Der Kampf gegen die absolute Armut - Gunnar Adler-Karlsson - E-Book

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Gunnar Adler-Karlsson

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Beschreibung

Absolute Armut – damit wird jener Zustand bei Menschen umschrieben, die chronisch unterernährt und daher anfällig für Krankheiten sind. Materielles Elend, ungenügende medizinische Versorgung und fehlende Bildungsmöglichkeiten sind die begleitenden Umstände. Absolute Armut beginnt, wo das notwendige Einkommen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse überhaupt fehlt. Ihre Überwindung wird nicht ohne institutionelle Änderungen möglich sein, sei es durch Schaffung neuer Einkommen oder durch Umverteilung der Einkommen. Dabei wird dem Prinzip der Self-Reliance, der Selbstentwicklung, entscheidende Bedeutung zukommen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gunnar Adler-Karlsson

Der Kampf gegen die absolute Armut

Die Kluft zwischen Nord und Süd wird immer größer. Was können wir tun?

Aus dem Englischen von Dr. Hansheinz Werner

FISCHER Digital

Inhalt

Kapitel I Die Beseitigung der absoluten Armut – ein neues Ziel für die Nord-Süd-Beziehungen1. Die Nord-Süd-Trends in den 1980er Jahren2. Die alten Ziele3. Das neue ZielKapitel II Die Dimensionen der absoluten Armut1. Was ist absolute Armut?2. Die Unwissenheit hinsichtlich der kommunistischen Länder3. Absolute Armut und Einkommensniveaua) Die Bedeutungslosigkeit von Einkommenszahlenb) Die Bedeutung der Einkommensverteilung4. Lebenserwartung5. Ernährung6. Wasser7. Wohnungsprobleme8. Medizinische Betreuung9. Erziehung10. Das Arbeitsproblem11. ZusammenfassungKapitel III Zu wenig Güter für zu viele Menschen1. Die drei Hauptgründe für die absolute Armut2. Graphische Darstellung der absoluten Armut3. Die Wachstumsschule4. Die Bevölkerungsschule5. Einige empirische Nachweise6. Ein chronisches Problem7. Die relative Bedeutung von Wachstum und Bevölkerung8. Die Verteilung der Schuld an der absoluten Armut9. Historische Wachstumsargumente10. Gegenwärtige Süd-West-Argumente11. Die Unfruchtbarkeit der »Schuld-Debatte«Kapitel IV Die wachsende Ungleichheit1. Einführung2. Die Lehre von der Ungleichheit3. Eine graphische Darstellung4. Die Version des Autors: Die physiologische Neigung aufzuholen5. Erzeugt das wirtschaftliche Wachstum absolute Armut?6. Auch die spezifische Armut kann zunehmena) Unterernährungb) Wasserc) Gesundheitd) Erziehunge) Das Wohnungsproblem7. SchlussfolgerungKapitel V Die Aussichten für 1980 und die folgenden Jahre1. Bevölkerung2. Nahrung3. Wasser4. Erziehungs-, Wohnungs- und Arbeitsfragen5. ZusammenfassungKapitel VI Fünf politische Grundfragen für zukünftige Aktionen1. Einführung2. Umgekehrter Utilitarismus3. Der politische Wille4. Haben wir die nötigen Mittel?5. Ist absolute Armut genug?6. Planung oder Markt?Kapitel VII Zu einer Zusammenarbeit auf dörflicher, nationaler und internationaler Ebene1. Einführung2. Beschäftigung oder Umverteilung3. Eine Zwei-Schritt-Strategie4. Eine Umverteilung kann schnelle Hilfe bringena) Die Umverteilung kann nach einem Modell helfenb) Kann die Umverteilung wirklich helfen?5. Was nötig ist: wenig Mittel – viel Organisation6. Wo die Probleme und die Mittel sind7. Selbsthilfe (Self-Reliance)8. Die Schaffung von Bedürfnissen und Mitteln9. Landreform10. Dorf und Nation11. Ist eine Revolution die Lösung?12. Die Rolle der internationalen Wirtschaft13. Lebensmittelhilfe14. Eine Zusammenarbeit auf drei EbenenKapitel VIII Wie weit muß das System geändert werden?1. Einführung2. Kann man Analogien ziehen?3. Die multinationalen Gesellschaften4. Drei wichtige Faktoren für Zweifela) Die Einkommensverteilungb) Die Forderungen des technologischen Fortschrittsc) Die Fähigkeit der Marktdurchdringung5. Schlussfolgerungen

Kapitel I Die Beseitigung der absoluten Armut – ein neues Ziel für die Nord-Süd-Beziehungen

1. Die Nord-Süd-Trends in den 1980er Jahren

Die Weltpolitik wird in steigendem Maß von Überlegungen über die globale Verteilung von Einkommen und Rohstoffen beeinflußt werden. Wenn die gegenwärtigen Wachstumstendenzen anhalten, wird sich die heutige Weltbevölkerung bis 1990 um etwa ein Drittel vermehrt haben und die durchschnittliche globale Pro-Kopfproduktion um die Hälfte. Die Nachfrage nach natürlichen Rohstoffen wird sich jedoch – allgemein gesprochen – verdoppelt haben. Wenn die gegenwärtigen Verteilungstrends weiterhin andauern, wird sich das stärkste Bevölkerungswachstum bei den ärmsten, das stärkste Anwachsen des materiellen Lebensstandards jedoch bei den reichsten Nationen vollziehen. Die Ungleichheit auf der Erde und die »Kluft« zwischen dem Norden und dem Süden werden sich dann noch beträchtlich erweitert haben.

Man kann zu diesen Entwicklungstendenzen drei bedeutsame Fragen stellen.

 

Erstens: Ist diese Entwicklung moralisch gerecht?

Zweitens: Werden sich die armen Nationen weiterhin in dem Maß von ihren natürlichen Rohstoffen trennen, daß die Forderungen der reichen Nationen befriedigt werden, wie das – wenigstens bis zu der OPEC-Krise des Jahres 1973 – der Fall gewesen ist?

Drittens: Ist das eine politisch wünschenswerte Entwicklung in einer Welt, die durch schnellste Kommunikationsmöglichkeiten und immer wirksamere Waffen der wechselseitigen Vernichtung charakterisiert ist?

 

Auch wenn man keineswegs versuchen will, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, beweist ihre bloße Stellung die Notwendigkeit, die Nord-Süd-Beziehungen neu zu überdenken, die Notwendigkeit, für sie neue Richtlinien oder neue Ziele aufzustellen.

Die alten Ziele waren unbestimmt oder rein rhetorisch, diejenigen, die heute diskutiert werden, erweisen sich zum großen Teil als unrealistisch. Was daher nötig ist, ist ein neues Ziel, auf das sich alle – oder wenigstens die meisten – Nationen einigen können.

2. Die alten Ziele

Der Transfer eines Prozents des Brutto-Sozialprodukts der reichen an die armen Nationen als »Auslandshilfe« war für mehr als zwanzig Jahre ein besonders wenig inspirierendes Ziel. Die diesem Postulat innewohnende Heuchelei kann durch den einfachen Hinweis aufgezeigt werden, daß Portugal für viele Jahre, solange es nämlich seine afrikanischen Kolonien noch besaß, die Führung in der westlichen Hilfsliga hatte, wie das durch die OECD-Statistiken festgestellt wurde. Es ist nützlich, wenn man sich an das 1 %-Ziel erinnert und es, wie noch aufgezeigt werden wird, realisiert. Es kann aber keineswegs das Ziel für die Nord-Süd-Beziehungen sein.

Die »Schließung der Kluft« wirtschaftlicher Ungleichheiten zwischen den reichen und den armen Nationen ist ein weiteres Ziel, das oft erörtert wird. Entweder ist dies der Ausdruck einer totalen Unwissenheit hinsichtlich der gegenwärtigen Trends, die alle in die entgegengesetzte Richtung weisen, und der ungeheuren praktischen Schwierigkeiten, die einem solchen Vorschlag im Wege stehen. Oder aber es ist lediglich ein rhetorisches Ziel mit dem Hauptzweck, die Gefühle der Öffentlichkeit zu beschwichtigen, der es vorgelegt wird – ein Ziel, das aber von den Machern der Politik nicht ernst genommen wird.

In dem Kontext der »Neuen Internationalen Wirtschaftlichen Ordnung« ist in den letzten Jahren eine neue Gruppe detaillierter Ziele erörtert worden. Die vielen Fragen, die unter dieser Bezeichnung zusammengefaßt sind, können im großen und ganzen unter zwei Untertiteln eingeordnet werden: Fragen der Macht und solche humanitärer Natur.

Die Machtfragen – sie schließen auch die ein, in welchem Ausmaß die armen Nationen die reichen zu einer Neuverteilung der Einkommen, ähnlich der des OPEC-Kartells, zwingen können – wirken entzweiend. Sie führen wahrscheinlich zu Konflikten und der Gefahr von Feindseligkeiten zwischen Nord und Süd. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß die Nationen, die heute die Macht besitzen, die Macht freiwillig aufgeben werden; genauso wenig ist anzunehmen, daß sie sich unnötigerweise Drohungen oder einem Druck beugen. Die Machtfragen werden, wenn sie weiter verfolgt werden, kurz gesagt zu einer Fortsetzung des machiavellistischen Machtspiels führen, das in unserer geschichtlichen Vergangenheit zu unzähligen Feindschaften und Kriegen geführt hat.

3. Das neue Ziel

Was diese Entwicklung verändern könnte, wären vielleicht die humanitären Probleme, die hinter einem großen Teil der Erörterung einer neuen Wirtschaftsordnung stehen. Eine humanitäre Nord-Süd-Zusammenarbeit könnte einigend statt trennend wirken. Sie könnte die drei Fragen beantworten, die oben gestellt wurden – nach einer moralischen Forderung nach mehr Gerechtigkeit, einer besseren praktischen Verteilung der Rohstoffe zwischen den Reichen und den Armen und einer weiseren politischen Weltentwicklung im Zeitalter der ABC-Waffen.

Der Wesenskern der humanitären Frage ist die Beseitigung des ausgesprochenen Elends, dessen also, was wir die »absolute Armut« nennen können. So ist es in den neu entwickelten Ländern verstanden worden und so sollte es auch in der Weltgemeinschaft verstanden werden.

 

Ich möchte vorschlagen, daß die Beseitigung der absoluten Armut das neue Ziel für zukünftige Nord-Süd-Beziehungen ist. Dieses Ziel sollte in den 1980er Jahren fest etabliert werden und einen wichtigen Teil der Weltpolitik für die kommenden Jahrzehnte bestimmen. Das ist das Hauptthema dieses Essays.

 

Man kann einige Anzeichen dafür finden, daß das nicht nur ein Wunschdenken, sondern bereits ein Teil einer entstehenden Politik ist. Auf der UN-Bevölkerungskonferenz in Bukarest im Jahre 1974 wurde die Beseitigung der absoluten Armut als ein Grundziel für die kommende Entwicklungspolitik vorgeschlagen. Mindestens seit dem Jahre 1973 hat die Weltbank viele ihrer politischen Erklärungen und auch einige ihrer Aktionen in diese Richtung abgeändert.

In seiner Rede vor der 7. Sonder-Generalversammlung der UN im September 1975 hat der US-Außenminister Henry Kissinger als ein grundsätzliches Ziel jeder Entwicklungspolitik die Notwendigkeit betont, »einen Boden unter der Armut zu errichten«. Der neue Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten hat dieses Ziel wiederholt. Das grundlegende Dokument des International Labor Office (ILO) für die Weltarbeiterkonferenz im Juni 1976 befaßte sich ausschließlich mit der im Mittelpunkt stehenden Vorstellung, daß die Beseitigung der absoluten Armut – hauptsächlich durch eine globale Vollbeschäftigung – das zentrale Thema sowohl für die innere wie für die internationale Politik für künftige Nord-Süd-Beziehungen werden sollte.

Es gibt viele Anzeichen, die glauben lassen, daß sich diese Vorstellungen zu einer neuen Politik für die Weltwirtschaft verschmelzen könnten. Von einem derartigen Ziel könnten starke Impulse ausgehen; sie könnten die Ursache sein, daß der wahre humanitäre Geist bei den reicheren Nationen geweckt wird, und zwar auf eine ganz andere Art, als das 1 %-Ziel das getan hat.

Trotz der Tatsache, daß mindestens eine halbe Milliarde Menschen unter der absoluten Armutsgrenze leben, ist diese Politik auch viel realistischer als jedes leere Geschwätz über das »Schließen der Kluft«. Schließlich könnte ein derartiges gemeinsames Ziel für die reichen und die armen Nationen auch zum Brennpunkt für einen Kompromiß zwischen dem Norden und dem Süden in der jetzt ziemlich wirren Diskussion über eine neue internationale Wirtschaftsordnung werden; die reichen Nationen könnten eine Anzahl der weiterreichenden Forderungen der armen Länder akzeptieren, während diese einen solchen Ersatz für die ärmsten Schichten der armen Nationen fordern. Das könnte sich letzten Endes als ein realistischer Weg erweisen, um den neuen Kalten Krieg zwischen dem Norden und dem Süden zu vermeiden, vor dem Henry Kissinger in seiner Rede vom September 1975 ebenfalls gewarnt hat.

Der vorliegende Essay will versuchen aufzuzeigen, was absolute Armut ist, wie viele Menschen von ihr betroffen sind und worin ihre Ursachen liegen. Er wird auch Vorschläge machen, wie dieses tiefste Elend beseitigt werden kann, wenn wir den politischen Willen schaffen, in einem weltweiten Kreuzzug gegen die Armut zusammenzuarbeiten.

Die wesentliche Schlußfolgerung des Essays ist die, daß die Knappheit materieller Mittel und alle anderen Hindernisse, die heute die Beseitigung der absoluten Armut verhindern, verhältnismäßig leicht überwunden werden können, wenn wir nur diesen politischen Willen mobilisieren können.

 

Kurz gesagt: die Beseitigung der absoluten Armut kann ein moralisch lockendes, psychologisch inspirierendes, wirtschaftlich realistisches und politisch weises Ziel für die Zukunft der Nord-Süd-Beziehungen werden.

Kapitel II Die Dimensionen der absoluten Armut

1. Was ist absolute Armut?

Absolute Armut bezeichnet Verhältnisse, die für das Überleben des Menschen grundlegend und notwendig sind. Wir wollen kurz eine Anzahl dieser materiellen Manifestationen erörtern und zwar die, die, wo immer sie nicht vorhanden sind, dazu beitragen, die Sterblichkeit und Krankheitsanfälligkeit in einer Bevölkerung zu steigern.

Grundlegend ist der Mangel an Lebensmitteln und ausreichender Ernährung. Ohne sie wird das menschliche Individuum schwach und anfällig für Krankheiten und stirbt schließlich. Besonders bedeutsam ist die Unterernährung bei Kindern, denn sie kann sich auf ihre physischen wie geistigen Voraussetzungen für das Leben auswirken.

Der Mangel an Wasser führt zu ähnlichen Ergebnissen. Der Mangel an reinem Trinkwasser und der Zwang, verschmutztes Wasser zu trinken, führen oft zu den Infektionen, die unterernährte Individuen töten können und zwar lange, ehe sie der Unterernährung erliegen.

In den meisten Regionen der Erde ist eine Form von Obdach gegen die Unbilden der Natur und die Kälte – also irgendeine Art von Behausung – nötig.

Das Fehlen der einfachsten medizinischen Betreuung führt zu unnötigem Leiden und zum Tode. Man kann darüber diskutieren, wie viele Medikamente nötig sind, daß aber einige zur Grundvoraussetzung für einen niedrigen Stand beispielsweise der Kindersterblichkeit gehören, erscheint offenkundig.

Die fehlende Fähigkeit zu lesen und zu schreiben ist in einer sehr primitiven Gesellschaft nicht sehr wichtig. Sobald Menschen aber unter den Einfluß einer modernen Regierung kommen oder von modernen Arbeitsmärkten abhängig werden, bringt das Analphabetentum für sie die hohe Wahrscheinlichkeit mit sich, auf den Boden der Gesellschaft und möglicherweise unter die Grenze der absoluten Armut gedrückt zu werden.

Die fünf Punkte Nahrung, Wasser, Behausung, Medizin und Schulen werden normalerweise im Kontext der absoluten Armut erwähnt. In dem Zusammenhang der absoluten Armut sollte aber auch die Arbeit in Betracht gezogen werden. Diejenigen, die keine Arbeit finden und die in Nationen leben, die kein soziales Sicherheitssystem besitzen, bringen nicht das Geld auf, um auch nur die wesentlichsten Dinge für den Lebensunterhalt zu kaufen. Sie sinken leicht unter die Ebene der absoluten Armut ab, wie das durch das ILO festgestellt wurde.

Eines der wenigen ernst zu nehmenden Dokumente, die über die absolute Armut existieren, wurde durch das Internationale Arbeitsamt in Genf als das grundlegende Papier für die UN-ILO-Weltarbeitskonferenz im Juni 1976 herausgebracht. In dieser Studie wird angenommen, daß auch die Arbeit eine Grundbedingung ist, ohne die sich ein Mensch im Zustand der absoluten Armut befindet. Diese sechs erwähnten Aspekte der absoluten Armut sollen in dieser Studie erörtert werden. Sie sollten jedoch nicht idealtypisch und einzeln behandelt werden.

 

»Du sollst nicht vom Brot allein leben«, ist eine alte Wahrheit. Es kann nämlich auch eine absolute Armut nicht-materieller Art geben. In der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen stehen die materiellen Probleme sogar erst an zweiter Stelle hinter den geistigen und den politischen. Das Recht auf einen Grundlebensstandard wird in Artikel 25 proklamiert. In Artikel 13 wird jedoch das Recht festgelegt, im eigenen Staatsgebiet frei zu reisen, es zu verlassen und auch wieder dorthin zurückzukehren.

Wir wissen, daß dieses Recht in vielen Ländern stark beschnitten ist. Ähnlich verletzt werden in vielen Staaten die Rechte, die eigenen Gedanken frei auszudrücken, dem eigenen Gewissen zu folgen, der religiösen Gemeinschaft der eigenen Wahl anzugehören, Meinungen frei zu empfangen und zu verbreiten und an freien Versammlungen teilzunehmen – alles Rechte, die durch die Artikel 18, 19 und 20 der UN-Erklärung garantiert sind und die die meisten Nationen – und zwar kommunistische wie westliche – durch ihre Unterschrift anerkannt haben.

Ich habe versucht, quantitatives Material über die absolute Armut auch im Hinblick auf diese Rechte zu sammeln. Amnesty International berichtet über die Beschneidung dieser Rechte in mehr als einhundert Nationen; wie es einer ihrer Vertreter aber ausgedrückt hat, »weigert sich Amnesty International aber«, eine Liste der »führenden Zehn« in menschlichen Abscheulichkeiten aufzustellen. In diesem Essay möchte ich mich jedoch auf die Erörterung der absoluten materiellen Armut beschränken.

Diese Beschränkung ist sehr schwerwiegend, besonders weil es durchaus Gründe für die Vermutung gibt, daß jede wirksame Politik zur Beseitigung der absoluten materiellen Armut die Frage nach der Beschränkung der politischen und geistigen Freiheiten aufwerfen kann. Die Weglassung der Erörterung soll keineswegs einen Versuch darstellen, das Problem zu verheimlichen, es ist vielmehr ganz einfach die Erkenntnis, daß es für die vorliegende Studie viel zu schwierig ist.

2. Die Unwissenheit hinsichtlich der kommunistischen Länder

Alle Informationen in diesem Kapitel beziehen sich ausschließlich auf die Nationen außerhalb des kommunistischen Machtbereichs. Dafür gibt es einen einzigen entscheidenden Grund: unsere Unwissenheit. Wir haben ganz einfach keinerlei Informationen über den Stand der Dinge hinsichtlich der absoluten Armut in den kommunistischen Staaten. Wir erhalten von ihnen einen gewaltigen Strom von Propaganda, die uns sagt, daß dieses Problem nicht existiert und – der Begriffsbestimmung nach – in einem sozialistischen Land einfach nicht existieren kann. Wir besitzen hier aber keine unabhängigen Studien und keine wissenschaftliche Forschung der Art, die die Realität in den nicht-sozialistischen Nationen so grimmig schildert. Reisende werden von gewissen Gebieten ferngehalten und gewöhnlich während eventueller Reisen in »sensible« Regionen gewöhnlich gut »geführt«. Gedrucktes Material wird durch die nationalen Behörden immer so zensiert, daß es a priori für eine wissenschaftliche Auswertung unzuverlässig ist. Kurz gesagt: wir wissen nichts über Einzelheiten der absoluten Armut in kommunistischen Ländern.

Die Tatsache, daß kommunistische Nationen hier nicht behandelt werden, darf auf keinen Fall so ausgelegt werden, als ob das Problem in den sozialistischen Ländern nicht existieren würde – und zwar trotz aller offiziellen Erklärungen, die das Gegenteil behaupten.

Wir erhalten aber einen anhaltenden Strom zahlreicher Berichte von Besuchern in diesen Ländern, die die Hypothese rechtfertigen, daß das Vorherrschen der absoluten Armut viel weniger festzustellen ist als in den nicht-sozialistischen Ländern. Nahrung, Wasser, Gesundheit und Erziehung für jedermann haben bei den sozialistischen Regierungen die eindeutige politische Priorität. Die Arbeit ist oft nicht nur ein Recht, sondern, wie zum Beispiel in Kuba, eine soziale Pflicht.

Die Wohnungssituation in der ländlichen Sowjetunion und in Rumänien ist zum Beispiel – verglichen mit westlichen Ländern – immer noch sehr schlecht. In China und in Kuba bestehen noch Slums.

Alles in allem weist jedoch der Eindruck, den man aus den verfügbaren Informationen gewinnt, tatsächlich darauf hin, daß die absolute Armut in den kommunistischen Staaten ein viel weniger ernstes Problem darstellt als in den kapitalistischen. Besonders bemerkenswert scheinen hier die Unterschiede zwischen China und etwa Indien und den anderen südasiatischen Ländern zu sein.

In der Zwischenzeit hat man aber sehr wohl erkannt, daß viele Intellektuelle, die die Sowjetunion in ihren ersten Jahrzehnten besucht und im Westen in glühenden Farben darüber berichtet haben, oft ernstlich getäuscht wurden.

Solange alle Informationen über die kommunistischen Nationen aus amtlichen Propagandaquellen und von sorgfältig geführten Reisenden stammen, ist es daher sicherer, daraus keine festen Schlüsse selbst über die Lage in der riesigen Land- und Bevölkerungsmasse zu ziehen, die China darstellt.

Aus diesem Grunde werden die kommunistischen Nationen von einer weiteren Erörterung in diesem Kapitel ausgeschlossen.

3. Absolute Armut und Einkommensniveau

a) Die Bedeutungslosigkeit von Einkommenszahlen

An vielen Stellen, an denen die absolute Armut erörtert wird, wird sie ganz einfach als ein bestimmtes Einkommensniveau definiert. Das war auch in der Literatur der Weltbank üblich, wo beispielsweise aufgezeigt wurde, daß im Jahre 1969578 Millionen Menschen ein jährliches Pro-Kopfeinkommen von weniger als 75 Dollar und 370 Millionen Menschen ein solches von weniger als 50 Dollar besaßen (Chenery). 31 Prozent der Bevölkerung in Lateinamerika, Asien und Afrika leben, so wird berichtet, von einem Jahreseinkommen von weniger als 50, und 48 Prozent von einem von weniger als 75 Dollar. Die niedrigere Zahl entspricht einem täglichen Lebensstandard von etwa 14US-Cent.

So nützlich derartige Zahlen jedoch für die politische und die humanitäre Propaganda sein mögen – für das Verständnis der Wirklichkeit sind sie offensichtlich nutzlos – selbst wenn sie in der Literatur überreichlich vorkommen.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Vor allem einmal: diese Zahlen sind normalerweise Durchschnittsbeträge für größere Bevölkerungssegmente. Da auf allen Ebenen Ungleichheit besteht, bedeutet das, daß die Lage für die allerärmsten Gruppen noch schlimmer ist, vielleicht leben – oder sterben – einige von 5 Cents im Tag.

Zweitens aber stellen diese Zahlen die Realeinkommen nicht voll in Rechnung, die viele Angehörige der ländlichen Gemeinden beziehen. Dieses Realeinkommen bessert natürlich die Lage.

Drittens basieren diese Einkommensvergleiche auf Konvertierungsraten von Währungen, die angezweifelt werden können. In jüngster Zeit hat man Versuche unternommen, neue Methodologien zum Vergleich der realen Kaufkraft zwischen reichen und armen Nationen aufzustellen. Die Resultate deuten darauf hin, daß die Lage bei den armen Nationen, so schlimm sie auch sein mag, doch etwas besser ist, als frühere Zahlen das gezeigt haben.

Für Kenia und Kolumbien erweisen sich die Ergebnisse als etwa doppelt und für Indien als etwa dreieinhalb mal so gut, als frühere Zahlen angedeutet haben (Kravis u.a.).

Viertens ist die Wirtschaft der gegenseitigen Unterstützung im Familienverband, deren große Bedeutung für die Vereinigten Staaten Kenneth Boulding nachgewiesen hat, für ärmere Nationen, wo die erweiterte Familie in einem viel höheren Ausmaß eine Lebensrealität darstellt als in den sogenannten entwickelten Nationen, von einer viel größeren Wichtigkeit. Auch das verbessert die Situation.

Zahlen, wie die oben zitierten, daß 370 Millionen Menschen von 14 Cents am Tage leben, sind für eine Analyse bedeutungslos. Das ist auch bei den meisten anderen der Fall, die verwendet werden, um die armen Gesellschaften zu beschreiben und zu analysieren. Eine starke Skepsis ist angebracht auch bei der großen Menge von Zahlen, die weiter unten erscheinen. Als Generalregel kann folgendes festgestellt werden: Wo wir gute Statistiken besitzen, herrscht keine absolute Armut, und wo die absolute Armut weitverbreitet ist, haben wir keine guten Statistiken.

b) Die Bedeutung der Einkommensverteilung

Man muß jedoch eines beachten: Selbst wenn die absoluten Zahlen der niedrigen Einkommensniveaus bedeutungslos sind – das Problem der Einkommensverteilung ist damit sicherlich nicht verbunden. Was nämlich allen konkreten Formen der absoluten Armut tatsächlich gemeinsam ist, ist das Fehlen eines Einkommens, mit dem man die lebensnotwendigen Dinge kaufen kann. Wer an absoluter Armut leidet, hat kein Geld, um die notwendige Nahrung zu kaufen; er hat auch kein Geld, das besteuert werden kann, um damit eine Schule, die lokale Wasserversorgung oder die Müllbeseitigung zu finanzieren. Er hat schließlich auch kein Geld, mit dem Ärzte oder Baufirmen dazu gebracht werden können, seine medizinischen und seine Wohnungsprobleme zu lösen. Kurz gesagt: Die konkreten Ausdrucksformen der absoluten Armut stehen alle im Zusammenhang mit dem fehlenden oder dem unzureichenden finanziellen Einkommen.

Dieser Kausalzusammenhang zwischen dem Einkommen an Geld und der realen Armut erstreckt sich auch auf den dynamischen Prozeß, den Stand der Dinge zu beseitigen oder zu erschweren. Wenn der Erzeugungsprozeß des Markteinkommens so funktioniert, daß die Kaufkraft der ärmsten Bevölkerungsschichten weiter abnimmt, wird die absolute Armut in all ihren Ausdrucksformen noch schlimmer werden. Auf ähnliche Weise kann, wenn die konkreten Formen einer grundlegenden Armut beseitigt werden sollen, das nicht ohne eine Neuverteilung der Einkommen in der einen oder anderen Form geschehen oder aber es sind Reformen in dem Einkommens-Erzeugungsprozeß nötig, die die Einkommen auf die Ärmsten umleiten.

Selbst wenn so absolute Einkommensstatistiken der Art, wie sie die Weltbank produziert und die Nachrichtenmedien so eifrig verbreiten, für analytische Zwecke wenig nützen, ist die Ungleichheit des Einkommens innerhalb der und zwischen den Nationen vielleicht die allerkritischste Frage in dem Komplex der absoluten Armut. Mit einer besseren allgemeinen Einkommensverteilung zum Nutzen der ärmsten zwanzig und vierzig Prozent der Bevölkerung in den unterentwickelten Nationen könnten alle konkreten Ausdrucksformen der absoluten Armut beseitigt werden. Ohne eine derartige Umverteilung jedoch – keine einzige.

4. Lebenserwartung