Der Kirschbaum, den sie ihrer Mutter nie schenkte - Siba Shakib - E-Book
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Der Kirschbaum, den sie ihrer Mutter nie schenkte E-Book

Siba Shakib

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Beschreibung

Ein eindringlicher Roman über die heilende Kraft des Geschichtenerzählens

Anoush steht in der Lebensmitte an einem Wendepunkt: Ihre Freundin Anouk, wie sie selbst Tochter eines Iraners und einer Deutschen, mit der sie in Teheran aufwuchs wie mit einer Schwester, hat sich das Leben genommen. Für Anoush bleibt die Zeit stehen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Anouk verliert, doch diesmal ist der Verlust endgültig. Anoush, die viele Jahre zuvor jede Verbindung zu ihren Eltern im Iran gekappt hat, zieht sich in ihr kleines Haus in den italienischen Marken zurück, um all die traumatischen Erinnungen zu verarbeiten und einen vor Langem begonnenen Roman fertigzuschreiben. Die Natur um sie herum tut ihr gut, aber es fällt ihr schwer, sich zu sammeln. Da taucht plötzlich eine geheimnisvolle Frau bei ihr auf, die sagt, sie habe ihr Gedächtnis verloren. Auf Anoush macht sie einen unerklärlich vertrauten Eindruck, weshalb sie sie fortan Anouk nennt. Während die neue Anouk Anoush in ihre Geschichte führt, hilft der entstehende Roman beiden, wieder zu sich selbst zu finden. Und schließlich gelingt es Anoush sich mit ihrer Mutter und der Vergangenheit zu versöhnen.

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Seitenzahl: 522

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Das Buch

Anoush, Schriftstellerin und Filmemacherin, steht an einem alles entscheidenden Wendepunkt. Ihre Seit-Geburt-Freundin Anouk hat sich das Leben genommen. Zu Eltern und Geschwistern hat sie ohnehin seit Jahren keinen Kontakt. Ihr Mann hat sie betrogen und belogen, ausgerechnet mit Anouk, mit der sie in Teheran aufgewachsen und später nach New York gezogen war. Alles, was Anoush jetzt noch bleibt, sind ein Abschiedsbrief der Toten, Fotos und Erinnerungen. Sie zieht sich in ihr kleines Haus in den italienischen Marken zurück, um endlich ihren Roman zu schreiben. Doch auch dort gelingt es ihr nicht, sich der Vergangenheit zu stellen und Fragen zu beantworten, die sie daran hindern, das Leben in den Griff zu bekommen. Nur der Berg, die Natur und der Hund geben ihr Trost, bis ein Unfall sie endgültig aus der Bahn wirft. Da taucht eine mysteriöse Frau auf. Sie hat ihr Gedächtnis verloren, nennt sich wie ihre tote Freundin Anouk und macht es Anoush auf geheimnisvolle Weise leicht, ihr zu vertrauen und sie in ihr Haus und ihr Leben zu holen.

Wie sind wir geworden, wie wir heute sind? Wie kann man die Verluste, die man im Leben erleidet, verkraften? Und wie kann das Erzählen uns dabei helfen, am Ende sogar gestärkt aus diesen Krisen hervorzugehen? Ein eindringlicher Roman über die Kraft des Geschichtenerzählens.

Die Autorin

Siba Shakib wurde im Iran geboren, wuchs in Teheran auf und besuchte dort die Deutsche Schule. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Autorin und Filmemacherin. Ihr erstes Buch Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen war ein internationaler Bestseller. Weitere ebenfalls erfolgreichen Romane folgten, Samira und Samir (2003) und Eskandar (2009). Sie lebt abwechselnd in New York, Dubai und Italien.

SIBA SHAKIB

Der

Kirschbaum,

den sie ihrer

Mutter

nie schenkte

ROMAN

C. BERTELSMANN

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© 2021 C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-27115-2V002

www.cbertelsmann.de

Von ganzem Herzen für Tarek und Julian,

Arian und Omid

Und erst recht auch für Mutter und Vater

AUFBRUCH

New York City, 2021. Alles wird anders

Als habe ihr Körper Wurzeln geschlagen, die sich in den Beton des kalten Leichenschauhauses in Downtown Manhattan fressen, steht Anoush da und starrt in das leblose Gesicht ihrer Freundin Anouk, das aussieht, als sei es aus Wachs.

Anoush und Anouk kommen mit wenigen Minuten Abstand im damals einzigen Krankenhaus des Iran auf die Welt und sehen sich so ähnlich, dass Krankenschwestern und Hebamme fürchten, sie miteinander vertauscht zu haben. Ihre Mütter finden es lustig, und mit ihren Babys an der Brust geben sie ihnen zum Verwechseln ähnliche Namen.

Die blutjungen Mütter, eine aus Berlin, die andere aus München, fühlen sich fremd im exotischen Iran, sprechen die Sprache der neuen Heimat nicht, kennen außer der Familie ihrer Ehemänner niemanden und werden Freundinnen. Sie gehören zu jenen Frauen, die aus dem tristen Nachkriegsdeutschland geflohen und iranischen Studenten nach Teheran gefolgt sind, geheiratet und die iranische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Ihre Töchter spielen miteinander, tragen die gleichen Kleider, haben beide langes, dunkles Haar mit Mittelscheitel, die gleiche Art zu gehen und zu sprechen, und es kommt vor, dass sogar ihre Eltern sie miteinander verwechseln.

Allerdings unterscheiden sich die Mädchen vom Wesen her. Anoush überfordert sich und ihre Umgebung bereits als kleines Kind, ist nie zufrieden mit sich und ihrem Können, ist sprunghaft, scheut keine Gefahr. Sie schlüpft von einer Rolle in die andere, später wechselt sie von einem Beruf in den anderen. »Sie ist wie ein Baum, der seine Wurzeln überallhin ausbreitet, seine Äste in den Himmel und in alle Richtungen streckt, und Wind und Wetter trotzt. Und mit ihrem Dickschädel geht sie durch noch so dicke Wände«, sagt Anoushs Mutter und bringt alle zum Lachen. Dass ihre Tochter auch eine weiche und zerbrechliche Seite hat, die sie hinter verletzender Härte verbirgt, will die Mutter nicht sehen.

Das Kind glaubt ihr, denkt, es genüge nicht, und wird noch trotziger. Die Kleine hat den Anspruch, alles richtig zu machen, überfordert sich, ist rechthaberisch und eckt noch mehr an. Mutter wird immer hilfloser, und manchmal ist sie sogar angewidert von ihrem Kind.

»Kein Wunder, dass niemand mit dir auskommt. Deine Stacheln bohren sich in die Haut und bleiben im Fleisch der Menschen stecken. Nimm dir ein Beispiel an Anouk«, sagt Mutter, sieht ihre Tochter mit Tränen in den Augen an. »Ich komme nicht an dich heran, du bist wie ein Fels mit scharfen Kanten, die mich verletzen. Krieg und Hunger habe ich überlebt. Gegen dich aber komme ich nicht an. Du brauchst mich nicht. Du bist stark, kannst dich durchsetzen.«

»Ich komme allein zurecht«, übernimmt Anoush die Worte der Mutter und träumt davon, wie Anouk zu sein. Liebenswürdig und sanft. Anouk muss nicht kämpfen, erobert mit Leichtigkeit die Herzen der Menschen, die es glücklich macht, ihr Zuneigung schenken zu dürfen.

Doch nun ist alles vorbei!

Vor vier Tagen und vier Stunden hat Anouk eine Mischung aus Reinigungsmitteln und Rattengift getrunken und sich das Leben genommen.

»Unsere Freundschaft wird niemals vorbei sein«, hört Anoush im Geiste Anouks Stimme. »Du und ich sind eins. Ich bin gestorben, damit du dein Leben findest!«

Anoush schließt die Augen. Ihre Kehle und der Magen brennen, ihre Zunge ist pelzig vom Rotwein, von dem sie am Abend zuvor zu viel getrunken hat. Als habe sie geahnt, dass ein Unheil auf sie zukäme, war sie seit Tagen unruhig und hatte das Bedürfnis, ihre Sinne zu betäuben. Jetzt versteht sie, warum sie nicht aufhören konnte an Anouk zu denken. An sie und Jacob, ihren Ex-Mann, der sie mit ihrer Seit-Geburt-Freundin betrogen hat und Anoush in eine Lethargie stürzte, aus der sie keinen Weg herausfindet.

Wenn ich so weitermache, werde ich fett und träge werden, denkt sie, zuckt zusammen, denn eine zweite Stimme meldet sich. Sag mal, geht’s noch? Spinnst du? Eine Tote liegt vor dir. Nicht irgendeine, sie ist seit eurer Geburt deine beste Freundin gewesen. Und du denkst an Wein und Essen und dass du dick bist?

Es ist nur ihre tote Hülle, ihr lebloser Körper, verteidigt Anoush sich, und ihr fallen Dinge ein, die sie noch erledigen muss. Wohnung putzen, Wäsche in die Reinigung bringen, ihr Haar färben, am Roman schreiben. Der Roman! Vor langen acht Jahren hat sie ihn begonnen. Wann hat sie das letzte Mal etwas Vernünftiges geschrieben? Einen Film gemacht? Ein Hilfsprojekt gestartet? Wann war sie das letzte Mal mit sich und ihrem Leben zufrieden? Und jetzt das. Ihre Freundin lässt sie allein in dieser chaotischen Welt mit ihren Kriegen, Pandemien und Klimakatastrophen. Nicht Anouk, sie, Anoush, sollte dort liegen, sie, die Versagerin, sie, deren Stacheln sich in die Haut bohren, sie, an deren scharfen Kanten man sich verletzt.

»Wieder bist du mir zuvorgekommen«, flüstert Anoush, und eine Sehnsucht, die sich vom Tod der Freundin nährt, bekommt Leben eingehaucht. Die Sehnsucht, dass alles vorbei und sie frei von der Last dieses verdammten Lebens sein könnte.

»Das ist ekelerregend«, flüstert Anoush, zählt die groben Stiche auf den Schlüsselbeinen, mit denen der obduzierte Körper zugenäht ist. Zwölf auf jeder Seite.

Sie will die Tote nicht mehr ansehen, doch ihr Blick ist an das bewegungslose Gesicht geheftet. Diesen letzten Anblick wird sie nie wieder loswerden. Die geschlossenen Lider mit den langen Wimpern, die Nase, die Lippen, das schwarze Haar. Sogar jetzt sind sie sich zum Verwechseln ähnlich. Anoush sieht sich selbst als Tote aufgebahrt. Ein beruhigendes Gefühl von Frieden überkommt sie, und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ist sie wirklich wach und ohne Angst, und sie muss daran denken, was Anouk früher immer sagte. »Ich will du sein, und du willst ich sein. Du willst mein Leben, und ich will deins, und so werden wir nur im Tod Erlösung finden.« Anouk muss nun nicht mehr darum kämpfen, die Bessere und Klügere zu sein, die ihr Leben im Griff hat.

»Alles in Ordnung?«, fragt die Polizeibeamtin, die eine Weile unbemerkt neben Anoush gestanden hat und ihren Arm berührt. »Der Tod ist keine schöne Sache.«

»Er ist mir vertraut«, sagt Anoush, sieht sich als kleines Mädchen auf dem Balkon ihres Elternhauses durch einen Schlitz des Vorhangs ins Zimmer blicken. Ihre tote Großmutter liegt auf dem Bett. Anoushs Mutter hat ihr das braune Ausgehkleid aus glänzender Seide mit weißem Spitzenkragen, das sie für sie genäht hat, angezogen und sagt, Großmutter schlafe.

Doch die kleine Anoush weiß, es ist eine Lüge. Niemals würde Großmutter das Ausgehkleid anziehen, sich mit Schuhen an den Füßen aufs Bett legen und schlafen.

Der Gedanke an ihre Großmutter weckt die Erinnerung an weitere Tote. Ihre beiden Urgroßmütter, Großväter, Cousins, ihr Hund, der vom Auto überfahren wurde, eine Frau, die aus dem Fenster sprang, ein Betrunkener, der auf dem Bahnhofsvorplatz einschlief und erfror, ein anderer Cousin, der in Teheran von der herabstürzenden Last eines Kranes erschlagen wurde, afghanische Kämpfer und Kinder, denen in den Kopf, das Herz und sonst wohin geschossen oder die von Bomben und Minen zerfetzt wurden, und die Toten vom 11. September.

»Es ist kein schöner Anblick, trotzdem müssen Sie richtig hinsehen«, bittet die Polizistin. »Da sie offenbar keine Angehörigen hat, sind Sie die Einzige, die sie identifizieren kann.«

Der Geruch von Desinfektionsmittel, vermischt mit dem von faulig Erbrochenem, brennt in Anoushs Nase und nistet sich zusammen mit dem wächsernen Gesicht und den wülstigen Narben der Stiche in ihrem Innern ein, um für immer dort zu bleiben.

»Es sind das Rattengift und das Putzmittel, die ihr Körper ausdünstet«, erklärt die Beamtin, bietet ihr einen Mundschutz an, der nach Minze duftet, doch Anoush lehnt ab.

»Es sind schlimme Zeiten. Hier liegen viele, die mit den Folgen der Pandemie nicht zurechtgekommen sind und sich das Leben genommen haben. Ich kann Sie beruhigen, Ihre Freundin hat Schlaftabletten genommen, bevor sie das Gift geschluckt hat, das hat den Schmerz gelindert«, sagt die Frau, begleitet Anoush hinaus, lässt sie Formulare unterschreiben, übergibt ihr ein Paket mit der in Folie eingeschweißten Kleidung der Toten und einen zerknitterten Briefumschlag.

An der frischen Luft ist Anoushs erster Gedanke, den Tod ihrer Freundin als Weckruf zu sehen und endlich ihr Leben in den Griff zu bekommen. Versunken in ihren Überlegungen, nimmt sie die Subway in die falsche Richtung, steigt am Union Square aus, rennt die Stufen hinauf zum Broadway und geht südwärts. Als sie in die Clinton Street kommt, sitzt in einem Hauseingang neben dem One-Dollar-Laden eine junge Frau auf den Stufen. Weggetreten, unter dem Einfluss von Drogen schwankt ihr Körper in Zeitlupe vor und zurück. Aus dem Mund läuft Erbrochenes zwischen ihre Stoffschuhe auf die Stufen und den Bürgersteig. Es riecht scharf, brennt in der Nase wie das Gift, das Anouk ausgedünstet hat. Anoush kann nicht weitergehen, sieht die Frau an. So muss es Anouk in den letzten Minuten ihres Lebens ergangen sein. In der Hand hält Anoush noch immer ihren Brief, hält sich daran fest, wie Anouk es im Moment des Todes getan haben muss. Sie sieht das wächserne Gesicht ihrer Freundin, stellt sich vor, auf den Stufen säße nicht das Mädchen, sondern ihre Anouk. Und im nächsten Moment ist es, als sitze sie selber dort, fühle sich elend und warte auf den Tod.

Als der Krankenwagen mit der jungen Frau abgefahren ist, kippt ein Mann eimerweise Wasser auf die Stufen und den Bürgersteig, schüttelt dabei unaufhörlich den Kopf, sagt immer wieder: »Was ist nur aus unserer Welt geworden?«

Benommen erreicht Anoush das Amalgamated Dwellings in der Lower Eastside, das 1929 für Näherinnen und ihre Familien gebaut wurde und mit dem großen Innenhof und den alten Bäumen, dem Wasserbecken und einer Fontäne zu den versteckten Sehenswürdigkeiten Manhattans gehört.

»Der Karton ist für dich abgegeben worden«, sagt die Concierge, zupft an ihrem weißen Uniformhemd, das sich eng über ihren vollen Busen und dicken Bauch spannt. »Du siehst nicht gut aus. Ist alles in Ordnung?«

»Ich komme gerade von der Gerichtsmedizin.«

Die Concierge schnappt regelrecht nach Luft. »Wirklich? Du bist die Erste, die ich kenne, die in der Gerichtsmedizin gewesen ist. Sonst sehe ich so was nur im Fernsehen.«

»Ja«, antwortet Anoush mit fester Stimme. »Mir kommt es auch unwirklich vor. Als hätte ich es erfunden.«

»Warum musstest du dorthin?«, fragt sie mit Betonung auf du, was ihre Frage abschätzig klingen lässt.

»Meine beste Freundin, das heißt, wir waren beste Freundinnen, wir sind zusammen aufgewachsen … Ich habe sie lange nicht mehr gesehen … Gib mir bitte den Karton, ich muss in meine Wohnung«, sagt Anoush, ärgert sich, weil sie sich rechtfertigt, als seien ihr Besuch in der Gerichtsmedizin und der Tod ihrer Freundin tatsächlich erfunden.

»Hat das Virus sie erwischt?«, fragt die Concierge.

»Wie bitte? Nein! Sie hat sich das Leben genommen.«

Die Wachfrau macht erschrocken einen Schritt zurück, überlegt, wie sie ihre nächste Frage stellen soll, doch Anoush nimmt ihr den Karton aus der Hand.

Im Fahrstuhl fährt sie mit dem Finger über die Schrift darauf, die ihrer eigenen zum Verwechseln ähnlich ist: Für Madame Anoush! Niemand anderer, nur Anouk nannte sie so. Oben in der kleinen Wohnung fröstelt es sie, die beiden Zimmer kommen ihr leer vor, als fehlten Gegenstände und Möbel, als lebte niemand hier.

Das Paket mit Anouks eingeschweißten Kleidern und den abgegebenen Karton stellt sie mitten ins Zimmer auf den Holzfußboden, den Briefumschlag legt sie neben ihren Computer auf den Tisch am Fenster.

»Madame Anouk. Wir haben es nicht geschafft, nach Paris zu ziehen. Und auch all die anderen Dinge, die wir gemeinsam unternehmen wollten, werden wir nun endgültig nicht mehr hinbekommen. Wieder hast du es kaputt gemacht.«

Anoush setzt sich auf die breite Fensterbank, sieht zum Fine Faregegenüber, wo seit dem frühen Morgen Bauarbeiter auf dem Flachdach des Supermarkts weiße Platten verlegen, Teermatten ausrollen, sie flämmen und verschweißen. Eine Platte, eine Matte nach der anderen, schön der Reihe nach. Der alte, marode Belag verschwindet Stück für Stück unter dem neuen, sauberen, als hätte es ihn nie gegeben. Alles ist aufgeräumt, geschieht nach Plan, hat seine Ordnung, und das ist gut so!

»Shekare Ahoo«, Jagd nach Rehen Jasmin Tabatabai

Anoush und Anouk werden in Teheran in die Deutsche Schule eingeschult, sitzen nebeneinander in der Klasse, machen gemeinsam Hausaufgaben, Anoushs Mutter näht identische Kleider für die Mädchen, sie tragen die gleichen Schuhe, feiern ihre Geburtstage zusammen, sogar ihre Periode bekommen sie in derselben Stunde. Anoush kümmert sich um Anouk, verteidigt und beschützt sie, und die lässt es geschehen. Nach dem Abitur ziehen sie von Teheran nach Deutschland, besuchen die Universität und ziehen weiter nach New York. Sie werden für Schwestern, sogar für Zwillinge gehalten. Zusammen fühlen sie sich stark, und ihre Freundschaft ist voller kindlicher, jugendlicher, erwachsener Liebe. Anouk trinkt zu viel, beginnt, mit Drogen zu experimentieren, vernachlässigt sich, das Leben und die Freundschaft. Anoush verliebt sich in Jacob, zieht mit ihm zusammen. Aber auch ihr Glück ist nicht von Dauer. Als sie von einer Reise aus Afghanistan zurückkommt, wo sie einen Dokumentarfilm dreht, erklärt Jacob, er habe sich in eine andere verliebt, habe seit Monaten ein Verhältnis und werde Anoush verlassen. Dass die andere ihre beste Freundin ist, verschweigt er, und Anouk spielt sein Spiel mit, lügt und betrügt ihre Seit-Geburt-Freundin. Als Anoush es herausfindet, sagt Jacob, seine und Anouks Beziehung sei besiegelt, und Anoush kann nicht begreifen, wie die zwei Menschen, die ihr so nahe sind, dass es sich anfühlt, als seien sie ein Teil von ihr, sie hintergehen und verletzen können. Doch sie stellt keine Fragen, denn keine Erklärung könnte ihr über den Schmerz hinweghelfen. Ihre Welt gerät aus den Fugen, sie ist drauf und dran, ihre Mutter anzurufen, zu der sie zwanzig Jahre zuvor den Kontakt abgebrochen hat. Weil sie den Hass, die Wut und die Abscheu ihren Eltern gegenüber nicht mehr ertrug und nichts gegen ihre Gefühle ausrichten konnte.

»Es ist mir nicht gelungen, mein Leben so zu leben, dass es sich den Bedürfnissen der Liebe unterordnet«, murmelt sie einen Satz, den sie sich gemerkt hat.

»Hat es dir etwas gebracht, uns zu verstoßen?«, fragt die Mutter, die vor ihrem inneren Auge auftaucht. Sie hat den Kopf zur Seite geneigt, als wollte sie sich versöhnlich zeigen.

Überrumpelt merkt Anoush, dass sie sich diese Frage nie gestellt und keine Antwort darauf hat. »Ich werde einen Menschen in mein Leben holen, der den Mut hat, mit mir das Wagnis einzugehen, die anfängliche Neugierde und Leidenschaft in wahre Liebe zu wandeln«, antwortet sie stattdessen.

Mutter zieht den Kopf zwischen die Schultern, wiegt ihn hin und her, wie jemand, die keine Hoffnung hat. »Das klingt poetisch.« Und bevor sie wieder verschwindet, sagt sie, was sie früher immer sagte. »Jemanden, der mit dir auskommt, gibt es nicht, der muss erst erfunden werden.«

Nicht einmal in meiner Vorstellung hat sie tröstende Worte oder eine liebevolle Geste für mich, denkt Anoush, findet Gefallen an der Traurigkeit, will das wehmütige Gefühl erhalten und hört das persische Lied ›Shekare Ahoo‹, Jagd nach Rehen, das Jasmin Tabatabai, eine iranische Freundin von Anouk und ihr, gesungen hat.

Anoush schreckt auf. Es ist Nacht, das Licht brennt, das Lied läuft auf Endlosschleife. In der Hand hält sie den Umschlag ihrer toten Freundin. Sie ist eingenickt und klammert sich daran, als hinge ihr Leben davon ab. Ihre Finger passen in den verknitterten Abdruck auf dem Papier. Wahrscheinlich hat Anouk, als sie bereits krampfte, ihre letzten Atemzüge machte, den Umschlag genau so mit aller Kraft festgehalten, damit er ihr nicht aus der Hand glitt.

Anoush schiebt das alte versilberte Obstmesser, das sie als Brieföffner benutzt, in die Öffnung in der Ecke des Umschlags, zieht es entlang des Randes, sieht, wie es ihn aufschlitzt.

Meine liebe Seit-Geburt-Freundin Anoush,

dies ist mein Abschied aus dem Leben. Du bist der einzige Mensch, der mir geblieben ist. Du, die ich verraten, betrogen und verletzt habe. Ich hasse mich dafür. Ich schäme mich und würde alles geben, könnte ich es rückgängig machen. Ich ertrug Deine Erfolge, Dein Glück und Deine Zweisamkeit mit Jacob nicht, während ich allein war und mein Leben an Drogen verlor. Und am Ende hat Jacob auch mich verlassen.

Vergib mir. Nicht meinetwegen bitte ich Dich, sondern Deiner selbst wegen. Damit Du Deine berechtigte Wut ablegen und wieder vertrauen kannst.

Du und ich kommen aus einer anderen Welt, brauchen viel Kraft, um in der neuen zurechtzukommen. Wie für unsere Mütter ist auch für uns die Fremde nicht Heimat geworden, allenfalls haben wir uns mit dem neuen Leben angefreundet. Wie ein Schiff, das hoffnungsvoll in See sticht, sind wir losgezogen, um unsere Träume in der westlichen Welt zu leben. Mein Schiff ist in zu viele Stürme geraten und an den Felsen zerschellt, und meine Träume sind an den harten Kanten der Realität zerbrochen.

Weißt Du noch, wie wir sagten, am letzten Tag auf Erden wirst Du dem Menschen begegnen, der Du hättest sein können? Heute, am letzten Tag meines Lebens in dieser Welt, betrachte ich mich und erkenne: Der Mensch, der ich gern geworden wäre, bist Du.

Mach es besser als ich. Betrachte Dein Leben und Deinen Schmerz, verstehe ihn, lass ihn ziehen, und sieh Dich nicht mehr nach ihm um. Kein letzter Blick! Du hast vergessen, wie stark Du bist. Finde Dich und Deine Kraft wieder. Geh weg von New York, geh in die Natur, in Dein Häuschen in den Bergen der Marken, und fang wieder an zu schreiben.

In diesen letzten Stunden will ich prophetisch sein. Du wirst einer Person begegnen, die Dir helfen wird. Betrachte Dich mit ihren Augen, erzähl ihr Dein Leben, und nimm es wieder in die Hand.

Und bitte reiß Dir den Eltern-Schmerz aus dem Herzen. Lass sie nicht Euren Zwist und Schmerz mit ins Grab nehmen.

Noch etwas: Hör auf, Dich für alles und jeden verantwortlich zu fühlen. Auch mich hast Du beschützt. Ich habe es zugelassen, aber es hat mich träge gemacht, und ich habe gar nicht erst versucht, für mich selbst Verantwortung zu übernehmen, weil ich wusste, Du würdest mich retten.

Ich will nicht mehr gerettet werden. Weder von mir selbst noch von Dir. Ich bin froh, diese Welt verlassen zu können.

Sollte es Dir nicht gelingen, mir zu vergeben und Deinen Frieden zu finden, vergiss mich. Mich und alles, was ich Dir angetan habe. Wie früher, als wir spielten, alles vergessen zu haben und nicht mehr zu wissen, wer wir sind. Mach es wie damals: Erfinde Dich neu.

Ich bin angekommen! Am Ende von allem, am Ende meines Lebens.

Deine Anouk

»Miststück!«, platzt es aus Anoush heraus, zusammen mit Tränen, die über ihr Gesicht laufen und guttun. »Selbst in deinen letzten Stunden kritisierst du mich und weißt alles besser.« Sie zerknüllt den Brief und wirft ihn in die Ecke, wissend, sie wird ihn wieder aufheben, glätten und aufbewahren.

In der Nacht wacht Anoush auf, ärgert sich, dass sie Anouks Anweisungen befolgt, bucht aber, bevor sie es sich anders überlegen könnte, einen Flug von New York nach Köln, wo sie Jacob treffen will, um den Schlüssel zum gemeinsamen Häuschen in den italienischen Bergen zu bekommen.

Als sie ihre Tagebücher einpackt, findet sie die erste Aufnahme, die je von ihr gemacht wurde. Auf die Rückseite des Schwarz-Weiß-Fotos mit gezacktem Rand hat ihre Mutter an ihre Eltern in Berlin geschrieben. Ein Mädchen. 5. April. Widder. Schon jetzt widerspenstig. Wollte nicht raus, musste mit der Zange geholt werden. Sie ist ein Brocken. 3600 Gramm, 56 cm. Wir haben ihr einen altpersischen Namen gegeben. Anoush. Die Unsterbliche. Hoffentlich könnt Ihr uns besuchen kommen.

Vornübergebeugt sitzt die junge Mutter am roten Formica-Tisch in der spärlich eingerichteten großen Wohnung in Teheran, beschreibt die Rückseite des Fotos, wartet, bis die Tinte trocken ist, steckt das Foto in den Umschlag. Kottbusser Straße 7, 1 Berlin 36, Alman, Deutschland.

Der am Vortag abgegebene Karton steht noch in der Wohnung auf dem Boden, als sei er schon immer dort gewesen. Vorsichtig löst Anoush die Klebebänder, ein Wölkchen Comme des Garçons, ein Parfüm, das Anouk und sie benutzen, steigt auf. Fassungslos sitzt sie vor den Dingen, die zum Vorschein kommen. Ein Tagebuch, Anouks Pass, Fotos, Briefe, ihr Lieblingshemd, ein Ring, ein kleiner Buddha aus Ton. Dinge, die sie beide hin und her getauscht hatten. Soll sie sich darüber freuen, traurig oder wütend sein? Ist es ein Geschenk oder eine weitere Gemeinheit, mit der Anouk sich über ihren Tod hinaus in ihr Leben drängen und einmischen will?

»Von der Hoffnung genarrt, dem Tode …«

Im A-Train zum Flughafen findet Anoush im Ringheftchen, das ihr Vater ihr schenkte, als sie Teheran verließ, um in Deutschland zu studieren, ein Zitat von Arthur Schopenhauer.

Daher werden die meisten, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, dass sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein zu sehen, dass das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen ließen, eben ihr Leben war, eben das war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel dieser, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt.

Erstaunt beobachtet sie, mit welcher Gelassenheit sie es hinnimmt, sich nicht zu erinnern, wann sie das Zitat notiert hat.

Auf dem Flug trinkt Anoush Rotwein, stöbert in ihren Fotos und liest immer wieder Anouks Brief.

»Entschuldigen Sie«, spricht ihr Sitznachbar sie an. »Ist das nicht Italien?«

»Ja«, sagt Anoush, geht aber nicht weiter auf ihn ein, und er lässt sie in Ruhe. Als sie aber Fotos betrachtet, die sie bei ihren Durchreisen nach Afghanistan in Dubai gemacht hat, wird ihr Sitznachbar wieder neugierig.

»Das ist der Burj Khalifa, als er noch eine Baustelle war.«

»Ja, ich durfte mit den Leuten vom Bau in die oberste Etage.« Anoush zeigt ihm ein Foto mit einem Schild, auf dem zu lesen steht, dass dies das höchste Gebäude der Welt ist. »Der Wind dort oben war so heftig, dass ich beinah hinuntergefegt wurde.«

»Ich beneide Sie um diese Erfahrung. Sie sind der einzige Mensch, den ich kenne, der in derartiger Höhe quasi im Freien gestanden und Fotos von der Stadt gemacht hat.«

»So habe ich das noch nicht gesehen.«

»Manchmal ist es gut, sich selbst und die Welt mit dem Blick anderer zu sehen«, sagt er lächelnd und erinnert Anoush an den Brief ihrer toten Freundin, in dem sie schreibt, sie werde einer Person begegnen, die ihr helfen werde, und Anoush solle sich mit ihren Augen betrachten, ihr Leben erzählen und es wieder in die eigene Hand nehmen.

»Ich sehe, Sie waren auch am alten Hafen und haben diese schönen Schiffe fotografiert, die aussehen wie Requisiten eines alten Seeräuberfilmes. Ich habe dort immer wieder beruflich zu tun. Einmal habe ich einen Kapitän gesehen, der die Beine verloren hatte und im Rollstuhl saß, trotzdem lenkte er sein Schiff und fuhr Waren in den Iran«, sagt ihr Sitznachbar und streckt ihr die Hand entgegen. »Ich heiße Massimo, bin Italiener und lebe in Dubai. Ein guter Ort, um Urlaub zu machen.«

»Habe ich bereits gemacht. Zusammen mit meinem Mann und meiner besten Freundin.«

»Ah, Sie sind verheiratet?«

»Wir sind getrennt, und meine Freundin lebt leider nicht mehr«, rutscht es Anoush heraus.

»Oh! Das tut mir leid«, sagt er und spricht sie erst wieder bei der Landung in Köln an. Er will ihr seine E-Mail-Adresse geben, doch Anoush verabschiedet sich rasch, sie hat es eilig, Jacob zu treffen, der draußen mit dem Schlüssel zum gemeinsamen Häuschen in Italien auf sie wartet.

»Ich werde meinen Roman schreiben«, sagt sie bei der Begrüßung. Anouks Selbstmord erwähnt sie nicht.

»Wann geht dein Flug?«

»Ich habe ein Auto gemietet und werde fahren, so wie du und ich es früher gemacht haben.«

»Meine neue Beziehung ist besiegelt«, sagt er trocken.

Besiegelt. Schon wieder dieses Wort.

»Ich habe dir lang genug eine Schonfrist gegeben. Es ist Zeit, den gemeinsamen Besitz zu trennen«, sagt er entschlossen.

»Tu mir das nicht an«, sagt Anoush, ärgert sich, weil ihren eigenen Worten jede Kraft fehlt.

»Seit über einem Jahr warst du nicht mehr dort.«

»Das lag an Corona und an gesperrten Grenzen. Und du weißt genau, seit ich den Iran verloren habe, ist das Haus …«

»Komm nicht mit der alten Leier, wie du unter dem Verlust der Heimat leidest. Ich will dir nichts wegnehmen. Das Häuschen gehört uns beiden, trotzdem lasse ich dir den Vortritt. Kauf mir meine Hälfte ab, dann gehört es dir.«

»Momentan habe ich das Geld nicht.«

»Dann zahle ich dich aus, und du fängst dein Leben von vorne an. Das ist ohnehin das Beste für dich.«

»Ausgerechnet du willst wissen, was gut für mich ist?!« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, sieht sie ihm fest in die Augen. »Ich hänge am Häuschen und dem Berg.«

»Mein Leben ist weitergegangen. Ich brauche klare Verhältnisse«, sagt er, gewährt ihr vier Monate.

Anoush bittet ein letztes Mal. Sie einigen sich auf ein halbes Jahr.

»Respekt«, sagt der Mann von der Autovermietung am Flughafen. »Allein und in der Nacht die weite Strecke nach Italien zu fahren, trauen sich nicht viele zu.«

Anoush lächelt, sagt, was Jacob früher sagte. »Nachts ist es weniger gefährlich als bei Tage.« Ihre Stimme und die Art, wie sie spricht, erinnern sie an die Zeit, als sie im deutschen Fernsehen Jugend- und Musiksendungen moderierte. »Nachts gibt es keinen Berufsverkehr, und die Scheinwerfer kündigen sich bereits von Weitem an, man muss nicht auf der Hut sein und immerzu im Rückspiegel prüfen, ob von hinten ein Auto überraschend angeschossen kommt.«

Dreizehn Stunden liegen vor ihr.

»Mutige Anoush«, sagt sie im gleichen Ton wie der Autovermieter und muss daran denken, wie ihre Mutter damit prahlte, dass ihre kleine Tochter keine Angst habe. Doch Anoush durchschaute sie. Nicht auf ihre Tochter, sondern auf sich selbst war sie stolz. Schließlich war es ihr Verdienst, dass ihr Kind allein zurechtkam und keine Angst hatte.

»Und wie ich Angst hatte«, sagt Anoush, spricht aber nicht weiter, schaltet im Handy einen Podcast an, in dem es ausgerechnet um Selbstmörder geht. Sie überlegt, die Folge zu überspringen, tut es nicht. Eine Frau erzählt, sie sei einsam gewesen, Familie und Freunde hätten sie im Stich gelassen, weshalb sie von der Golden Gate Bridge in San Francisco gesprungen sei, um zu sterben, habe aber lediglich beide Beine verloren. Anoush stutzt. Schon wieder ein Mensch, der beide Beine verloren hat. »Wie der Schiffskapitän in Dubai«, murmelt sie und muss an den Geschäftspartner ihres iranischen Großvaters denken, der ebenfalls beide Beine verloren hatte.

Im Podcast erzählt als Nächstes ein Mädchen aus Europa, sie habe sich nach Syrien und in den Irak durchgeschlagen, um sich islamischen Terroristen anzuschließen. Sie sei in den Krieg gezogen, um endlich etwas Wichtiges zu tun. Ihr eigener, hoffentlich baldiger Tod komme ihr vor wie eine Befreiung von einem Leben, das bis dahin keine Bedeutung hatte. Zumindest werde sie nach dem Tod die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl bekommen, die ihr zu Lebzeiten verwehrt waren.

Anoush stoppt den Podcast, drückt auf Aufnahme. »Selbstmörder in meinem Leben: Anouk, meine Seit-Geburt-Freundin. Zwei Schulfreunde aus Teheran, einer gibt sich den goldenen Schuss, der zweite stützt den Kopf auf das Jagdgewehr seines Vaters, drückt ab. Als Cousin B. sich das Leben nimmt, bin ich wütend, dass er mich allein ließ. Seit er fünfzehn war, erzählte er, er werde sich nach dem Vorbild des iranischen Schriftstellers Sadeq Hedayat das Leben nehmen, bevor er fünfunddreißig wird. Keiner nahm ihn ernst. Er probierte so viele Drogen aus, bis es für sein Herz zu viel wurde und es aufhörte zu schlagen. Der erste Selbstmörder der Familie ist Großonkel H., der Bruder von OmaTeheran. Er säuft sich mit Hundeschnaps zu Tode«, sagt Anoush leise, als schliefe jemand auf dem Beifahrersitz, den sie nicht aufwecken will.

Sie genießt die Fahrt auf der leeren, dunklen Autobahn. »Selbstmord ist rücksichtslos«, sagt sie. »Menschen, die man zurücklässt, müssen mit Schuldgefühlen, dem Schmerz und Verlust zurechtkommen. Sterben ist einfach. Es ist das Leben, das mich zu Tode erschreckt«, diktiert sie in ihr Handy, spürt Wut in sich aufsteigen. Immer hat Anouk die Unschuldige und das Opfer gespielt, sich beschützen und bedienen lassen, dann hat sie Anoush betrogen und ihre Freundschaft zerstört, und zum Schluss nimmt sie sich das Leben und macht es unmöglich, die Dinge zwischen ihnen zu klären und in Ordnung zu bringen. Dabei hatten sie sich das Versprechen gegeben, die andere niemals allein zu lassen, schon gar nicht, indem eine sich selbst das Leben nimmt. Anoush sieht sie beide, als sie noch kleine Kinder sind, mit ernsten Mienen stehen sie sich gegenüber und zählen an den Fingern Arten auf, wie man sich umbringen könnte. Ins Meer gehen und hinausschwimmen, solange die Kraft reicht, Pulsadern aufschneiden, Tabletten schlucken, vom Hochhaus springen. Die kleine Anoush beugt sich über das niedrige Geländer der Dachterrasse ihres dreistöckigen Hauses in Teheran, die Sonne brennt auf ihrem Rücken, sie blickt in die Tiefe, ihre Hände klammern sich ans Geländer, um der Versuchung zu springen nicht nachzugeben. Wie ein Vogel will sie den Körper anspannen, die Arme ausbreiten, einen Satz machen und in die Luft emporsteigen, und sie wird dabei lachen. Doch sie weiß, sollte es nicht klappen, wird sie nach dem Sprung ihre Entscheidung nicht rückgängig machen können, sie wird in die Tiefe stürzen, der Asphalt wird näher kommen, sie wird aufprallen, mit einem Klatsch.

Anoush hat nicht vor, sich umzubringen, sie stellt sich nur vor, wie es ist, aus eigener Kraft zu fliegen. Anouk aber will, dass sie damit aufhört, gräbt ihre Finger in Anoushs Kleid und ihren Rücken und zerrt an ihrer Freundin. Nachher erzählt sie alles den Eltern, und Anoush erhält eine Tracht Prügel.

Viele Jahre später, sie leben in New York, Anoush macht inzwischen Filme und berichtet über den Anschlag auf das World Trade Center und ist im Schneideraum Bildern ausgesetzt, wie Hitze und Flammen Menschen zwingen, sich in die schier unendliche Tiefe zu stürzen. Männer mit nackten Oberkörpern hängen in den Fenstern, winken mit weißen Bürohemden, hoffen auf Hilfe, bis die Flammen zu nah kommen und sie die Hitze nicht mehr aushalten. Wie in Zeitlupe fliegen sie an der Fassade entlang. Zwei halten sich an Händen, einer fliegt unten, der andere oben. Eine Frau auf der Straße zieht den Kopf ein, schlägt die Hand vor den Mund, als wieder jemand mit lautem Krachen auf dem Pflaster aufprallt. Nach drei Tagen und Nächten auf Sendung geht Anoush nach Hause, um zu duschen. Bevor sie ins Studio zurückgeht, bemerkt sie den feinen Staub auf ihrem Tisch, wischt darüber und fragt sich, ob sie Asche der Toten an der Hand hat, und weiß nicht, wohin damit.

Anoush erinnert sich an einen Artikel über eine Frau, die im World Trade Center arbeitete und seit dem 11. September vermisst wurde. Allerdings war sie nicht tot, sondern wollte nur nicht mehr zurück in ihr altes Leben und ihre marode Beziehung, tauchte unter und dachte, jederzeit zurückzukönnen und zu behaupten, sie habe unter Schock gestanden und nicht gewusst, wer sie sei und wo sie wohne. Nach ein paar Wochen aber hatte sie immer noch nicht das Bedürfnis zurückzukehren, sie fühlte sich frei und gut und entschied sich, von vorn zu beginnen und sich neu zu erfinden.

Anoush fragt sich, nachdem der Fall nun publik war, wie viele Menschen wohl denken mögen, diese Frau sei vielleicht ihre Schwester, Tochter, Mutter, die sie am 11. September verloren hatten.

»Wie macht man das?«, flüstert sie in die Dunkelheit der Autobahn. Man kann sich doch nicht einfach ein neues Leben nehmen. Man muss irgendwo leben, braucht einen Ausweis und Zeugnisse, um Arbeit zu finden.

»Heutzutage könnte man sich als Flüchtling ausgeben«, hört sie Jacob sagen, als säße er neben ihr auf dem Beifahrersitz.

»Als welchen Menschen würdest du dich ausgeben, wenn du als jemand anderer dein Leben neu beginnen könntest?«

Jacob schüttelt den Kopf. »Glück hängt nicht davon ab, welcher Mensch man ist. Vielmehr kommt es darauf an, wie man sein Leben lebt.« Um seinen Worten Bedeutung zu geben, hält er inne und wirft Anoush vor, das ihre zu verplempern und ihre Talente nicht wertzuschätzen. »So vieles hast du begonnen und es nicht zu Ende gebracht. Deine Skulpturen und Tische aus Eisen, deine Filme, deine Moderationen im Fernsehen und Radio, du hast in Afghanistan die NATO in politischen Fragen beraten, mit allem hattest du Erfolg, hast es aber nicht weiterverfolgt und ausgebaut. Nichts hast du zu Ende gebracht.«

»Ich bin müde«, murmelt Anoush, streckt erst den einen, dann den anderen Arm.

»Wann hat deine Müdigkeit begonnen?«, fragt er scheinheilig. Als sei nicht er es gewesen, der ihr Schmerz zugefügt hatte, als wisse er nicht, dass Anoush ihre Schöpferkraft verlor, nicht mehr schreiben und keine Filme und Hilfsprojekte machen konnte, als er sie mit ihrer besten Freundin betrog.

»Dabei hat das Feuer in mir für Worte und Bilder nie aufgehört zu brennen«, sagt sie und findet das Bild schön.

»Du bist müde, weil du dich nie wirklich auf jemanden einlassen und mit ihm verbunden sein kannst«, sagt Jacob in einem Ton, als lese er die Bedienungsanleitung eines Staubsaugers. »Einsamkeit kann müde machen.«

»Ihre Müdigkeit kam, als ihr Körper begann, der einer Frau zu werden«, hört Anoush die Stimme ihrer Mutter. »Kaum hatte sie Brüste, da wurde sie zu Freiwild für Männer. Sie grapschten nach ihr, geiferten hinter ihr her.«

»Du hast gewusst, dass der Körper deiner Tochter zur Bedrohung für sie wurde, und hast nichts getan, um sie zu beschützen?«, fragt Anoush und wundert sich darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit sie Selbstgespräche führt.

Doch statt eine Antwort von ihrer Mutter zu bekommen, taucht die tote Anouk vor ihr auf: »Denn wir sind nur Mädchen.«

Anoush vertreibt die Stimmen aus ihrem Kopf, konzentriert sich auf die leere Autobahn, mag es, dass um sie herum alles in Finsternis getaucht ist, Farben, Häuser, die Landschaft verschwunden sind und es keine Ablenkung gibt. Wie damals, als Jacob und sie die Strecke fuhren, zwei Stunden er, zwei sie. Ihre besten Gespräche führten sie auf diesen langen Fahrten. Doch in den letzten Monaten ihrer Beziehung war alles anders. Schlaf fiel in regelrechten Attacken über sie her, sogar am Lenkrad nickte sie für Sekunden ein. Die Schultern brannten, ihr Bauch schmerzte, als habe sich ein fremdes Wesen darin eingenistet, und sie fühlte sich wie früher, als sie statt in die Schule zu gehen zu Hause bei ihrer Mutter bleiben wollte.

Die Ärztin konnte nichts feststellen, Anoush stand bereits an der Tür der Praxis, erwähnte ihre Müdigkeit, da bat die Ärztin sie, sich wieder zu setzen. »Sie haben eine Depression!«, sagte sie schließlich. Anoush hörte das Wort zum ersten Mal, konnte sich nur vage vorstellen, was es bedeutet, trotzdem war es, als knipse jemand einen Schalter in ihrem Kopf an. Ein magischer, ein glücklicher Moment. Das Konturlose vor ihren Augen wich gestochen scharfer Klarheit. Alles hatte eindeutige Kanten, einen Anfang, ein Ende. Leiseste Töne konnte sie hören. Auf ihrer Haut spürte sie die Luft im Raum. Sie war hellwach, wirklich hell und wach. Ihr Atem ging mühelos, sie fühlte sich leicht. Wie Perlen einer Kette zeigte sich ihr jeder Gedanke gestochen scharf. Kein Sammelsurium mehr von Illusion und Träumen, wirren Ideen und Eindrücken. Doch der Moment verging, und sie tauchte wieder ab in die dunkle Wattestimmung. Die Ärztin, Anoushs Hände im Schoß, der Teppich, alles verschwamm, wurde zu unklarem Brei aus Farben und Formen, ohne Konturen, ohne Anfang und Ende. Sie machte eine Therapie, lernte mehr über diese Krankheit.

»Anouk hat Recht«, murmelt Anoush. »Ich muss mein Leben betrachten und es wieder in die Hand nehmen.«

Konzentriert auf die Dunkelheit der Autobahn und die Lichtkegel ihres Mietautos, die wie zwei freundliche Gefährten den Weg weisen, legt Anoush sich die Hand aufs Herz. Das monotone Fahren, die Ruhe tun gut, ein Muskel nach dem anderen entspannt sich. Autobahnfahren ist eindeutig. Es geht immer geradeaus. Deutschland, Schweiz, Italien. Ohne schlechtes Gewissen, weil sie nicht schreibt, nichts erledigt. 1300 Kilometer klare Verhältnisse und Frieden.

Ankommen im alten neuen Leben

Nach zwölf Stunden taucht auf der linken Seite die Adria auf.

»Bella Italia«, sagt Anoush leise, blinzelt in die glitzernde Morgensonne. In Fano verlässt sie die Autobahn. Vierzig Minuten später hält sie an der Schranke zur Schotterstraße. Vierhundert Meter noch bis zum Häuschen. Die Uhr im Handy hat sie auf analog gestellt, um den Sekundenzeiger zu sehen. Bei Sekunde 44 dreht sie den Schlüssel, lässt das Schloss aufschnappen, zieht den Kolben heraus, stößt mit Schwung die Schranke auf. Es ist Punkt acht Uhr morgens.

Zahlen sind wichtig, sind Ecksteine der Erinnerung, geben dem Leben Struktur. Vierhundert Meter noch, und sie wird an dem Ort sein, an dem sie acht entscheidende, vielleicht die wichtigsten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Seit 444 Tagen war sie nicht auf ihrem Berg. Es fühlt sich an, als sei sie eben im Dorf zum Einkaufen oder Kaffeetrinken gewesen. Alles ist vertraut. Die Ruhe, die Luft mit ihrem süßen Duft nach Kräutern und Ginster, Blüten und Obst. Anoush hält das Gesicht in die wärmende Sonne, schließt die Augen. »Wärme gibt Sicherheit«, flüstert sie. Und für einen Augenblick hat sie das Gefühl, Anouk zu sein. »Ich kann es noch. Ich kann du sein, wenn ich will.«

Ihr Herz macht einen Sprung, als sie das Tapptapp von Hundepfoten hört und ihr weißer Pastore Maremmano angerannt kommt. Er drückt seinen schweren Körper an ihre Beine, wie er es früher nur bei Jacob machte.

»Du lebst!«, ruft sie, gräbt ihre Finger in sein dichtes Fell, krault ihn, und seine Freude macht auch sie froh. Sobald sie den Motor des Mietautos anlässt, sprintet er voraus.

Der Sohn der Nachbarin hatte ihn als Welpen auf den Berg zu seiner Mutter gebracht. Sie nannten ihn Willi, ein Name, den kaum ein Italiener aussprechen kann, weshalb sie ihn Uilli riefen. Willi wuchs schnell, wurde kräftig und überforderte die alte Frau, und er verbrachte die meiste Zeit bei Anoush und Jacob. Nach der Trennung ließen sie ihn auf dem Berg zurück, weil sie ihm die Freiheit, die er hier genießt, nicht nehmen wollten. Er hat Glück, gehört niemandem, kommt und geht, wie es ihm gefällt. Wenn Anoush und Jacob nicht da sind, füttert ihn die Bäuerin, die Versicherung und den Veterinär zahlt Anoush.

Die Jahre, die sie mit Jacob hier gelebt hat, sind ihr in Fleisch und Blut übergegangen, die Füße erinnern sich an die Unebenheiten der Wiese und an die alten Tonfliesen im Haus, die Finger finden Lichtschalter und Türgriffe, erkennen die Einkerbungen im Eichentisch wieder. Sie öffnet die Fenster, atmet die Luft ein, die wie eine warme, freundliche Welle ins Häuschen schwappt.

»Es ist nicht, wie du befürchtet hast«, sagt die imaginäre Anouk, die Anoush auf Schritt und Tritt folgt.

»Nein, kein bisschen, wie ich befürchtet habe. Nicht die geringste Spur Selbstmitleid.« Anoush wundert sich, wie real die tote Anouk ihr vorkommt, und blickt nicht hinter sich, um nicht zu sehen, dass ihre Freundin nur in ihrer Vorstellung existiert.

Noch etwas geschieht. Die Schwere aus ihrem Kopf weicht, und ihr Verstand wird scharf. Bäume und Blumen, der Hügel auf der anderen Seite des Tals, die Natursteine der Hausmauer erscheinen klar, wie mit dem Messer geschnitten. Die Berge in der Ferne leuchten in kräftigem Grün, wirken nah, als könnte sie sie berühren, und das Zirpen der Grillen, das Rascheln der Blätter ist überdeutlich. Wie damals in der Praxis der Ärztin, als sie das Wort Depression zum ersten Mal hörte, sind ihre Sinne wach und nehmen alles auf.

»Wie im Paradies«, flüstert sie, lächelt zufrieden, denn sie hatte befürchtet, ohne Jacob sei das Haus leer und fremd.

Auch Willi benimmt sich, als sei keine Zeit vergangen. An der Tür legt er den Kopf flach auf den kühlen Steinboden, sieht Anoush von unten herauf an und wimmert leise.

»Ich bin nicht traurig«, sagt sie, krault seinen Kopf, und er zieht die Lefzen zurück, als lache er. Als sie eine Tasche aus dem Auto holt, folgt er ihr nicht, legt sich auf seinen angestammten Platz, wo die Wiese endet und der Hang beginnt, beobachtet die Schotterstraße und das Tal, wartet auf Jacob, merkt aber, die Dinge haben sich geändert, und Anoush wird allein bleiben. Er seufzt tief und laut, sein ganzer Körper hebt und senkt sich, als wolle er die Vergangenheit aus seiner Erinnerung herausstoßen. Das war’s, die Trennung ist für ihn erledigt. Er legt seinen Kopf zwischen die großen weißen Pfoten, sieht Anoush an, als wolle er sagen: Ich habe es akzeptiert.

Anoush sieht sich und Jacob hier stehen und ein letztes Mal gemeinsam in die Landschaft blicken. Anders als vereinbart ist sie geblieben, hofft auf einen letzten Abend zusammen. »Du musst gehen«, sagt er. »Die neue Frau in meinem Leben wartet im Dorf darauf, dass ich sie abhole.«

Wie ein Stein landen seine Worte in Anoushs Magen.

»Sobald ich weg bin, wird eine Neue auf den Berg kommen, meinen Platz einnehmen, in meinem Bett schlafen, an meinem selbstgebauten Tisch sitzen.«

»Sei nicht pathetisch«, fährt er sie an. »Verschone mich mit deiner kitschigen iranischen Seele.«

Um sich auszuweinen, ruft Anoush ihre Freundin Anouk an, die verhält sich wie immer, lässt sich nicht anmerken, dass sie selbst die neue Frau in Jacobs Leben ist, die unten im Dorf wartet. »Deine iranische Seele macht ihm Angst«, sagt sie.

»Lügnerin«, sagt Anoush, geht gefolgt von Willi zum Auto, schleppt ihren Koffer hinein. »Das wird wieder«, sagt sie, zuckt zusammen, weil sie wie ihre Mutter klingt. Und sofort ist das schlechte Gewissen wieder da, weil sie Mutter und Vater keine gute Tochter sein, ihnen nicht in die Augen blicken oder sich normal mit ihnen unterhalten konnte.

»Arme Mutter«, sagt Anoush, starrt in die geöffnete Tasche, und außerstande, sie auszupacken, landet sie in einer Zeit, in der sie längst noch nicht geboren und ihre Mutter eine junge Frau war.

Berlin und seine Menschen tragen Spuren des Krieges. Überall Schutt und Trümmer, Gerippe von Häusern ragen in den Himmel, Telefone, Strom, Wasserleitungen gibt es nicht. Anoushs Mutter ist blutjung, überfordert mit sich und dem Leben folgt sie dem jungen Iraner in seine Heimat. Von ihrem Nachkriegsdeutschland aus glaubt sie, das Leben im fernen reichen Iran werde die Befreiung sein. Ein Kind gibt es in ihrer Vorstellung nicht. Dafür hat sie Berlin, ihre Mutter, das Vertraute und ihren geliebten Hund nicht hinter sich gelassen. Frei sein wollte sie, ohne Angst und Schrecken. Doch sie wird schwanger, und ihre Träume verschwinden.

Mit zusammengebissenen Zähnen und Tränen in der Stimme sieht die junge Mutter ihre vier Jahre alte Tochter an. »Wart’s nur ab. Du wirst selbst eine Tochter haben, wirst sehen, wie schwer das ist.«

Die kleine Anoush verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich werde niemals Kinder haben.«

»Du bist vier. Da weiß man nicht, welches Spiel das Leben mit einem spielt. Ich wollte auch keine Kinder.« Mutter schüttelt den Kopf. »Und was ist? Sieh dich an. Sieh deine Geschwister an.« Kaum ausgesprochen, erschrickt sie vor ihren eigenen Worten und dem harten Blick ihrer Tochter, zieht den Kopf zwischen die Schultern, beißt die Zähne aufeinander, bis sie knirschen und krachen.

Das Kind schämt sich, der Grund für die Traurigkeit der Mutter, das Knirschen und Krachen ihrer Zähne zu sein, und es ängstigt sie, Macht über Mutter zu haben.

Anoush dreht den Hahn in der Küche auf, lässt das abgestandene Wasser aus dem Rohr, sieht der braunen Brühe zu, die zusammen mit Luftblasen krachend herausschießt, als sei sie wütend.

Früher rief sie ihre Eltern täglich an, jetzt schickt sie nicht einmal mehr Karten, weder zum Geburtstag noch zum iranischen Neujahr und erst recht nicht zum Muttertag. Mutter und Vater wissen nicht, dass ihre Tochter nach Italien gezogen ist, mit einem Mann gelebt hat, wieder von ihm getrennt ist und Gefahr läuft, das Häuschen zu verlieren.

Anoush hält die Handgelenke unter das kühle Wasser, spült den Tonkrug, erinnert sich, wie Jacob und sie ihn im ersten Jahr in der kleinen Töpferei im Dorf gekauft haben. »Fang bloß nicht an, Wunden zu lecken«, befiehlt sie sich, trinkt und genießt den klaren Geschmack des kühlen Wassers, das aus der Bergquelle kommt. Sie steigt die alte Holzstiege hinunter in ihre Schreibstube, holt aus dem Regal den ersten Roman, den sie geschrieben hat. Als sei er ein lebendiges Wesen, drückt sie ihn ans Herz und schließt die Augen, bevor sie eine markierte Stelle aufschlägt. »Manche Menschen verlieren nicht ein einziges Mal in ihrem Leben. Nichts. Andere verlieren immer. Alles«, liest sie, als stünde sie vor Publikum. »Was man laut ausspricht, landet im Bewusstsein. Worte sind bedeutend, ordnen Dinge, die durcheinandergeraten sind«, erklärt sie ihren imaginären Zuhörern. »Das würde meinem Ex gefallen«, sagt sie, und die Leute lachen. Dann lässt sie Jacob neben sich auftauchen, genießt seinen wohlwollenden Blick, nimmt ihn im Geiste an die Hand, und sie gehen hinaus zur Holzbank. »Ich will die Seiten wechseln. Dahin, wo die sind, die gewinnen. Ich werde mein Leben ansehen, herausfinden, wer ich wirklich bin und was ich wirklich will.« Der Hund, der dicht neben ihr geht, sieht sie aufmerksam an, als würde er sie verstehen.

»Wir sind die Summe derer, mit denen wir aufwachsen und leben«, hört sie Jacob sagen, der sie mitleidig ansieht. »Das reine Ich existiert nicht!«

Um Gelassenheit vorzutäuschen, blickt sie in die Landschaft und streckt sich. »Ich will das Häuschen«, sagt sie, krault den Hund, der es ihr nachmacht, sich ebenfalls streckt und sie damit zum Lachen bringt. »Schade, dass du mir nicht helfen kannst, meinen Roman zu schreiben.«

Einige Monate bevor Jacob sie mit Anouk betrogen hatte, hatte Anoush einen neuen Roman begonnen, doch als ihre Beziehung und ihr Leben auseinanderbrachen, konnte sie nicht weiter daran arbeiten. Der letzte Satz, den sie geschrieben hatte, ist: Es geht mir gut!

Der Roman handelt von zwei Frauen in Teheran. Eine hat sowohl Brüste als auch einen Penis und will eine richtige Frau werden.

»Richtige Frau? Was soll das überhaupt sein?«, fragt sie den Hund, der mit lautem Seufzen antwortet und sie ansieht, als sei sie ein hoffnungsloser Fall.

Die zweite Frau, um die es im Buch geht, weiß seit sie denken kann, dass sie im falschen Körper geboren wurde. Schon als kleines Mädchen trug sie Jungenkleidung, später nahm sie Hormone und verwandelte sich in einen Mann. Inzwischen deutet nichts mehr darauf hin, dass sie mit einem weiblichen Körper geboren wurde. »Ich bin der Mensch, der ich sein wollte«, hört Anoush ihre Männerstimme. Er kratzt seinen sprießenden Bart. »Was ist mit dem Roman? Warum machst du nicht weiter mit meiner Geschichte?«

Anoush ignoriert ihn. Um das Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben, steht sie auf und geht zum Hang.

»Ich rede mit dir. Du hast mir Leben eingehaucht, nun lässt du mich fallen?«

Ein Viertel habe ich geschrieben, antwortet Anoush im Geiste, ohne sich umzusehen. Du hast dich in eine Frau verliebt und wartest auf die nächste Operation.

»Ja und? Warum schreibst du nicht weiter?«

»Ich habe meine Schöpferkraft verloren. Meine Heldinnen sind keine richtigen Menschen, sie reden nicht mit mir«, sagt Anoush, zieht den Kopf ein.

»Hör auf, dich selbst zu belügen. Sieh mich an«, fordert die Romanheldin. »Ich lebe. Die Wahrheit ist, du hast Angst, nicht gut zu sein, nicht zu genügen. Tagebuch schreibst du, du notierst Ideen, die nicht einmal schlecht sind, an den Roman aber hast du dich seit einer Ewigkeit nicht herangetraut. Du hast mich geschaffen, und ich lebe. Mehr kannst du als Geschichtenerzählerin nicht verlangen.«

»Mein Mann hat mich betrogen, und zwar mit meiner besten Freundin«, verteidigt sich Anoush.

»Das ist vor über einem Jahr gewesen.«

»Mir kommt es vor, als sei es gestern geschehen.«

Jacob kommt nach Hause, erklärt, er habe ein Verhältnis mit einer anderen, habe keine Wahl, weil er sich verliebt habe.

»Na und? Liebe rechtfertigt nicht alles«, antwortet Anoush, doch noch während ihre Worte in der Luft hängen, merkt sie, sie haben nicht die Kraft, ihn zu halten, und sie weiß, sie kann ihre Beziehung nicht retten. Dann soll er eben gehen, denkt sie, fühlt sich leicht, befreit von der Last, dem Druck, an etwas festzuhalten, von dem sie weiß, sie hat es längst verloren.

Jacob hatte erwartet, sie würde um ihn kämpfen, Anoush aber steht vor ihm, mit geradem Rücken, sieht sogar erleichtert aus. Doch er weiß, wie er sie brechen kann.

»Dir geht es gut mit meiner Entscheidung«, sagt er mit trauriger Stimme, und Tränen steigen ihm in die Augen. »Du hast mir deine Liebe entzogen, nur deshalb bin ich gegangen. In Wahrheit warst du es, die unsere Beziehung verlassen hat.«

Sein Plan geht auf. Genauso schnell, wie es gekommen war, verzieht sich das gute Gefühl wieder. Wie eine Kerze, die ausgepustet wird. Eine kleine Rauchschwade noch, dann ist alle Leichtigkeit verflogen. Er hat Recht, denkt Anoush und fühlt sich schuldig. Es war mir nicht gelungen, Liebe in mir zu finden und sie ihm zu schenken. In ihr wird es dunkel und traurig, und sie hat nur noch ein Bedürfnis: Sie will Jacob und ihre Beziehung zurück, egal, wie marode sie ist.

Als sie erfährt, dass die neue Frau Anouk ist, bricht Anoushs Welt endgültig auseinander. Sie will gar nichts mehr. Selbst ihr eigener Tod kann sie nicht erschrecken.

»Jacob ist ein Lebensdieb, er hat mein Leben geklaut«, sagt Anoush zum Hund. »Höchste Zeit, es wiederzufinden!«

Kein Entkommen aus der Wirklichkeit

Anoush wacht früh auf, rollt ihre Yogamatte aus, versucht, ein paar Übungen zu machen, lässt es aber gleich wieder, setzt sich mit Block und Stift an den alten Eichentisch in der Küche. Doch statt eines vernünftigen Gedankens schlagen Fetzen von Träumen wie kleine Blitze in ihren Kopf, mischen sich mit Erinnerungen und Stimmen, und es kommt ihr vor, als sei sie in eine dunkle Höhle geraten und finde den Ausgang nicht.

VERGESSEN!, schreibt sie mitten auf die leere Seite.

Das wäre die Lösung. Alles vergessen und neu beginnen. Wie das Spiel ihrer Kindertage, von dem Anouk in ihrem Abschiedsbrief schreibt. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind, und erfinden sich neu. Die kleine Anoush verwandelte sich immer in eine Frau, die ein Pferd besitzt, weit weg von Eltern und Geschwistern am Kaspischen Meer lebt und sich um niemanden kümmern muss. Anouk dagegen fantasierte vom Leben in einer Großfamilie mit vielen Geschwistern, Cousinen und Cousins, wo es drunter und drüber geht und alle mitbekommen, was die anderen gerade machen. »Für dich konnte es nie laut und voll genug sein«, sagt Anoush, als säße Anouk neben ihr.

Angelockt von ihren Selbstgesprächen, kommt Willi an die offene Küchentür, legt den Kopf und eine Pfote auf die Schwelle. Er hat nicht vergessen, dass er nicht hineindarf. Anoush füllt die Hundeschale mit Wasser. Laut schlabbernd befördert er es mit seiner großen Zunge ins Maul, sie muss lachen, und er sieht sie mit schiefem Kopf an: Was ist so lustig?

»Würde ich meine Erinnerung verlieren, würde ich auch dich nicht kennen, aber ich würde dich finden und abermals zu mir holen«, sagt sie und hat einen seltsamen Gedanken. Verlöre sie ihre Erinnerung, würde sie nicht mehr wissen, mit welchen und wie vielen Männern sie im Bett gewesen ist. Um die, mit denen sie nicht wirklich zusammen sein wollte, wo es einfach nur passiert ist, wäre es nicht schade. Die Gesichter, den Geruch, die Stimmen der meisten hat sie ohnehin verloren.

Sie holt den Zettel, auf dem sie das Wort VERGESSEN notiert hatte, setzt sich neben den Hund vor die Tür, beginnt, Namen von Männern aufzuschreiben, mit denen sie Sex hatte. Zwischendurch fegt sie die Küche, freut sich zu sehen, wie Staub und tote Insekten zusammenkommen, kehrt alles zu einem Haufen, wirft ihn aus dem Fenster. Jedes tote Insekt, jedes Körnchen Staub steht für eine schmerzvolle Familiengeschichte, die auf ihren Schultern lastet und sie daran hindert, in ein geregeltes Leben zu finden. Nur jene will sie behalten, die sie bewusst und aufwendig gesucht hat, für die sie weit gereist ist, um alte Verwandte und Freunde zu finden und ihre Geschichten aufzuschreiben, damit sie eben nicht in Vergessenheit geraten.

Als ihr keine Männer mehr einfallen, zählt sie sie, kommt auf über einhundert, weiß nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein soll, bringt die Liste hinunter in die Schreibstube, legt sie in die alte amerikanische Munitionskiste, die sie vor Jahren in Afghanistan einer Nomadin abgekauft hat und in der sie Tagebücher und Fotos, Tonbänder und Filme aufbewahrt. In einem Schulheft aus Teheran, das sie als Tagebuch benutzte, findet sie eine Geschichte, die Mutter erzählte.

Der Zweite Weltkrieg. Großmutter und Mutter suchen in Kellern Schutz vor Bomben. Russische Soldaten, nicht mehr ganz Jungen, noch nicht ganz Männer, dringen ein, machen sich an Mädchen und Frauen heran, begrapschen, küssen, vergewaltigen. Eine alte Frau wehrt sich, der Soldat solle sie in Ruhe lassen, eine junge nehmen. Wütend packt er sie, reißt sie vom Schemel, presst sie gegen die Wand, drückt seine Daumen auf ihre Augen, bis er sie in ihren Kopf schiebt. Blut rinnt aus ihren Augenhöhlen. Um die Schmerzensschreie der Frau nicht zu hören, brüllt er wie verrückt.

Anoush ist vier Jahre alt, als Mutter diese Geschichte erzählt, vielleicht so alt, wie sie selbst damals war.

»Arme Mutter«, sagt Anoush. Wie schlecht muss es dir gegangen sein, dass du es nicht lassen konntest, deinen kleinen Kindern diese Grausamkeiten zu erzählen, damit wir dich bewundern, wie stark du bist, all das durchgestanden zu haben? Deine Geschichten sind uns in Fleisch und Blut übergegangen. Ich habe die Schreie der alten Frau und das Gebrüll des Soldaten im Ohr, sehe seine Daumen auf ihren Augen und Fäden von Blut aus ihren Augenhöhlen laufen. »Fäden von Blut«, sagt Anoush leise, notiert den Namen Neda auf ein neues Blatt Papier. Auch aus Nedas Augen und Mund ist Blut gelaufen, als ein iranischer Revolutionsgardist sie vom Dach eines Hauses aus erschoss.

»Siehst du?«, hört sie ihre Mutter sagen, »es gibt Parallelen in deinem und meinem Leben, und bisher bist du mit meinen Geschichten nicht schlecht gefahren.«

Es stimmt, vieles hat sie in Romanen und Filmen verarbeitet, und sie hatte damit Erfolg. Und in ihren Kisten und Heften schlummern noch Schätze, die erzählt werden wollen. Die Geschichte ihres OpaBerlin, der im Krieg nicht an die Front wollte, um nicht schießen zu müssen und selbst erschossen zu werden, aber Funker wird und an die vorderste Front muss. Er gerät in Gefangenschaft, wird nach Frankreich gebracht. Erst elf Jahre später kommt er in die Zweizimmerwohnung zurück zu Frau und Tochter, kennt sie nicht mehr, und sie kennen ihn nicht.

Vor Jahren schickte Mutter Fotos von OpaBerlin, sein Soldbuch und seinen Führerschein. Ich denke, Du kannst sie für Deine Romane und Filme benutzen.

Sie will sich anbiedern, dachte Anoush und konnte nicht zugeben, dass sie sich freute.

Vorsichtig zieht sie das gut erhaltene Soldbuch heraus. Es war OpaBerlins letzte Verbindung zur Heimat, zu Frau und Kind, all die Jahre der Gefangenschaft hat er es beschützt und aufbewahrt. Es ist ein schönes Gefühl, eine Ewigkeit später etwas in Händen zu halten, das er in der Brusttasche getragen und unzählige Male angefasst hatte, lange bevor sie geboren war.

Mit drei Fingern greift er unter die Taschenklappe, zieht es heraus, legt es zum Stempeln auf den Tisch des Offiziers. Feldwebel. Fahrer. Auszeichnung. Weil er nicht nur sich, sondern auch den verschütteten General und zwei Vorgesetzte rettet: 80 Gramm Kernseife. Vier Tage Heimaturlaub.

In der Munitionskiste findet sie Fotos ihres iranischen Großvaters, OpaTeheran. Auch er muss Verlust erleiden. Der König konfisziert seine Ländereien und Dörfer nördlich von Teheran. Und OmaTeheran? Ihr Verlust ist der Tod ihrer Mutter, als sie sieben Jahre ist. Die gewalttätige Stiefmutter behandelt das Kind wie eine Sklavin, verheiratet sie, als sie zwölf ist, an einen Mann ohne Gefühle mit eiskalten blauen Augen. Später verliert sie auch noch ihren geliebten Bruder, Anoushs Großonkel H., der sich zu Tode säuft. Noch bevor Anoush weiß, was Alkohol ist, fürchtet sie sich davor und denkt, wer trinkt, wird sich eines Tages hinter einer verschlossenen Tür das Leben nehmen, und bis heute will sie, dass Türen geöffnet bleiben.

Als sie Fotos ihrer beiden Urgroßmütter findet, steigt ein warmes Gefühl in Anoushs Brust auf. Sie gehören im Iran zu den ersten Mädchen, die beim Mullah in den Unterricht dürfen und Lesen und Schreiben lernen. Weil das gleiche Blut auch in ihren Adern fließt, denkt die kleine Anoush, sie sei ebenfalls schlau und werde es im Leben zu etwas bringen. Das Foto ihrer einzigen Tante, der Schwester ihres Vaters wiederum, macht sie traurig. So viel Unglück in einem Leben.

An diesem Abend ist Anoush noch lange in ihrer Schreibstube, stöbert in Erinnerungen, Fotos, Filmen, und ihr fällt auf, wie sehr das längst vergangene Leben ihrer Vorfahren noch immer in ihres hineinspielt. Um es sich besser ansehen und damit auseinandersetzen zu können, heftet sie Bilder und Texte an die Wand, damit sie sie vor Augen hat, und hofft, sie werden sie auch für ihren Roman inspirieren. »Morgen fange ich an zu schreiben«, sagt sie und lächelt, weil es sich gut anfühlt, laut zu sprechen und so zu tun, als sei sie nicht allein. Und während sie das Bett mit frischer weißer Leinenwäsche bezieht, hört sie Bohemian Rhapsody von Queen und singt mit, wenn Freddie Mercury fragt: Is this the real life …, ist das das reale Leben, oder ist es nur Fantasie? Und dass es kein Entkommen aus der Realität gibt.

Obwohl sie Albträume hatte und die halbe Nacht wach lag, fühlt Anoush sich am Morgen voller Energie, fährt ins nächste Städtchen hinunter, tauscht das Mietauto gegen ihren alten Panda, besorgt in der Metzgerei einen Knochen und Fleischreste für den Hund. Weil sie abnehmen will, verzichtet sie auf Schokolade und Kohlenhydrate, kauft nur Obst, Gemüse, Joghurt, Käse.

Sie setzt sich an den Computer, doch die Unordnung und der Schmutz stören sie, und sie beginnt, die Schreibstube zu putzen. Während sie saugt und wischt, kommen und gehen Bilder, Menschen, Namen. Tara, die Nomadin im schweren schwarzen Kleid, behangen mit Steinen, Münzen und Spiegelscherben. Von ihr hat Anoush die Munitionskiste gekauft. Monatelang war sie mit ihr und ihrem Stamm in den Bergen des Hindukusch unterwegs und verewigte sie in Büchern und Filmen. Anoush heftet ein Foto von ihr an die Wand gegenüber des Schreibtisches, wo bereits andere hängen: Anouk, ihre Geschwister, Urgroßmütter, Eltern, der Hund, Jacob.

Sie will die Munitionskiste gerade schließen, da entdeckt sie einen gefalteten Zettel, öffnet ihn. Die schöne Handschrift ihres Vaters. Sie erinnert sich an den Tag, als sie ihn bat, eine Geschichte aufzuschreiben, die er früher erzählte.