ich.

»Du bist wie er!«

Vor Schreck ließ ich fast den Becher fallen und starrte Thengill erschrocken an. »Was?« Fast zitterte meine Stimme, und ein paar Tropfen des goldenen Getränks schwappten über meine Finger.

»Du weißt schon, was ich meine. Du trinkst nicht. Auch Hervir tat es nie. Er aß auch nie. Aber er sagte mir niemals, warum er es nicht tat.« Wieder bohrten sich seine Blicke in mein Herz hinein. »Vielleicht magst du es mir erzählen?« Nun erinnerte mich seine lauernde Stimme an einen Fuchs, der vor einem Loch wartete, bis die Maus erschien, um sie dann zu packen und zu Tode zu beißen.

Ich rang um Fassung und um Worte. Die Vampirjäger aus Britannien fielen mir ein, von denen ich gehört hatte, und Hitze durchfuhr mich. Wenn Thengill nun so ein Jäger war? Hatte er Hervir getötet? War ich leichtsinnig in eine Falle getappt? Auch ohne mich umzudrehen, wusste ich, dass ich nicht lebend durch die Tür kommen würde. Wenn dieses Dorf ein Jägerdorf war, war mein letzter Tag angebrochen. Mehr noch als Angst verspürte ich Ärger über mich selbst. Wie konnte ich nur immer so vertrauensselig sein? Ich hätte mir selbst in den Hintern beißen können!

Während durch meinen Kopf noch immer tausend Gedanken rasten und ich keinen davon zu fassen bekam, rettete mich Ragnhild.

»Vater!«, mahnte sie energisch. »Geht man so mit seinen Gästen um? Siehst du denn nicht, wie verwirrt er ist? Er ist gerade erst angekommen, hat eine lange Reise hinter sich. Lass ihn doch erst einmal zur Ruhe kommen, bevor du ihn ausfragst.«

Erstaunt sah ich sie an und bemerkte hinter ihrer liebevollen Strenge eine grenzenlose Traurigkeit. Was war hier geschehen? Wer oder was hatte die dunklen Schatten in ihre schönen Augen gelegt?

Mit einem Mal wirkte der große Häuptling müde. »Meinetwegen«, winkte er ab und wischte sich über die Augen. »Aber wir sprechen uns noch!«

Ich war entlassen. Doch durfte ich auch gehen? Versuchsweise schritt ich langsam zur Tür. Niemand hielt mich auf. Vorsichtig trat ich ins Sonnenlicht hinaus. Ich hatte einen leeren Dorfplatz erwartet, weil alle in ihren Häusern die Rückkehr ihrer Männer feierten. Doch stattdessen umgab mich nun rege Geschäftigkeit. An großen Spießen wurden mehrere dicke Ferkel geröstet. Aus den Dächern sämtlicher Häuser trat Rauch aus, überall wurde gekocht, gebraten und geräuchert. Eine Sklavin holte Wasser am Fluss, eine Magd lief mit einem Eimer voller Milch vorbei.

Dann entdeckte ich Sven. Er saß neben einem der Häuser an der Wand in der Sonne und schärfte sein Schwert.

»Hast du heute noch etwas vor?«, fragte ich neugierig und wies mit dem Kinn auf seine Waffe.

Er fuhr weiterhin verbissen mit dem Stein an der Klinge entlang.

»Ragnhild?«, fragte ich.

Endlich hörte er auf und blickte zu mir hoch. Er sah gegen die Sonne und kniff die Augen zusammen. »Er wird sie mir nicht geben.«

»Wie kommst du darauf?« Im Grunde war ich derselben Meinung, aber aus dem Grunde, weil ich meinte, der Häuptling würde seine Tochter niemandem geben. Kein Mann auf der Welt wäre gut genug für sie. Ich trat aus dem Licht und setzte mich neben Sven.

Eine Weile antwortete er nicht. »Wer bin ich denn schon?«, fragte er dann leise. »Ich bin kein Erstgeborener, habe keinen Anspruch auf einen Hof. Alles, was ich besitze, ist diese kleine Hütte hier.«

»Und deine Beute«, versuchte ich ihm Mut zu machen. »Und das ist nicht wenig! Du musst nur an dich glauben, dann wirst du ihn auch beeindrucken.«

»Wie willst du einen Felsen beeindrucken?«

Er hob erneut den Schleifstein, um weiterzuarbeiten, aber ich hielt seine Hand fest. »Was ist geschehen? Warum hat Ragnhild so traurige Augen?«

Da sah er mich an. Ich war mir nicht sicher, was ich in seinem Blick las. »Hervir hat Thengills Familie zerstört. Er ist schuld, dass sie so traurig ist, und er ist schuld, dass niemand seine Tochter bekommt.«

»Was?« Das konnte nicht mein Freund Hervir sein. Ehrlichkeit und Treue gingen ihm über alles. Er war ein Mann, dem Ehre noch etwas bedeutete.

»Eines Tages kam er her. Er war ein Händler, hatte wundervolle Stoffe und Tuchwaren. Sofort umlagerten alle Frauen seinen Wagen. Auch Manadis.«

»Thengills Frau, wie ich vermute?«

»Ja. Sie … Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber sie war ihm sofort verfallen.«

Das konnte ich mir sogar vorstellen. Hervir war ein sehr attraktiver Mann, groß und schlank, vom Kampf gestählt, mit langem dunkelblondem Haar und ebenmäßigem Gesicht. Sogar meine ehemalige Gemahlin hatte sich in ihn verliebt. Und es war ein Glück, dass ich mit ihr nur eine Zweckehe geführt hatte. Denn die Frau, die ich ganz tief in mir liebte, gab es nicht mehr. Und trotzdem beherrschte sie mein Herz, sodass es sonst keiner Frau gelang, es zu erobern.

Tanita. Ihr Haar war schwarz und glänzend wie Rabenflügel. Ihre Augen funkelten wie der Bernstein am Meeresstrand. Ein Körper, anmutig wie der eines Rehs. Wir liebten uns so tief wie der Ozean, so hoch wie der Himmel, so leuchtend wie die Sonne.

Und so strahlend wie die Sterne, zu denen sie gegangen war. Dreimal schon. Dreimal in meinem unendlich langen Leben war sie mir bereits entrissen worden, und jedes einzelne Mal hatte ich mir gewünscht, sterben zu können, sie zu den Sternen begleiten zu können, sie nicht allein gehen lassen zu müssen. Um nicht allein zurückbleiben zu müssen, allein in meinem Schmerz, meiner Einsamkeit und meinem Elend.

»Ja, das passt dann doch wieder zu ihm«, sagte ich leise, mehr zu mir selbst als zu Sven.

Auch Hervir hatte seine Liebe verloren. Hilda, meine Frau, die dann seine Frau wurde. Gemeinsam waren sie und Tanita gestorben, zusammen mit Gudrun, meiner Tochter. Ich fühlte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten, und blinzelte sie schnell weg, ehe es jemand bemerkte.

»Was meinst du damit?«, fragte Sven. »Macht er so etwas etwa öfters?«

»Nein. Im Gegenteil. Er würde niemals einem Freund die Frau nehmen.« Auch Hilda hätte er nicht genommen, hätte ich nicht mein Einverständnis gegeben.

»Aber er hat es getan!«, warf Sven hitzig ein.

»Was genau hat er denn gemacht?«, hakte ich nach. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Hervir, mein Hervir, zu so einer schmählichen Tat in der Lage war.

Meine Frage brachte Sven aus der Fassung. »Ja, also, er … er stand da bei seinem Wagen, strahlend und mit blitzenden Zähnen, und pries in den höchsten Tönen seine Waren an …«

»Dann war er nichts als ein guter Händler«, nahm ich ihn in Schutz.

»Aber Manadis … Sie war nur noch bei ihm. Sie vernachlässigte ihre häuslichen Pflichten. Schließlich lud Thengill ihn in sein Haus ein. Wir alle dachten, dass Hervir sein Haus nicht mehr lebend verlassen würde. Aber stattdessen machte er etwas mit ihm. Ich habe keine Ahnung, wie er es anstellte, aber innerhalb kurzer Zeit wurden die beiden Freunde.«

»Obwohl Manadis Hervir anhimmelte?«, fragte ich zögernd.

»Na ja … Um ehrlich zu sein, ließ er sie links liegen. Er kümmerte sich nicht um ihre Annäherungsversuche. Das muss Thengill beeindruckt haben, falls er überhaupt etwas davon mitbekam. Du weißt ja, wie Frauen sind. Sie können sehr gut heimlich … Nun, was ich sagen wollte … Es stimmt schon, Hervir verhielt sich wie ein Ehrenmann. Er tat nichts, um Thengills Ansehen zu beschmutzen.«

Ich war mir inzwischen sicher, dass es sich um meinen Freund Hervir handelte. »Was geschah dann?«, fragte ich neugierig.

Sven druckte herum. »Eigentlich redet man über so etwas nicht. Und ich weiß es ja auch nur vom Hörensagen …«

»Nun sag schon!«

»Also gut. Aber sag dem Häuptling bloß nicht, dass ich dir das erzählt habe! Dann kann ich mir Ragnhild nämlich wirklich aus dem Kopf schlagen.«

»Wo denkst du hin? Natürlich nicht. Du bist mein Freund, nicht er.«

»Manadis … Eines Nachts kroch sie in Hervirs Bett.«

»Was?« Das war auch für mich ein Schock. Keine ehrwürdige Frau würde so etwas tun.

»Ja. Hervir war empört, sprang auf und schickte sie fort. Durch den Tumult wurden natürlich alle wach. Thengill sah seine Frau, fast nackt, vor dem Bett seines Gastes stehen. Was sollte er da denken?«

»Hat Hervir ihm denn nicht erklärt, wie es wirklich gewesen war?«

»Natürlich hat er das. Aber was meinst du wohl, wem Thengill geglaubt hat? Seiner Frau oder einem Kerl, den er kaum kannte?«

Ich schluckte. Diese Sache war wirklich schwer zu verdauen. »Und was geschah dann?«

»Hervir beteuerte seine Unschuld, wieder und wieder. Manadis behauptete, Hervir hätte sie verführt. Natürlich geriet der Häuptling in Rage. Er hob sein Schwert, um Hervir zu erschlagen. Doch als er zuschlagen wollte, warf sich Manadis dazwischen. Statt seines Rivalen tötete Thengill seine eigene Frau.«

Ich war erschüttert. »Das ist ja schrecklich! Ich kann gar nicht sagen, um wen es mir am meisten leidtut.«

»Das wird wohl Thengill sein. Arglos hatte er den Händler zu sich eingeladen, sich mit ihm angefreundet. Und dann so etwas!«

»Aber Hervir konnte doch nichts dafür! Es war Manadis, die zu ihm kam.«

»Ja. Aber warum hatte sie das getan? Sie und Thengill hatten eine gute Ehe geführt. Niemand konnte das verstehen. Hervir, der Händler, musste sie verzaubert haben.«

Sven konnte nicht ahnen, wie nah er an der Wahrheit war.

Denn auch Hervir war ein Unsterblicher. Ein Vampir. Und Vampire verfügten über eine unglaubliche Verführungskunst. Selbst wenn sie es nicht darauf anlegten, fiel es Menschen schwer, ihnen zu widerstehen. Ganz besonders menschlichen Frauen, die einen äußerst attraktiven Mann vor sich hatten.

Ich konnte weder Hervir noch Manadis einen Vorwurf machen. Thengill schon gar nicht. Es war nichts als ein äußerst tragischer Unglücksfall.

»Wie alt war Ragnhild, als all das geschah?«

»Sie war noch ein Kind, so wie ich. Sie war zehn, ich elf Winter alt. Wochenlang gab es kein anderes Thema im Dorf.«

»Es muss furchtbar für sie gewesen sein, so jung ihre Mutter zu verlieren. Und dann auf solch grausige Art.«

Sven nickte stumm.

»Sie ist alles, was ihr Vater noch hat. Er hatte noch einen Sohn, Geisli, aber der starb schon vor vielen Wintern.«

Ich starrte nachdenklich auf den Fjord hinaus. »Du wirst es nicht leichthaben, ihn zu erweichen, dir seine Tochter zu geben. Du wirst ihm deine Treue beweisen müssen, vielleicht gar oftmals. Aber glaube mir, er hat nichts als das Glück seiner Tochter im Sinn. Sobald er feststellt, dass er sich auf dich verlassen kann, wird er dich als Schwiegersohn nicht mehr hergeben wollen.«

Nun beneidete ich Sven noch weniger als zuvor um seine Lage. Er würde es wirklich nicht leichthaben.

Die Tische bogen sich unter den Köstlichkeiten, und einen Moment lang bedauerte ich, all das Fleisch, den zarten Fisch, die gekochten Zwiebeln und den Kohl nicht kosten zu können, geschweige denn den goldfarbenen Met zu probieren.

Zur Feier der Rückkehr der Krieger hatte Thengill in seine Halle geladen, und es gab kein freies Fleckchen mehr im Haus. Die Diener und Sklaven hatten alle Hände voll zu tun, die vielen Gäste zu verköstigen und zu bedienen. Der gute Met wurde von den Töchtern und Hausfrauen selbst eingeschenkt, und ich brachte es nicht übers Herz, abzulehnen, als Ragnhild auch mein Horn füllte und mir dazu ein süßes Lächeln schenkte.

Sven saß neben mir, und ich konnte beobachten, wie er ein noch viel tieferes Lächeln von ihr bekam und errötete.

Als endlich alle satt waren und sich die großen Hunde unter den Tischen um die Reste balgten, räumten die Sklaven rasch die Tische frei.

Thengill rieb sich erfreut die Hände. »Nun zeigt, was ihr gefunden habt!«

Und dann wurde ein Sack nach dem anderen auf den Tischen geleert, und all das Gold, Silber und die Edelsteine funkelten im Schein des Feuers und blendeten die Augen.

Niemand hier schien Anstoß daran zu nehmen, dass diese Reichtümer mit Blut erkauft worden waren.

Mit dem Blut der unschuldigen Mönche der Klöster an der Küste Britanniens.

Ich war dazugestoßen, als diese Männer gerade ihre Beute auf ihr Schiff verluden. Die Beute, die nun unter allen verteilt wurde. Auch Thengill als Häuptling und Auftraggeber bekam seinen Anteil.

Schweigsam räumte Sven seinen Teil zusammen.

Ich beobachtete ihn. »Bist du zufrieden? Wenn ich mir das Gold so ansehe, so bin ich sicher, dass du damit einen schönen Hof samt Vieh kaufen kannst.«

»Ja. Dafür reicht es sicherlich. Aber ich weiß nicht, ob es Thengill für seine Tochter reicht.«

Das konnte ich auch nicht sagen. Nach dem, was ich über ihn erfahren hatte, konnte ich mir auch vorstellen, dass kein Gold der Welt für sie reichen würde.

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Du musst ihn fragen.«

Sven starrte mich an, als hätte ich ihm vorgeschlagen, dem Häuptling vor aller Augen sein Gold zu klauen. Stumm schüttelte er den Kopf.

»Was sagt denn Ragnhild dazu?«, wollte ich neugierig wissen.

»Wir … wir haben noch nicht darüber gesprochen.«

»Dann wird es aber Zeit! Ich sehe doch die Blicke, die sie dir zuwirft!«

»Ja, schon, aber …«

»Ich würde an deiner Stelle nicht zu lange zögern. Sieh sie dir an. Sie ist wunderschön. Sicherlich stehen die Bewerber schon Schlange!«

»Ja, ja, du hast ja recht. Aber trotzdem. Ich will noch warten.«

»Was? Worauf denn? Dass dir einer zuvorkommt?« Ich verstand ihn nicht.

»Nein! Ich will noch einmal auf Wikingfahrt gehen. Wenn ich das Doppelte vorweisen kann wie jetzt oder sogar noch mehr, kann Thengill sie mir gar nicht mehr verweigern.«

Er wollte auf Nummer sicher gehen. Das konnte ich verstehen. »Die Idee ist gut. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf, so sprich auf jeden Fall vorher mit ihr. Und mit Thengill. Sonst schnappt sie dir einer vor der Nase weg.«

Sven ließ den Kopf sinken. »Es stimmt ja, was du sagst. Da werde ich nicht drum herum kommen.«

Ich musste grinsen. Dieser junge Mann stieg, ohne zu zögern, auf ein Schiff, das auf dem endlosen Meer wie eine Nussschale wirkte, und vertraute sich damit den Naturgewalten an. Haushohe Wellen, Stürme, Schneegestöber und dichter Nebel, all das machte ihm nichts aus. Er kämpfte und raubte, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber kaum ging es darum, mit einer jungen Frau über eine Hochzeit zu sprechen, verließ ihn der Mut.

Überall auf der Welt waren die Männer gleich.

»Was hast du nun vor?«, fragte mich Thengill drei Tage später, als das Fest sich dem Ende zuneigte, auch die letzten Gäste sich von ihren Lagern erhoben und nach Hause taumelten.

In diesen drei Tagen waren wir zu Freunden geworden. Ich weiß nicht, ob es am Met lag, dem er reichlich zusprach, oder an meiner Ausstrahlung, aber noch in der ersten Nacht vertraute er mir die Geschichte an, die Sven mir schon erzählt hatte. Fast gelang es mir sogar, ihn zu überzeugen, dass Hervir keine Schuld an dem Vorfall traf. Aber nur fast. Die Wasserfälle würden erst noch ein paarmal gefrieren müssen, bevor er sich dazu durchringen konnte.

Nachdem ich nun wusste, wie schlecht er auf Hervir zu sprechen war, konnte ich mich nicht überwinden, ihn nach Olvur oder Skjöldur zu fragen. Wer konnte schon sagen, was mit ihnen geschehen war, falls er sie kannte!

»Ich würde mir gern ein wenig die Gegend ansehen, in der ich nun lebe«, erklärte ich. »Vielleicht finde ich sogar …«

Verflucht! Dass ich aber auch immer drauflosreden und dann erst nachdenken musste! Das hatte mich schon einige Male in die Bredouille gebracht.

»Du willst ihn suchen? Diesen Verräter?!« Thengills Gesicht wurde ganz rot. Nun, wo er wieder nüchtern war, war von einem möglichen baldigen Einlenken gar nichts mehr zu spüren.

»Das ist er nicht, und das weißt du. Und ja, ich will ihn suchen. Vielleicht finde ich ihn. Ich hoffe es. Ich kann ihn herbringen, und ihr könnt euch aussprechen …«

»Niemals! Wage es nicht, ihn hier anzuschleppen!«

»Dann eben nicht. Also ich werde mir die Gegend ansehen, und dann komme ich wieder. Falls du mich noch hier haben willst.«

»Ach, Jandor!« Thengill seufzte schwer und schlug mir auf die Schulter. Es fühlte sich an, als würden meine Eingeweide durchgeschüttelt. »Ich wäre schwer enttäuscht, wenn du nicht wiederkämst. Also dann, ich wünsche dir eine gute Reise.«

Er umarmte mich, und obwohl er dieses Mal sein Bärenfell nicht trug, fühlte ich mich wie zwischen den Pranken eines dieser gewaltigen Tiere gefangen.

»Ach ja«, sagte ich beiläufig, während ich auf Nachtwinds Rücken sprang. »Reiß Sven nicht den Kopf ab!«

»Wieso sollte ich das tun?« Ich sah es in seinem Kopf arbeiten.

»Deine Tochter könnte dir bestimmt die Antwort liefern!«

Ich wusste, dass Sven immer noch nicht mit Ragnhild gesprochen hatte. Meine Worte würden für die größte Verwirrung sorgen. Zu schade, dass ich es nicht miterleben würde!

Aber mich hielt nun nichts mehr. Ich musste hinaus, platzte fast vor Neugier, wie es hier in diesem Nordland aussah, was es zu entdecken gab und ob ich Hervir oder einen anderen meiner Freunde treffen würde.

Und nebenbei war ich inzwischen beinahe am Verdursten. Während alle tagelang feierten, aßen und tranken, blieb mir nichts außer dem kalten Opferblut in den großen Schalen, das ich heimlich trank. Es schmeckte grässlich, und nun musste ich die Erinnerung an diesen Geschmack unbedingt mit köstlichem, heißem und frischem Blut überdecken.

Ich gab Nachtwind die Zügel frei, und sie sprengte davon, ebenso froh wie ich, wieder die Freiheit zu spüren und der Enge des Dorfes zu entkommen.

Noch lange spürte ich Thengills Blick im Rücken und hörte es in seinem Kopf rattern.

Kapitel 2

Der Wald war tief und dunkel, ganz so, wie ich ihn liebte. Stellenweise war das Unterholz so dicht, dass Nachtwind nur im Schritt vorankam, und das Licht war diffus und dämmerig.

Um mich herum spürte ich die Gegenwart unzähliger Lebewesen. Unter dem Laub auf dem Boden verbargen sich Wühlmäuse, Igel und Dachse schnüffelten herum, und wir schreckten mehrere Hirschkühe auf. In der Ferne ahnte ich ein Rudel Wölfe. Ich hörte und sah sie nicht, aber ich wusste, dass sie da waren. Und unvermittelt standen wir einem gewaltigen Bären gegenüber.

Nachtwind blieb wie angewurzelt stehen und begann zu zittern.

»Ruhig!«, flüsterte ich und tätschelte ihren Hals. Ich spürte, wie sie lospreschen wollte, und zwang sie mit meinem Willen, ganz ruhig stehen zu bleiben. Eine Flucht hätte die sofortige Verfolgung des Bären ausgelöst, und ich wusste, dass diese Tiere unglaublich schnell laufen konnten. Hier im Dickicht des Waldes hätte das Raubtier bessere Chancen als das Pferd. Trotz meines stummen Befehls ging Nachtwind langsam rückwärts, ganz kleine, hektische Schritte, und warf ihren Kopf hoch.

Der Bär hatte eine Ricke erbeutet und war mit seiner Mahlzeit beschäftigt gewesen, als wir ihn gestört hatten. Nun streckte er den Kopf vor und sah uns mit seinen kleinen Augen an.

»Friss nur weiter. Lass dich nicht stören«, sagte ich leise und blickte ihm direkt in die Augen. Ich konnte dort nichts lesen. War er besänftigt? Oder würde er gleich angreifen?

Er brummte laut und streckte sich ein wenig mehr in unsere Richtung. Nachtwind bebte unter mir.

Ich befahl ihr, ein wenig schneller rückwärtszugehen, und hoffte, dass dem Bären seine schon sichere Beute wichtiger war als wir Störenfriede.

Und meine Hoffnung wurde bestätigt. Der Abstand zwischen uns vergrößerte sich, der Bär schickte uns noch ein Grollen hinterher, und endlich durfte Nachtwind lospreschen.

Auch ich atmete auf, als wir uns endlich in sicherer Entfernung befanden. Meine Achtung vor Thengill wuchs. Ich wusste, dass er den Bären, dessen Fell er trug, persönlich getötet hatte, nicht vom Pferd aus, sondern ihm gegenüber stehend, nur mit einem Speer in der Hand.

»Machen wir, dass wir fortkommen, was?«, raunte ich Nachtwind ins Ohr. Und das musste ich ihr nicht zweimal sagen. Sie streckte sich und rannte, als wäre der Bär tatsächlich hinter uns her.

Schließlich wurde der Wald lichter, und wir standen auf einer weiten Ebene. Felsbrocken lagen herum, als hätte ein Riese sie überall verstreut, und ein breiter Fluss schoss weiß schäumend dahin. Ich beschloss, seinem Lauf eine Weile zu folgen. Wo Wasser war, waren meist auch Menschen.

Der schlanke Rumpf des Schiffes pflügte durch das Meer, zerteilte die grauen Wogen wie eine scharfe Axt. Am Vordersteven, direkt unter dem hoch aufragenden Kopf des Drachen, stand ein Mann. Grimmig lächelnd blickte er nach oben und sah dem Drachen ins blutunterlaufende Auge. Auch von seinen langen Zähnen schien Blut zu rinnen. Ja, die Ungeheuer des Meeres würden es nicht wagen, seinem Schiff etwas anzutun.

Er zog seinen prächtigen Umhang aus grauem Wolfsfell dichter um sich und spähte zum Horizont. Gischt sprühte ihm in die Augen, aber es störte ihn nicht. Der Ort, an dem das Meer und der Himmel sich trafen, wurde immer wieder von hohen Wellen verdeckt. Der Tag war stürmisch, wieder und wieder schlugen Wellen über das Deck, all seine Männer waren bis auf die Knochen durchnässt. Aber was machte das schon. Der gleiche Sturm trug das Schiff in rasendem Tempo hinüber. Nach Britannien.

Die Augen des Mannes leuchteten vor Vorfreude. Dreimal schon war er dort gewesen. Hatte reiche Klöster und Kirchen geplündert. Dutzende dieser seltsamen Mönche waren unter seinem Schwert gestorben. Nun gierte die Waffe erneut nach Blut. Er würde sie darin baden, und er würde seinen Reichtum noch mehren.

Dabei war er bereits ein reicher Mann. Einst war er nichts als ein Diener, ein Unfreier. Sein Vater war verschuldet, und er, sein Sohn, verpflichtet, für den Großbauern zu schuften, um die Schulden abzuarbeiten. Aber dann hörte er von den Männern, die beladen mit Gold und Silber vom Meer zurückkamen. Dort drüben lagen unermessliche Reichtümer!

Er war fortgelaufen und mit dem nächstbesten Schiff, das ihn brauchen konnte, mitgefahren. Seine erste Waffe war die Axt, mit der er einst Bäume gespalten hatte. Doch schon seine erste Fahrt hatte ihn reich gemacht, und das Erste, was er sich gekauft hatte, war ein kostbares Schwert aus bestem Eisen. Unerschrocken hatte er in der ersten Reihe der Angreifer gestanden, hatte die jämmerlichen Wachleute des Klosters niedergemacht und so viel Gold zusammengerafft, dass er kaum alles tragen konnte.

Zu Hause hatte er einen großen Hof gekauft und mit allem ausgestattet, was ihm Wohlstand bis an sein Lebensende bringen würde.

Doch die Beutezüge hatten ihm keine Ruhe gelassen. Bald hatte er den Hof in die Hand seines Verwalters gegeben und war erneut losgesegelt. Ihm gefiel das raue Leben unter Männern, das Rauben und Töten. Und die Vergewaltigungen. Um ihre Vorräte aufzufrischen, überfielen sie neben den reichen Klöstern auch die Dörfer. Hier gab es Frauen im Überfluss, und er zeigte ihnen die Stärke der Nordmänner.

Als er auf seinen Hof zurückkehrte, war er so wohlhabend, dass er sich selbst zum Jarl ernannte, zum Fürsten. Er kaufte sich Sklaven und Sklavinnen, sodass er bald nichts weiter zu tun hatte, als sich bedienen zu lassen.

Doch das wurde ihm schnell langweilig. Es zog ihn wieder hinaus aufs Meer, sein Schwert dürstete.

Doch diese Fahrt war anders. Dieses Mal suchten sie nicht nach Gold und Edelsteinen. Davon hatte er mehr als genug.

Der wahre Reichtum waren die Menschen. Dort drüben gab es so viele von ihnen, wie gemacht zum Dienen. Er würde sich seine persönlichen Haussklaven selbst aussuchen und war nicht gezwungen, irgendeine Ware auf den Märkten zu erwerben. Und was übrig blieb, würde er selbst zum Verkauf anbieten. Er würde einen völlig neuen Geschäftszweig eröffnen.

»Jarl Kiljan«, hörte er eine Stimme hinter sich.

»Was willst du?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. Er hatte es nicht nötig, den Kopf zu wenden. Bald hatte er gar nichts mehr nötig. Er würde sich zum König erheben.

»Hier ist ein Becher mit heißem Met. Euch muss doch kalt sein.«

Kiljan nahm ihn ohne Dank entgegen. Die Wärme des Getränks tat ihm wohl, aber das mussten seine Männer nicht erfahren. Sie hatten ihm den Beinamen »der Eiserne« gegeben, er durfte sich keine Schwäche erlauben.

Grimmig starrte er weiter geradeaus. Lange konnte es nicht mehr dauern.

»Wer bist du, und was willst du?«

Erschrocken zog ich so hart an den Zügeln, dass Nachtwind empört schnaubte.

Neben einem Busch stand eine Gestalt, gehüllt in einen dunklen Umhang. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, denn über dem Kopf lag eine Kapuze. Die Stimme klang hell, aber hart und entschlossen. Was mich aber dazu bewogen hatte, sofort stehen zu bleiben, war der Pfeil, der schussbereit im Bogen lag und genau auf meine Brust zielte.

»Ich heiße Jandor«, rief ich und bemühte mich, meine Stimme ganz ehrlich klingen zu lassen. »Und wohin ich will, kann ich dir nicht sagen.«

»Warum nicht?« Die Sehne wurde noch ein wenig mehr gespannt. Was mich aber überraschte, war das leichte Zittern, mit dem das geschah. Und das kaum hörbare Beben in der Stimme. Es berührte etwas in mir, so sacht wie der Flügel eines Schmetterlings.

»Weil ich das selbst nicht weiß. Ich sehe mir das Land an, das ist die ganze Wahrheit.«

Der Bogen senkte sich ein wenig, und ich holte vorsichtig Luft.

»Du siehst dir das Land an?«

Das klang so erstaunt, dass ich meinte, mich verteidigen zu müssen. »Ja. Ich bin fremd hier und kenne mich noch nicht aus.«

»Das merkt man. Sei froh, dass ich es bin. Bei jedem anders wärst du schon tot.«

»Mit wem habe ich denn die Ehre?«

Die Gestalt zögerte, blieb aber noch in Deckung. »Ich wollte damit sagen, dass andere erst schießen und dann fragen. Du hast Glück, dass ich zu neugierig bin.«

Neugierig. Es konnte nur eine Frau sein! »Wer bist du?«, fragte ich erneut. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich tu dir nichts.«

Unter der Kapuze erklang ein leises Lachen, und nun war ich mir ganz sicher, dass es sich um eine Frau handelte.

»Du hast Humor! Ich bin die mit dem Pfeil!« Aber noch während sie es sagte, trat sie vor und zog in der gleichen Bewegung ihre Kapuze vom Kopf.

Und Tausende von Jahren waren fort. Einfach verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Ich stand wieder in der Höhle, und sie packte ihre Sachen.

»Ladai!«, flüsterte ich.

Und schon lag sie in meinen Armen.

Ihre Hütte war klein, aber ein Feuer verbreitete wohlige Wärme, und ich saß davor und hielt meine Hände über die Flammen.

»Wie lange ist es her?«, fragte sie.

Ich konnte sie nur ansehen. Sie war noch genauso schön wie an dem Tag, an dem sie uns verlassen hatte. Akira und mich.

Akira war meine Gefährtin gewesen. Nachdem ich Tanita verloren hatte, war sie die erste Frau, die es schaffte, ein Gefühl der tiefen Zuneigung in mir zu erwecken, eines, das der Liebe gleichkam. Als sie bei einem Unfall beinahe ums Leben kam, hatte ich sie wandeln müssen. Sie war neben mir die erste Unsterbliche.

Eines Tages stieß Ladai zu uns, ihre Schwester. Gegensätzlicher konnten zwei Schwestern kaum sein. Akiras Haar war rot wie die Feuersglut und ringelte sich wie lebende Schlangen, Ladais Haar jedoch war so hell, dass es fast wie reines Silber leuchtete, und reichte ihr bis weit über die Hüften. Vom ersten Augenblick an hatte sie versucht, mich zu verführen, aber es war ihr nie gelungen. Wenn ich liebte, war ich treu, und ich liebte Akira.

Doch eines Nachts kam Ladai heimlich zu mir, während ich schlief, und als ich beim Erwachen realisierte, was sie tat, erwischte uns Akira auf frischer Tat.

Ich konnte nichts tun, um sie zu halten. Akira schickte sie fort, voller Wut und Enttäuschung.

Welch Glück, dass sie sie zuvor ebenfalls gewandelt hatte. Sonst hätte ich sie niemals wiedergesehen.

Und nun saß ich in ihrer Hütte im flackernden Schein des Feuers, das mich sofort an Akira erinnerte, und sah sie an.

»Eine Ewigkeit«, erwiderte ich. »Aber was machst du hier? Eine Frau ganz allein in dieser Wildnis? Hast du keinen Mann?«

Ihre Augen glichen Seen voller Traurigkeit. »Ich hatte einen. Mandus. Ich hatte ihn in den großen Grasebenen weit im Osten gefunden. Er war das Beste, was mir je passiert ist. Das Beste, seit ich dich verloren hatte …«

Sie sah mich an, aber mein Blick wich dem ihren aus. Ich hätte sie zurückhalten müssen. Hätte mich gegen Akira durchsetzen müssen. Wie konnte sie bloß ihre eigene Schwester fortschicken? Allein?

»Was geschah dann?«

»Wir zogen lange herum. Nach einer langen Zeit im Osten bekam ich Heimweh. Wir kamen zurück, aber ich erkannte die Welt nicht mehr wieder. Überall gab es Kriege um Land, um Reichtum. Da nahmen wir ein Schiff. Kennst du die Schiffe der Römer, Jandor? Es gelang uns, heimlich unter Deck zu gelangen, und sie brachten uns nach Britannien. Ich hatte von dieser Insel gehört und dachte, dort gäbe es noch ein Fleckchen für uns, unbewohnt und einsam.«

»Habt ihr eines gefunden?«

»Ja. Ganz im Norden. Im Land der Pikten. Kennst du diese Menschen? Sie waren kriegerisch und haben alle Eindringlinge in ihr Land sofort vertrieben. Ihre Haut hatten sie mit blauer Farbe tätowiert. Uns duldeten sie. Es war eine wunderbare Zeit. Das Land war karg und einsam, und in den Wintern heulten die Stürme um unsere Hütte. Doch eines Tages trieb uns die Neugier. Wir verließen die Pikten und zogen in den Süden. Die Römer waren fort. Doch dafür waren andere da.« Sie machte eine lange Pause. »Wusstest du, dass es Vampirjäger gibt, Jandor? Menschen, deren ganzer Lebenssinn darin liegt, uns zu vernichten?«

»Ja. Ich habe von ihnen gehört.« Ich war zutiefst erschrocken, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. Auch ich war einst in Britannien gewesen. Urs, mein Sohn, lebte dort. Und dort hatte ich auch zum ersten Mal von den Jägern gehört, die Vampire so sehr hassten – oder fürchteten -, dass sie es sich zum Lebensziel gemacht hatten, uns zu vernichten.

»Sie haben uns aufgespürt.« Ihre Stimme hatte jeden Klang verloren. »Eines Morgens brachen sie unsere Hütte auf. Was für ein Glück, dass ich seit der Zeit, als ich gezwungen war, mich allein durchzuschlagen, nur einen sehr leichten Schlaf habe.«

»Es tut mir so leid!«, flüsterte ich. »Ich hätte mich gegen Akira durchsetzen müssen. Niemals hätte ich zulassen dürfen, dass sie dich fortschickt. Allein. Ein junges Mädchen allein in der Wildnis! Bitte verzeih mir, Ladai!«

Tränen füllten ihre Augen, als sie ihre Hand sanft auf meinen Unterarm legte. »Gräme dich nicht, Jandor. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich kenne doch meine Schwester. Sie ist sehr impulsiv. Du hast sie geliebt und wolltest sie nicht verlieren. Es ist schon in Ordnung. Denn wie ich schon sagte – dieser leichte Schlaf, den ich seither hatte, rettete uns das Leben. Zumindest an diesem Tag.«

Ich konnte sie nur ansehen. Wie zerbrechlich sie wirkte! Ihr Haar war fein wie gesponnenes Silber und fiel in leuchtenden Strähnen in ihr Gesicht. Ihre großen Augen glänzten blau wie die gewaltigen Gletscher, die ich einst kannte.

»Wir retteten uns mit einem Sprung. Aber natürlich verfolgten sie uns. Sie haben Hunde gezüchtet, Jandor, Bluthunde, die nur dafür leben, uns aufzuspüren. Eines Tages waren sie direkt hinter uns. ›Spring in den Fluss!‹, schrie Mandus mich an. Weißt du, dass er aussah wie du? Er hatte das gleiche lange blonde Haar wie du, deinen Bart, sogar deine blauen Augen. ›Lass dich eine Weile treiben und spring dann auf einen der Bäume am Ufer, ohne das Land zu betreten. Im Wasser können die Bestien dich nicht wittern.‹ Er sah mich an, und ich erkannte in seinen Augen, dass er Abschied von mir nahm. ›Und du?‹, weinte ich. ›Du musst mit mir kommen! Verlass mich nicht!‹ Nur ein einziges Mal in meinem Leben war ich so verzweifelt gewesen, Jandor, und das war, als meine Schwester mich fortschickte. Fort von dir.«

Ich hätte sie in den Arm nehmen und trösten müssen. Aber ich tat es nicht. Ich wusste, dass ich verloren war, wenn ich es täte. Ihre Anziehungskraft war geradezu magisch. »Und dann?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen und die elektrisierende Spannung zu stören, die sich zwischen uns ausbreitete.

»›Ich lenke sie von dir ab‹, sagte er. ›Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin schnell. Und jetzt spring! Ich liebe dich!‹ Ich tat, was er mir befohlen hatte. Der Fluss war breit und strömte rasch dahin. Ich wurde fortgerissen. Ich sah ihn noch in die entgegengesetzte Richtung fortlaufen, hinein in das Wäldchen.« Ganz starr blickte sie in das Feuer.

Nun streichelte ich doch ihre Hand, die immer noch auf meinem Arm lag. Aber es schien, als fühlte sie es gar nicht.

»Ich fand ihn zwei Tage später«, flüsterte sie. Ihre Stimme war kaum noch hörbar. »Der Holzspeer steckte immer noch in seiner Brust. Seinen Kopf hatten sie abgeschnitten und auf einen Pfahl gesteckt. Sein blondes Haar wehte im Wind, und seine Augen waren geschlossen. Mit bloßen Händen grub ich sein Grab in den steinigen Boden. Es machte ja nichts, dass ich mir die Finger bis auf die Knochen aufriss. Es heilte ja sofort wieder.«

Sie schluchzte auf, und nun barg ich doch ihren Kopf an meiner Schulter. Hilflos streichelte ich über ihr Haar. Ich wusste aus eigener, bitterer Erfahrung, dass nichts und niemand solch einen gewaltigen Schmerz dämpfen konnte. Er musste mit den Tränen aus einem herausfließen, dann wurde er zumindest erträglich. Aber ich wusste auch, wie wohl es tat, einen Menschen bei sich zu haben. Oder einen Vampir. Zu wissen, dass man nicht allein war in seinem Schmerz.

»Es ist schon gut«, flüsterte ich wie zu einem Kind, das sich die Knie aufgeschlagen hat. »Ich bin da. Du bist nicht mehr allein.«

Nach einer Weile versiegten die Tränen, und sie wischte sich über die Augen. »Als er begraben war, wollte ich nur noch fort aus diesem Land. Es war ein Wunder, dass die Jäger mich nicht fanden, denn ich war so verzweifelt, dass ich gar nicht bemerkt hätte, wenn sie aufgetaucht wären.«

»Wie bist du hierhergekommen?«, fragte ich neugierig. Ob sie auch mit den Wikingern fuhr? Obwohl ich es für keine gute Idee gehalten hätte. Sie als wunderschöne Frau allein unter solch rauen Männern … Andererseits war sie eine Vampirin. Sie hätte sich schon zu helfen gewusst.

Aber es war ganz anders.

»Ich wanderte bis ans Meer. Ich war so müde, dass ich am liebsten eingeschlafen und niemals wieder aufgewacht wäre.«

Wie bekannt mir das vorkam! Auch ich hatte einst sehr lange geschlafen, in einer Höhle am Meer in Britannien, nachdem ich Tanita, die Sonne und das Licht meines Lebens, verloren hatte.

»Ich fand ein kleines Boot. Wahrscheinlich gehörte es einem Fischer, aber es sah aus, als wäre es schon sehr lange nicht mehr benutzt worden. Ich schob es ins Wasser, kletterte hinein, legte mich hin und ließ mich einfach treiben. Ich schlief, aber ich weiß von einem Sturm, in den ich geriet. Wie durch ein Wunder kenterte mein Boot nicht. Als ich schließlich endgültig erwachte, lag das Boot festgefroren im Eis. Ich lief über die Eisfläche, bis das Land anstieg, und suchte nach Menschen. Ich war fast verdurstet. Dann fand ich eine kleine Gruppe von Rentierjägern und tötete sie. Ich musste dringend trinken, verstehst du?«

Ich nickte, denn ich hatte das Gefühl, dass sie ohne meine Bestätigung nicht weitersprechen würde.

»Schließlich stieß ich auf ein Dorf. Es gab keinen Mann dort, der mich nicht wollte, und keine Frau, die mich nicht hasste. So ging ich wieder. Dasselbe geschah im nächsten Dorf. Schließlich zog ich in die Wildnis. Ich kannte das ja schon.«

Ihre Stimme klang resigniert. Ihr Kopf lag immer noch an meiner Schulter. Sie hing eine Weile ihren Erinnerungen nach. »Nun bist du nicht mehr allein«, sagte ich, nur um etwas zu sagen. Und dann erst ging mir auf, wie wahr diese Worte waren. Auch in Bezug auf mich selbst. Auch ich hatte ja niemanden mehr. Meine Frau und meine Tochter waren tot, mein Sohn und meine Freunde in alle Himmelsrichtungen verstreut. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nach einer Weile des Herumziehens und Erkundens wieder Thengills Dorf aufzusuchen. Dort warteten neue Freunde. Was würden sie sagen, wenn ich mit einer fremden Frau dorthin zurückkehren würde?