Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen - Siba Shakib - E-Book
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Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen E-Book

Siba Shakib

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Beschreibung

Vom Leid, dem Mut und der Würde afghanischer Frauen

Die deutsch-iranische Filmemacherin Siba Shakib trifft in einem afghanischen Flüchtlingslager auf Shirin-Gol. Zunächst sieht sie nur den blauen Ganzkörperschleier, hinter dem die Frauen ihren Körper verstecken müssen. Doch im Gespräch mit Shirin-Gol spürt sie eine mitreißende Kraft. Shirin-Gol erzählt ihre Geschichte, die die Geschichte Tausender afghanischer Frauen ist. Sie spricht vom Leben im höllischen Paradies, als neuntes Kind in einem abgelegenen Bergdorf geboren. Jahrhunderte alte Traditionen bestimmen ihren Weg, der geprägt ist von Armut, Glaube, Unwissenheit und der Enge des islamischen Frauenbildes.

Leserstimmen:

»Ein Buch das aufwühlt,den Leser teilhaben lässt am Schicksal einer großartigen Frau und ihrer Familie,immer auf der Flucht und stets voller Hoffnung auf ein besseres Leben. Ein Buch, dass viele Fragen stellt, fesselt und niemanden unberührt lassen kann, der über den Tellerrand unseres Lebens im Wohlstand blicken möchte.Unbedingt lesen.«

»Ich habe selten so ein gutes Buch gelesen. Wir können miterleben wie andere Kulturen zu Frauen sind und wie schwierig ein Leben außerhalb unserer "goldenen Mauer" Europas sein kann. Sehr zu empfehlen. Man will nicht mehr aufhören zu lesen.«

»Die Art, wie die Menschen beschrieben werden, lässt sie fast bildlich vor einem erscheinen. Aber auch das ganze Elend des afghanischen Volkes wird so deutlich, dass am Ende nicht nur Gott darüber weint (wie im Titel) auch ich musste so manches Mal einfach nur noch heulen.«

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Seitenzahl: 494

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Siba Shakib

Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen

Die Geschichte der Shirin-Gol

Goldmann

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Copyright © 2001 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Covergestaltung: Design Team München

Coverfoto: dpa/AFP und AP Photo/John McConnico

Satz: DTP im Verlag

ISBN 978-3-89480-705-4V003

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Wie es dazu kam1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelDanke

Für Rahela.

Für meine Mutter.

Die Freien.

Die Unfreien.

»Peace can not be kept by force.

It can only be achieved by understanding.«

Albert Einstein

Es hat viele Kriege gegeben, viele Tote. Damit der Frieden kommt, hat Aybanu sich geopfert.

Sie ist die Frau des mongolischen Anführers geworden.

Hast du eine Botschaft?

Ja, sagt Aybanu.

Ja, verbreitet diese Worte.

Frauen sollen ihre Kinder mit Hass auf Krieg gebären.

Die Welt ist zerstört durch die Hände von Helden.

Es ist an uns, sie erneut zu errichten!

Spielt Lieder der Freunde, spielt Lieder der Trauer.

Soweit das Auge reicht, zerstörte Welt.

Gesegnet seien jene, die sie wieder aufbauen werden.

Gesegnet jene, die eine blühende Welt bringen werden!

Bahram Beyzaie

Schriftsteller, Filmemacher

Wie es dazu kam

Wie heißt du?

Shirin-Gol.

Ist das dein Kind?

Bale. Ja.

Und das da?

Bale.

Das etwa auch?

Bale.

Die beiden Jungen da? Willst du sagen, das sind Brüder?

Ja. Meine Söhne, Navid und Nabi. Ich habe sie selber geboren.

Der Beamte Malek bleibt skeptisch, haut seinen Stempel trotzdem auf das dünne Papier, das von dem stundenlangen Schweiß aus Shirin-Gols Händen feucht und labberig geworden ist.

Geh da hinten hin, befiehlt Malek und macht sich wichtig. Zeig meinen Kollegen dort diesen Zettel, sag ihnen, Herr Malek schickt dich, dann wird es keine Probleme geben, und du bekommst deine Weizensäcke. Einen für deinen Mann, einen für dich selber und einen für jedes deiner Kinder. Verstanden? Jeweils einen Sack.

Das Gesicht der Frau ist vollkommen verschleiert, das feine Netz vor ihren Augen ist zu dicht, um auch nur den leisesten Eindruck von ihren Augen zu bekommen. Doch trotz ihrer Gesichtslosigkeit sind ihre Wut, ihre Scham, das Gefühl der Erniedrigung genau zu spüren. Auch wenn ich nicht weiß, ob sie mich ansieht, lächle ich, bringe meine Sympathie zum Ausdruck. Sie soll wissen, dass ich mich nicht mit Malek, sondern mit ihr verbunden fühle.

Hast du das gesehen?, fragt Malek, als wären wir alte Freunde oder verwandt oder verschwägert. Er tut, als seien wir Verbündete, Vertraute. Er und ich auf der einen Seite und die Menschen um uns herum auf der anderen Seite. Ich mache einen Schritt zurück, sehe ihn nicht an.

Malek weiß genau, dass er einfach nur Glück gehabt hat, nicht auf der anderen Seite des Schicksals zu stehen, da, wo er auf den Weizen hoffen muss. Da, wo er einen Stempel braucht, eine Genehmigung, die Gnade eines Landsmannes. Dieses Mal. Dieses Mal hat er Glück. Dieses Mal hat er Arbeit und gehört damit zu einer Hand voll Privilegierter.

Seit die Vereinten Nationen dieses Übergangslager für afghanische Rückkehrer aus dem Iran eingerichtet haben, verdient er jeden Monat umgerechnet ungefähr 60 Dollar und kann damit seine eigene Familie und die seines Bruders ernähren. Zumal mindestens einmal in der Woche der eine oder andere Sack Weizen, der den Heimkehrern die Rückkehr erleichtern soll, seinen eigentlichen Besitzer nicht findet und Malek ihn für gutes Geld verkauft.

Hast du das gesehen?, wiederholt er mit Wichtigstimme.

Ja, sage ich trocken, tue, als würde mich das Schicksal von Shirin-Gol, der Frau mit dem feuchten Zettel und den vier Kindern, die aussehen, als wären sie von unterschiedlichen Müttern und Vätern, nicht interessieren. Malek ist enttäuscht, sein lüsterner Blick weicht einem fast kindlichen Trotz.

Ich kann mir schon vorstellen, worüber Malek sich gerne mit mir unterhalten hätte, während seine Landsleute in einer endlos langen Schlange auf dem sandigen Boden in der prallen Sonne hocken und darauf warten, von ihm den Stempel zu bekommen.

Wahrscheinlich will er mir erklären, dass Shirin-Gol sich die Kinder nur ausgeliehen hat, um mehr Weizen zu bekommen, als ihr zusteht. Anschließend wird sie die Armen auf der Straße aussetzen, und er, Malek, wird sie dann aufsammeln und zusehen müssen, wo er sie unterbringt. Oder er wird mir erzählen, Shirin-Gol habe, wie viele andere afghanische Frauen auch, ihren Körper verkauft und sich von unterschiedlichen Männern schwängern lassen.

Herr Malek, komme ich ihm zuvor, bitte entschuldigen Sie mich. Mir ist es hier zu heiß und zu windig, ich werde mir einen schattigen Platz suchen. Vielen Dank, dass Sie mir erlaubt haben, Ihnen bei der Arbeit zusehen zu dürfen.

Sie haben doch noch gar nichts gesehen, protestiert Malek.

Ich komme später wieder, lüge ich und verschwinde zwischen den blauen Plastikzelten. Ich will nicht, dass Malek mitbekommt, wo ich bin und mit wem ich spreche.

Es ist, wie ich befürchtet hatte. Von den Kindern, die aussehen, als wären sie von unterschiedlichen Müttern und Vätern, fehlt weit und breit jede Spur, und ich habe mir Shirin-Gols Schuhe nicht angesehen. Die Schuhe der Frauen sind das einzige Erkennungsmerkmal. Ein blaues, plissiertes Tuch verdeckt die Frauen von Kopf bis Fuß, macht alle gleich, entmenschlicht sie. Wie soll ich Shirin-Gol finden? Hier wimmelt es nur so von den blauen buqhras, die sich im Wind mal an die dünnen Körper der Frauen pressen und mal aufblähen, als seien sie Ballone, als würden die Frauen gleich in den Himmel abheben und davonschweben. Immer wieder versuche ich, durch die feinmaschigen Netze vor den Augen der lebenden Gespenster menschliche Gesichter zu erkennen.

Unentschlossen stehe ich mitten zwischen den vielen Tüchern herum und starre vor mich hin. Ich will nicht mehr! Seit anderthalb Monaten bin ich schon wieder in Afghanistan. Ich bin müde, erschöpft. Der ständige, staubige Wind und die von der Sonne aufgeheizte, trockene Luft machen selber das Atmen zum Kraftakt. Dann bin ich eben eine Memme. Na und? Ich will keine Geschichten mehr hören von Menschen, die alles verloren haben, alles, bis auf ihre Angst, ihren Hunger, ihren Schmerz, ihr Elend, ihre Armut, ihre Krankheiten und ihr bisschen Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut werden wird.

Vielleicht sollte ich mich einfach irgendwo in den Schatten verziehen. Vielleicht sollte ich mir ein leeres Zelt suchen, mich hinlegen und schlafen. Ich könnte aber auch in einen der leeren Lastwagen steigen, die zurück zur Grenze fahren, um neue Flüchtlinge aufzuladen. Noch heute Abend wäre ich wieder in meiner eigenen Heimat Iran, da, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Von dort könnte ich endlich wieder in meine bequeme, westliche Luxuswelt zurückkehren.

Unfähig, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu machen, stehe ich da, mit meinem Körper aus Blei, in der herzlosen Sonne, und starre einfach so vor mich hin, als mich ein blaues Tuch anherrscht.

La-elah-ha-el-allah. Was willst du von mir? Das sind meine Kinder. Lasst mich doch in Ruhe, in Gottes Namen.

Meine Sinne reagieren zeitverzögert, ich höre mich selber sprechen. Verzeihen Sie bitte. Mehr kann ich nicht sagen, meine Zunge klebt an meinem Gaumen fest. Ich starre das Tuch vor mir an, bis ich endlich weitersprechen kann. Ich stehe nur so hier herum. Ich arbeite nicht für die Vereinten Nationen, auch nicht für eine andere Hilfsorganisation. Ich bin nur hier, weil ich ...

Weil ich was? Weil ich mir euer Elend ansehen, es filmen und darüber schreiben möchte? Weil wir, die Menschen im Westen, unser Herz nur noch spüren, wenn wir das weit entfernte Leid der Welt sehen? Weil ich denke, es könnte euch helfen, wenn irgendjemand erzählt, wie grausam das Leben ist, das ihr führt? Besonders wenn euer Herrgott euch als Mädchen in die Welt geschickt hat? Weil ich ...

Geht es dir gut?, fragt das Tuch. Eine Hand kommt darunter hervor, schiebt meinen Ärmel hoch und legt sich auf meinen Arm.

Das kann nicht sein, denke ich. Ich stehe mitten in der Wüste, sehe zu, wie Hunderte und Tausende Menschen wie Vieh auf Ladeflächen von Lastwagen zusammengepfercht werden, und diese Frau fragt mich, ob es mir gut geht!

Ich sehe zu, wie Menschen aus einer Heimat kommen, die nie eine gewesen ist, und in eine Heimat zurückkehren, die nie eine werden wird. Frauen, Kinder, Männer, die nichts kennen, als immerzu auf der Flucht zu sein. Menschen, die Töchter und Söhne begraben haben, ihre Väter, Mütter, Männer, Frauen, Brüder, Schwestern. Menschen, die keine Häuser haben, keinen Platz zum Sitzen, zum Essen, zum Schlafen. Kleine Mädchen und Jungen, die nur noch einen Arm haben, ein Bein, überhaupt keine Arme und Beine. Menschen, die dünn und klapprig sind, krank, unterernährt, nur noch Haut und Knochen. Männer, die andere Männer getötet haben, selber dem Tod ins Auge gesehen haben. Frauen, die lieber selber tot sein möchten, als noch einmal den Tod eines ihrer Kinder sehen zu müssen.

Das habe ich mir schon gedacht, sagt Shirin-Gol mit ruhiger Stimme, die sich auf mein Herz legt wie weicher Samt.

Was? Ich bin noch immer nicht bei mir. Was hast du dir gedacht?

Dass du zu keiner Hilfsorganisation gehörst. Du sprichst unsere Sprache. Wer bist du? Was machst du hier?

Shirin-Gols kräftige Hand liegt noch immer auf meinem Arm. Sie hockt sich hin und zieht mich mit sich hinunter auf den sandigen Boden.

Ich schreibe ein Buch, sage ich und versuche durch das feinmaschige Netz die Augen der Frau unter dem Tuch zu erkennen. In meinem Kopf lege ich die üblichen Erklärungen bereit.

Ein Buch über Afghanistan, über uns?, lachen die Leute mich aus. Ein Buch über ein Land, in dem es nichts gibt als Hunger und Elend, Kriege und Tote? Was gibt es darüber schon zu schreiben? Wer will denn ein solches Buch lesen?

Ich kann auch lesen, sagt Shirin-Gol stattdessen. Damals, als die Russen hier waren, bin ich in die Schule gegangen und habe lesen gelernt. Außer meinen Schulbüchern habe ich auch schon dreieinhalb richtige Bücher gelesen. Das erste habe ich mir selber gekauft. Das zweite hat meine Lehrerin mir geschenkt, das dritte war nur ein halbes Buch. Ich habe es in den zerbombten Ruinen der Hauptstadt gefunden. Schade, dass ich die andere Hälfte nie gefunden habe. Ich hätte gerne die ganze Geschichte bis zum Schluss erfahren, es war eine so schöne Geschichte, von einem Mädchen, das ... ach, ich weiß auch nicht mehr. Und das andere Buch hat meine Freundin mir geschenkt, die einzige, wirkliche Freundin, die ich je gehabt habe. Sie war Ärztin. Ich habe sie in einem der vielen Dörfer, in denen wir gelebt haben, kennen gelernt und für sie gearbeitet.

Das Shirin-Gol-Tuch sieht mich an, und ich habe das Gefühl, dass sie mich liest. Wie ein Buch. Dass sie meine Worte nicht braucht, um mich zu verstehen.

Endlich nimmt sie ihre Hand von meinem Arm. Eine feuchte Stelle bleibt auf meiner Haut zurück. Ich wische sie nicht weg, lasse sie von der Sonne trocknen.

Ein Buch, sagt Shirin-Gol, ohne ihren Tuchkopf zu bewegen.

Ich lächle den blauen Stoff an.

Soll ich dir für dein Buch meine Geschichte erzählen?, fragt das Tuch. Möchtest du das?

Ihre Frage klingt wie eine Warnung, hat etwas Bedrohliches. Während ich nicht weiß, warum ich nicht Ja sage, warum stattdessen mein Blick in die Ferne schweift, zu den Lastwagen, die staubige, afghanische Rückkehrer aus dem Iran zurückbringen und inmitten blauer Plastikzelte ausspucken, während meine Gedanken keinen Anfang haben und kein Ende, nimmt Shirin-Gol mein Kinn in ihre Hand, dreht meinen Kopf zu sich herum, zwingt mich, ihren Tuchkopf wieder anzusehen, und fragt abermals. Möchtest du das?

Erst Jahre später werde ich begreifen, dass Shirin-Gol schon damals gewusst hat, wenn ich jetzt ja sage, mich an diesem Morgen auf sie und ihre Geschichte einlasse, werden wir verbunden sein, auf Jahre. Vielleicht für immer.

Ja, das möchte ich, sage ich, lächle und lege meine Hand auf ihre, die noch immer mein Gesicht hält.

Ich bin froh, dass ich ja gesagt habe.

Shirin-Gol ist anders als die anderen Frauen, die ich in all den Jahren in Afghanistan getroffen habe. Shirin-Gol ist wie ein Baum. Wie eine kräftige, schlanke Pappel, die den stärksten Winden und Stürmen standhält, die alles sieht, alles versteht, alles weiß, alles erzählt.

Keine andere afghanische Frau, die ich kenne, hat so bereitwillig, so offen und so ehrlich über ihr Leben gesprochen und erst recht nicht über ihr Verhältnis zu ihrem Mann. Shirin-Gol spricht über alles, woran sie sich erinnern kann, präzise und detailliert, als wollte sie sichergehen, dass wenigstens ihre Geschichte übrig bleibt, wenn sie selber nicht mehr am Leben sein wird. Ob ich Fragen stelle oder nicht, spielt keine Rolle für sie. Shirin-Gol hat ihren eigenen Rhythmus, ihr eigenes Tempo, mit dem sie die Geschichten ihres Lebens erzählt. Shirin-Gols Worte sind wie das Wetter, mal fegen sie alles hinweg wie ein Sturm, mal legen sie sich auf die Herzen wie eine weiche, leichte Brise; mal wärmen sie kalte Herzen wie eine zarte Frühlingssonne, mal brennen sie wie die herzlose Sonne der Wüste; mal kühlen sie die Sinne wie ein kleiner Schauer; mal prasseln sie nieder wie ein heftiger Regen, werden zum wilden Strom und reißen alles mit, was sich ihnen in den Weg stellt.

Shirin-Gols Geschichte ist nicht ungewöhnlich, erzählt den ganz normalen Wahnsinn, den genauso oder so ähnlich Tausende Frauen und Menschen in Afghanistan erlebt haben und noch immer erleben.

Das Lager, in dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, die Städte, Dörfer, das ganze Land, ist voll von Frauen, Kindern und Männern, die wie Shirin-Gol immer wieder Hoffnung schöpfen, immer wieder von dort, wo sie leben, aufbrechen, immer wieder glauben, dass alles gut wird. Immer wieder sieht es am Anfang aus, als würde alles gut werden.

1. Kapitel

Eine süße Blume und eine Muttermalschwester

In Afghanistan hat fast jeder Name eine Bedeutung. Shirin-Gol heißt Süße Blume. Zu behaupten, in dem Moment ihrer Geburt habe ihre Mutter eine süße Blume gesehen, den süßen Duft einer Blume gerochen oder gar an eine süße Blume gedacht, wäre erfunden und nichts als reine Sozialromantik verwestlichter Fantasie.

Wahrscheinlich hat Shirin-Gols Mutter, wie alle Mütter dieser Welt, bei der Geburt ihrer fünften Tochter, ihres neunten Kindes, große Schmerzen durchgestanden, und wahrscheinlich hat sie sich in diesem Moment überlegt, wie sie mit ihrem ohnehin geschwächten Körper und schlaffen Brüsten noch ein weiteres Kind stillen soll. Und wahrscheinlich ist sie froh gewesen, als sie das Kind aus ihrem Körper gezogen und gesehen hat, dass es nur ein Mädchen ist, denn wäre Shirin-Gol ein Junge gewesen, hätte er noch mehr Milch gebraucht, noch mehr Aufmerksamkeit. Die Mutter hätte ihn öfter auf dem Arm tragen müssen, sie hätte ein Fest zu seiner Geburt geben und ein Schaf schlachten, Geld für seine Beschneidung auftreiben und ihn zum Mullah schicken müssen, damit er den Koran lernt.

Nein, Allah ist gütig und hat ihr dieses Mal nur eine Tochter geschickt.

Genau genommen ist der Herrgott immer gütig gewesen zu Shirin-Gols Mutter. Er hat ihr als erstes Kind einen Sohn in den Bauch gelegt, sodass ihr Mann sich wie ein echter Mann fühlen konnte, ihr weder die Zähne ausschlagen noch sich von ihr scheiden lassen oder sie in ihr Vaterhaus zurückbringen musste.

Zur Sicherheit und damit alles bleibt, wie es ist, hat Gott ihr nach dem ersten gleich wieder einen Jungen geschickt. Und auch das dritte Kind ist ein Sohn.

Dann hat der Herrgott auch mal an Shirin-Gols Mutter gedacht und ihr dreimal hintereinander Töchter geschickt. So hat sie endlich Hilfe bekommen, bei der vielen Arbeit mit dem Ehemann und den drei Söhnen, dem Feldbestellen, Brotbacken, Kleidernähen, Schafehüten, Kühemelken, Essenkochen, Teppichknüpfen und was sonst noch an Arbeit anfällt.

Die nächsten beiden Kinder werden wieder Jungen, für jeden von ihnen schlachtet Shirin-Gols Vater ein Schaf, jeder der beiden muss beschnitten werden, aber zumindest müssen diese beiden nicht zum Mullah, weil ja schon die ersten drei Söhne der Familie den Koran gelernt haben.

Und im Jahr nach den beiden nicht mehr so wichtigen Brüdern kommt schließlich Shirin-Gol auf die Welt. Für den Vater ist das weder gut noch schlecht. Für die Mutter ist es gut.

Shirin-Gol ist ein ruhiges Kind, und sie hat es gut im Leben. Die meiste Zeit ihres Kleinmädchenlebens lassen alle sie in Ruhe. Sie sitzt im Schatten an der Ecke der Lehmhütte auf dem sandigen Boden, sieht zu, wie die Mutter und der Vater, die älteren Brüder und Schwestern das kleine Feld bestellen, die wenigen Schafe melken, den Esel tränken, den Staub aus der Hütte fegen, Teppiche knüpfen, Essen herbeischaffen, Brot backen, das Überleben der Familie jeden Tag und irgendwie von neuem hinbekommen.

Shirin-Gol wird von der Schwester mit dem Muttermal auf der Wange jeden Morgen an die Ecke gesetzt, bekommt ein Stück Brot in die Hand, hat keine andere Aufgabe, als sich möglichst ruhig zu verhalten, einfach nur zuzusehen, zu begreifen, worauf es im Leben eines Mädchens ankommt: nicht auffallen, arbeiten und den Befehlen der Jungen und Männer folgen.

Erst als sie etwa zwei Jahre alt ist, erhebt Shirin-Gol sich zum ersten Mal allein, kommt aus ihrer Ecke vor der Hütte, macht ein paar Schritte, geht zur Muttermalschwester, die vor der Hütte hockt und Wäsche wäscht, hockt sich neben sie, planscht mit ihrer kleinen Hand in der Seifenlauge herum, bekommt eine auf die Finger, pinkelt auf den Boden, wird von der Muttermalschwester wieder an ihren Platz getragen und hingesetzt.

Alles das sieht der Herrgott und erinnert sich in diesem Moment wieder an Shirin-Gols Mutter, und es fällt ihm auf, dass er zwei Jahre lang vergessen hat, Shirin-Gols Mutter ein neues Kind in den Bauch zu pflanzen. So beeilt der gütige Herrgott sich nachzuholen, was er versäumt hat, und als Shirin-Gol noch nicht ganz drei Jahre alt ist, bekommt sie gleich zwei Brüder auf einmal in ihren kleinen Mädchenschoß gelegt und ist von nun tagein, tagaus beschäftigt mit den Zwillingen.

Sie hebt nur noch selten den Kopf, bekommt nicht mehr mit, was die Mutter und älteren Schwestern, der Vater und älteren Brüder den ganzen Tag lang treiben.

Das nächste Mal, als die kleine Shirin-Gol aufblickt und sieht, was in der Welt um sie herum geschieht, ist der Tag, an dem die Zwillinge ihre ersten Schritte machen, ohne dass Shirin-Gol sie an der Hand führt. Der eine läuft gerade von rechts nach links und der andere von links nach rechts, die beiden krachen mit den Köpfen zusammen, fallen um, fangen an zu schreien, sehen beide Hilfe suchend zu ihrer Schwester Shirin-Gol. Da schlägt ganz in der Nähe eine Rakete ein, die erste, aber durchaus nicht die letzte, die Shirin-Gol in ihrem Leben hören soll, die Zwillinge verstummen, torkeln beide verängstigt zu ihrer Schwester, vergraben die Köpfe in ihre Kleinmädchenröcke. Die Mutter blickt erschrocken auf, die älteren Brüder rennen vom Feld zurück, die älteren Schwestern kreischen, der Vater macht eine besorgte Miene und sagt, mehr zu sich selber, dann stimmt es also doch. Die Russen sind da.

Die Russen? Wer sind die Russen? Unsere Nachbarn? Warum sind sie gekommen? Was wollen sie von uns? Wir haben doch selber nichts, sagt die Mutter mit hoher und lauter Stimme.

Der Vater sieht seine Söhne an und sagt, wir müssen in die Berge. Früher haben die Engländer unser Land besetzt und über unser Schicksal bestimmt, jetzt versuchen es die Russen. Früher haben die Engländer ein Auge auf unsere Frauen und Töchter geworfen, jetzt sind es die Russen. Früher haben die Engländer unser Land und unsere Religion entehrt und beschmutzt, uns entmündigt und entmachtet, unsere Freiheit geraubt und den Boden unserer Heimat verunreinigt, jetzt sind es die Russen. Wir haben keinen anderen Weg, es ist Zeit, dass auch wir uns den Mujahedin anschließen, gegen die Russen in den Krieg ziehen und wenn es sein muss bis zum letzten Tropfen unseres Blutes gegen sie kämpfen.

Bis zum letzten Tag.

Das sind die letzten Vaterworte, an die Shirin-Gol sich erinnert, der Vater reiht sich mit den älteren Brüdern auf, betet, gibt jedem der Brüder ein Gewehr und Munition, verschwindet aus Shirin-Gols Leben und der Lehmhütte und hinterlässt eine Menge Platz. Zum Essen, zum Sitzen, zum Zwillingeaufpassen, zum Läuse-aus-den-Haaren-der-Zwillinge-Puhlen, zum Wollespinnen, zum Kleidernähen, zum Teppichknüpfen, zum Zuckerkleinhacken, zum Kornmahlen, zum Zusammensitzen und Reden über den Krieg, die Verletzten, die Toten, die Russen, zum Ausbreiten der Schlafmatten und Decken in der Nacht.

Shirin-Gol und die Zwillinge schlafen fortan nicht mehr in der Ecke hinter der Feuerstelle im Boden, bekommen mehr zu essen und dürfen mehr reden. Nur noch die Schüsse, Raketeneinschläge und Bombenexplosionen in den Bergen erinnern an die Brüder und den Vater, die nur noch gelegentlich auftauchen, kurz bleiben und gleich wieder verschwinden.

Shirin-Gol sammelt gerade auf dem Feld die letzten mickrigen katchalou, Kartoffeln, ein, da geht ein Mann hastig an ihr vorbei. Er trägt einen anderen Mann auf der Schulter, der über und über voll ist mit Blut. Der mit dem Blutigen über der Schulter bleibt stehen und dreht sich zu ihr herum. Sie erkennt, dass es einer ihrer älteren Brüder ist, und lächelt. Der Bruder lächelt nicht zurück, fragt, warum trägst du kein Kopftuch?, geht weiter und verschwindet hinter der Lehmhütte.

Shirin-Gols Mutter kommt aus der Hütte, ohne die Farbe in ihrem Gesicht. Madar. Mutter.

Madar-ohne-Farbe-im-Gesicht steht vor der Hütte, hält mit beiden Händen den Wasserkrug aus Ton vor ihren Bauch und sagt viele kleine Worte, die Shirin-Gol nicht hören kann, weil Madar-ohne-Farbe-im-Gesicht auch ihre Stimme verloren hat.

Shirin-Gol steht da, starrt Madar-ohne-Farbe-im-Gesicht-und-ohne-Stimme-im-Mund an. Gerade überlegt Shirin-Gol, wer die Farbe aus dem Gesicht von madar und die Stimme aus ihrem Mund geklaut hat, ob es der Blutige gewesen ist oder ob madar selber sie in die Nische gelegt und vergessen hat, sie mit hinauszubringen. Gerade überlegt Shirin-Gol, da haut Madar-ohne-Farbe-im-Gesicht-und-ohne-Stimme-im-Mund den Wasserkrug aus Ton auf die Erde, dass er bricht und zu tausendundein kleinen Scherben aus Ton wird.

Farbe weg. Stimme weg. Wasserkrug weg.

Shirin-Gol nimmt die Zwillinge an die Hand, dreht sich um, ohne Madar-ohne-Farbe-im-Gesicht-und-ohne-Stimme-im-Mund-und-ohne-Wasserkrug-aus-Ton-in-der-Hand noch mal anzusehen und geht zurück ins Feld zu den mickrigen katchalou, die unter der Erde sind und es gut haben, weil es dort kühl ist und weil dort keine Mutter ist, die Wasserkrüge aus Ton zerbricht.

Nachts kommen noch mehr Männer, bekannte und unbekannte, der Vater und die anderen älteren Brüder. Shirin-Gol hört, wie sie den Boden hinter der Hütte aufhacken, geht hinaus, sieht wie der Blutige, den ihr Bruder auf seiner Schulter angeschleppt hatte, in das ausgehobene Loch gelegt und das Loch zugeschaufelt wird. Die Männer weinen, schultern ihre Gewehre und Kalaschnikows und verschwinden wieder in die Dunkelheit der Nacht.

Am nächsten Morgen hockt nur noch Shirin-Gols Mutter an dem zugeschaufelten Loch. Sie hat ein schwarzes Tuch über dem Kopf, wiegt ihren Körper hin und her, als hätte sie Schmerzen, jammert und wimmert und hört selber dann nicht auf, als Shirin-Gol ihr einen frischen Tee bringt.

Shirin-Gol dankt Gott, dass madar ihre Stimme wiedergefunden hat, betet ein schnelles Gebet, dass Gott machen soll, dass sie auch die Farbe in ihrem Gesicht wiedergefunden hat und dass sie das schwarze Tuch nicht über den Kopf gezogen hat, weil sie vielleicht auch ihre Augen, ihre Nase und ihren Mund verloren hat. Aber hätte sie ihren Mund verloren, dann könnte sie auch nicht jammern, denkt Shirin-Gol und beschließt zu tun, als hätte sie gestern Madar-ohne-Farbe-im-Gesicht-und-ohne-Stimme-im-Mund-und-ohne-Wasserkrug-aus-Ton-in-der-Hand nicht gesehen.

Was ist?, fragt das kleine Mädchen und legt so viel Unbekümmertheit in ihre Stimme, wie Gott gewillt ist ihr zu schenken.

Was soll schon sein?, schluchzt madar, nimmt das Tuch vom Kopf, um einen Schluck von dem Tee zu trinken, und da sieht Shirin-Gol es mit eigenen Augen. In der Nacht hat madar die Farbe aus ihrem Haar verloren.

Und dann erfährt Shirin-Gol, dass Gott den Blutigen in dem Loch genau aus diesem einen Grund getötet hat, nämlich damit madar die Farbe in ihrem Gesicht verliert, die Stimme in ihrem Mund verliert, den Wasserkrug aus Ton verliert, die Farbe aus ihrem Haar verliert und damit das Mutterherz bricht und das Mutterhaar weiß wird.

Noch versteht Shirin-Gol nicht, wie das alles zusammenhängt, doch je weiter die Sonne wandert, um sich am Ende des Tages im Osten zu versenken, desto mehr erfährt Shirin-Gol über den Mann im Loch und darüber, was der mit den plötzlich weißen Mutterhaaren zu tun hat.

Der Mann auf der Schulter ihres Bruders, der Mann, der jetzt in dem Loch im Boden hinter der Hütte liegt, ist nämlich ein Märtyrer, gefallen im Namen des Propheten, des Koran und des Islam.

Shirin-Gol hat längst von Märtyrern gehört, sie hat aber immer fest geglaubt, Märtyrer würden bei Gott höchstpersönlich und damit im Paradies leben und nicht in Löchern in der Erde. Aber jetzt hat sie es ja mit eigenen Augen gesehen, in dem Loch hinter der Hütte liegt ein leibhaftiger Märtyrer. Ein shahid.

Shirin-Gol erfährt auch, dass dies durchaus nicht der letzte shahid in ihrem Leben bleiben wird und dass dieser shahid früher ein richtiger Mann gewesen ist, einer, den Shirin-Gol gekannt hat, sogar einer aus ihrer Familie, genau genommen einer ihrer Brüder, der zweite Sohn, den Gott ihrer Mutter geschenkt hatte, der erste, den er ihr wieder genommen und zu sich geholt hat, und genau aus diesem Grund nämlich hat ihre Mutter schreckliche Schmerzen, die sie vielleicht töten werden, und genau aus diesem und keinem anderen Grund nämlich hat sie über Nacht weiße Haare bekommen.

Shirin-Gol nimmt die Zwillinge an die Hand, hockt sich an das zugeschaufelte Loch im Boden und macht es wie ihre Mutter und alle anderen auch, weint, versteht nicht, schließt die Augen und fragt Gott, warum er das tut. Erst schickt er den Müttern Söhne, die ihnen ans Herz wachsen, Söhne, an die sie sich gewöhnen. Dann lässt er die kleinen Söhne zu großen Söhnen werden, schickt die Russen in die Heimat und die Söhne in die Berge, wo sie sterben und zu shahid werden und den Müttern das Herz brechen – und alles das nur, damit sie am Ende weiße Haare bekommen? Es wäre doch viel einfacher, wenn er von vornherein keine Söhne schickt und den Müttern gleich weiße Haare gibt.

Und falls er vorhaben sollte, das Gleiche mit Shirin-Gol zu tun, wenn sie groß und Mutter ist, dann soll er das lieber gleich bleiben lassen, denn sie will weder die viele Arbeit mit den Jungen, schließlich erlebt sie bereits mit den Zwillingen, wie viel Aufwand und Aufmerksamkeit Jungen brauchen und wie viel Verantwortung sie bedeuten, noch will sie, wenn Gott vorhat, ihre Söhne auch als shahid sterben zu lassen, die Schmerzen aushalten müssen. Und die vom vielen Weinen verquollenen Augen und die weißen Haare will sie schon gar nicht haben.

Gottes Wege sind unerschöpflich, sagt Shirin-Gols älteste Schwester von nun an jeden Tag. Am vierzehnten Tag nach dem Brudertod malt sie sich die Lippen rot und die Augen schwarz und geht hinunter ins Dorf.

Wohin gehst du? Warum malst du deine Lippen an? Warum trägst du keinen Schleier? Was werden die Leute sagen? Sie werden hinter deinem Rücken reden. Du beschmutzt die Ehre unseres Vaters, unserer lebenden Brüder und unseres toten Märtyrerbruders. Im Namen des Propheten und des Islam, du bringst Schande und Unglück über uns.

Shirin-Gol sagt alles das und alles andere, was sie gelernt hat zu glauben und zu befolgen, doch die Schwester hört nicht auf sie, geht ins Dorf, kommt erst am nächsten Morgen zurück, hat vier Kalaschnikows dabei, eine Kiste mit Handgrananten, eine mit Munition, vier Hosen, vier Helme und ein Pferd, was alles das für sie getragen hat.

Wie viele waren es?, fragt die Mutter. Vier, sagt die Schwester und senkt den Blick.

Ich will mit, ruft Shirin-Gol, als die Schwester und jetzt auch die Nächstältere zwei Wochen darauf wieder die Lippen rot anmalen und wieder ins Dorf gehen. Nein, das willst du nicht, sagt die Älteste, zieht unter ihrem Rock ein Messer hervor, hält es Shirin-Gol an die Brust, sieht ihr dabei fest in die Augen und fragt, oder getraust du dich, russische Soldaten aufzuschlitzen?

Ich will mit, ruft Shirin-Gol, als die beiden Älteren und jetzt auch die Muttermalschwester nach weiteren Wochen wieder ins Dorf gehen und sie selber nichts anderes tut, als aufs Feld zu gehen, den Boden der Hütte zu fegen, Essen zu kochen, das Blut aus den Kleidern der Schwestern zu waschen, den Zwillingen zuzusehen und sie zu trösten, wenn sie mit den Köpfen gegeneinander rennen.

Das wirst du noch früh genug müssen, sagt die Muttermalschwester, sieht Shirin-Gol in die Augen, schluckt ihre Tränen hinunter, küsst sie auf die Stirn, zieht ihren Schleier übers Gesicht und verschwindet ins Dorf.

Ich will aber jetzt mit, jammert Shirin-Gol, die vor ihrer Waschschüssel hockt, als ihre Schwestern am Abend zurückkommen, ihre blutigen Röcke in die Lauge werfen, dass Wasser und Schaum hochspringen und Shirin-Gol patschnass wird. Die Schwestern beachten Shirin-Gol nicht, seufzen müde, hocken sich hin und sortieren und verstecken die russischen Kalaschnikows, Munition, Handgranaten, Minen, Stiefel, Helme und was sie den russischen Soldaten sonst noch abgenommen haben.

Dieses Mal waren es nur zwei, sagt die eine Schwester.

Sie sind vorsichtig geworden, sagt die andere. Es hat sich herumgesprochen, wie gefährlich es ist, in die Dörfer zu kommen und sich an afghanische Frauen zu vergreifen. Allah sei Dank. Sie haben Angst.

Angst? Die russischen Soldaten? Die Feinde der Heimat, des Propheten, des Koran, des Islam und der Freiheit? Die, die ihren Bruder zu einem shahid im Erdloch gemacht haben? Die Männer in den Uniformen, mit den schweren Stiefeln, mit den Gewehren, den Minen, haben Angst vor ihren Schwestern? Das sind Märchen, die Schwestern erfinden sie nur, um sich wichtig und Shirin-Gol neidisch zu machen.

Shirin-Gol schleicht ihren Schwestern heimlich hinterher. Sieht alles mit eigenen Augen. Doch erst Jahre später wird sie verstehen, dass es keine Märchen waren.

Die Brüder, der Vater, die anderen Männer aus dem Dorf sind in den Bergen und kämpfen gegen die Russen und die Soldaten der Regierung. Andere russische Soldaten kommen in die Dörfer, plündern, rauben, stehlen, verschleppen Frauen und auch kleine Mädchen.

Die Soldaten sind selber noch Jungen, achtzehn, neunzehn, zwanzig Jahre alt, haben keine Ahnung vom Leben, vom Krieg, vom Töten, und vom Getötetwerden schon gar nicht.

Töten. Getötetwerden.

Zwei Tage vorher waren sie noch in ihren Kasernen, in Kasachstan, Leningrad, der Mongolei und Usbekistan, haben Borschtsch aus Messingschalen geschlürft und Briefe geschrieben, an ihre Mütter und die Mädchen, die versprochen haben, auf sie zu warten, bis sie aus dem Militärdienst entlassen werden, nach Hause kommen und sie heiraten.

Der Appell kommt plötzlich wie immer, Stiefel anziehen, Sturmgepäck auf den Rücken mit Kalaschnikow, Munition und Helm, alles festzurren, mit stampfenden Stiefeln rein ins Flugzeug, in der Dunkelheit fliegen, nichts sehen, mit dem Glauben, nach Sibirien und sonst wohin geflogen zu werden, um Kohle oder sonst was zu schaufeln. Aussteigen. Nicht wissen, wo sie sind.

Ringsherum nur Berge, gnadenlos felsig, unvorstellbar hoch. Schneebedeckt ragt das Massiv des Hindukusch in den Himmel. Wie viel sind siebentausend Meter? Wer sind die Mujahedin? Wie viele haben sich in den Bergen verschanzt, was haben sie uns angetan, warum töten wir sie, warum sind sie Feinde des sowjetischen Volkes, des Sozialismus? Wie viele Feinde haben wir bereits getötet, wie viele werden wir noch töten müssen, wie lange werden wir bleiben, warum darf der Brief an die Mutter nicht abgeschickt werden?

Haschisch und Opium stillen die Fragen, die Angst, den Hunger. Afghanische Mädchen mit dunklen Haaren wie aus Seide, mit Augen wie Kohle, mit großen, weißen Zähnen wie Perlen, mit weichen Lippen wie Pflaumen wecken die Lust, besänftigen traurige russische Jungenherzen.

Was sie nicht freiwillig bekommen, nehmen sie sich mit Gewalt. Afghanisches Essen, Kleidung, Geld, afghanische Frauen, Mädchen, die Ehre afghanischer Männer, der Väter, der Söhne, die Würde und den Stolz der Nation, den Glauben und das Gottvertrauen.

Russische Jungen in Uniform befolgen Befehle, überwinden Angst, führen Kriegsrituale aus, machen sich Mut, beweisen Macht, Stärke und Überlegenheit. Sie fallen in Dörfer ein, verschleppen Frauen, vergewaltigen, schneiden Brüste ab, schlitzen Bäuche auf, schleudern mit einem Klatsch Föten in den Sand. Sie trennen Kinderhälse von Kinderkörpern, küssen Mädchenmünder, lecken Mädchenbäuche, grabschen Mädchenbrüste, befriedigen Russenjungenschwänze in jungfräulichen Afghanenmädchenscheiden.

Afghanische Lehrer, Bauern, Schuhmacher, Metzger, Brotbäcker, Händler, Schüler, Studenten werden zu Freiheitskämpfern, ziehen in die Berge, töten, werden getötet, legen Minen, bevor sie selber auf eine treten, schlitzen russische Soldaten auf, bevor sie selber aufgeschlitzt werden.

Hemdausziehen nennen es die Afghanen, wenn sie den Russen ringsherum die Taille aufritzen und die Haut über den Kopf ziehen, die Gehäuteten in die Sonne setzen und afghanische Fliegen sich über rotes, nacktes Russenfleisch hermachen.

In Kasachstan, Leningrad, der Mongolei und Usbekistan bekommt die Russenmutter einen Stich im Herzen, zwei Wochen später kommt ein Brief, ein Offizier, zwei Soldaten, ein Zinksarg. Öffnen verboten.

Im Krieg ist eben alles anders, ist erlaubt, was Glaube und Tradition, uralte Werte und persönliche Moral verbieten, ist erlaubt, was sonst nur mit dem Tod gesühnt werden kann.

Ohne Schleier und mit roten Lippen stehen sittsame afghanische Mädchen an der Ecke, gleich dort, wo die Russen eine afghanische Hütte besetzt halten, geschenktes Haschisch rauchen, die Sinne verlieren, nichts mehr wollen, nur noch eins, die kichernden und tuschelnden Mädchen mit den Kohleaugen und den Körpern, die noch kein Mann gesehen oder gar berührt hat.

Shirin-Gol sieht es aus ihrem Versteck mit eigenen Augen, hört es mit eigenen Ohren, kann dennoch nicht glauben.

Benebelte Russenjungen sehen mit blauen Augen ihre unverschleierten Schwestern an, geifern, lecken lüstern ihre Lippen, strecken ihre Hände aus, legen sie auf die Schwesterbrust, umfassen die Schwesterhüfte, küssen den Schwesterhals, ziehen den Schwesterhintern an sich heran, stöhnen immer lauter, sagen Worte in einer Sprache, die Shirin-Gol nicht versteht.

Ein Schrei, nicht der Erleichterung, sondern des Todes. Aufgeschlitzter Russenjunge in Uniform liegt vor den Schwesterfüßen, windet, krümmt sich, zappelt, will das Messer aus seinem Bauch ziehen, hat keine Kraft, krallt seine blutige Hand in den Schwesterrock, fleht mit blauen Russenaugen um Gnade und bekommt sie.

Er ist doch auch nur ein Mensch mit einer Mutter, die irgendwo auf dieser gottverdammten Erde auf ihren Sohn wartet, sagt die Schwester, wischt Tränen aus ihren afghanischen Kohleaugen, beugt sich zu dem Sterbenden, zieht das Messer aus seinem Bauch und befreit ihn von seinen Qualen. Mit einem schnellen Gurgelschnitt.

Für die Freiheit, für die Ehre, für den Glauben und dafür, dass sie selber am Leben bleiben.

Zwanzig und mehr Jahre später sind diese Bilder noch immer nicht weg, liegen schwer und blutrot in Shirin-Gols Herzen und lassen sie nicht vergessen.

Shirin-Gols Muttermalschwester hat seit jener Zeit djin, böse Geister, in ihrem Körper. Sie sitzt irgendwo friedlich, spricht, isst, kocht, wäscht oder sieht nur so vor sich hin, da fängt sie plötzlich an nach Luft zu japsen, fängt an zu schreien, zu weinen, bekommt gelben Schaum vor den Mund, beißt die Zähne zusammen, dass sie krachen, reißt sich selber die Haare aus.

Noch eine, die der Krieg verrückt gemacht hat, sagen die Leute.

Auch Shirin-Gols Vater hat gewusst, was seine Töchter für die Ehre, das Heimatland, den Propheten, den Koran und den Islam getan haben. Jahr um Jahr hatte er immer weniger gesprochen, bis er schließlich stumm geblieben ist, gar nicht mehr gesprochen hat. Nie mehr und zu niemandem. Er hat keinem mehr in die Augen gesehen, seinen Töchtern nicht, seinen Söhnen nicht und seiner Frau auch nicht.

2. Kapitel

Eine nackte Frau, ein Buchstabe und ein bisschen Freiheit

Die Zwillinge pinkeln noch immer in die Hose, nuckeln noch immer Muttermilch, hocken noch immer in Shirin-Gols Mädchenröcken, lassen sich noch immer die Happen in den Mund stopfen, sprechen längst, sagen Worte und ganze Sätze, Brot, Wasser, Hunger, Shirin-Gol, gib, lass mich, nein, komm, geh, müde, trag mich und viele Worte mehr, als Shirin-Gols Leben sich abermals verändert.

Gerade wirft die Sonne ihr erstes Licht über den Gipfel, der über dem Dorf thront, gerade schweigen die Waffen der Mujahedinbrüder, Väter und der Russen in den Bergen, gerade kräht der Hahn, einer der Zwillinge drückt seinen kleinen, schlafenden, strammen Körper gegen den seiner Schwester, der andere Zwilling legt seine kleine Hand liebevoll auf die Wange der Schwester, da zerreißt eine ohrenbetäubend laute Explosion Shirin-Gols Schlaf und die Stille der Morgendämmerung.

Im nächsten Moment ist der Himmel voll brummender, dröhnender, riesiger Eisenvögel, wie Shirin-Gol sie noch nie zuvor gesehen hat.

Gott hat die fliegenden Ungeheuer geschickt, sagt die Mutter, um uns für unsere Sünden zu bestrafen.

Welche Sünden?, fragt Shirin-Gol.

Alle Sünden, sagt die Mutter.

Das sind weder Vögel noch Ungeheuer, sagen die älteren Brüder, das sind Hubschrauber der Russen, und sie heißen Antonow.

Antonow, flüstert Shirin-Gol, ein schöner Name, wie schade, dass sie so gemein und bösartig sind.

Von ihrer Hütte aus, die außerhalb des Dorfes liegt, sieht Shirin-Gol, wie die feuerspeienden, bösartigen Ungeheuer mit dem schönen Namen tief über das Dorf hinwegfliegen, einen großen Bogen machen, umkehren, tiefer und tiefer fliegen, zum Anfassen nah kommen, mit lautem Getöse Stangen spucken und Feuer anrichten. In weniger Zeit, als ein halbes Gebet dauert, sind alle Lehmhütten in Ruinen verwandelt und mehr als die Hälfte der Dorfbevölkerung zu Märtyrern gemacht.

Shirin-Gol, die Zwillinge, ihre Mutter, der Bruder, der kurz vor Shirin-Gol aus dem Bauch ihrer Mutter gekommen war, und ihre drei älteren Schwestern raffen so viel von ihrem Zeug, wie sie tragen können, und fliehen in die Berge. Von dort sehen sie, wie die Russen mit Panzern, Lastwagen, Jeeps und zu Fuß auf der einen Seite ins Dorf einfallen, jeden der noch lebt, ob Mensch oder Tier, töten, alles in Brand stecken und auf der anderen Seite das Dorf wieder verlassen.

Shirin-Gol, die Zwillinge und der Rest der Familie buddeln ein Loch in den Boden und verstecken die russischen Kalaschnikows, Gewehre, Minen, Helme und was sonst noch hier bleiben muss. Shirin-Gol überlegt, ob die Gewehre und was sonst noch hier bleiben muss jetzt auch Märtyrer sind, findet keine Antwort, beeilt sich, nicht zurückzubleiben, und zieht mit den anderen nach Norden Richtung Kabul, der Hauptstadt.

Wo ist Kabul? Warum Kabul? Warum nicht nach Süden? Warum nicht nach Osten, nach Westen, nicht zurück ins Dorf? Warum nicht die Hütte wieder aufbauen? Warum? Warum dieses, warum jenes?

Schweig, befehlen der Bruder, der Vater, die Mutter, als Shirin-Gol fragt.

Schweigt, befiehlt Shirin-Gol, als die Zwillinge fragen.

Lärm und Krach und Asphalt, Häuser aus Stein, so groß wie Berge, Menschen, die es eilig haben, Autos, die schwarzen Rauch auspusten, stinkende Luft, schmutzige Bäume, Frauen ohne Schleier, Mädchen mit nackten Armen, Jungen, die ‘dummes Bergvolk’ rufen und damit Shirin-Gol und ihre Familie meinen. Shirin-Gols Vater, der geschrumpft und kleiner ist, als er in den Heimatbergen war, senkt verschämt den Blick. Shirin-Gols Brüder, die Steine aufheben, sie wieder fallen lassen. Shirin-Gols Schwestern, die heimlich unter ihren Schleiern hervorlugen. Shirin-Gols Mutter, die ihnen dafür mit flacher Hand eine auf den Hinterkopf haut. Kabul, die Hauptstadt.

Russische Administration. Shirin-Gol glaubt ihren eigenen Augen nicht mehr trauen zu können. Aber sie sieht es klar und deutlich vor sich. Eine Frau, eine afghanische Frau, mit toupiertem Haar und so viel Farbe im Gesicht, als sei sie eine Braut, sitzt ohne Schleier vor ihrem Vater. Die Haut und das Fleisch ihrer Arme, Beine, ihres Halses sind nackt und für jedermann zu sehen. Sie senkt nicht den Blick, sieht Shirin-Gols Vater dreist in die Augen, spricht ihn direkt an, dass man ihre Zähne und ihre Zunge sehen kann und stellt ihm tausendundeine Fragen, die sie nichts angehen.

Fragen, auf die sie Lügen zur Antwort bekommt. Beruf? Bauer. Nein, nie in den Bergen gekämpft. Mujahed? Was ist das? Russen? Gute Menschen. Sind hier, um der Heimat zu helfen. Geld? Nein, gar nichts. Besitz? Keinen.

Die einzigen wahren Worte, die der Vater an diesem Tag spricht, sind die, dass weder er noch seine Frau und auch keines seiner Kinder lesen oder schreiben können.

Die Nacktfrau gibt dem geschrumpften Vater einen Zettel und sagt, die Gesetze der neuen Regierung besagen, dass alle Männer, also auch Shirin-Gols Vater und ihre Brüder, sich unverzüglich bei der nächsten Kommandantur melden müssen, um in den Dienst der ruhmreichen Armee aufgenommen zu werden. Es sei erste und vorrangige Pflicht jedes heimatliebenden Afghanen, gegen Staatsfeinde und Widerstandskämpfer dem Vaterland zu dienen. Des Weiteren sei es Pflicht eines jeden Afghanen, ob Mann oder Frau, ob alt oder jung, in die geliebte und ehrenhafte, neu gegründete Partei des Volkes einzutreten. Des Weiteren besagen die Gesetze der neuen Regierung, wer eine Unterkunft oder ein Zelt wolle, müsse seine Kinder in die Schule schicken, wer zu essen wolle, müsse seine Kinder in die Schule schicken.

Kurzum, wer nicht ins Gefängnis wolle, müsse in die Armee und die Partei eintreten und seine Kinder in die Schule schicken und außerdem seiner Frau und seinen Töchtern verbieten, in der Öffentlichkeit den Ganzkörperschleier zu tragen.

Shirin-Gol wird es schwindlig unter ihrem Tuch und sie ist froh, dass die Nacktfrau ihr Gesicht nicht sehen kann, sonst würde sie wahrscheinlich gleich im Gefängnis landen. Shirin-Gol ist gespannt, was ihr Vater wohl auf die gottesfeindlichen und unverschämten Worte der Nacktfrau antworten wird. Doch der Vater sagt nichts, erhebt sich von seinem Stuhl, wirft ihn, weil er Stühle nicht gewohnt ist, um und will gehen. Einfach so. Ohne die Nacktfrau mit auch nur einem Wort der Schelte für ihre gottlose Dreistigkeit zu strafen.

Und dann geschieht etwas, bei dem Shirin-Gol glaubt, sich alles das doch nur einzubilden und vielleicht doch nur zu träumen. Die Nacktfrau erhebt sich, streckt ihre Hand aus, blickt dem Vater in die Augen, hält ihre Hand so lange ausgestreckt in der Luft, bis der Vater seinerseits die Hand ausstreckt und tatsächlich die Fingerspitzen der Nacktfrau kurz berührt.

Shirin-Gol stößt einen leisen Schrei aus, bekommt von der Mutter mit flacher Hand eine auf den Hinterkopf, beeilt sich, die Zwillinge unter ihr Tuch zu ziehen, damit wenigstens deren unschuldige Kinderaugen nicht sehen müssen, welche unglaublichen Dinge sich da abspielen. Doch es ist zu spät, sie haben alles gesehen und werden die Nacktfrau noch lange und gut in Erinnerung behalten und auch noch lange über sie sprechen.

Schule?, sagt der Vater, als sie wieder auf der lauten, schmutzigen, vollen, stinkigen Straße sind, spuckt aus, seine Spucke versinkt nicht, bleibt auf dem harten, grauen Boden, der Asphalt heißt, liegen. Während Shirin-Gol die Vaterspucke im Auge behält, um zu sehen, was damit geschieht, sagt der Vater, Armee? Niemals. Ich werde in die Berge zurückkehren, und meine Töchter werden nicht in die Schule gehen. Das ist Teufelswerk. Diese Ungläubigen wollen uns entehren. Mädchen, die in die Schule gehen, werden verwirrt, werden neugierig, wissen zu viel, sie werden habgierig, sie werden Dinge verlangen, sie werden wählerisch. Welcher Mann will so eine Frau noch heiraten? Und am Ende, Allah ist mein Zeuge, geht es diesen Ungläubigen nur darum, uns vom rechten Weg abzubringen, unsere Köpfe mit diesem gottlosen Zeug voll zu stopfen, unsere Würde und unseren Glauben zu zerstören und unsere Töchter zu dem zu machen, was diese, diese, diese – der Vater findet das Wort nicht, spricht aber immer weiter und sagt, meine Töchter sollen werden wie sie?, diese –, dann findet der Vater das Wort und sagt, wie diese HURE?! Niemals.

Schmach und Schande, hundertmal Schande, Gott verdamme alle Ungläubigen, murmelt Shirin-Gol unter ihrem Tuch, und es wird ihr beinahe übel bei der Vorstellung, in die Schule zu müssen, um dann so zu werden wie die Nacktfrau.

Was ist Schule eigentlich? Was ist Hure? Shirin-Gol beißt sich auf die Lippen, schließt die Augen, betet zu ihrem Gott, er möge sie vor diesem schrecklichen Schicksal bewahren. Shirin-Gol will etwas sagen, vielleicht so was wie, ich will lieber tot sein, statt zu werden wie die Nacktfrau, oder ich gehe auch in die Berge zurück und töte Russen, aber dann hält sie doch lieber den Mund, denn der Vater ist derart aufgebracht, dass sie wahrscheinlich gleich eine fangen würde, weil sie es gewagt hat, ungefragt und in der Öffentlichkeit ihre Mädchenstimme zu erheben und zu sagen, was sie denkt.

Die Unterkunft, in die Shirin-Gol, die Zwillinge und der Rest der Familie gebracht werden, ist aus Stein, die Wände und der Boden sind glatt und kalt, an der Wand ist ein Knopf, den man drücken kann, dann leuchtet eine Kugel unter der Decke und macht mehr Licht als vier Öllampen. In dem Raum sind zwei Türen, durch die eine kann man hinaus auf die Straße, durch die andere geht man in ein winziges Zimmer mit einem Loch im Boden. Zu ihrem Entsetzen erfährt Shirin-Gol, dass dieses Loch dafür da ist, seine Notdurft darin zu erledigen.

Langsam bekommt Shirin-Gol Mitleid mit den Menschen, die in der Stadt leben müssen. Das ist wirklich unglaublich, die Frauen laufen nackt und halbnackt herum, die Straßen sind so hart, dass einem die Füße schmerzen, die Spucke der Männer bleibt darauf liegen, es stinkt, ist laut, und dann soll man auch noch in seinem Haus pinkeln und scheißen, da, wo man schläft, isst, die Tage und Nächte verbringt?

Shirin-Gol lässt die Hände der Zwillinge nicht los, bleibt an der Tür stehen und wartet darauf, wieder in die Berge zurückzukehren. Doch statt zu gehen breitet die Mutter die Decken auf dem kalten, harten Boden aus, die Schwestern machen ein kleines Feuer, die Brüder gehen mit dem Kessel hinaus, bringen Wasser, irgendjemand macht Tee, ein anderer packt das trockene Brot aus, alle essen, die Mutter räumt alles beiseite, einer nach dem anderen legt sich hin, alle schlafen.

In der Nacht hat Shirin-Gol einen Traum. Sie träumt, ihre Brüder hätten sich geirrt, und die Hubschrauber der Russen seien keine Hubschrauber, sondern wundervolle Antonowvögel, die keine feuerspeienden Stangen werfen. In dem dicken Bauch der Antonowvögel sind kleine Schäfchen, die sie Shirin-Gol zum Geschenk machen und auf dem Feld vor ihrer Hütte absetzen. Kleine, weiße Schäfchen mit weichem, flaumigem Fell, dass es kitzelt, wenn Shirin-Gol sie umarmt. Kleine, weiße Schäfchen, die zu großen Schafen werden und Milch geben. Milch, aus der die Schwestern Käse machen können. Milch, die Shirin-Gol trinken kann. Kleine, weiße Schäfchen, die man essen kann.

Schade, dass es nur ein Traum war, denkt Shirin-Gol, als sie aufwacht.

Am dritten oder vierten Tag in der Hauptstadt kommt ein Mann in Uniform, spricht vor der Tür mit dem Vater. Wieder vier Tage später kommt wieder ein Mann in Uniform, spricht dieses Mal nicht, schreit hinter der Tür mit dem Vater. In der Nacht raschelt es, Shirin-Gol hört im Halbschlaf Stimmen. Am Morgen, als sie aufwacht, sind die älteren Brüder nicht mehr da, der Vater ist nicht mehr da, die älteren Schwestern sind nicht mehr da, selber die Muttermalschwester ist verschwunden. Sie alle sind zurück in die Berge, das zu tun, worüber Shirin-Gol niemals mit keiner Menschenseele sprechen darf, weil die Mutter ihr sonst die Zunge herausreißen und der gütige Herrgott ihr das Augenlicht nehmen wird.

Es klopft an der Tür, Shirin-Gol zuckt zusammen, eine Frau in Uniform kommt herein, spricht mit der Mutter, setzt sich auf den Boden, zu Shirin-Gol, der Mutter, den Zwillingen, lächelt, nimmt die Zwillinge an die Hand, fordert Shirin-Gol auf, ihr zu folgen, verabschiedet sich höflich von der Mutter und geht mit den drei Geschwistern auf die Straße.

Die Frau in Uniform ist nicht so nackt wie die Nacktfrau vom ersten Tag. Sie ist aber auch nicht so angezogen wie Shirin-Gols Mutter, die Schwestern, sie selber und alle anderen Frauen, die bisher in Shirin-Gols Leben gewesen sind.

Immerhin, die halbnackte Frau verdeckt wenigstens ihr Haar mit einem Kopftuch, ihr Gesicht ist nicht angemalt, ihre Arme sind bedeckt, ihr Rock ist lang genug, um ihre Knie zu bedecken, sie trägt Strümpfe, flache Schuhe, sie hält ihren Kopf gesenkt, blickt keinem Mann auf der Straße in die Augen, weicht ihnen, wie es sich gehört, aus, macht einen Schritt zur Seite, wenn sie auf sie zukommen. Wenn sie Shirin-Gol und die Zwillinge ansieht, lächelt sie stets. Das ist gut, denn das nimmt Shirin-Gol und den Zwillingen zumindest ein wenig ihrer Angst.

Die halbnackte Frau mit dem schönen Lächeln heißt Fauzieh, sie ist Lehrerin, und Shirin-Gol wird sie von nun an jeden Tag sehen.

Das ist eure Schule, sagt Fauzieh, das ist euer Klassenzimmer, das sind eure Mitschüler, eure Schuhe könnt ihr anbehalten, nimm deinen Schleier ab, setz dich dorthin auf den freien Platz, nein, nicht auf dem Boden, da auf die Bank, das ist ein Heft, das ist ein Buch, das ist ein Bleistift, das ist ein Buchstabe.

Sh – der Anfang von deinem Namen.

H-e-i-m-a-t.

R-u-s-s-e-n.

Sh-i-r-i-n-G-o-l, Süße Blume.

K-r-i-e-g.

M-u-j-a-h-e-d, nein, nicht Freiheitskämpfer, Widerstandskämpfer. Feinde des Volkes, Feinde der Partei und der ehrenwerten Regierung.

Wir leben in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Kabul ist 3500 Jahre alt. Vor mehr als einhundertfünfzig Jahren haben die Briten versucht, unser Land zu erobern, sie haben es immer wieder versucht und sind immer wieder von tapferen Männern und Frauen unserer Heimat zurückgedrängt worden. Jetzt ist das freiheitsliebende Volk der Russen zu unserer Hilfe gekommen.

Dieses Bild zeigt den ehrenwerten Präsidenten und Vater unserer wunderschönen Heimat.

Shirin-Gol richtet sich auf, macht den Mund auf, will sprechen, schweigt und denkt, mein Vater heißt ...

S-c-h-w-e-i-g-e-n.

L-ü-g-e-n.

A-n-g-s-t.

R-u-s-s-e-n.

N-a-c-k-t-f-r-a-u.

Shirin-Gol will zwar unter keinen Umständen werden wie die Nacktfrau vom ersten Tag und die vielen anderen Nacktfrauen, die sie seitdem auf der Straße sieht, aber noch schlimmer als eine Nacktfrau zu werden wäre, nicht in die Schule zu gehen und dafür ins Gefängnis zu kommen. Also versucht Shirin-Gol, so gut es geht, Fauziehs Anweisungen zu befolgen und es der Lehrerin recht zu machen, um nicht ins Gefängnis gehen zu müssen. Denn das eine weiß sie genau, im Gefängnis werden den Leuten die Zungen herausgerissen, die Nägel herausgezogen, die Arme und Beine mit heißen Stangen durchbohrt, die Finger abgeschnitten, die Knochen der Arme und Beine gebrochen, die Bäuche durchlöchert, die Zähne eingeschlagen, die Augen herausgerissen.

In jeder freien Minute hockt Shirin-Gol irgendwo, meist vor der Tür des Zimmers, in dem sie zusammen mit den Zwillingen und ihrer Mutter wohnt, liest, schreibt, übt Worte und Sätze.

In dem Zimmer nebenan lebt ein anderes Mädchen mit ihrer Mutter, ihren restlichen Brüdern und Schwestern, ohne Vater und ältere Brüder, die ebenfalls in die Berge zurück sind, worüber auch sie nicht reden darf, weil auch ihre Mutter ihr sonst die Zunge herausreißen und der Herrgott ihr das Augenlicht nehmen würde.

Das Mädchen heißt Malalai, und scheinbar macht es ihr nichts aus, wenn ihre Mutter ihr die Zunge herausreißt und der Herrgott ihr das Augenlicht nimmt, denn sie tut das Verbotene und erzählt Shirin-Gol von ihrem Vater und den älteren Brüdern, die in die Berge zurückgekehrt sind, sich den Mujahedin angeschlossen haben und kämpfen. Gegen die verdammten Russen und die verdammte Marionettenregierung von Taraki und allen folgenden Präsidenten, die alle irgendwelche Namen haben, aber stets das Gleiche wollen, nämlich die geliebte Heimat an die Russen verraten und verschenken.

Woher weißt du das alles, und woher nimmst du den Mut, so zu reden, hast du gar keine Angst?, fragt Shirin-Gol mit großen Augen.

Nein, ich bin mutig, ich heiße nämlich Malalai, sagt das Mädchen, streckt ihren dünnen Körper, als wolle sie Shirin-Gol ihre kleinen, sprießenden Brüste zeigen, und dann fragt sie, weißt du, wer Malalai gewesen ist?

Shirin-Gol schüttelt den Kopf und sieht auf den Boden.

Das war eine Heldin, sagt Malalai, eine afghanische Heldin. Und es ist wichtig, dass wir wissen, wer sie war.

Wieder sagt Shirin-Gol nichts und nickt nur.

Malalai hat den grausamen König getötet, sagt Malalai, macht eine Pause und genießt die Wirkung ihrer wichtigen Worte.

Shirin-Gol hebt den Blick, sieht Malalai an und kann nicht glauben, was das Mädchen ihr erzählt. Eine Frau hat einen Mann, einen König getötet? Warum hat sie das getan?, fragt Shirin-Gol, und wie hat sie das getan?

Malalai ist zufrieden. Na ja, antwortet sie, das war nicht leicht, aber sie war eine mutige und starke Frau, mutiger als alle Männer und alle Krieger und sogar stärker als der grausame König.

Malalai deutet zum Hügel auf der anderen Seite des Kanals und fragt, siehst du die Mauer?

Shirin-Gol sieht die Mauer und wundert sich, warum sie eine so lange Mauer, die sich den ganzen Hügel bis zu seiner Spitze hochschlängelt, heute zum ersten Mal sieht.

Malalai schlägt ihr Schulbuch auf und sagt, hier, guck. Hier steht es geschrieben. Die Geschichte der mutigen Malalai.

Ich kann nicht lesen, sagt Shirin-Gol, schämt sich und sieht wieder auf den Boden.

Das macht nichts, sagt Malalai, du wirst es lernen. Wenn du willst, kann ich dir die Geschichte von Malalai vorlesen.

Shirin-Gol will, und Malalai liest.

Der grausame König fürchtet sich vor seinen Feinden, von denen er sehr viele hat, und will sich vor ihnen schützen. Also hat er alle Männer von Kabul angehalten, zu seinem Schutz diese hohe und dicke Mauer um die Stadt zu bauen. Und seine Soldaten hat er angewiesen, jeden Mann zu töten, der auch nur eine Hand voll Lehm auf den Boden fallen lässt. Malalai, die in der Nacht zuvor geheiratet hatte, zieht am Morgen die Sachen ihres Mannes an und geht an seiner Stelle zur Lehmmauer.

Warum hat sie das getan?, fragt Shirin-Gol.

Weil ihr Mann erschöpft war, antwortet Malalai.

Warum war er erschöpft?, fragt Shirin-Gol.

Das ist doch klar, antwortet Malalai, er war der Bräutigam, und wegen der Hochzeitsnacht war er erschöpft.

Shirin-Gol traut sich nicht zu fragen, warum der Bräutigam erschöpft war, die Braut aber nicht.

Der grausame König, fährt Malalai fort zu lesen, kommt jeden Tag an die Mauer, um zu sehen, wie die Männer arbeiten, ob sie fleißig sind und schnell genug mit dem Bau der Mauer vorankommen. Als der an dem Morgen, an dem Malalai anstelle ihres Mannes die Mauer baut, auf den Hügel kommt und trotz ihrer Männersachen merkt, dass sie eine Frau ist, wundert er sich und schreit herum, was eine schwache Frau mit ihren unreinen Händen an seiner Mauer zu schaffen hat. Malalai, die Mutige, stellt sich vor dem grausamen König und fragt ihn, was haben diese Männer uns Frauen denn schon voraus? Sie sind genauso schwach und feige wie wir auch. Wären sie mutig, würden sie dann deine Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten einfach so hinnehmen, ohne sich gegen dich zur Wehr zu setzen? Die Männer hören, was Malalai sagt, und sind beleidigt. Noch nie hat eine Frau sie so sehr gedemütigt. Das können die Männer von Kabul sich nicht bieten lassen und wollen beweisen, dass sie keinesfalls schwach und feige sind, wie Malalai behauptet. Die Männer reißen ihren ganzen Mut zusammen, stürzen sich auf den König, töten ihn und begraben ihn unter seiner eigenen Lehmmauer. Der Lehmmauer von Kabul.

Ein König ist unter der Mauer begraben? Wo? An welcher Stelle der Mauer? Was ist aus Malalai geworden? Warum haben die Männer die Mauer trotzdem zu Ende gebaut? Shirin-Gol weiß gar nicht, welche ihrer tausendundeine Fragen sie zuerst stellen soll. Shirin-Gol weiß nicht so recht, ob sie ihrer Nachbarin glauben soll. Woher soll sie wissen, ob alles das tatsächlich in dem Buch geschrieben steht? Vielleicht hat Malalai die Geschichte von der mutigen Malalai, die den König getötet hat, einfach nur erfunden, um sich wichtig zu machen. Aber ob nun erfunden oder nicht, Shirin-Gol findet Malalais Geschichte schön, und sie bedauert, dass es in der afghanischen Geschichte keine Heldin mit dem Namen Shirin-Gol gegeben hat.

Bist du auch so mutig wie die Heldin?, fragt Shirin-Gol voller Bewunderung.

Natürlich bin ich das, antwortet Malalai, vielleicht werde ich eines Tages auch eine Heldin und töte einen grausamen König. Wieder streckt sie sich, zeigt ihre Mädchenbrüste und sagt, jede Malalai ist mutig.

Du hast es gut, sagt Shirin-Gol.

Malalai ist schon seit Monaten in der Stadt, sie geht gerne in die Schule, lernt gerne Worte, lernt gerne schreiben, lesen und rechnen.

Morgens klopft sie mit einem fröhlichen Lächeln an Shirin-Gols Tür, holt sie und die Zwillinge ab, nimmt sie an die Hand und geht mit ihnen in die Schule. Das heißt, eigentlich hüpft Malalai mehr, als dass sie geht, vorbei an fremden Menschen, Frauen, Männern, Soldaten, Panzern, Lastwagen. Vorbei am Kanal, der in der Sonne glitzert und glänzt, an rufenden Händlern, an Läden mit bunten Stoffen, an Männern, die aus Metall Kessel klopfen, dass es wie tausend Lieder klingt. Vorbei an Läden mit Säcken, die voll sind mit Reis, Weizen, Linsen, Bohnen. Vorbei an Männern, die Kräuter verkaufen, Pulver und Gewürze in allen Farben und Düften, die Shirin-Gol die Sinne betäuben. Vorbei an Droschken mit klimpernden und klingenden Glocken und Schellen. Vorbei an bunten Kutschen in leuchtenden Farben. Vorbei an Pferden, die stolz die Köpfe heben und wiehern. Vorbei an hupenden Autos. Vorbei an Tauben, die auf dem Boden nach Körnern picken und auffliegen, wenn Shirin-Gol, die Zwillinge und Malalai bei ihnen ankommen. Vorbei an alledem und an noch viel mehr, was bald auch für Shirin-Gol zum gewohnten und geliebten Anblick werden soll.

In ihren Stadtjahren lernt Shirin-Gol zu begreifen, dass sie noch ein Kind ist und dass zum Kinderleben viele Dinge gehören, die sie bislang nicht gekannt hat. Die wichtigsten sind: spielen, nicht nur mit Mädchen, auch mit Jungen, ungefragt sprechen dürfen, rennen, springen, keinen Schleier tragen, nicht immerzu die kleinen Geschwister an der Hand, auf dem Arm, am Rockzipfel haben, singen, albern sein, schreien. Shirin-Gol genießt es, Kind sein zu dürfen, und möchte es am liebsten für immer bleiben.

K-i-n-d, M-ä-d-c-h-e-n, schreibt Malalai.

K-i-n-d, M-ä-d-c-h-e-n, schreibt Shirin-Gol.

F-r-e-i-h-e-i-t, schreibt Malalai.

F-r-e-i-h-e-i-t, schreibt Shirin-Gol, findet, dass das ein besonders hübsches Wort ist, und erklärt es zu ihrem Lieblingswort.

Shirin-Gol lernt, dass eins und eins zwei ist, zwei und zwei vier. Sie lernt, dass Geld wertvoll ist und man damit Dinge kaufen kann. Sie lernt, dass es Länder gibt, die weit, weit weg sind, weiter, als sie sich vorstellen kann.

Shirin-Gol steht vor der Klasse, singt mit schöner, tiefer, voller Stimme ein Lied, die anderen Mädchen und Jungen klatschen. Shirin-Gol malt ein Wort an die Tafel, die Kreide kreischt und quietscht, dass ihre Haut sich zusammenzieht und winzige, lustige Kugeln sich darauf bilden. Shirin-Gol taucht den Lappen in Wasser und wischt die Tafel sauber. Shirin-Gol öffnet ihr Heft, schreibt Worte auf eine leere Seite, die weiß wie die Blüte einer Lilie ist. Shirin-Gol sagt ein Gedicht auf, in dem sie die Heimat preist, die Partei und den Vater des Landes und der Nation, und bekommt eine Medaille an die Brust geheftet, die anderen Kinder klatschen. Shirin-Gol lernt, dass es immer einen Mann gibt, der Chef des Landes ist, der verspricht, allen die Freiheit zu bringen, der früher nur Mohammad Taraki genannt wurde, dann Babrak Karmal, dann Hafizulla Amin – oder hieß er zuerst Karmal und dann Amin? Dann hieß er Haji Mohammad Chamkani, dann Mohammad Najibullah. Jedenfalls gibt es immer irgendeinen Mann, der verspricht, die Freiheit zu bringen.

Komm mit, sagt Malalai und lächelt, wir gehen an den See.

Wir? Wer ist wir?

Die Jungen und ich und du.

Zum ersten Mal in ihrem Leben geht Shirin-Gol ohne die Zwillinge irgendwohin. Zum ersten Mal in ihrem Leben sagt sie ihrer Mutter nicht, wohin sie geht. Zum ersten Mal in ihrem Leben lügt sie ihre Mutter an. Zum ersten Mal in ihrem Leben fährt sie in einem Auto, das Taxi heißt. Zum ersten Mal sitzt sie neben einem Jungen, der weder ihr Bruder ist noch ihr Vater.