Küstenglück mit Hindernissen - Natascha Kribbeler - E-Book

Küstenglück mit Hindernissen E-Book

Natascha Kribbeler

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Beschreibung

Wenn man seine Feinde nicht hassen kann, verliebt man sich eben in sie …
Der Nordseeroman mit Meeresrauschen, Racheplänen und ganz viel Herz

Als Inka das Haus ihrer Tante auf Eiderstedt erbt, zögert sie zunächst in ihre Heimat zurückzukehren. Zu viele schlechte Erinnerungen verbindet sie mit dem malerischen Ort an der Nordseeküste. Doch Inka ist nicht mehr dieselbe wie damals und entscheidet sich für den Neuanfang. Es dauert nicht lange und sie läuft Jan Ehlers über den Weg, der eine nicht unbedeutende Rolle in ihrer schwierigen Schulzeit spielte – und sie offensichtlich nicht mehr wiedererkennt. Nach dem ersten Schock nimmt sie Jans Angebot an, ihr bei der Gartenarbeit zu helfen, denn die Gelegenheit ist zu gut, um sie verstreichen zu lassen. Ohne sich zu erkennen zu geben, beschließt Inka sich an ihm zu rächen und macht ihm das Leben als ihr neuer Gärtner entsprechend schwer. Aber Jan hat sich ebenfalls verändert und vereitelt ihren schönen Plan damit, viel zu charmant zu sein …

Erste Leser:innenstimmen
„Die Liebesgeschichte von Inka, die sich ihrer Vergangenheit stellt und einen Neuanfang wagt, ist inspirierend und berührend zugleich."
„Liebe, Rache und Vergebung. Natascha Kribbeler entführt uns an die idyllische Kulisse der Nordsee und schreibt einen Wohlfühl-Roman, der mit Leichtigkeit und Tiefgang überzeugt.“
„Herzerwärmender Nordsee-Liebesroman über Vergebung und zweite Chancen.“
„Ein Lesegenuss für alle, die sich nach einer romantischen Auszeit sehnen.“

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Seitenzahl: 397

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Über dieses E-Book

Als Inka das Haus ihrer Tante auf Eiderstedt erbt, zögert sie zunächst in ihre Heimat zurückzukehren. Zu viele schlechte Erinnerungen verbindet sie mit dem malerischen Ort an der Nordseeküste. Doch Inka ist nicht mehr dieselbe wie damals und entscheidet sich für den Neuanfang. Es dauert nicht lange und sie läuft Jan Ehlers über den Weg, der eine nicht unbedeutende Rolle in ihrer schwierigen Schulzeit spielte – und sie offensichtlich nicht mehr wiedererkennt. Nach dem ersten Schock nimmt sie Jans Angebot an, ihr bei der Gartenarbeit zu helfen, denn die Gelegenheit ist zu gut, um sie verstreichen zu lassen. Ohne sich zu erkennen zu geben, beschließt Inka sich an ihm zu rächen und macht ihm das Leben als ihr neuer Gärtner entsprechend schwer. Aber Jan hat sich ebenfalls verändert und vereitelt ihren schönen Plan damit, viel zu charmant zu sein …

Impressum

Erstausgabe April 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-073-0 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-081-5

Covergestaltung: Larissa Siepmann unter Verwendung von Motiven von: shutterstock.com: © Pakhnyushchy, © Jacob_09, © nuruddean, © dugdax, © Artazum
Blumen depositphotos.com: © coramueller stock.adobe.com: © Gunar Lektorat: Manuela Tengler

E-Book-Version 09.04.2024, 11:18:51.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Küstenglück mit Hindernissen

Kapitel 1

Laut prasselte der Regen auf die aufgespannten Schirme der Trauergäste, lediglich übertönt vom Schniefen und Schluchzen, während der Pfarrer seine Rede hielt.

Inka umfing ihre Mutter mit einem Arm, mit der anderen Hand hielt sie den Regenschirm über deren schmächtige Gestalt. Es war ein kalter Februarmorgen, das trübe Wetter passte zur düsteren Stimmung. Sie hob den Blick von dem offenen Grab vor ihr und musterte die Gesichter der Umstehenden. Die meisten von ihnen kannte sie, und sie las in den Gesichtern dieselbe tiefe Traurigkeit, die sie selbst empfand.

Ihre Tante Astrid war sehr beliebt gewesen und hinterließ mit ihrem Tod viele gebrochene Herzen.

Der Pfarrer beendete seine Trauerrede und trat einen Schritt zur Seite, damit sich die Gäste von der Verstorbenen verabschieden konnten.

Behutsam führte Inka ihre Mutter an das offene Grab. Dumpf fielen die schweren Regentropfen auf den Sarg aus Eichenholz. Ihre Mutter schwankte. „Astrid“, flüsterte sie mit zittriger Stimme. Sie rang sichtlich um Fassung.

Tröstend packte Inka sie fester am Arm. „Da, wo sie jetzt ist, geht es ihr gut, Mama.“

„Trotzdem fehlt sie mir so sehr.“

Viele Jahre lang hatten sie nur einander gehabt. Inkas Vater war nach kurzer, schwerer Krankheit bereits vor vielen Jahren gestorben. Damals war sie selbst noch ein kleines Mädchen gewesen. Daraufhin hatte Tante Astrid, die zehn Jahre älter gewesen war, ihre Schwester und ihre Nichte unter ihre Fittiche genommen, sich liebevoll um sie gekümmert und sie psychisch wieder aufgebaut. Astrids Tod war sehr schwer zu verkraften.

„Ich vermisse sie auch ganz schrecklich.“ Inkas Augen füllten sich mit Tränen.

Am Grab stehend, hielt sie nun stumme Zwiesprache mit ihrer verstorbenen Tante. Es tut mir so leid, dass ich in den vergangenen Jahren so selten hier war, dachte sie, während die Tränen über ihre Wangen liefen. In ihrer Kindheit und Jugend war sie Dauergast bei Tante Astrid gewesen, die wie ihre Mutter bereits früh verwitwet war und nicht wieder geheiratet hatte. Inka liebte deren wunderbaren Garten mit den alten Obstbäumen und den bunten Blumenstauden. Jetzt würde sich niemand mehr darum kümmern, das kleine Paradies verwildern.

Ihre Mutter warf ein Gesteck aus weißen Rosen und Nelken auf den Sarg. „Mach’s gut, Astrid“, flüsterte sie mit bebender Stimme und wischte sich über die Augen.

Auch Inka hinterließ ihre Blumen als letzten Gruß. „Komm, Mama“, sagte sie schließlich. „Lass uns weitergehen, damit die anderen ebenfalls Abschied nehmen können.“ Sanft führte sie ihre Mutter ein Stück weiter. Die Reihe fand kein Ende, jeder wollte Astrid Wiegers seinen letzten Gruß erweisen. Inka erkannte Verwandte, Nachbarn und Freunde, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ihre beste Freundin Alea blieb vor ihnen stehen. „Ich kann gar nicht oft genug sagen, wie leid es mir tut. Nochmals mein herzliches Beileid.“ Sie gab ihrer Mutter die Hand, Inka zog sie hingegen in eine Umarmung.

„Danke, Alea“, sagte Inka, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. „Es tut gut, dass du hier bist.“

„Das ist doch selbstverständlich.“

Alea wirkte sehr betrübt. Auch sie war als Kind zusammen mit Inka oft bei Tante Astrid gewesen und hatte ein Stück Apfelkuchen oder ein Glas Saft genossen.

Aleas Mann Heiko trat vor und sprach ihnen ebenfalls seine Anteilnahme aus. „Sie war viel zu jung“, sagte er. „Es ist so traurig.“

„Ja, das ist wahr“, erwiderte Inka.

„Sagt, wenn ihr etwas braucht“, bot Alea an und strich sanft über Inkas Arm. „Du kannst mich jederzeit anrufen, okay? Auch mitten in der Nacht.“

„Danke, das ist lieb.“

Ihre Mutter begann im kalten Wind zu zittern. Schnell legte Inka wieder den Arm um sie und drehte den Schirm in den Wind.

„Komm, Mama, wir gehen ins Café, damit du dich aufwärmen kannst.“ Inka wandte sich an Alea und Heiko. „Kommt ihr auch mit?“

„Natürlich. Es ist wirklich kalt heute. Am besten gehen wir gleich mit euch mit.“

Mit Inkas Auto fuhren sie los. Wenige Minuten später hielten sie vor dem Café-Restaurant Deichstube, das in einem weiß getünchten Haubarg, einem großen, ehemaligen Bauernhaus, untergebracht war. Während ihre Mutter aus dem Auto stieg und fröstelnd ihren Mantelkragen hochschlug, sah Inka an dem prächtigen Haus mit dem üppigen Reetdach empor, das sich seit ihrer Kindheit nicht verändert hatte. Die vielen Sprossenfenster ließen es sehr einladend wirken. Sogar das Café hatte es damals schon gegeben. Inzwischen hatten die damaligen Inhaber, das Ehepaar Andresen, das Geschäft an ihre älteste Tochter Silke weitergegeben.

Die große Bauernstube war bereits für den Leichenschmaus vorbereitet. Inka verabscheute diesen Begriff. Der Anblick der doppelten Sitzreihe zu beiden Seiten eines langen Tisches besänftigte sie aber sofort. Alles war hübsch mit weißen Blumen und schwarzen Servietten dekoriert. Das hätte Tante Astrid bestimmt gefallen.

Und auch Inka mochte es. Sie hatte seit jeher ein Faible für die Farbe Schwarz und trug seit vielen Jahren nichts anderes. Im Gegensatz zu ihren Eltern und Freundinnen, die immer wieder versuchten, sie zu farbenfrohen Kleidern zu bewegen, hatte Astrid immer Verständnis für sie gehabt und fand ihren Stil cool.

Inka lächelte wehmütig. Nun hatte sie ihre einzige Verbündete verloren, was ihre Liebe zur dunklen Farbe betraf. Nur heute, unter all den Trauergästen, fiel sie nicht weiter auf.

Langsam füllte sich der große Raum und die Gäste nahmen mit lautem Stühlerücken an der langen Tafel Platz. Inka schob ihrer Mutter einen Stuhl zurecht und setzte sich neben sie. Immer mehr Leute kamen herein, und plötzlich ging Inka auf, dass sie mit Astrid ihre vorletzte Verwandte mütterlicherseits verloren hatte. Jetzt gab es nur noch sie und ihre Mutter sowie ihren Onkel Norbert, den Bruder ihres Vaters, dessen Frau Henrike und deren beiden Kinder. Sie wohnten weiter weg, in Lübeck, und deshalb sahen sie sich nicht häufig. Heute waren allerdings auch sie gekommen.

Endlich waren alle da. Ihre Mutter stand auf, um ein paar Worte an die Gäste zu richten. Doch sie wirkte so unsicher auf den Beinen, dass Inka sie rasch am Arm fasste und auf den Stuhl zurückdrückte. „Lass mal, Mama, ich mach das schon.“

„Unsinn, das krieg ich hin“, wehrte sie Inkas Hilfe ab und blickte in die Runde. „Ich danke euch allen, dass ihr heute hier seid und mit uns Abschied von Astrid nehmt. Und ich bin mir sicher, dass sie in diesem Moment hier bei uns ist und zusieht. Jetzt greift bitte zu, denn das würde sie sich wünschen.“

Es gab belegte Baguettescheiben mit Wurst, Käse, Ei und geräucherter Forelle sowie diverse Kuchen und Torten. Sobald alle aßen, lockerte sich die Stimmung schnell auf, und bald waren alle in angeregte Gespräche vertieft.

„Schön, dass wir dich auch einmal wieder zu Gesicht kriegen, obwohl der Anlass sehr traurig ist“, wandte sich Alea an Inka.

„Das stimmt. Ich werde Tante Astrid furchtbar vermissen. Im Nachhinein bedauere ich es sehr, dass ich mich so selten hier habe blicken lassen. Ich hätte in all den Jahren viel mehr Zeit mit ihr und euch allen verbringen müssen. Man sieht ja gerade, wie schnell es gehen kann. Plötzlich ist ein geliebter Mensch einfach nicht mehr da.“ Mühsam unterdrückte Inka die erneut aufsteigenden Tränen.

Alea strich sanft über ihren Arm. „Ja, es war für uns alle ein Schock. Wie lange bist du jetzt eigentlich schon von hier weg? Bald zehn Jahre, oder?“

„Genau, fast zehn“, bestätigte Inka. Sobald sie es ausgesprochen hatte, konnte sie es selbst kaum glauben. Inzwischen war sie dreißig Jahre alt. „Wie schnell die Zeit vergeht. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich gerade erst weggegangen. Nach den fünf Jahren in Hamburg wohne ich jetzt schon ebenso lange auf Sylt, unglaublich.“ Sie griff nach einem mit Ei belegten Brot und nahm den ersten Happen.

Alea angelte sich eine Baguettescheibe mit Bierschinken von der großen Platte. „Hast du dich inzwischen daran gewöhnt, solo dort zu leben? Oder vermisst du Stefan noch?“

Das war ihr Ex-Mann. Inka hatte ihn mit zweiundzwanzig in Hamburg kennengelernt. Durch ihn war sie mit der Gothic- und Metal-Szene in Berührung gekommen und stand seither auf die Farbe Schwarz. Sogar ihr zuvor dunkelblondes Haar trug sie seitdem in dieser Farbe. Als es ihr drei Jahre später in der Großstadt zu laut und voll wurde, zogen sie gemeinsam nach Sylt. Vor knapp drei Jahren war er allerdings nach Hamburg zurückgegangen.

„Nein, inzwischen geht’s mir gut. Immerhin sind wir bereits seit zwei Jahren geschieden. Wir telefonieren hin und wieder. Zum Glück haben wir uns einvernehmlich getrennt, darüber bin ich echt froh. Er wollte eben seinen Großstadttrubel zurück, während ich bekanntermaßen Ruhe, Platz, Wind und Weite um mich herum brauche.“ Inka aß ihr Brot auf und entschied sich nun für ein Stück Butterkuchen.

„Dann komm doch nach Hause zurück“, sagte Alea, wie sie es fast jedes Mal tat, wenn sie sich sahen. „Hier auf Eiderstedt gibt’s von allem mehr als genug.“

Schnell warf Inka einen prüfenden Blick auf ihre Mutter. Die wünschte sich natürlich schon lange von ganzem Herzen, dass ihre einzige Tochter endlich wieder zurückkommen würde. Zu ihrer Erleichterung hatte sie nichts von Aleas Bemerkung mitbekommen, sondern war in ein Gespräch mit einigen Nachbarn vertieft.

Inka schüttelte den Kopf und seufzte. „Ich weiß.

Soll ich dir was verraten? Als ich die Nachricht von Tante Astrids Tod erhielt, kam mir dieser Gedanke tatsächlich. Mama ist jetzt ganz allein. Ich fühle mich jetzt schon mies dabei, sie so einsam zurückzulassen, wenn ich wieder nach Sylt zurückfahre. Allerdings …“ Sie verstummte.

Alea musterte sie besorgt. „Macht dir die alte Geschichte immer noch zu schaffen?“, erkundigte sie sich behutsam.

Inka atmete durch. „Du weißt ja, dass ich jahrelang Panik hatte, Michael Klausen nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis noch einmal zu begegnen.“ Allein der Klang dieses Namens bewirkte, dass sich Inkas Magen zusammenzog. Rasch trank sie einen Schluck Kaffee, und das mulmige Gefühl verschwand langsam wieder.

„Das war kein Wunder! Dieses Arschloch!“

„Inzwischen denke ich anders. Seit damals ist reichlich Gras über die Sache gewachsen. Von dem und den anderen lasse ich mich nicht mehr ins Bockshorn jagen.“ Inka teilte ein Kuchenstück mit der Gabel ab.

„Klasse!“ Hoffnung glomm in Aleas Augen auf, und sie griff ebenfalls nach einem Stück Kuchen. „Das ist die richtige Einstellung! Im Grunde könntest du dann ja wirklich zurückkommen.“

Inka schüttelte den Kopf. „Andererseits hab ich mir auf Sylt ein neues Zuhause aufgebaut. Ich arbeite von der Insel aus, mein Lebensmittelpunkt liegt da.“

„Klar. Verstehe ich ja auch. Trotzdem ist es sehr schade. Es wäre so schön, wenn du wieder hier wohnen würdest“, sagte Alea betrübt. „Ich vermisse dich. Wir sehen uns viel zu selten. Drei oder vier Mal im Jahr ist definitiv zu wenig. Und immer nur telefonieren ist auf Dauer auch nicht das Wahre.“ Alea steckte einen Happen Kuchen in den Mund.

Natürlich hatte sie recht. Ihre Mutter und ihre Freunde wünschten sich sehr, dass sie nach Hause zurückkehren würde, nach Frederbüll auf der Halbinsel Eiderstedt. Jahrelang war das für sie nicht infrage gekommen. Dafür waren die Erinnerungen, die Inka mit ihrem Zuhause verband, einfach zu schmerzhaft und beängstigend gewesen. Während der ersten Jahre nach ihrem Wegzug hatte sie sich jedes Mal, wenn sie zu Besuch hergekommen war, zumeist bei ihrer Mutter und Tante Astrid eingeigelt, um niemandem zu begegnen. Inzwischen, im Laufe der Jahre, hatte sie es jedoch geschafft, diese schlimmen Erinnerungen endlich zu verarbeiten und tief in sich zu vergraben.

„Komm mich doch wieder auf Sylt besuchen“, schlug Inka vor, um das Thema zu wechseln. „Du weißt ja, du bist jederzeit willkommen.“

„Mach ich gern, wenn ich mir mal wieder paar Tage freischaufeln kann.“ Alea seufzte. „Unser kleiner Yannik hält mich gut auf Trab.“

„Bring ihn einfach mit. Er ist einfach zu niedlich! Ich freu mich immer sehr, ihn zu sehen. Das letzte Mal ist schon wieder anderthalb Monate her. Ich bin gespannt, wie er sich seitdem verändert hat.“

„Du wirst staunen! Und vielleicht besuche ich dich tatsächlich wieder. Apropos niedlich: Wie geht’s denn eigentlich Minka?“

Das war Inkas Katze. Kohlrabenschwarz und damit perfekt zu ihr passend. Auch Tante Astrid hatte damals eine schwarze Katze gehabt, an der Inka sehr gehangen hatte. Als sie von Eiderstedt wegzog, war klar, dass sie sich ebenfalls eine anschaffen würde. Und so zog kurze Zeit später Minka bei ihr ein. Die Ähnlichkeit ihrer Namen hatte schon für viele Lacher gesorgt.

„So einigermaßen. Sie wird alt, das merkt man von Tag zu Tag deutlicher. Große Sprünge sind nicht mehr drin. Die meiste Zeit liegt sie auf der Fensterbank und schläft.“

„Ach, die Arme. Sie ist so eine Liebe.“

„Stimmt. Und Minka ist tatsächlich einer der Gründe, warum ich nicht hierher zurückkehren kann, jedenfalls jetzt noch nicht. Du weißt ja, dass Katzen Ortswechsel nicht gut verkraften. Minka ist dafür besonders anfällig. Und jetzt, in ihrem Alter und Zustand, kann ich ihr so etwas echt nicht zumuten.“

Sie hatte das Tier aus dem Tierschutz bekommen. Minka hatte eine traurige Vergangenheit, lebte völlig verwahrlost auf einem alten Bauernhof. Inka hatte sie damals liebevoll aufgepäppelt und dank der fürsorglichen Pflege war Minka eine stattliche Katze geworden. Sanft und anhänglich, aber sehr scheu Fremden gegenüber. Während ihrer Abwesenheit wurde Minka von einer freundlichen Nachbarin versorgt, sodass sie das Tier nicht in eine Pension geben musste. Darüber war Inka sehr froh.

„Klar, verstehe ich vollkommen.“ Alea seufzte und setzte einen traurigen Blick auf. „Trotzdem ist es schade.“

Herr Meyer, ein Nachbar ihrer Tante aus dem Heimatdorf im Alter ihrer Mutter, unterbrach ihre Unterhaltung. „Schön, dass du mal wieder hier bist, Inka“, sagte er mit einem dezenten Blick auf ihre Mutter. „Es ist ja immer schwer für uns Eltern, wenn die Kinder so weit weg wohnen, stimmt’s nicht, Gerda?“

Zu Inkas Erschrecken wechselte ihre Mutter jetzt einen bekümmerten Blick mit ihrem Bekannten und hob die Schultern.

„Ja, das stimmt schon. Aber was will man machen? Sie werden groß und gehen ihre eigenen Wege.“

Schnell griff Inka zur Kanne. „Mama, möchtest du noch eine Tasse Kaffee? Komm, ich schenk dir einen ein. Haben Sie noch genug, Herr Meyer?“

„Ach, ein Schlückchen wäre schon noch ganz gut.“

„Natürlich.“ Lächelnd schenkte Inka ihm und ihrer Mutter nach.

Es war, wie sie es Alea gerade gesagt hatte. Seit ihrem Wegzug damals plagte sie ein schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber, auch wenn diese natürlich Verständnis für ihre Gründe gehabt hatte. Aber nun, wo Tante Astrid nicht mehr da war, war ihre Mutter quasi allein. Zum Glück hatte sie viele Freundinnen und hilfsbereite Nachbarn. Doch das war nicht mit familiärem Anschluss zu vergleichen.

Ja, tatsächlich dachte Inka seit einiger Zeit immer häufiger über eine mögliche Rückkehr nach Eiderstedt nach. Mit Tante Astrids Tod waren ihre Überlegungen aktueller denn je geworden. Es wäre so schön, wieder regelmäßig Zeit mit Mama und ihren Freundinnen verbringen zu können.

„Siehst du? Hier vermisst dich jeder“, sagte Alea, die Inkas kleinen Dialog mit ihrer Mutter und Herrn Meyer beobachtet hatte. „Kannst du eine Weile bleiben? Oder möchtest du bald wieder los?“

„Ich hab mir paar Tage freigenommen.“ Inka schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. „Wenn du Zeit und Lust hast, können wir also gern mal wieder richtig schön ausgiebig quatschen.“

Aleas Gesicht hellte sich auf. „Das wollte ich hören. Vielleicht morgen Nachmittag? Heute willst du bestimmt bei deiner Mutter bleiben.“

„Ja, stimmt. Heute war ein sehr schwerer Tag für sie, da möchte ich sie nicht alleinlassen. Morgen klingt super. Ich komm zu dir, oder?“

„Sehr gern. Ich freu mich!“

Die nächsten anderthalb Stunden vergingen in Gesprächen mit diversen Trauergästen. Immer wieder musste Inka erzählen, was sie beruflich machte und wie es ihr auf Sylt gefiel. Im Gegenzug versorgten die Leute sie mit allerhand Neuigkeiten aus dem Dorf und aus ganz Eiderstedt.

Schließlich löste sich die Runde nach und nach auf. Als Letzte verließ Inka mit ihrer Mutter die Deichstube und fuhr mit ihr nach Hause.

Ihre Mutter bewohnte ein Häuschen im Zentrum von Frederbüll, falls man in diesem winzigen Dorf von so etwas sprechen konnte. Ihre Tante Astrid hatte in einem alten Haus an einer ruhigen Straße gewohnt, nur fünf Minuten zu Fuß entfernt. Nach hinten raus, hinter dem Garten, erstreckten sich Wiesen, so weit das Auge reichte. Als sie nun diese Straße passierten, versuchte Inka automatisch, Tante Astrids Haus von hier aus zu entdecken. Allerdings war es dafür bereits zu dunkel.

„Ich kann einfach nicht glauben, dass sie für immer weg ist“, sagte ihre Mutter betrübt und folgte Inkas Blick. „Wie oft bin ich diesen Weg gegangen, um sie zu besuchen.“

„Mir fehlt sie auch sehr.“ Inka hielt vor dem Haus ihrer Mutter und parkte den Wagen in der Einfahrt. „Vor allem war sie viel zu jung.“

„Siebzig ist doch heutzutage kein Alter mehr! Wäre sie bloß eher zum Arzt gegangen, als sie diese Grippe bekam. Aber du kennst sie ja. Alles ist gar nicht so schlimm, sagte sie immer. Und dann wurde eine Lungenentzündung daraus.“

Am Ende war alles ganz schnell gegangen. Mit Grausen erinnerte sich Inka an die Anrufe ihrer Mutter. Astrid sei im Krankenhaus auf der Intensivstation, es sähe ernst aus. Aber sie sei ja zäh, das schaffe sie schon. Zwei Tage später war ihre Tante tot.

Hinter ihrer Mutter betrat Inka ihr Elternhaus und fühlte sich sofort zu Hause. So erging es ihr jedes Mal, wenn sie hier war. An der Einrichtung hatte sich seit Jahren nichts geändert: Die gleichen gerahmten Fotografien hingen an den Wänden – die meisten davon aus ihrer Kinderzeit, als ihr Vater noch lebte. Glücklich strahlend lächelten sie zu dritt in die Kamera. Diese Zeiten waren viel zu kurz gewesen.

„Setz dich schon mal, ich koche uns einen Tee“, bot Inka an. Während ihre Mutter sich in der Stube mit einem Seufzer in ihren Sessel fallen ließ, setzte sie Wasser auf und holte Tassen aus dem Schrank. Sie sah sich als kleines Mädchen hier stehen und das Gleiche tun. Ihr Vater hatte Tee geliebt. Es hatte ihr jedes Mal große Freude bereitet, seinen Lieblingstee für ihn zuzubereiten. Jedes Mal hatte er sich überschwänglich mit leuchtenden Augen bei ihr bedankt. Ach, sie vermisste ihn so, auch nach all den Jahren. Er war gestorben, als sie gerade sieben Jahre alt war. Seit er nicht mehr hier war, schien auch dem Haus etwas zu fehlen. Das hatte sie schon als Kind so empfunden. Zwar war es wohlig warm hier drinnen, aber es kam ihr vor, als lauerte in den Ecken eine – Leere. Seine Seele war nicht mehr hier. Ja, das musste es sein.

Ob es ihrer Mutter auch so vorgekommen war, als sie damals weggezogen war? Sie hatte nie danach gefragt. Wie musste sich Mama jetzt bloß fühlen, wo auch noch Tante Astrid fort war?

Als der Tee fertig war, trug sie die Kanne, Tassen, Zucker und Löffel ins Wohnzimmer.

„Danke.“ Ihre Mutter nippte vorsichtig am heißen Tee. „Ich muss die ganze Zeit an Astrid denken. Bald wird’s wieder Frühling. Sie hat diese Jahreszeit so geliebt. Die warme Sonne, das frische Grün und das Gezwitscher der Vögel. Jetzt liegt sie da draußen im eiskalten Boden. Es regnet und stürmt.“ Ihre Augen schimmerten feucht.

Vorsichtig setzte sich Inka auf die Sesselkante und legte den Arm um die schmalen Schultern ihrer Mutter. „Tante Astrid ist jetzt an einem schöneren Ort. Dort gibt es alles, was sie je geliebt hat, und das für immer. Nur daran dürfen wir denken“, versuchte sie ihre Mutter zu trösten.

„Ich bin so froh, dass du hier bist“, flüsterte Mama. „Ohne dich würde ich jetzt wohl verrückt werden.“

Stumm streichelte Inka ihre Schulter. Schon jetzt graute ihr vor der Rückkehr nach Sylt.

Kapitel 2

„Wow, wer soll das denn alles essen?“, fragte Inka am nächsten Nachmittag.

Sie saß bei Alea auf der Couch. Der Tisch vor ihr bog sich unter einer riesigen Schokoladentorte, einem Teller voll Bienenstich und einem weiteren mit Muffins.

Ihre Freundin lachte fröhlich. „Heiko ist unersättlich. Er freut sich schon seit Tagen auf die Torte. Na ja, was mich betrifft, kann ich mich davon auch nicht freisprechen. Ich stille noch und hab ständig das Gefühl, zu verhungern. Warte nur, bis Yannik aufwacht. Dann wirst du sehen, wie proper er geworden ist.“

„Ich kanns kaum erwarten! Er ist jetzt ein halbes Jahr alt, oder?“

„Genau. In diesem Alter verändern sie sich quasi täglich. Du wirst wirklich staunen.“ Alea schenkte ihnen Kaffee ein, und ein herrlicher Duft breitete sich aus.

„Kann ich mir vorstellen. In den anderthalb Monaten seit dem letzten Mal hat er bestimmt wieder große Fortschritte gemacht.“

Zu Weihnachten war Inka ein paar Tage bei ihrer Mutter zu Besuch gewesen. Da hatte Tante Astrid noch gelebt, und niemand ahnte, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Dabei hatten sie zusammen Karten gespielt, Tee getrunken und Kuchen gegessen und viel Spaß miteinander gehabt. Ihre Tante war so lebensfroh und fröhlich gewesen. Warum war sie jetzt einfach nicht mehr da? Rasch schob Inka diese wehmütigen Gedanken beiseite, um das schöne Wiedersehen mit ihrer Freundin nicht zu trüben.

„Ja, die Zeit vergeht so schnell“, pflichtete Alea ihr bei. „Und in dem Tempo, wie der Kleine wächst, nehme ich ab.“

„Ah, deshalb der viele Kuchen. Gibs zu, Heiko ist nur ein Vorwand. In Wahrheit ist der Großteil davon für dich.“ Inka grinste, während sie Milch in ihren Kaffee goss.

„Jetzt hast du mich ertappt.“ Wieder lachte Alea.

Sie machte auf Inka den Eindruck einer rundum glücklichen Frau.

„Nein, im Ernst, ganz für uns allein haben wir den vielen Kuchen auch ohne Heiko nicht, obwohl das sehr bedauerlich ist. Ich hab noch Svenja und Bekki eingeladen; ich hoffe, das stört dich nicht. Vorher haben wir reichlich Zeit, allein zu quatschen. Sie kommen erst in anderthalb Stunden.“

„Schön, ich freu mich, die beiden wiederzusehen!“

„Sie sich auch.“ Alea machte sich an der Torte zu schaffen und legte Inka ein großes Stück auf den Teller. „Es ist echt schade, dass du so weit weg wohnst. Klar, Sylt ist nicht gerade eine Weltreise, aber trotzdem dauert es eine Weile. Mal eben auf einen Sprung rüberhüpfen, wie wir es damals immer gemacht haben, ist mit dem Lütten einfach zu weit. Unfassbar, was man für einen kurzen Ausflug mit Kind alles einpacken muss! Für eine Weltreise braucht man auch nicht viel mehr.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Inka rührte einen Löffel Zucker in ihren Kaffee.

„Wie geht’s Gerda inzwischen? Und dir?“, erkundigte sich Alea anteilnehmend. „Blöde Frage, ich weiß. Wie soll es euch schon gehen? Echt, ich bin immer noch schockiert wegen deiner Tante und wie schnell das alles ging!“

Inka spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Ehe sie sie heimlich wegwischen konnte, bemerkte Alea es ebenfalls und zog sie in eine tröstende Umarmung.

„Sie fehlt mir so“, flüsterte Inka. „Ich hätte öfter herkommen und mich viel mehr um sie kümmern müssen. Um beide, um meine Tante und meine Mutter.“

„Niemand konnte ahnen, dass Astrid von heute auf morgen nicht mehr da ist.“

„Klar, das stimmt natürlich. Trotzdem mache ich mir Vorwürfe.“

„Verstehe ich gut. Aber das musst du nicht, hörst du? Deine Tante und deine Mutter hatten ganz bestimmt Verständnis für dich. Sie kannten ja deine Gründe. Deine Tante war so eine liebe Frau. Ich denke sehr oft an unsere gemeinsamen Besuche bei ihr. Wie wir an ihrem Küchentisch saßen und ihren köstlichen Schokoladenpudding mit Vanillesoße mampften. Oder ihr herrlicher Garten. Weißt du noch, der große Kirschbaum, auf den wir immer geklettert sind?“

Inka lächelte wehmütig. „Von da oben hatten wir eine fantastische Aussicht. Und dann erst der leckere Kirschkuchen, den sie gebacken hat.“

„Das ist ein gutes Stichwort.“ Alea wies mit der Kuchengabel auf das gewaltige Tortenstück auf Inkas Teller. „Lass es dir schmecken, dann geht’s dir schnell besser.“

„Es sieht auf jeden Fall äußerst lecker aus.“ Inka probierte den ersten Happen und schloss genüsslich die Augen. „Einfach köstlich! Du brauchst dich hinter den Backkünsten meiner Tante nicht zu verstecken.“

„Vielen Dank! Ich würde dich gern viel öfter daran teilhaben lassen.“

Inka schmunzelte. „Du lässt einfach nicht locker, was?“

„Wie kann ich das? Ich wünsche mir eben meine Freundin zurück.“ Alea rührte in ihrem Kaffee herum. „Ich weiß, du kannst diese Frage sicher nicht mehr hören, aber ist es noch aktuell, was du mir gestern über eine mögliche Rückkehr nach Eiderstedt gesagt hast? Als Immobilienmaklerin kannst du ja auch von hier aus arbeiten, oder nicht?“

Inka teilte einen Happen Torte mit der Kuchengabel ab und spielte damit herum, um ihre Gedanken zu sortieren. „Klar, das ginge. Im Grunde könnte ich mir das tatsächlich gut vorstellen. Allein schon wegen Mama. Allerdings ist das nicht ganz so einfach. Da ist immer noch Minka. Offen gesagt rechne ich ständig mit einem Anruf von Sabine, meiner Nachbarin, dass Minka …“ Inka verstummte und trank einen Schluck Kaffee. Ihr Hals war plötzlich ganz trocken.

„Okay, das kann ich verstehen. Aber angenommen, sie ist eines Tages nicht mehr da …“

Inka bemerkte Aleas prüfenden Blick und nickte. „In dem Fall könnte ich mir vorstellen, wieder herzuziehen. Ohne Minka wäre mein Zuhause auf Sylt ohnehin nicht mehr das, was es einmal war. Wahrscheinlich würde ich sie überall sehen und schrecklich vermissen.“

„Dann wäre eine Rückkehr aus mehreren Gründen die beste Lösung, oder?“

Inka lächelte. „So ist es wohl.“

Alea strahlte, wurde jedoch unvermittelt ernst. „Und die Erinnerungen an Michael Klausen, das größte Arschloch auf Erden und seine widerlichen Kumpane hast du wirklich endgültig überwunden? Sie wären kein Grund mehr für dich, wegzubleiben?“

Inka zuckte mit den Schultern. „Im Grunde verspüre ich nur noch Ärger. Wut, weil die das mit mir gemacht haben damals. Weil sie es geschafft haben, mich von hier zu vertreiben und von meiner Familie und meinen Freunden fernzuhalten. Du weißt ja selbst, dass ich mich seit damals verändert habe. Ich bin nicht mehr das Mädchen, das sich einschüchtern lässt.“

Während ihrer Grundschulzeit war sie sehr schnell in die Höhe geschossen und entsprechend dünn gewesen. In der vierten Klasse hatte sich ihr Klassenkamerad Jan Ehlers, der in einem der Nachbardörfer wohnte, auf sie eingeschossen. Er hatte ihr mitunter ein Bein gestellt oder ihre Schultasche versteckt.

„Inka mit den Stelzenbeinen kann nichts anderes als weinen“, hatte er gerufen, wenn er sie entdeckte. „Geh bloß nie ins Watt, damit sinkst du ein und bist platt. Inka Versinka, wo sie ist, da stinkt’s ja!“ Immer noch meinte sie, seine spöttische Stimme im Ohr zu haben.

Doch verglichen mit dem, was später passierte, waren diese Hänseleien harmlos, bedeuteten lediglich die Spitze des Eisbergs. All diese Dinge waren erst der Anstoß für ein jahrelanges Martyrium.

Mit dem Wechsel auf die Realschule in Sankt Peter-Ording begannen die richtigen Probleme. Ihr neuer Klassenkamerad Michael Klausen, der Sohn eines Rechtsanwalts, hatte Jans Spötteleien mitbekommen und sie rasch als das perfekte Opfer für seine Gemeinheiten auserkoren. Schnell hatte er ein paar Freunde um sich versammelt, die mit ihm gemeinsame Sache machten. Allein der Gedanke an Michael und seine Kumpane ließ Inka lange Zeit einen Schauder über den Rücken laufen, und sie sah wieder deren höhnisch verzogenen Gesichter.

„Darüber bin ich so froh“, sagte Alea. „Wenigstens hatte Michael seine Strafe bekommen und musste in den Jugendknast. Davor hatte ihn nicht einmal sein Papi bewahren können. Das war damals eine riesige Befriedigung!“

„Ich fühlte mich wie befreit, als er weggesperrt war. Aber irgendwann kam er frei. Und schon kurz nach seiner Entlassung lauerte er mir wieder einmal auf und drohte mir.

Deshalb ging ich letztendlich. Und der Umzug war das Beste, was ich machen konnte. In Hamburg, mit der Entfernung zwischen ihm und mir, ging es mir zum Glück schnell besser.“ Inka aß einen großen Happen Torte, um ihre aufgewühlten Nerven ein wenig zu beruhigen.

„Ich werde jetzt noch stinksauer, dass sie immer abgewartet hatten, bis du allein warst und sie dich abpassten. Zu viert gegen ein Mädchen. Wie mies ist das?“ Sichtlich aufgewühlt schenkte Alea ihnen Kaffee nach. Ein paar Tropfen landeten auf der Untertasse.

„Zu dritt“, korrigierte Inka. „Ich will ihn zwar nicht in Schutz nehmen, aber bei den richtig üblen Sachen war Jan Ehlers nie dabei. Handgreiflich waren immer nur Michael, Philipp und Sebastian.“ Mit den Fingern malte Inka beim Wörtchen nur Anführungszeichen in die Luft. Dann gab sie Milch und Zucker zu ihrem Kaffee.

„Wenigstens gegen Jan hattest du dich damals ja irgendwann ganz gut zur Wehr gesetzt. ‚Jan Ehlers, dem fehlt was. Dämlich ist sein Schopf, nichts ist in seinem Kopf‘“, rezitierte Alea. „Das war genial! Weißt du noch, wie behämmert er geguckt hat, als du das zum ersten Mal gesungen hast?“ Fröhlich biss sie in einen Muffin.

„Ja, der Blick war Gold wert.“ Inka legte ihre Gabel auf den inzwischen leeren Teller und lehnte sich zurück.

Alea wies mit einer Kopfbewegung auf die Kuchenauswahl auf dem Tisch. „Sei nicht so bescheiden. Es ist reichlich von allem da, also greif zu.“

„Danke. Ich nehme mir noch ein Stück Bienenstich, ja? Der sieht genauso köstlich aus.“ Inka griff nach dem Tortenheber und legte ein weiteres Stück Kuchen auf ihren Teller.

„Ich freu mich, dass es dir schmeckt. Überhaupt wünsche ich mir, dass du richtig glücklich bist. Wie ich.“ Ein weiterer Bissen Muffin verschwand in Aleas Mund.

„Keine Sorge, abgesehen von der Trauer um meine Tante und den Sorgen wegen Mama geht’s mir gut.“

„Du bist schon so lange solo. Ich finde, es wird Zeit, dass du dich endlich wieder so richtig verliebst.“ Alea lachte und leckte sich die Finger ab. „Vor allem, wenn du wieder mit so einem netten Mann wie Stefan ankommst. Es muss ja nicht unbedingt wieder ein schwarz gekleideter, tätowierter Metalfan sein. Du hattest damals wirklich für großes Aufsehen gesorgt, als du mit ihm und einigen eurer Freunde zum ersten Mal hier aufgetaucht bist.“

Inka kicherte. „Meine Mutter dachte im ersten Moment, es wären Teufelsanbeter! Sie war sehr erleichtert, als sie feststellte, dass alle ganz harmlos sind und keine Lämmchen opfern.“

„Dafür hattest du bei einem deiner Besuche hier mit ihnen die gesamte Dorfbevölkerung eingeschüchtert.“ Alea grinste. „Du warst wochenlang Gesprächsthema Nummer eins. Frau Schmidt und Frau Winkler wären beinahe in Ohnmacht gefallen.“

„Oje, die beiden Tratschtanten!“ Sie sahen sich an und lachten.

Alea musterte Inkas Kleidung und ihr Haar. „Auf jeden Fall musst du dir keine Sorgen machen, falls du einem dieser Schwachköpfe über den Weg laufen solltest. Wahrscheinlich würde dich keiner von denen mehr erkennen, selbst wenn du direkt vor ihm stündest. Du hast nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Inka von damals.“

Das stimmte allerdings. Das lag nicht nur am kompletten Wandel ihres Kleidungsstils und ihres Stylings. Seit sie ausgewachsen war, hatte sie zugenommen. Inzwischen hatte sie Rundungen an den richtigen Stellen. Niemand würde sie mehr dünn nennen.

„Das ist auch gut so, in jeder Hinsicht. Nee, echt, mach dir um mich keine Gedanken. Ich habe Minka und meinen Beruf. Mehr brauche ich nicht. Okay, irgendwann hätte ich gern ein Häuschen mit Garten. Du weißt ja, dass ich Blumen liebe. Als Kontrast zu all dem Schwarz in meinem Leben brauche ich eben auch Farbe.“ Inka lächelte wehmütig. „Sollte ich mir irgendwann eine neue Katze holen, wird es vielleicht eine schwarz-weiße. Ja, ich habe Mut zur Farbe. Wer hätte das vor Jahren gedacht?“

Sie sahen sich an und lachten, verdrückten ihr Kuchenstück und anschließend noch einen Muffin.

Das Babyfon machte knarzende Geräusche, dann hörte Inka leises Weinen.

„Da ist jemand aufgewacht“, stellte Alea fest. „Willst du mitkommen?“

Hinter ihrer Freundin stieg Inka die Treppe hoch und betrat das Kinderzimmer. Es war in neutralem Hellgelb gestrichen mit einer Borte mit Giraffen, Löwen und Zebras. In einem weißen Gitterbettchen lag der kleine Yannik auf dem Rücken und weinte herzzerreißend.

„Na, na, was ist denn hier los?“, fragte Alea zärtlich und hob ihren Sohn aus dem Bett. „Guck mal, wer da ist. Erkennst du Tante Inka noch?“

Sofort hörte er auf zu weinen und sah sie aus großen Augen an.

„He, kleiner Mann! Wobei das gar nicht stimmt. Ist das wirklich derselbe wie beim letzten Mal? Er ist irrsinnig gewachsen.“ Vorsichtig kitzelte Inka Yannik am Bauch. Er quittierte es mit einem zahnlosen Grinsen.

„Sag ich ja! Was anderthalb Monate ausmachen.“ Alea legte ihr Baby auf die Wickelkommode und wechselte ihm geübt die Windeln. Statt nur etwas mit den Beinchen zu strampeln wie beim letzten Mal, versuchte Yannik jetzt, sich auf den Bauch zu drehen. Alea hatte alle Hände voll zu tun, ihn festzuhalten.

„Wie lebhaft er geworden ist!“ Inka staunte.

„Und anstrengend“, erklärte Alea und lachte. „Er hält uns echt gut auf Trab. So, fertig. Lass uns runtergehen, damit er mir das Tortenstück in flüssiger Form wieder aussaugen kann.“

Alea stillte ihr Baby auf dem Sofa. Gerührt sah Inka zu. Der Anblick des zufrieden nuckelnden Babys und das glückstrahlende Gesicht ihrer Freundin waren wunderschön. Anschließend setzte Alea den Kleinen auf ihren Schoß und klopfte sanft auf seinen Rücken. Schon entfuhr ihm ein gewaltiger Rülpser.

„Wie sein Vater!“ Alea kicherte. „Yannik kann seine Herkunft nicht leugnen.“

Sie lachten gemeinsam, neugierig beobachtet vom Baby.

„Er ist so süß“, schwärmte Inka.

„Möchtest du ihn halten?“ Alea setzte Yannik auf ihren Schoß.

Zärtlich betrachtete Inka das weiche blonde Haar auf seinem Kopf und lauschte seinem zufriedenen Gebrabbel. Er steckte sich seine Finger in den Mund und kaute darauf herum.

Alea beobachtete sie neugierig. „Na, kommst du langsam auf den Geschmack?“

„Dafür fehlt mir wohl ein Mann.“ Inka wippte mit dem Knie, sodass der Kleine hopste und vor Vergnügen jauchzte.

„Ist dir noch kein reicher Sylter über den Weg gelaufen? Ich hab immer gedacht, von denen wimmelt es auf der Insel.“

„Nee, lass mal. Ich glaube, so einer sucht sich nicht gerade ein Gothicgirl mit mehr Metall am Körper als auf dem Konto.“

„Stehst du denn immer noch darauf?“

„Na ja, bedingt durch meinen Job bin ich zwangsläufig etwas, sagen wir mal, spießiger geworden. Ruhiger. Die ersten Jahre musste ich unbedingt zu jedem Festival und war auf etlichen Konzerten – Gothic, Rock, Metal. Jetzt fehlt mir oft die Zeit dafür.“ Inka lachte. „Ich werde wohl langsam alt. Nee, im Ernst, ich glaube, es liegt auch an Minka. Seit ich sie habe, bin ich eher häuslich geworden. Jedes Mal, wenn ich sie allein lassen muss, hab ich ein schlechtes Gefühl, obwohl ich weiß, dass sie bei Sabine in guten Händen ist.“

„Ich sag ja, du bist bereit für eine eigene Familie. Der Kleine steht dir übrigens echt gut.“

„Es ist auch sehr schön, ihn zu halten. Sieh dir nur diese winzige Nase an. Und diese langen dichten Wimpern. Die Mädels werden ihm später scharenweise nachlaufen.“

Alea lachte. „Das dauert hoffentlich noch eine ganze Weile!“

Es klingelte an der Tür, und sie sprang auf. Gleich darauf kam sie mit ihren gemeinsamen Freundinnen Svenja und Bekki zurück. Es folgte eine fröhliche, lautstarke Begrüßung, und jede wollte mal den kleinen Yannik halten.

„Siehst du, es fängt schon an mit seinen Verehrerinnen“, stellte Inka lachend fest.

„Er hat ein Faible für ältere Frauen. Er weiß eben, was gut ist“, erklärte Svenja und drehte sich mit ihm im Kreis herum. Er quiekte vor Vergnügen.

Der Rest des Nachmittags verlief mit angeregten Gesprächen, großem Mitgefühl wegen Inkas Tante, aber auch viel Gelächter. Es tat so gut, mal wieder Zeit mit ihren Freundinnen zu verbringen.

Auf Sylt hatte Inka nie richtig Anschluss gefunden. Vor allem nach Stefans Auszug war sie oft allein, was sie allerdings nicht besonders störte. Sie hatte eine gemütliche Wohnung, verbrachte viel Zeit mit ihrer Katze und arbeitete in ihrem Traumberuf. Wann immer sie wollte, konnte sie an die herrlichen Strände gehen, einen Drink in einer der berühmten Strandbars trinken oder sich Luxusschlitten in Kampen ansehen. Sie vermisste nichts. Jedenfalls hatte sie das bisher immer gedacht.

Aber jetzt, inmitten ihrer Freundinnen und mit einem glucksenden Baby auf dem Schoß, stellte sie fest, dass ihr eben doch etwas fehlte.

Geborgenheit, Wärme. Ihre Freundinnen, ihre Familie.

Ihre Heimat.

Kapitel 3

„Und du musst wirklich morgen wieder zurück?“, fragte ihre Mutter zwei Tage später beim Frühstück und wirkte sehr betrübt.

„Ja, es nützt alles nichts, Mama. Ich habe zwei Objekte, um die ich mich kümmern muss. Vor allem muss ich zu Minka. In letzter Zeit geht es ihr nicht besonders.“

Inka wusste auch so, was ihre Mutter dachte. Dass es ihr ebenfalls nicht gut ging, jetzt, wo ihre Schwester nicht mehr da war. Aber von heute auf morgen konnte Inka beim besten Willen nicht alles über den Haufen werfen. Sie konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen und nach Eiderstedt zurückkehren.

„Ich werde so schnell wie möglich wieder zu Besuch kommen“, versprach Inka und legte ihre Hand auf die ihrer Mutter.

„Das wäre wirklich schön. Ich freu mich schon. Oh, was mir einfällt. Bisher hab ich vor lauter Aufregung gar nicht mehr daran gedacht. Du bekommst eventuell Post vom Nachlassgericht.“

„Ich?“

Ihre Mutter nickte. „Nachdem Astrid … gestorben war, benötigte der Bestatter einige Unterlagen. Dabei fand ich in einer Schublade einen großen Umschlag, auf dem ‚Testament‘ stand. Ich hab ihn unverschlossen dem Bestatter übergeben und der meinte, er hat ihn dem Notar weitergereicht.“

„Tante Astrid wird alles dir vererben, Mama. Du bist ihre einzige Schwester.“

„Und du ihre einzige Nichte. Sie hing sehr an dir, Inka. Möglicherweise hinterlässt sie auch einen Teil ihrem Gartenverein oder dem Tierschutz, aber ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Ich möchte nur, dass du Bescheid weißt, dass so etwas kommen kann. Nicht, dass du einen Schreck bekommst, wenn du plötzlich Post vom Gericht erhältst. Ich kann mir vorstellen, dass sie dich ganz bestimmt bedenken wird.“

„Alles klar. Vielleicht bekomme ich ein Schmuckstück oder so etwas. Ein Erinnerungsstück wäre wirklich schön.“

Ihre Mutter sah sie mit einem seltsamen Blick an, den Inka nicht deuten konnte. Wehmut lag darin, aber auch … Freude? Konnte das sein?

„Warten wir mal ab, was sie beschlossen hat. Ich werde in ihrem Haus regelmäßig nach dem Rechten sehen, bis wir wissen, was damit geschehen soll.“ Die Stimme ihrer Mutter wurde mit jedem Wort leiser.

„Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie nie mehr zurückkommt.“ Unvermittelt überfiel Inka eine überwältigende Traurigkeit und ihre Augen wurden feucht.

Gleich darauf lagen sich beide in den Armen und weinten.

Nach dem Frühstück machte sich Inka am nächsten Morgen auf den Weg zurück nach Sylt. Das Herz tat ihr weh, als sie ihre Mutter allein am Gartenzaun stehend zurücklassen musste. Im Rückspiegel sah sie ihre Mutter noch immer winken, bis das Auto um eine Kurve bog und aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Noch nie war Inka die Fahrt nach Sylt so schwergefallen wie heute. Es war, als wollte irgendetwas sie hier festhalten. Oder war es einfach nur das nagende Gefühl, zu wissen, wie einsam ihre Mutter jetzt sein würde?

Dafür war es umso schöner, Minka wiederzusehen. Sie schien ein wenig beleidigt zu sein, dass Inka sie einige Tage lang in Sabines Obhut zurückgelassen hatte, und zog sich vorerst unters Sofa zurück. Doch nach ungefähr einer Stunde hatte sie genug geschmollt, kam hervor und ließ sich von Inka auf den Arm nehmen und streicheln.

„He, bist du endlich wieder aufgetaut? Ich freu mich, wieder bei dir zu sein, meine Süße. Tut mir ja auch leid, dass ich wegmusste, aber es ging nicht anders.“ Zärtlich kraulte sie Minka unter dem Kinn, und die Katze schnurrte zufrieden. Bald darauf sprang das Tier jedoch von ihrem Arm herunter und verzog sich auf ihren Lieblingsplatz auf der Fensterbank, wo es rasch einschlief.

Inka checkte ihre E-Mails und erledigte einige Telefonate. Am Nachmittag machte sie sich auf den Weg nach Westerland, denn bei einem ihrer Objekte, einem kleinen Ferienhaus, fand heute die Übergabe statt. Vor dem Haus traf sie sich mit den bisherigen Eigentümern sowie den Käufern.

„Moin, Frau Schumann, Herr Schumann, Frau Hinrichs, Herr Hinrichs.“ Nacheinander begrüßte sie ihre Kunden mit Handschlag und lächelte. „Heute ist der große Tag, was?“

Alle nickten und besonders die Hinrichs, die Käufer, wirkten sehr aufgeregt. Für das Übergabeprotokoll lasen sie die Zählerstände für Gas und Wasser ab, und Inka trug alles ein. Nachdem alle unterschrieben hatten, holte Herr Hinrich eine Flasche Sekt und Gläser, und sie stießen miteinander an.

„Dann wünsche ich Ihnen viel Freude mit Ihrem neuen Haus. Alles Gute für Sie“, wünschte Inka am Schluss und verabschiedete sich von allen.

Sobald sie wieder im Auto saß, klingelte ihr Handy.

„Hallo, Sabine“, grüßte sie. „Na, hast du Feierabend?“

„Hi, Inka. Ja, zum Glück. Und du bist wieder zurück? Ich hoffe, es war nicht zu schlimm? Tut mir echt leid mit deiner Tante.“

„Danke. Na ja, schön war es nicht. Sie war einfach noch zu jung.“

„Wie kommt deine Mutter damit klar?“

„Nicht so gut. Astrid fehlt ihr sehr. Jetzt hat sie niemanden mehr in ihrer Nähe, abgesehen von Nachbarn und Freunden natürlich.“

„Das klingt nicht gut. Alles Gute für sie!“

„Vielen Dank. Ist denn mit Minka alles in Ordnung gewesen?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher.“

„Wieso?“, rief Inka erschrocken.

„Sie hat sehr viel geschlafen. Und dafür nur wenig gefressen.“

„Das zeichnet sich seit einiger Zeit ab. Minka ist alt. Ich war zwar vor wenigen Wochen mit ihr beim Tierarzt, aber ich werde trotzdem erneut mit ihr hingehen.“

„Gute Idee. Lass sie gründlich durchchecken, das kann nicht schaden.“

„Dann nochmals danke für deine Hilfe. Und sag Bescheid, wenn du mal wieder unterwegs bist und ich deine Blumen versorgen soll.“

„Das mach ich. Bis bald.“

„Tschüss.“

Inka fuhr zum nächsten Supermarkt und kaufte Lebensmittel und Katzenfutter ein. Die Tierarztpraxis hatte bereits geschlossen. Am Abend rollte sich Minka auf ihrem Schoß ein und döste, während sich Inka einen Film ansah.

Am folgenden Morgen rief sie bei der Tierarztpraxis Martens an und bekam einen Termin für die kommende Woche. Anschließend telefonierte sie die lange Liste der Interessenten für eine Eigentumswohnung in Westerland ab. Bereits kurze Zeit, nachdem sie das Exposé ins Internet gestellt hatte, trudelten eine Menge Anrufe und E-Mails ein. Erst einmal nahm sie alle auf, dann begann sie mit der Vorauswahl. Mit einigen von denen, die infrage kamen, sprach sie Besichtigungstermine ab.

So vergingen die nächsten Tage. Sie bekam einen weiteren Auftrag, hatte Termine beim Notar zur Kaufvertragsabwicklung und zur Vorbesprechung mit Verkäufern und Vermietern.

Hin und wieder telefonierte sie mit ihrer Mutter. Sie klagte nicht, aber Inka hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme. Auch sie selbst war weiterhin traurig und vermisste ihre Tante. Und wenn sie ehrlich zu sich war, nicht nur das. Sie würde gern viel öfter ihre Freundinnen sehen, besonders Alea mit ihrem kleinen Yannik. Er wuchs so schnell. Und natürlich war da ihre Mutter. Es verging kein Tag, an dem sie sich nicht Sorgen um sie machte.

Inka war viele Jahre fortgewesen, hatte aufregende Jahre mit unzähligen Partys und Festivals erlebt.

Ja, sie war zufrieden. Aber war sie wirklich glücklich? War da nicht mit den Jahren zunehmend das Gefühl gewesen, dass etwas fehlte? Sie arbeitete selbstständig und konnte ihrer Arbeit somit von jedem beliebigen Ort aus nachgehen. Wenn sie wieder auf Eiderstedt leben würde, könnte sie sogar weiterhin ihren Kundenstamm auf Sylt betreuen. Das lag zwar nicht gerade um die Ecke, aber auch keine Weltreise entfernt. Und hier könnte sie sich neue Kunden suchen.

Allerdings war da immer noch Minka. Auf keinen Fall durfte sie ihrer alten Katze noch einen Umzug an einen anderen Ort zumuten.

Schließlich hatte sie den Termin mit ihr bei Tierarzt Doktor Martens in Hörnum. Dort war Minka bereits dafür bekannt, Tierärzte nicht leiden zu können, und seine Helferin legte mit Hand an, um die sich heftig wehrende Katze zu bändigen.

„Man sollte nicht glauben, dass sie schon so alt ist“, sagte Doktor Martens, während er Minka behutsam Blut abnahm. Sie fauchte und zischte wie eine wütende Schlange. „In Situationen wie diesen entwickelt sie eine Energie wie ein wilder Tiger.“

„Zu Hause schläft sie dafür den Großteil des Tages. Sie frisst auch immer weniger. Ich kaufe nur noch ihr Lieblingsfutter, aber selbst das frisst sie meistens nicht mehr auf.“

„Wir werden schon herausfinden, woran das liegt.“ Behutsam schaute Doktor Martens Minka ins Maul und überprüfte ihre Zähne und Schleimhäute. Anschließend tastete er ihren Körper ab, maß Fieber und machte ein Ultraschall ihrer inneren Organe. Als er sich Inka zuwandte, wirkte er ernst.

Sofort begann ihr Herz zu rasen. „Was fehlt ihr?“

„Näheres wissen wir, sobald die Laborergebnisse vorliegen. Zurzeit vermute ich, dass es schlicht und einfach das Alter ist. Sie wissen ja, dass Sie sich darauf einstellen müssen, dass es irgendwann ganz schnell gehen kann.“

Inka schluckte. Der Gedanke, Minka zu verlieren, tat unsagbar weh. Sie hatte das Tier jeden Tag um sich, verbrachte die Abende mit Minka, wurde von ihr freudig begrüßt, wenn sie nach Hause kam. Aber klar, natürlich wusste sie, dass der Tag, an dem sie sich von ihrer geliebten Katze würde verabschieden müssen, immer näher rückte. Betrübt sah sie zu, wie Minka rasch in die Geborgenheit des Transportkorbs kletterte und sich dort zusammenkauerte.

„Rufen Sie morgen an, dann wissen wir schon mehr“, erklärte Herr Doktor Martens und gab ihr die Hand.

„Das mach ich. Vielen Dank.“

Ihr war wehmütig ums Herz, als sie zu Hause beobachtete, dass Minka sich sofort wieder auf die Fensterbank verzog, sich einrollte und auf der Stelle einschlief. Etwas stimmte nicht mit ihr.

Ihre Befürchtung bewahrheitete sich, als sie am nächsten Tag bei Doktor Martens anrief.

„Die gute Nachricht ist, dass Minka keinen Tumor und keine schwerwiegende Erkrankung wie Diabetes oder so etwas hat“, begann der Tierarzt.

Atemlos lauschte Inka, während ihr Blick zu ihrer Katze huschte. Wie üblich lag Minka auf der Fensterbank, schlief jedoch nicht, sondern sah hinaus.

„Allerdings scheint ihr Herz nicht mehr richtig zu arbeiten. Die Sauerstoffsättigung im Blut ist ungenügend“, fuhr Doktor Martens fort.

„Kann man etwas dagegen machen?“, fragte Inka erschrocken.

„Ich werde ihr ein herzstärkendes Medikament verschreiben. Mischen Sie es ihr bitte in ihr Lieblingsfutter. Minka ist eine Freigängerkatze, oder?“

„Ja, sie hat eine Katzenklappe und kann rein und raus, wie sie möchte. Soll ich sie jetzt lieber drinnen lassen?“

„Nein, besser nicht. Sie würde nicht verstehen, warum sie plötzlich nicht mehr raus darf, und es würde sie nur zusätzlich stressen. Versuchen Sie, Minkas täglichen Tagesablauf möglichst beizubehalten.“

„Okay, das mach ich. Die Hauptsache ist, dass es ihr besser geht. So gut wie es unter diesen Umständen möglich ist.“