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Dr. Laurin ist ein beliebter Allgemeinmediziner und Gynäkologe. Bereits in jungen Jahren besitzt er eine umfassende chirurgische Erfahrung. Darüber hinaus ist er auf ganz natürliche Weise ein Seelenarzt für seine Patienten. Die großartige Schriftstellerin Patricia Vandenberg, die schon den berühmten Dr. Norden verfasste, hat mit den 200 Romanen Dr. Laurin ihr Meisterstück geschaffen. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. E-Book 161: Du bist mir geblieben E-Book 162: Ich will nur vergessen E-Book 163: Die Musik darf uns nicht trennen E-Book 164: Leben im Schatten einer anderen? E-Book 165: Eine Lüge war die Basis E-Book 166: Reiten war ihr Leben E-Book 167: Unsichtbare Tränen E-Book 168: Ich spiele für mein Kind E-Book 169: Die Intrigantin an seiner Seite E-Book 170: Schön – aber gefährlich? E-Book 1: Du bist mir geblieben E-Book 2: Ich will nur vergessen E-Book 3: Die Musik darf uns nicht trennen E-Book 4: Leben im Schatten einer anderen? E-Book 5: Eine Lüge war die Basis E-Book 6: Reiten war ihr Leben E-Book 7: Unsichtbare Tränen E-Book 8: Ich spiele für mein Kind E-Book 9: Die Intrigantin an seiner Seite E-Book 10: Schön – aber gefährlich?
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Seitenzahl: 1337
Veröffentlichungsjahr: 2020
Du bist mir geblieben
Ich will nur vergessen
Die Musik darf uns nicht trennen
Leben im Schatten einer anderen?
Eine Lüge war die Basis
Reiten war ihr Leben
Unsichtbare Tränen
Ich spiele für mein Kind
Die Intrigantin an seiner Seite
Schön – aber gefährlich?
»Was macht Ihnen denn das Herz schwer, Moni?«, fragte Dr. Leon Laurin, da er nicht gewöhnt war, dass seine Sekretärin an einem so strahlenden Morgen eine so ernste, nachdenkliche Miene aufsetzte.
Sie reichte ihm eine Büttenkarte. Eine Geburtsanzeige, die doch eigentlich Freude bereiten müsste. Aber Moni Hillenberg, die hübsche Frau des Assistenzarztes Dr. Michael Hillenberg, wusste, dass diese Karte mit hintergründiger Absicht an Dr. Laurin geschickt worden war.
Wir freuen uns sehr über die glückliche Geburt unserer gesunden Tochter Sandra.
Bettina Hammilton – Constantin Hammilton.
zzt. Privatklinik Dr. Dietsch.
»Interessant«, sagte Dr. Laurin ruhig. »Sie meinen, dass ich mich getäuscht habe, Moni?«
»Nein«, erwiderte sie lakonisch.
»Es würde mich freuen, wenn ich mich getäuscht hätte«, erklärte er ruhig. »Dietsch ist ein guter Arzt. Er hat Frau Hammilton über die Runden gebracht. Hoffen wir also das Beste.«
Er konnte nicht umhin, Monate zurückzudenken, als er eine Viertelstunde Zeit dazu hatte. Der Fall Bettina Hammilton war ihm noch sehr gut in Erinnerung. Er brauchte dazu nicht die Anamnese nachzulesen, denn allzu oft in seiner langen Praxis war es nicht geschehen, dass er zu einem Schwangerschaftsabbruch so eindringlich geraten hatte.
So hatte es begonnen: Vor sieben Monaten war Bettina Hammilton in der Prof.-Kayser-Klinik erschienen, eine aparte junge Frau mit grüngrauen Augen und blauschwarzem Pagenkopf.
Auf der Karteikarte stand vermerkt, dass sie zweiundzwanzig Jahre jung, ein Meter sechzig groß und fünfzig Kilo leicht sei. Seit vier Wochen war sie mit dem Testpiloten Constantin Hammilton verheiratet, schwanger jedoch im zweiten Monat. Doch hatte diese Tatsache Dr. Laurin nicht sehr beeindruckt. Amüsiert hatte es ihn anfangs nur, dass Bettina ihm ausreden wollte, dass sie bereits gut zwei Monate schwanger sei. Äußerlich war sie eine sehr moderne Frau, gab sich sehr selbstbewusst, sogar arrogant, und war ganz auf Wirkung bedacht.
Nach einer gründlichen Untersuchung jedoch war Dr. Laurin nicht mehr amüsiert gewesen, denn er hatte festgestellt, dass Bettina an Störungen des Zentralnervensystems litt. Freilich hatte er ihr dies nicht gleich gesagt.
Er hatte vielmehr ihren Mann um ein Gespräch gebeten. Das war erst eine Woche später zustande gekommen, da Constantin Hammilton beruflich sehr beansprucht war.
Constantin war der Typ eines Sonnyboys, und es passte zu ihm, dass er Conny genannt wurde. Er war groß, sportlich, forsch und von bezwingender Natürlichkeit. Dabei aber so konzentriert, wie es sein Beruf erforderte. Er erklärte Dr. Laurin frank und frei, dass das zu erwartende Kind der eigentliche Grund der etwas überstürzten Heirat gewesen sei, womit er jedoch nicht sagen wollte, dass er nicht die Absicht gehabt hätte, Bettina zu heiraten. Sie hatten sich erst vier Monate gekannt, und ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie mit der Heirat noch gewartet hätten, da er sehr viel unterwegs gewesen sei.
Auch die Rolle des werdenden Vaters schien ihm einiges Unbehagen zu bereiten.
»Ist bei Bettina etwas nicht in Ordnung, weil Sie mit mir sprechen wollten, Dr. Laurin?«, hatte er gefragt. »Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit. Ich bin so ungefähr der einzige Mensch, der Einfluss auf sie hat. Von ihrer Mutter wird sie wie ein rohes Ei behandelt und jede kleine Erkältung wird zu einem Drama gemacht.«
»Ich möchte mir eine ziemlich genaue Kenntnis über Ihre Frau verschaffen«, erklärte Dr. Laurin. »Von ihr selbst konnte ich nicht viel erfahren, und in einem solchen Fall ist die Vorgeschichte wichtig, sehr wichtig sogar. Ich kann noch keine endgültige Diagnose stellen, aber ich wäre Ihnen für einige Auskünfte sehr dankbar.«
»Bitte, fragen Sie nur«, sagte Conny Hammilton unbefangen.
»Am liebsten wäre es mir, Sie würden erzählen, wie Ihre Frau im täglichen Leben ist – alles, was Sie über sie wissen.«
Conny runzelte die Stirn. »Offen gestanden weiß ich reichlich wenig über Bettina. Ich lernte sie in Paris kennen. Ihr Charme hat mich gefangen genommen. Sie ist kein leeres Püppchen. Sie ist sehr intelligent und weit gereist. Ihre Mutter ist in zweiter Ehe mit dem Kunsthändler Bernulf verheiratet. Vielleicht haben Sie den Namen schon gehört.«
Dr. Laurin kannte den Namen durch seine kunstbeflissene Frau. Er nickte.
»Bettina war achtzehn, als ihr Vater starb. Sie behielt seinen Namen, aber sie versteht sich gut mit ihrem Stiefvater, der ihr jeden Wunsch erfüllt. Natürlich stattete er uns auch eine fürstliche Hochzeit aus. Ich habe für diesen Klimbim nicht viel übrig. Meine Schwiegereltern hatten keine Ahnung, dass schon ein Baby unterwegs ist. Sie denken auch jetzt noch, dass Bettina sich damit Zeit bis nach der Hochzeit gelassen hat.« Er seufzte. »Ich habe erst da festgestellt, wie exzentrisch Bettina sein kann. Nun ja, der Zustand wird daran schuld sein.«
»War Ihre Frau früher ausgeglichener?«, fragte Dr. Laurin.
»Ein Temperamentsbündel war und ist sie. Sprunghaft, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, aber niemals langweilig. Sie ist gewöhnt, der Mittelpunkt zu sein. Einen Ehealltag habe ich noch nicht kennengelernt. Launisch sind ja wohl alle Frauen.«
»Nicht alle«, erwiderte Dr. Laurin, und dabei dachte er zuerst an seine Frau Antonia, mit der er eine sehr harmonische Ehe führte.
»Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches an Ihrer Frau aufgefallen?«, fragte er dann weiter.
»Manchmal ist sie nahezu euphorisch und im nächsten Augenblick müde, falls so etwas ungewöhnlich ist bei Frau. Ganz genau habe ich noch keine Frau kennengelernt, wenn ich ehrlich sein soll.«
Seine Aufrichtigkeit machte Dr. Laurin Mut. Er erklärte Conny Hammilton vorsichtig, dass er bei Bettina eine Störung des Zentralnervensystems festgestellt hätte.
»Was bedeutet das in diesem Fall?«, fragte Conny. »Ich weiß nur so viel, dass das Zentralnervensystem im Kopf und Wirbelkanal konzentriert ist. Ich musste mich ja auch einiger Tests unterziehen, bis ich meinen Job bekam. Unser Gedächtnis ist ja davon auch abhängig. Ein gutes Gedächtnis hat Bettina allerdings nicht, und sie legt alles so aus, wie es ihr passt. Hat das damit zu tun?«
»Ja, das somatische und vegetative Nervensystem zeigt keine normalen Reflexe. Aber worauf ich hinaus will, ist die Tatsache, dass eine Schwangerschaft mit der damit verbundenen hormonellen Umstellung einen schwer krankhaften Zustand auslösen könnte.«
Bestürzt, aber auch sehr nachdenklich, sah Conny den Arzt an. »Sie wollen damit sagen, dass es besser wäre, wenn Bettina kein Kind bekommen würde?«
»Ja, es wäre meiner Ansicht nach besser.«
»Sie meinen, die Krankheit könnte sich auf das Kind auswirken? Es könnte vielleicht gesund sein?«
»Ich denke jetzt nicht an das Kind, Herr Hammilton, ich denke an Ihre Frau. Es ist möglich, dass sie ein gesundes Kind zur Welt bringt, aber es ist nicht abzusehen, wie weit ihr Zustand sich während oder nach der Schwangerschaft verschlimmert.«
Conny bewies, wie konzentriert er war und wie sehr ihn sein Beruf schon geformt hatte, der von ihm verlangte, immer den Tatsachen ins Auge zu schauen.
»Wie könnte sich das auswirken?«, fragte er. »Bitte, sagen Sie es mir genau, Herr Doktor.«
»Ich will nicht schwarzmalen, aber es besteht die Möglichkeit einer multiplen Sklerose, und wir wissen, dass Hormonumbildungen einen Körper sehr verändern können.«
»Nicht auch zum Guten?«, fragte Conny.
»Oft auch zum Guten«, erwiderte Dr. Laurin. »Im Fall Ihrer Frau wäre jetzt noch eine Behandlung möglich, die sie selbst vor weiteren Komplikationen bewahren könnte. Möglicherweise, möchte ich hinzufügen. Aber diese Behandlung könnte wiederum dem Embryo schaden. Ich befinde mich in einem schweren Gewissenskonflikt, Herr Hammilton.«
»Das verstehe ich«, sagte Conny ruhig. »Das ist so, wie wenn ich eine Maschine einfliege und etwas stimmt nicht. Ich weiß nicht, ob es an der Maschine liegt oder daran, dass ich noch nicht vertraut mit ihr bin. Ich finde es sehr anständig von Ihnen, dass Sie so offen mit mir sprechen, Herr Doktor. Ich wünschte, ich könnte mich auch so mit den Konstrukteuren unterhalten, die ihre Fehler erst dann zugeben, wenn sie ein Wrack vor sich haben.«
Diesen Vergleich fand Dr. Laurin denkbar gut, und er war erleichtert, dass er mit Conny Hammilton sachlich reden konnte.
»Ich meine, dass man ein Risiko ausschließen sollte, wenn es möglich ist«, sagte Conny. »Ich werde mit meiner Frau sprechen. Ich mag sie sehr. Sie ist manchmal atemberaubend und hinreißend. Ich möchte, dass sie immer so ist.«
Aber er sagte nicht: »Ich liebe meine Frau. Ich will sie behalten.« Er sagte nicht: »Ich möchte das Kind haben.«
Dr. Laurin hatte alle Hoffnung auf ihn gesetzt, aber diese sollte bald zerstört werden. Er bekam sehr viel Ärger.
Bettina ließ sich nicht mehr bei ihm blicken. Dafür erschien ihre Mutter, das ältere Ebenbild der Tochter, aber bedeutend arroganter und aggressiver.
»Ich habe nur das Wohl Ihrer Tochter im Sinn«, erwiderte Dr. Laurin knapp.
Es gäbe auch noch andere Ärzte, sagte sie, und er würde es zu bereuen haben, einen solchen Vorschlag gemacht zu haben.
Dann erschien auch noch Jonas Bernulf, Bettinas Stiefvater. Er war nicht so aggressiv wie seine Frau, doch er wollte, dass Dr. Laurin sich in der Diagnose festlegte. Dr. Laurin sagte ihm das, was er auch schon Conny gesagt hatte. Er schilderte dem Mann dann die Symptome und auch die Untersuchungsergebnisse noch etwas ausführlicher, wenn auch nicht ohne Unbehagen.
Jonas Bernulf sagte darauf, dass er hoffe, seine Argumente widerlegt zu finden.
Dr. Laurin rechnete mit schlimmen Folgen, aber die blieben aus. Er hörte nichts mehr von Bettina Hammilton – bis zu diesem Tag, als die Geburtsanzeige kam.
*
»Du bist in Gedanken, Leon«, sagte Antonia am Abend dieses Tages zu ihrem Mann. »Was hat es gegeben?«
Er nahm die Geburtsanzeige aus seiner Jackentasche. Antonia las und sah ihn dann fragend an. »Hoffen wir das Beste«, sagte sie leise.
»Das habe ich auch gesagt, Antonia. Manchmal geschehen ja Wunder, und ich wäre der Letzte, der dann sein Versagen nicht zugeben würde. Warum soll mir das nicht auch passieren?«
Antonia wusste nur zu gut, wie schwer er daran tragen würde, wenn er sich tatsächlich geirrt hatte.
»Ich möchte zu gern wissen, was Dietsch davon gehalten hat«, sagte Leon, »aber ich kann doch jetzt nicht zu ihm hingehen und ihn fragen.«
»Nein, das tust du nicht«, sagte Antonia.
Aber sie nahm sich vor, ihm diesen Weg abzunehmen. Sie kannte Robert Dietsch von der Studienzeit her. Sie waren ein Jahrgang. Sie hatten zwar nie einen engeren Kontakt gehabt, aber sie schätzte ihn auch als einen guten und sehr seriösen Gynäkologen ein.
Am nächsten Vormittag rief sie Dr. Dietsch an. Seine Sekretärin sagte jedoch, dass der Chef gerade sehr beschäftigt sei.
»Richten Sie ihm bitte aus, dass ich angerufen habe, Dr. Antonia Laurin. Ich würde mich sehr freuen, wenn er zurückrufen würde.«
»Frau Dr. Laurin?«, wiederholte die Sekretärin erstaunt.
»Ja, die Frau von Dr. Leon Laurin«, erwiderte Antonia.
»Ich werde es dem Chef ausrichten. Er wird bestimmt zurückrufen«, tönte die weibliche Stimme schon bedeutend freundlicher durch den Draht.
Und er rief schon nach einer halben Stunde an.
»Das war wirklich eine Überraschung, Antonia«, sagte er. »Was gibt es denn? Habt ihr zu viele Patientinnen? Dann müsste ich allerdings auch gleich passen. Unsere Klinik ist klein. Wir sind voll belegt.«
»Ich möchte Sie sprechen, Robert«, sagte Antonia. »Wann haben Sie Zeit?« Sie redete nicht lange herum.
»Bald?«
»So bald wie möglich.«
»Heute gegen vier Uhr, vor der Visite?«
»Ich komme. Bis dann und vielen Dank«, sagte Antonia.
Sie machte sich pünktlich auf den Weg.
Die Klinik von Dr. Dietsch war ein modernisierter Altbau, aber recht anheimelnd. Seine Sekretärin war eine sympathische Dame schwer schätzbaren Alters. Sie konnte dreißig oder auch vierzig sein, ein zeitloser Typ mit aschblondem kurz geschnittenem Haar, schönen blauen Augen, einem runden, recht reizvollen Gesicht, das makellose Haut aufwies.
Sie begrüßte Antonia mit einem liebenswürdigen Lächeln, das keineswegs gekünstelt wirkte. An der Tür hatte auf einem kleinen Messingschild ihr Name gestanden – Maria Dorn.
»Dr. Dietsch kommt sofort, Frau Dr. Laurin«, sagte sie, Antonia die Tür zu dem Chefzimmer öffnend. Es hatte eine persönliche Note, wie Leons auch. Es standen Blumen auf dem Schreibtisch, der ansonsten auch so eine geniale Unordnung aufwies wie der von Dr. Laurin. Leon konnte es nicht ausstehen, wenn man seine Sachen wegräumte.
Dr. Robert Dietsch kam schon nach ein paar Sekunden. Äußerlich hatte er allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit mit Leon Laurin. Aus dem dürren jungen Burschen, den Antonia in Erinnerung hatte, war ein recht gewichtiger Mann geworden.
»Antonia, ich freue mich, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen«, sagte er und gab ihr die Hand. »Sie sind noch schöner geworden. Sie sind eine glückliche Frau, das sieht man Ihnen an. Nun frage ich mich, aus welchem Grund Sie sich meiner erinnert haben.«
»Ich werde es Ihnen erklären, Robert«, erwiderte Antonia. »Ich danke Ihnen, dass Sie Zeit für mich haben.«
»Das ist doch selbstverständlich. Maria bringt uns einen Kaffee. Ist es Ihnen recht?«
»Ja, sehr«, erwiderte Antonia, und sie dachte dabei, dass er mit seiner netten Sekretärin auf vertrautem Fuß stehen musste, wenn er sie Maria nannte.
Sie erinnerte sich aber auch daran, dass er schon während der Studentenzeit geheiratet hatte.
»Wie geht es?«, fragte sie.
»Beruflich bin ich zufrieden, privat – na ja, es könnte besser sein. Die Ehe ist schiefgegangen. Meine Tochter lebt bei mir. Sie ist achtzehn. Ihrer Mutter hat es nicht behagt, dass ich beruflich so viele Sorgen hatte. Sie hat sich für einen anderen entschieden, der ihr ein leichteres Leben bieten konnte. Aber Katrin ist ein liebes Mädchen, das entschädigt mich für vieles.«
»Was hatten Sie für berufliche Sorgen, Robert?«, fragte Antonia.
»Na ja, die Klinik war ziemlich heruntergewirtschaftet. Es sah nicht so rosig aus, wie mancher meinte. Mein Vater hatte den Überblick verloren. Er war krank, aber er wollte sich das Heft ja nicht aus der Hand nehmen lassen. Reden wir nicht mehr davon. Jetzt habe ich es geschafft, wenn ich auch keine Konkurrenz für die Prof.-Kayser-Klinik bin.«
»Wir hören das Wort Konkurrenz nicht gern«, sagte Antonia mit einem Lächeln.
Maria kam mit dem Kaffee und Gebäck.
»Meine beste Freundin«, sagte Dr. Dietsch.
Maria verschwand schnell wieder.
»Sehr sympathisch«, sagte Antonia. »Nicht mehr als eine Freundin?«
»Gebranntes Kind scheut das Feuer, Antonia. Wir verstehen uns prächtig, aber Maria hat auch eine böse Erfahrung gemacht. Man muss ja nicht unbedingt heiraten, um sich zu verstehen. Wir sind aufeinander eingespielt. Was würde ich ohne Maria anfangen? Katrin versteht sich auch gut mit ihr. Was will ich mehr?« Er sah ganz zufrieden aus. »Die Laurins haben ja reichen Kindersegen«, fügte er dann schmunzelnd hinzu.
»Und wir sind auch zufrieden, Robert«, sagte Antonia. Dann erzählte sie schnell von den Kindern, aber sie war ja nicht gekommen, um sich privat mit ihm zu unterhalten, deshalb kam sie rasch zum Grund ihres Besuches.
»Wir haben gestern eine Geburtsanzeige bekommen – von Bettina Hammilton«, sagte sie nach einer kurzen Gedankenpause.
»Sie kennen Frau Hammilton?«, fragte der Arzt erstaunt.
»Hat sie nichts über Leon gesagt?«, fragte Antonia zurück.
»Wieso das? War sie hinter ihm her?«
Antonia hielt unwillkürlich die Luft an. »O nein, das nicht. Aber sie war mal seine Patientin«, erwiderte sie.
»Das ist interessant«, staunte jetzt Dr. Dietsch. »Ich hatte noch nie eine Patientin, die von Dr. Laurin zu mir übergelaufen wäre. Allerdings hatte ich schon mehrere Patientinnen, die in jedem einigermaßen interessanten Mann ein Objekt sahen. Bettina Hammilton hat meine Klinik nicht meinetwegen aufgesucht, um es gleich zu sagen. Ich habe einen Belegarzt, der schien die treibende Kraft zu sein.«
»Aber sie hat doch einen attraktiven Mann«, wandte Antonia ein.
Dr. Dietsch seufzte. »Manche Frauen brauchen die Bestätigung von mehreren Männern, Antonia. Aber das bleibt unter uns, nicht wahr?«
»Selbstverständlich, Robert. Was ich fragen wollte, muss auch unter uns bleiben. Welchen Eindruck haben Sie von Bettina Hammilton?«
»Ich habe nicht viel mit ihr zu tun. Dr. Bernulf betreut sie. Er ist sozusagen ihr Stiefbruder. Sohn aus der ersten Ehe von Jonas Bernulf. Er heißt übrigens auch Jonas. Ist erst seit drei Monaten hier Belegarzt. Ich konnte die Klinik nicht anders halten, Antonia. Die Modernisierung hat irrsinniges Geld gekostet. Er hat zehn Betten belegt, obwohl er noch jung ist. Gerade zweiunddreißig. Sein Vater finanziert alles.«
»Das ist interessant. Also könnte verwandtschaftliches Interesse vorliegen«, meinte Antonia.
»Meiner Ansicht nach ist sie eine recht labile, manchmal hysterische Frau«, erklärte Dr. Dietsch.
»Leon hatte eine andere Diagnose gestellt«, sagte Antonia nachdenklich. »ZNS, um es gleich zu sagen.«
»Störung des Zentralnervensystems?« Dr. Dietsch war plötzlich hellwach.
»Leon weiß übrigens nicht, dass ich bei Ihnen bin. Er zweifelt jetzt an seiner Diagnose und leidet darunter. Ich möchte ihm irgendwie helfen, deshalb bin ich hergekommen.«
Dr. Dietsch runzelte die Stirn. »Ich habe sie nicht untersucht. Wie schon gesagt, sie ist Patientin von Dr. Bernulf. Das Kind ist jedoch gesund. Sie können es sich anschauen, Antonia. Sie sind ja auch Ärztin. Aber was Sie da gesagt haben, beschäftigt mich. Ein paar Schwestern haben sich bei mir schon über Frau Hammilton beklagt. Sie werden Tag und Nacht in Atem gehalten. Bernulf ist ja nicht immer hier. Er meckert nur herum, dass Frau Hammilton nicht genügend betreut würde. Das Personal steht ja unter meiner Aufsicht.«
»Mich würde es sehr interessieren, welcher Meinung Sie sind, Robert«, sagte Antonia nachdenklich. »Leon hegt nicht den geringsten Zweifel an Ihrer Qualifikation, um das vorauszuschicken. Aber ihn quält der Gedanke, dass er eine Fehldiagnose gestellt haben könnte.«
»Hier war nie die Rede davon, dass sie bei Dr. Laurin gewesen ist. Sie kam drei Tage vor der Geburt hierher. Vorher habe ich sie nie gesehen. Ich mache meine Visiten, wenn Bernulf nicht da ist, weiter nichts. Frau Hammilton ist nicht gerade freundlich zu mir, aber ich kann auch nichts Ungewöhnliches an ihr bemerken. Ich weiß nur von den Schwestern, dass sie manchmal aus der Rolle fällt. Aber da Sie mir jetzt einen Hinweis gegeben haben, werde ich mich intensiver mit ihr befassen, wenn es möglich ist. Sie kann mich natürlich ablehnen. Aber auch für mich wäre der Fall sehr interessant, wenn Sie recht hätten.«
»Wie hat sie entbunden?«
»Durch Kaiserschnitt. Ich war dabei. Es ging recht gut. Ich kann Bernulf nichts nachsagen, er ist ein guter Gynäkologe. Das Kind wog knapp sechs Pfund, war ganz in Ordnung. Herr Hammilton war erst einmal hier. Er ist im Ausland, wie ich hörte. Frau Bernulf jedoch ist jeden Tag hier. Sie macht einen kränklichen Eindruck. Mehr kann ich Ihnen vorerst nicht berichten, Antonia.«
»Wie lange wird Frau Hammilton noch hierbleiben?«
»Wohl noch vierzehn Tage. Ich werde die Zeit nützen, wenn es mir, wie schon gesagt, möglich ist. Ich werde Sie informieren, wenn ich etwas herausbringe. Ich rufe Sie an.«
»Besuchen Sie uns doch, Robert, und bringen Sie Ihre Tochter mit. Es würde uns freuen. Was macht sie denn?«
»Sie bereitet sich aufs Abitur vor und möchte auch Medizin studieren. Und leider scheint sie ziemlich viel für Bernulf übrig zu haben«, fügte er seufzend hinzu.
»Wieso leider?«
»Weil er ganz auf Bettina Hammilton fixiert ist.«
»Manchmal sieht das nur so aus«, meinte Antonia. »Er ist anscheinend finanziell noch ziemlich abhängig von seinem Vater. Und sie ist verheiratet.«
»Aber sie äußert sich nicht sehr nett über ihren Mann. Das weiß ich von den Schwestern. Jetzt betrachte ich das allerdings unter anderen Gesichtspunkten, Antonia. Ja, es scheint ein interessanter Fall zu sein. Ich habe noch nicht gehört, dass Leon Laurin sich je getäuscht hätte.«
»Es kann vorkommen, Robert. Kein Mensch ist unfehlbar, und das kalkuliert auch mein Mann ein. Aber ich bin froh, dass ich so offen mit Ihnen sprechen konnte.«
»Ich wäre froh, wenn ich Ihnen schon mehr hätte helfen können, Antonia. Aber ich werde mich darum bemühen. Möchten Sie jetzt das Kind sehen?«
»Ja, gern. Immerhin ist es beruhigend, dass es gesund ist.«
»Aber was nützt das letztendlich der Mutter?«
»Es könnte ja möglich sein, dass die Schwangerschaft doch eine positive Wirkung gehabt haben könnte«, räumte Antonia ein.
Sie gingen zur Säuglingsstation, die auch vorbildlich eingerichtet war, wie Antonia feststellen konnte. Und die kleine Sandra Hammilton war ein gesundes, hübsches Baby. Die Reaktionen waren ganz natürlich, wie Antonia feststellte. Als sie über den Flur zurückgingen, erklang aus einem Krankenzimmer plötzlich ein furchterregendes Gekreisch, und gleich darauf erschien aufgeregt eine junge Krankenschwester.
Sie stürzte auf Dr. Dietsch zu.
»Ich halte das nicht mehr aus, Herr Doktor. Sie beschimpft mich mit den übelsten Worten. Sie hat Schmerzen, aber …«, die Schwester tippte sich an die Stirn, »mit Verlaub gesagt, stimmt es da nicht.«
»Ich werde mich um sie kümmern«, versprach der Klinikchef.
»Und ich werde gehen«, sagte Antonia.
»Sie hören von mir«, sagte Dr. Dietsch rasch. »Grüßen Sie Leon bitte.«
*
Als er das Krankenzimmer betrat, lag Bettina mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett. Große Schweißtropfen bedeckten ihr Gesicht. Dr. Dietsch tupfte sie ab.
»Wo fehlt es denn, Frau Hammilton?«, fragte er betont höflich.
»Jonas soll kommen«, stammelte sie. »Keiner kümmert sich um mich. Niemand hat Zeit. Mir tut alles weh.«
Ein Zittern durchlief ihren Körper, ihre Augen verdrehten sich. Sie bot einen erschreckenden Anblick. Dann verlor sie plötzlich das Bewusstsein.
Dr. Dietsch läutete und gab seine Anordnungen. Der Medikamentenwagen wurde gebracht. Eine Infusion wurde vorbereitet, und der Tropf wurde angehängt. Als Dr. Dietsch gerade damit fertig war, erschien Dr. Jonas Bernulf, ein mittelgroßer, schlanker Mann, der augenblicklich völlig konsterniert schien.
»Ein Kreislaufzusammenbruch«, erklärte Dr. Dietsch knapp. »Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen, Herr Kollege.«
Dr. Bernulf folgte ihm deprimiert. Als sie das Chefarztzimmer erreicht hatten, sagte er leise: »Ich habe solche Folgen befürchtet.« Dann trat er ans Fenster. »Machen Sie mir Vorwürfe, Herr Kollege?«
»Keineswegs. Ich hätte früher mit Ihnen sprechen sollen. Frau Hammilton neigt zu absonderlichen Reaktionen. Meine Krankenschwestern haben sich verschiedentlich beschwert. Ich möchte das Personal nicht verlieren.«
»Es ist eine Kindbettpsychose, wie ich annehme. Bettina hat das alles nicht verkraftet«, sagte Jonas Bernulf leise. »Aber Professor Gellinger war der Meinung, dass sich ihr Zustand durch die Geburt bedeutend bessern würde. Mein Vater erwartet von mir Wunder, die ich nicht vollbringen kann, Herr Kollege.«
»Sollten wir über diesen Fall nicht einmal sprechen, Herr Bernulf?«, fragte Dr. Dietsch. »Ich bin sehr wenig informiert.«
»Ich sollte eigentlich keine Informationen weitergeben, aber ich kann die Sache nicht mehr allein verantworten«, stöhnte der junge Arzt. »Am Ende bleibt alles an mir hängen. Verstehen Sie mich bitte. Ich fühle mich menschlich verpflichtet, alles, was möglich ist, für Bettina zu tun. Mein Vater hat genug Sorgen mit Charlotte. Das ist Bettinas Mutter, die zweite Frau meines Vaters. Mein Gott, ich kann Sie doch nicht mit meinen familiären Problemen aufhalten …«
»Warum nicht? Es geht um eine Patientin, die in meiner Klinik liegt, und ich musste feststellen, dass sie in einem desolaten Zustand ist.«
»Ja, das ist sie, und das war sie während der gesamten Schwangerschaft. Aber ich habe keine Erfahrung auf diesem Gebiet. Das muss ich wohl zugeben. Mir ist unbegreiflich, was diesen Zustand hervorruft. Professor Gellinger hat mich wohl nicht hinreichend informiert.«
»Was hat er Ihnen gesagt?«, fragte Dr. Dietsch.
»Dass Bettina zu Beginn der Schwangerschaft unter Hormonstörungen gelitten hätte, und dass die Schwangerschaft dadurch auch erst verhältnismäßig spät festgestellt werden konnte. Die Periode hielt über drei Monate, wenn auch abgeschwächt, an. Das hat Bettina ausgesagt. Als die ersten Geburtswehen einsetzten, musste ich mit einer Frühgeburt rechnen. Aber es war ein ausgetragenes Kind. Das alles hat mich durcheinandergebracht, und dafür werde ich von Charlotte heftig angegriffen. Darf ich auf Ihre Diskretion rechnen, wenn ich Ihnen diese Umstände erzähle, Herr Kollege?«
»Selbstverständlich.«
»Ich muss persönliche Dinge erwähnen, wenn ich Ihnen genau erklären will, wie Bettina meine Patientin wurde. Mein Vater hatte mir die Praxis eingerichtet. Ich war offen gestanden, gegen seine Heirat gewesen. Ich habe sehr an meiner Mutter gehangen, und als ich Charlotte kennenlernte, war ich der Überzeugung, dass sie nicht die richtige Partnerin für meinen Vater sein könnte. Es gab da Meinungsverschiedenheiten, über die ich nicht gern sprechen möchte.«
»Das brauchen Sie auch nicht«, sagte Dr. Dietsch. »Als Arzt und Inhaber dieser Klinik ist nur Frau Hammilton als Patientin für mich von Interesse.«
»Ich lernte Bettina erst vor drei Monaten kennen. Sie hatte in der Schweiz gelebt und war von Professor Gellinger betreut worden. Sie war in ausgezeichneter Verfassung, als mein Vater mich ersuchte, die weitere Betreuung zu übernehmen. Er hat es ja auch arrangiert, dass ich als Belegarzt zu Ihnen kam. Es war zur Versöhnung zwischen uns gekommen. Mein Gott, ich wollte keine Feindseligkeit aufkommen lassen, und ich hatte auch keinen Grund, mich über meinen Vater zu beklagen. Bettina war reizend, aber irgendwie auch nicht glücklich, wie es schien. Sie hatte sich von ihrer Ehe wohl mehr versprochen. Conny war selten zu Hause, das machte ihr zu schaffen.«
»Sie hat also nicht darüber gesprochen, welchen Arzt oder welche Ärzte sie konsultierte, bevor sie von Professor Gellinger betreut wurde?«, warf Dr. Dietsch ein.
»Nein. Es gab keinen anderen Arzt, jedenfalls weiß ich davon nichts.« Dr. Bernulf sah Dr. Dietsch offen an. »War sie vorher bei einem anderen Kollegen in Behandlung?«
»Es könnte möglich sein«, erwiderte Dr. Dietsch ausweichend. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir alles sagen würden, was Sie wissen.«
»Das ist schwierig. Ich bin da meinem Vater verpflichtet«, erwiderte der Jüngere. »Es war ja nur eine Vermutung von ihm, dass Bettina nicht ganz gesund gewesen sein könnte, schon bevor sie heiratete. Ich bin da in einen Teufelskreis geraten. Jetzt wird es mir ganz bewusst.«
»Es gibt immer einen Ausweg, Herr Bernulf«, sagte Dr. Dietsch.
»Immer? Ich weiß nicht. Sie haben mehr Erfahrung als ich, aber ich habe in der letzten Zeit manchmal das Gefühl gehabt, dass Professor Gellinger die Verantwortung von sich abwälzen wollte. Ich habe mich auch schon mit ihm in Verbindung gesetzt.«
»Und was hat er gesagt?«
»Dass die Beschwerden wohl aus dem psychischen Bereich kämen, da die Ehe nicht sonderlich harmonisch verlaufe.«
»Stimmt das?«
»Ich kann es nicht beurteilen, da ich Conny kaum kenne. Er ist beruflich sehr engagiert. Männer wie er sollten nicht so früh heiraten, aber das Kind war wohl der Grund. Und Bettina ist diesbezüglich sehr verklemmt. Ihre Mutter sollte es wohl nicht wissen, dass sie schon schwanger war, als sie heiratete. Sie hat sich da in etwas hineingesteigert, was zwangsläufig Konflikte hervorrufen musste.«
Dr. Dietsch überlegte, denn Jonas Bernulf tat ihm jetzt aufrichtig leid. Der junge Kollege saß zwischen zwei Stühlen.
»Setzen wir uns doch«, schlug er vor. »Wir müssen wenigstens versuchen, die Ursache dieser Psychose zu enträtseln.«
»Aber wie?«, fragte Dr. Bernulf.
»Nehmen wir einmal an, es zeigte sich bei Frau Hammilton schon bei Beginn der Schwangerschaft ein Krankheitsbild, vielleicht sogar schon vorher. Es kann – es könnte möglich sein, dass ein Gynäkologe ihr demzufolge zu einem Schwangerschaftsabbruch riet, sie diesen Rat aber nicht befolgen wollte. Sie ging zu einem anderen Arzt, und der sagte das Gegenteil. Das soll es ja geben. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, bitte, verstehen Sie mich richtig.«
»Mein Vater bat mich, Bettina zu betreuen«, sagte Dr. Bernulf nach längeren Schweigeminuten. »Sie lebt jetzt auch bei meinen Eltern. Das heißt, bis sie in die Klinik kam. Conny hat sich damit einverstanden erklärt.«
»Ist ihm seine Frau gleichgültig?«, fragte Dr. Dietsch.
»Er ist der Ehe einfach nicht gewachsen, glaube ich, und Bettina war sehr launisch in letzter Zeit.« Er schwieg sekundenlang, dann meinte er: »Aber ich sollte das wohl nicht alles sagen.«
»Aber wir wollen doch gemeinsam einen Weg finden, um Frau Hammilton zu helfen«, meinte Dr. Dietsch. »Ich hatte den Eindruck, dass sie Ihnen sehr zugetan ist.«
»Mir ist das etwas peinlich. Es könnte falsch gedeutet werden«, sagte er leise. »Ich wollte nur meinem Vater diesen Gefallen erweisen. Wenn ich ehrlich sein darf, muss ich sagen, dass ich Bettina auch nicht lange ertragen könnte. Sie ist zu exzentrisch.«
»Ihnen gegenüber hat Frau Hammilton keine Beschwerden geäußert?«, fragte Dr. Dietsch.
»Nein, auch wenn Sie es mir jetzt nicht glauben. Sie war immer in bester Laune, wenn sie zu mir kam. Wir sind auch manchmal zum Essen gegangen, und da war sie immer in guter Verfassung.« Er senkte den Blick. »Sie beschwerte sich nur über ihren Mann und ließ manchmal durchblicken, dass sie sich mit mir viel besser verstünde. Aber ich kann Ihnen nur sagen, dass ich ihr zu solchen Regungen keinen Anlass gegeben habe. Ich möchte es deshalb betonen, weil ich mich mit Katrin sehr gut verstehe, Herr Kollege. Es würde mir gar nicht behagen, wenn Sie auf abwegige Gedanken kommen würden.«
Er straffte sich und sah Dr. Dietsch wieder offen an. »Ich hege keine Gefühle für Bettina Hammilton. Sie ist mir ein Buch mit sieben Siegeln, wenn ich es so ausdrücken darf, aber ich kann doch nicht sagen, dass sie nicht normal ist. Ich bin kein Psychiater.«
»Vielleicht ist es nicht die Psyche, sondern das Zentralnervensystem«, deutete Dr. Dietsch nun an.
Dr. Bernulf starrte ihn betroffen an. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er heiser.
»Ich möchte mich darüber noch nicht äußern. Gestatten Sie mir bitte, dass ich mich mit Frau Hammilton näher befasse.«
»Von mir aus herzlich gern. Ich wäre Ihnen sogar dankbar dafür. Es bleibt nur die Frage, wie sie reagieren wird.«
»Sie müssen doch Ihre Sprechstunden abhalten. Wie mir Schwester Ilse sagte, hat Frau Hammilton heute auch schon auf sie geschimpft. Sie hatte einen schlimmen Ausbruch. Um es drastisch zu sagen, sie hat gekeift, dass man es auf dem Gang hörte. Ich hatte gerade Besuch von einer Studienfreundin, sie ist mit einem Gynäkologen verheiratet. Sie haben sicher schon von Dr. Laurin gehört?«
»Aber ja. Er ist ein sehr bekannter Kollege«, sagte Dr. Bernulf.
»Antonia Laurin ist Ärztin. Das heißt, sie ist jetzt Ehefrau und Mutter, aber sie hat nicht vergessen, was sie gelernt hat, und ich bat sie, einige Babys zu untersuchen.«
»Auch Bettinas?«, fragte Dr. Bernulf.
»Sie hat es sich angeschaut. Das Baby ist in Ordnung. Daran hegte ich auch keinen Zweifel, Herr Bernulf. Aber Frau Hammilton bereitet auch mir Sorgen.«
»Und mir erst«, seufzte der Jüngere. »Aber ich weiß nicht, wie ich es meinem Vater beibringen soll – und vor allem seiner Frau. Aber ich bin froh und dankbar, dass ich mit Ihnen darüber sprechen kann und dass Sie Verständnis für meine Sorgen haben.«
»Ich werde mich mit Frau Hammilton befassen, wenn sie ansprechbar ist«, erklärte Dr. Dietsch.
»Dann machen Sie ihr Komplimente, um überhaupt etwas zu erreichen.« Er machte eine kleine Pause. »Und noch eine Frage hätte ich, die mich persönlich betrifft.«
»Bitte.«
»Dürfte ich Ihre Tochter zu einem Konzert einladen?«
»Fragen Sie Katrin. Sie geht zwar noch zur Schule, aber mündig ist sie ja nach dem Gesetz«, erwiderte Dr. Dietsch zurückhaltend.
Er hatte nichts gegen Jonas Bernulf. Er wusste, dass Katrin viel für den jungen Arzt übrig hatte. Ihm selbst erschien augenblicklich der Altersunterschied noch etwas zu groß, aber er war ein sehr toleranter Vater und wusste, dass man letztlich doch nichts ändern konnte, wenn es um ernste Gefühle ging.
Katrin war ein vernünftiges Mädchen. Sie hatte schon recht bewusst miterlebt, woran die Ehe ihrer Eltern gescheitert war, und sie hatte ganz die Partei ihres Vaters ergriffen. Sie würde natürlich glücklich sein, wenn Dr. Bernulf sie einlud.
Gegen fünf Uhr rief Dr. Dietsch Antonia Laurin an. Sie war schon eine halbe Stunde daheim und hörte nun voller Spannung, was er ihr zu berichten hatte.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Robert«, sagte sie, und das vernahm die kleine Kyra.
»Wer ist Robert, Mami?«, fragte sie eifersüchtig. »Papi mag bestimmt nicht, dass du mit fremden Herren telefonierst.«
»O doch, in diesem Fall wird er sich nur freuen, mein Schätzchen«, sagte Antonia, und deshalb erfuhr Leon es gleich aus dem Mund seiner Jüngsten, als er heimkam.
»Mami hat mit einem Robert telefoniert, und du wirst dich darüber freuen, hat sie gesagt«, verriet Kyra eifrig.
»Robert?«, wiederholte Leon fragend.
»Robert Dietsch«, sagte Antonia rasch, um ihm jedes Überlegen zu ersparen.
Seine Augen weiteten sich. »Eigentlich hätte ich es mir denken können, dass du da gleich nachhakst, Antonia«, sagte er.
»Und ich habe sehr viel erfahren«, erklärte sie.
*
Viel mehr erfuhr Dr. Dietsch an diesem Tag nicht mehr, aber er konnte sich ein etwas besseres Bild über Bettina Hammilton machen, als sie erwacht war. Sie wurde nicht aggressiv, sondern machte eher einen apathischen Eindruck.
»Warum kommt Jonas nicht?«, fragte sie müde, als sich Dr. Dietsch zu ihr ans Bett setzte.
»Er war hier, als Sie schliefen. Er hat jetzt noch Sprechstunde und ist unabkömmlich.«
Nun wurde sie schon wieder unwillig. »Er soll sich um mich kümmern. Sein Vater hat es ihm befohlen.«
»Er hat noch andere Patientinnen«, erklärte Dr. Dietsch freundlich.
»Ich bin wichtiger.« Sehr deutlich war herauszuhören, wie wichtig sie sich nahm.
»Möchten Sie Ihr Baby sehen, Frau Hammilton?«, fragte Dr. Dietsch ablenkend.
»Nein, mir geht es nicht gut. Ich kann mich kaum bewegen.«
Dr. Bernulf hatte gesagt, dass er ihr Komplimente machen solle, doch das fiel Dr. Dietsch nicht leicht, denn Bettina sah im Moment nicht anziehend aus.
Konnte sie seine Gedanken erraten? »Ich möchte einen Spiegel haben«, sagte sie gereizt. »Diese dumme Person hat ihn weggenommen.«
»Sie sehen ganz reizend aus«, erklärte er nun mit einem erzwungenen Lächeln.
Ihr Blick belebte sich sofort. »Aber meine Frisur ist hin«, murmelte sie. »Ich bin gewöhnt, dass mein Haar jeden zweiten Tag gewaschen wird.«
»Jetzt geht es doch auch mal so«, sagte er.
Wie ein trotziges Kind führte sie sich auf, wie ein gefährlich bockiges Kind. Dr. Dietsch nahm sich vor, mit Constantin Hammilton zu sprechen, vor allem im Interesse der Kranken.
*
Dr. Leon Laurin hegte auch diesen Wunsch, und er sollte ihm erfüllt werden, ohne dass er selbst etwas dazu tat. Constantin Hammilton meldete sich zu einem Besuch bei ihm an, schon drei Tage später.
Dr. Laurin war erschrocken, als er kam, so sehr hatte er sich verändert. Der jungenhafte Sonnyboy war ein reifer Mann geworden, die strahlenden Augen waren düster.
»Dr. Dietsch hat mit mir gesprochen«, erklärte er ohne Umschweife, »aber mit Ihnen kann ich offener sprechen, Herr Dr. Laurin. Sie wissen ja, wie alles anfing.«
»Und wie ging es weiter?«, fragte Dr. Laurin sehr direkt. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie zu mir gekommen sind, das möchte ich vorwegschicken.«
»Ich muss Ihnen dankbar sein, dass Sie mir damals schon diese Andeutungen machten. Leider sind nicht alle Ärzte so verantwortungsbewusst. Ich bin nämlich überzeugt, dass auch Professor Gellinger – der übrigens ein persönlicher Freund von Herrn Bernulf ist – recht genau wusste, wie es um Bettina bestellt ist. Er hat sich nur gescheut, die Wahrheit zu sagen, und er scheute sich auch, die weitere Verantwortung zu übernehmen. Die wurde dann Jonas aufgeladen, der viel zu jung und unerfahren ist, um Bettinas Zustand zu durchschauen. Ich will nichts gegen ihn sagen, er ist sehr nett, aber er wurde von meiner Schwiegermutter überrollt. Sie denkt ja nicht daran zuzugeben, dass Bettina früher auch schon seltsame Anfälle hatte.«
»Vielleicht hatte sie solche auch gar nicht«, wandte Dr. Laurin ein.
»Doch, sie hatte welche«, erwiderte Constantin. »Ich habe mit einer Hausangestellten gesprochen und auch mit einer Freundin von Bettina. Sie hatte öfter unter Schwächeanfällen zu leiden, und wenn sie einmal ihren Kopf nicht durchsetzen konnte, fiel sie in Ohnmacht. Das war nicht gespielt. Sie war manchmal ziemlich lange bewusstlos. Ja, das alles habe ich herausgefunden. Ich habe allerdings mit den Beteiligten nicht über den Grund für mein Interesse gesprochen. Ich will auch nicht schildern, wie Bettina sich aufgeführt hat. Sie kann ja nichts dafür, sie ist krank, und Sie haben dies genau erkannt, Herr Dr. Laurin. Ich habe versucht, mit meiner Schwiegermutter zu sprechen, doch sie hat böse reagiert. Sie hat auch dafür gesorgt, dass Bettina nicht mehr zu Ihnen kam, sie hat sie gleich zu Gellinger in die Schweiz gebracht. Und dort blieb sie auch bis zum sechsten Monat. Dann ging es ihr tatsächlich besser. Ich schöpfte Hoffnung. Sie hielt mir dann vor, dass Jonas sie halt viel besser verstünde als ich und dies zu ihrem seelischen Wohlbefinden beitrüge. Gestern hat sie mir auch klipp und klar erklärt, dass sie sich von mir scheiden lassen und Jonas heiraten würde.«
»Und er ist damit einverstanden?«
»Nein, allerdings forciert meine Schwiegermutter dieses Vorhaben. Ich bin gespannt, was bei der heutigen Unterredung zwischen Jonas, seinem Vater und Charlotte herauskommen wird. Ich bin jetzt jedenfalls so weit, dass ich es nervlich nicht mehr verkrafte, meinem Beruf gerecht zu werden. Ich wurde kaltgestellt.«
»Entlassen?«, fragte Dr. Laurin erschrocken.
»Nein, das nicht, an den Schreibtisch versetzt. Aber ansonsten ist mir alles gleichgültig. So schrecklich es klingen mag, aber ich sehne diese Trennung herbei.«
»Und das Kind?«
»Es tut mir leid, von Herzen leid. Ich begreife nur nicht, dass man nun auch Jonas ins Unglück stürzen will.«
»Er ist ein Mann, und er ist Arzt. Er wird verstehen, sich zu wehren«, sagte Dr. Laurin.
»Ich kann es nur hoffen. Ich mag ihn. Jedenfalls hatten Sie recht, wenn es auch sonst niemand zugeben will – Dr. Dietsch ausgenommen.«
Dr. Laurin überlegte. »Und wenn es nun doch nicht zu einer Scheidung kommt?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, was ich dann tue. Jetzt habe ich nicht mal mehr die Chance, mit einer Maschine abzustürzen.«
»Solchen Gedanken dürfen Sie keinen Raum geben«, erklärte Leon Laurin eindringlich.
»Was würden Sie in meinem Fall tun? Leider, ohne zu klagen? Mein Gott, ich werde nie mehr eine Frau anrühren nach diesen Erfahrungen. Bettina hat mich mit dem Kind geködert. Hätte ich sie nur früher durchschaut. Aber schließlich muss man wohl für jede Dummheit bezahlen«, sagte er bitter. »Verstehen Sie mich bitte, sie tut mir leid, aber es ist schrecklich, dass ich zum Prügelknaben gemacht werde, der an allem schuld sein soll. Durch mich ist sie doch nicht krank geworden. Ich habe auch ganz vorsichtig versucht, meiner Schwiegermutter klarzumachen, warum Bettina das Kind besser nicht bekommen sollte, aber was habe ich zu hören bekommen? Ich wäre ein Schuft, ich hätte Bettina seelisch ruiniert. Ich hätte sie krank gemacht. Man wüsste ja nicht, mit was für Frauen ich mich abgegeben und welche Krankheiten ich aufgefangen hätte, mit denen sie dann angesteckt worden wäre. Deshalb möchte ich, dass ich jetzt nochmals gründlich untersucht werde, Herr Dr. Laurin. Ich lasse den Verdacht nicht auf mir sitzen, dass ich Bettinas Zustand verschuldet habe.«
»Aber Sie standen doch ständig unter ärztlicher Kontrolle«, warf Dr. Laurin ein.
»Natürlich, aber dieses bornierte Weib – damit meine ich meine Schwiegermutter – denkt darüber nicht nach. Ich hege den Verdacht, dass sie auch einen Defekt hat, um es drastisch zu sagen. Ein klar denkender Mensch kann doch Tatsachen nicht einfach wegzaubern wollen. Vielleicht bin ich ungerecht geworden. Aber wenn es so weitergeht, drehe ich durch.«
»Wenn Sie es wollen, spreche ich mit Dr. Sternberg, damit er Sie klinisch untersucht«, bot Dr. Laurin an.
»Ich bin einverstanden. Ich lasse mich nicht als Abfall behandeln. Danke, dass Sie mich angehört haben, Herr Doktor.«
*
Indessen hatte sich Dr. Jonas Bernulf mit Katrin Dietsch getroffen. Sie waren sich am Abend zuvor bei dem gemeinsamen Konzertbesuch schon sehr nahe gekommen, und Jonas war sich gewiss, dass er mit Katrin, so jung sie auch noch war, über seine Probleme sprechen konnte.
Es war Mittwoch. Er hatte nachmittags keine Sprechstunde. Allerdings hatte er Bettina besuch und stand noch unter diesem deprimierenden Eindruck. Und er hatte die Unterredung mit seinem Vater und Bettinas Mutter vor Augen, die am Abend stattfinden sollte.
Er hatte Katrin angerufen und sie um ein Gespräch gebeten. Sie war sofort dazu bereit gewesen.
Katrin war ein Mädchen, so klar wie eine Quelle und auch so springlebendig, so herzerfrischend in ihrer Natürlichkeit, dass ein Vergleich mit Bettina überhaupt nicht möglich war.
Sie war genau vom gleichen Typ wie Maria Dorn, und man hätte sie leicht für deren Tochter halten können, nur war ihr Gesicht nicht rund, sondern herzförmig, aber ihre violetten Augen, das feine Näschen, das aschblonde Haar machten sie Maria ähnlich, und vielleicht war das auch der Grund, warum ihr Vater Maria so sehr mochte.
Dr. Jonas Bernulf kannte Maria nicht, und er hätte Katrin auch mit keinem anderen Menschen vergleichen wollen. Für ihn war sie eine Offenbarung in ihrer unkomplizierten Frische, da er sich selbst in einem Stadium innerer Zerrissenheit befand und mit niemandem sonst offen sprechen konnte. Mit Katrin konnte er das.
Sie kam lächelnd auf ihn zu. Er nahm ihre Hände und presste sie an seine Brust.
»Ich liebe dich, Katrin«, sagte er leise, »das muss ich sagen, bevor ich das andere loswerde.«
»Ich liebe dich auch, Jonas«, erwiderte sie offen und küsste ihn zart. Das war in diesem Augenblick das größte Glück für ihn, und er wollte dieses Glück festhalten.
»Nun sag mir, was dich bedrückt«, flüsterte sie, als er sie so festhielt, als wolle er sie nie mehr loslassen.
»Das ist nicht so einfach.«
»Probleme sind nie einfach, sonst wären es keine Probleme«, erwiderte Katrin. »Sprich nur frei von der Leber weg. Ich höre zu und sage dir, was ich davon halte. So habe ich es mit Vati damals immer gemacht, als Mama alles kaputt machte. Du hast doch mit Vati keinen Ärger?«
»Nein, aber mit ihm kann ich nicht so sprechen wie mit dir«, erwiderte Jonas.
»Darauf bilde ich mir jetzt aber etwas ein«, sagte sie schelmisch.
»Es ist keine hübsche Geschichte, Katrin. Es geht darum, dass Bettina sich scheiden lassen und mich heiraten will. Und ihre Mutter will das auch.«
»Und du?«, fragte Katrin beklommen. »Willst du es auch?«
»Dann würde ich dich doch nicht um Rat fragen.«
»Ich soll dir raten? Aber du bist doch viel klüger als ich.«
»Eben nicht«, erwiderte er. »Ich will dich heiraten.«
»Und das findest du nicht klug?«
»Ich möchte wissen, was du dazu sagst. Davon hängt alles ab. Du bist noch so jung.«
»Ich verstehe das nicht ganz«, sagte Katrin ruhig. »Wenn ich nein sagte – würdest du dann Bettina heiraten?«
»Nein, das würde ich nicht, aber wenn du ja sagen würdest, könnte ich es mir einfacher machen und erklären, dass ich bereits einem Mädchen die Heirat versprochen habe.«
»Was Männer doch so manchmal denken«, lachte Katrin. »Du bist kein Feigling.«
»Vielleicht doch. Ich muss die Wahrheit sagen, und die ist hart, Katrin. Sie ist hart für Bettinas Mutter und auch hart für meinen Vater. Ich werde es dir erklären. Bettina ist krank. Sie leidet an einer Störung des Zentralnervensystems. Weißt du, was das bedeutet?«
Katrin blieb stehen. »Ich bin die Tochter eines Arztes«, sagte sie leise, »und ich will Medizin studieren. Ist es MS?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht die Möglichkeit, sie daraufhin zu untersuchen. Das müsste ein Neurologe tun. Ich dürfte mit dir eigentlich auch gar nicht darüber sprechen, Katrin.«
»Ich rede nicht darüber, Jonas.«
»Charlotte will nicht wahrhaben, dass ihre Tochter krank ist. Sie würde es niemals wahrhaben wollen. Und mein Vater hängt an ihr. Heute Abend haben wir eine Aussprache. Sie wird nicht so verlaufen, wie mein Vater und Charlotte es wohl erwarten. Aber für mich kann es bedeuten, dass man mich fallen lässt, und dann muss ich von vorn anfangen. Es würde auch bedeuten, dass ich noch einige Jahre brauche, um auf eigenen Füßen zu stehen.«
»Na und, was ist daran schlimm?«, fragte Katrin. »Inzwischen studiere ich, und Vati wird dich bestimmt nicht fallen lassen. Du kannst dich auf ihn verlassen.«
»Das will ich aber nicht.«
»Sei doch nicht dumm. Er wirft dir schon nichts nach, im Gegenteil, er wird dafür allerhand verlangen. Du musst dir dein Geld verdienen. In vier bis fünf Jahren bin ich fertig und …«
»Und ich bin dann sechsunddreißig«, warf er ein. »Und du hast wahrscheinlich bis dahin einen jungen Mann kennengelernt, der dir mehr bedeutet.«
»Wenn du so denkst, brauchen wir gar nicht weiterzureden«, sagte sie. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich liebe.«
»Weiß man das, wenn man erst achtzehn ist?«
»Ich weiß es. Ob andere es wissen, interessiert mich nicht. Und mich interessiert auch nicht, was du verdienst. Mich würdest du aber sehr enttäuschen, wenn du um des Geldes willen Zugeständnisse machen würdest, die charakterlos sind.«
»Ich mache keine Zugeständnisse«, sagte Jonas ruhig. »Es wird nur alles leichter für mich, wenn ich weiß, dass du zu mir hältst.«
»Ich bin stur«, meinte Katrin mit einem kleinen Lächeln. »Wenn du mich nicht heiratest, werde ich eine alte Jungfer. Aber eines sage ich dir, Jonas. Ich würde dich niemals heiraten, wenn ich vorher ein Kind bekäme. Das sieht immer nach Erpressung aus.«
»Nicht immer, wenn man sich liebt«, sagte er leise.
»Wenn man sich liebt, kann man auch warten. In dieser Beziehung bin ich altmodisch. Und wenn man sich liebt, braucht man auch nicht gleich alles zu haben – das meine ich jetzt in Bezug auf das Materielle. Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar.«
Sie verstand es, ihn aufzumuntern. Sie war umwerfend in ihrer Frische.
»Und wie stünde ich denn vor deinem Vater da?«, fragte er.
»Ach, Vati ist souverän. Und er weiß auch, was er von mir zu halten hat. Er ist einmal in eine Falle getappt, da war er noch sehr jung. Mama hatte sich alles so schön ausgerechnet. Er würde die Klinik erben und etwas darstellen. Sie hat nicht damit gerechnet, dass Vati sehr würde kämpfen und arbeiten müssen, um die Klinik zu halten. Mama wollte alles auf einmal, und sie hat Vati überhaupt nicht verstanden. Sie war nur attraktiv, wenn du begreifst, was ich damit sagen will. Und Bettina war wohl auch ziemlich attraktiv und hat sich so Conny Hammilton geangelt. Einen Testpiloten würde ich nicht heiraten.«
»Und wenn ich nun einer wäre?«, fragte Jonas.
Sie sah ihn an. »Kluge Frage, Jonas. Ja, vielleicht würde ich in diesem Fall eine Ausnahme machen. Er scheint ja auch ein recht netter Mensch zu sein. Über Bettina kann ich mir kein Urteil erlauben. Ich weiß, dass Vati sich viel mit ihr beschäftigt, mit ihrem Fall, meine ich. Er wälzt dicke Bücher über ZNS und MS, aber viel wird dabei nicht herauskommen. Über diese Krankheiten haben sich schon andere die Köpfe zerbrochen, die sich viele Jahre damit beschäftigt haben. Es ist schrecklich für die Betroffenen, aber da kann man nur den Tatsachen ins Auge blicken und darf nicht erwarten, dass Gesunde sich opfern.«
»Was würdest du sagen, wenn du an meiner Stelle wärest?«
»Ich weiß es nicht, Jonas, aber wenn sie von dir verlangen, dass du dich opferst, müsste ich sie verachten. Es tut mir leid.«
»Es braucht dir nicht leidtun, Katrin. Ich bin sehr froh, dass ich den Mut hatte, mit dir über alles zu sprechen.«
»Wenn man sich liebt, sollte das doch ganz einfach sein«, erklärte das Mädchen. »Aber Liebe ist wohl doch nicht einfach. Man muss sie immer ernst nehmen. es bedeutet ja nicht nur, zusammen zu sein und sich zu küssen. Es bedeutet sehr viel mehr.« Sie legte ihre Hände um sein Gesicht. »Es bedeutet alles«, flüsterte sie.
*
So hatte Bettina nicht gedacht, als sie ihrer Mutter sagte, dass sie Conny heiraten wolle. Sie gönnte ihn keiner anderen. Sie wusste, dass die Frauen hinter ihm her waren.
»Er bindet sich nicht«, hatte einmal ein Kollege von ihm gesagt. »So dumm ist er nicht.« Und Bettina hatte es gehört. Das hatte sie aufgestachelt. Und noch mehr die Worte, die auf diese Bemerkung folgten. »Das muss schon eine ganz besondere Frau sein, die Conny mal zum Standesamt bringt.«
Sie hatte es geschafft, sie konnte diesen Triumph für sich verbuchen.
»Du könntest eine andere Partie machen«, hatte ihre Mutter gesagt. »Warum muss es ein Pilot sein?«
Aber jeder Widerstand hatte Bettina schon immer gereizt. Ihren Willen wollte sie durchsetzen, sonst nichts. Ihren Willen hatte sie auch durchgesetzt, als ihre Mutter zögerte, sich nochmals zu verheiraten. Sie hatte ja immer Rücksicht auf ihre Tochter genommen, wissend, zu welchen Ausbrüchen Bettina neigte.
Charlotte war an dem Abend, an dem die Aussprache mit Jonas Bernulf junior stattfinden sollte, sehr müde und abgespannt. Früher hatte sie solche Schwächen nicht gekannt, erst seit einiger Zeit litt sie unter ständiger Müdigkeit.
»Ich würde mich gern niederlegen, Jonas«, sagte sie zu ihrem Mann. »Du kannst doch allein mit deinem Sohn sprechen.«
»Ich möchte, dass du dabei bist, Charlotte«, sagte er. »Es geht schließlich um deine Tochter.«
»Warum betonst du das immer so?«, fragte sie ungehalten.
»Tue ich das? Du sprichst doch auch nur von ›meinem‹ Sohn.«
»Warum bist du so gereizt?«, fragte sie.
»Weil mir deine Pläne nicht gefallen. Ich finde sie unfair.«
»Inwiefern?«, fragte sie herablassend.
»Gegen Constantin und auch gegen Jonas.«
»Aber Jonas liebt Bettina. Er kümmert sich um sie. Constantin hingegen tut das nicht. Er möchte sich am liebsten davonstehlen. Er hat für das Kind nichts übrig«, sagte Charlotte klagend.
Da läutete es, Jonas kam. Charlotte musste jetzt bleiben. Sie begrüßte ihn dann so überschwänglich freundlich, dass Jonas Bernulf, der Ältere, erstarrte.
Der Jüngere wunderte sich ebenfalls. »Da bin ich also«, sagte er rau.
»Ich bin so froh, dass du kommst, Jonny«, sagte Charlotte, doch diese Verniedlichung ihres Namens mochten weder Vater noch Sohn, und zu dieser Stunde waren beide fast peinlich berührt, denn Conny und Jonny war ihnen zu ähnlich. Aber Charlotte wurde sich dessen nicht bewusst. »Mit dir kann ich reden, du verstehst mich, weil du meine Bettina verstehst«, fuhr sie exaltiert fort.
»Ich verstehe, dass du deine Tochter liebst«, erwiderte Jonas ruhig, und dabei blickte er seinen Vater an, dessen Gesicht sich verdüstert hatte.
»Du liebst sie doch auch«, sagte Charlotte. »Bettina hat es mir vorhin gesagt. Oh, warum musste sie diese Ehe eingehen, die alles so erschwert?«
In Jonas’ Gesicht arbeitete es. Sein Vater hatte sich abgewandt und ging zur Tür. »Was möchtest du trinken, Jon?«, fragte er.
»Einen Whisky, Vater, einen doppelten, wenn ihr nichts dagegen habt.«
Es kam nur selten vor, dass er Whisky trank, aber ihn fror es innerlich, obwohl es im Haus sehr warm war.
»Ich trinke meinen Piccolo«, sagte Charlotte.
»Ja, ich weiß«, sagte der ältere Jonas rau. »Morgens, mittags, abends.«
Mein Gott, dachte Jonas, der Jüngere, wie soll das alles nur enden? Zwischen den beiden stimmt es doch auch nicht mehr.
Sie saßen in den niedrigen Sesseln um den Glastisch, den Charlotte liebte und den beide Männer nicht leiden mochten.
»Ich möchte auch etwas erklären, damit nicht noch mehr Missverständnisse aufkommen«, begann Jonas, nachdem er einen langen Schluck heruntergespült hatte. »Ich hatte nie die Absicht, Bettina zu heiraten. Ich liebe ein anderes Mädchen.«
Charlotte zuckte zusammen und setzte ihr Glas ab. Es klirrte. »Das begreife ich nicht«, stotterte sie.
»Du begreifst manches nicht, Charlotte«, antwortete der junge Mann. »Und einiges willst du nicht begreifen. Dafür habe ich Verständnis.«
»Aber Bettina sagte doch, dass zwischen euch alles klar ist«, begehrte sie auf.
»Hast du dir eigentlich keine Gedanken darüber gemacht, dass es mehr als eigenartig ist, wenn eine Frau sich etwas einredet, obwohl sie gerade das Kind eines anderen zur Welt gebracht hat? Es tut mir sehr leid, wenn du dich dadurch gekränkt fühlst, Charlotte, aber ich habe nur Mitleid mit Bettina.«
»Mitleid? Mitleid mit meiner Tochter? Wie findest du das, Jonas?«, richtete sie das Wort an ihren Mann, und ihre Stimme überschlug sich dabei.
»Du kannst meinen Sohn nicht zwingen, dieses Spiel mitzumachen, Charlotte«, sagte er. »Jon wird sich jetzt auch seine eigene Meinung gebildet haben, und was Dr. Laurin damals gesagt hat, mag nicht so abwegig sein.«
Charlotte sank in sich zusammen. »Ich bin doch bereit, jedes Opfer zu bringen, aber ihr seid nicht bereit«, flüsterte sie. »Ihr tut doch nichts, was ihr helfen könnte.«
»Das hast du auch nicht getan, Charlotte«, meinte Jonas mit fester Stimme. »Bettina wollte das Kind doch nur, um Conny an sich zu binden. Sie war bereits schwanger, als die Hochzeit stattfand.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Charlotte heftig.
»Rechne doch nach. Ich habe mich zunächst auch täuschen lassen. Gellinger vielleicht auch. Vielleicht hat er sich aber auch seine Gedanken gemacht und mehr gewusst, als er zugeben wollte. Herrgott, es ist doch nicht unverzeihlich, wenn man schon vor der Heirat ein Kind erwartet.«
»Conny ist schuld, nur er!«, stieß Charlotte hervor. »Niemals hätte sich Bettina ihm freiwillig hingegeben.«
»Tu nicht päpstlicher als der Papst«, sagte der ältere Bernulf. »So genau hast du es auch nicht genommen, Charlotte. Wir wollen jetzt mal hübsch bei den Tatsachen bleiben. Ich will nicht, dass mein Sohn sein Leben ruiniert, nur weil Bettina ihn jetzt unbedingt haben will.«
»Ich habe nichts mehr zu sagen«, stieß Charlotte hervor. »Ich gehe zu Bett.«
»Du bleibst!«, sagte ihr Mann. »Jetzt werden die Karten auf den Tisch gelegt. Du kannst dich nicht drücken. Setz dich wieder!«
Sie setzte sich, denn so hart hatte er sie noch niemals angesprochen.
Er fuhr fort: »Bettina kam damals zu dir und hat gesagt, dass sie Conny heiraten wolle. Du warst zunächst dagegen, aber sie hat geheult und gejammert, und du hast wie immer nachgegeben, obwohl ich auch gegen diese Heirat war. Du hast mich angefleht, Bettina eine schöne Hochzeit auszustatten. Das habe ich getan. Jedenfalls hast du dann nichts mehr gegen Conny einzuwenden gehabt. Stimmt’s? Natürlich darf ich nicht vergessen, dass Bettina in Ohnmacht fiel, als ich zuerst nein sagte.«
»Willst du jetzt mich anklagen, Jonas?«, jammerte Charlotte.
»Ich klage niemanden an. Ich zähle Tatsachen auf, weil es jetzt nicht nur um Bettina geht, sondern auch um Jon. Ich habe dir bisher jeden Wunsch erfüllt – und Bettina auch. Sie wollte ihren Conny, sie hat ihn bekommen. Und dann kam sie daher und erzählte uns glücklich, dass sie ein Kind erwartet, und ich habe mich gefreut. Doch dann kam Conny und teilte uns sehr dezent und diplomatisch mit, dass Dr. Laurin seine Bedenken hätte wegen Bettinas labilem Zustand. Daraufhin wolltest du ihn gleich anzeigen, aber du hast es nicht getan. Stattdessen haben wir Bettina zu Gellinger gebracht.«
»Und er sagte, dass es gut wäre, wenn sie ein Kind bekommen würde.«
»Ja, das sagte er. Er schloss aber nicht aus, dass Bettinas Zustand diffizil sei. Er wollte von dir wissen, wie ihre Pubertät verlaufen sei. Du sagtest, dass sie niemals Schwierigkeiten gehabt hätte, aber sie hatte Schwierigkeiten. Ich weiß es von eurer Hanna.«
»Hanna ist dumm und ungebildet«, begehrte Charlotte auf.
»Lass jetzt diese Ausreden«, fauchte er sie an.
»Ich habe auch mit Bettinas Freundin Sibylle gesprochen«, warf Jon ein. »Sie hat mir berichtet, dass Bettina manchmal von Sekunde zu Sekunde abschlaffte oder völlig unmotiviert einen hysterischen Ausbruch bekam. Versteh doch, Charlotte, wir können ihr nur helfen, wenn wir die ganze Wahrheit wissen.«
»Ich wusste sie doch auch nicht«, weinte Charlotte auf. »Ich konnte mir das alles nicht erklären. Bettina war immer sensibel. Kein Arzt sagte mir, was der Grund dafür sein könnte. In der Pubertät sind Mädchen oft sehr eigenartig.«
»Beruhige dich, Charlotte«, sagte Jonas Bernulf, »niemand will dir was. Wir alle wollen Bettina helfen, aber es sollen nicht noch mehr Menschen zerbrechen. Jon wird uns erklären, was er herausgefunden hat.«
»Ich habe nichts herausgefunden, aber Dr. Dietsch vertritt die gleiche Meinung wie Dr. Laurin. Bettina leidet an einer Störung des Zentralnervensystems. Durch die Schwangerschaft, die eine Veränderung der Hormonbildung mit sich bringt, hat sich ihr Zustand verschlechtert. Ihre Reaktionen sind jetzt schon anormal.«
»Was soll das bedeuten?«, fragte Charlotte entsetzt.
»Es kann bedeuten, dass sie unter schweren Gleichgewichtsstörungen leiden wird, dass sie sich nicht mehr auf den Füßen halten kann. Ich will nicht zu schwarz malen, vielleicht wird es nicht gar so schlimm werden. Man muss sie physisch und psychisch stabilisieren. Aber dabei müsstest du uns in erster Linie helfen, Charlotte. Und vielleicht hilft ihr auch das Kind, wenn sie es lieben lernt. Bisher gibt es dafür keine Anzeichen. Sie zeigt kein Interesse an dem Baby. Sie will umworben werden, aber dafür bin ich das falsche Objekt. Ich kann nicht heucheln.«
Charlotte starrte ihn aus trüben Augen an.
»Aber was kann ich tun?«, fragte sie leise.
»Vor allem solltest du offen mit ihr reden. Ihr auch sagen, dass sie die Heirat mit Conny erzwungen hat. Nicht so krass, wie ich es jetzt sage, aber du könntest ihr andeuten, dass sie schon schwanger war, als sie vor den Traualtar trat.«
»Das kann ich nicht. Das ist mir unbegreiflich«, schluchzte Charlotte.
»Stell dich nicht so an, Charlotte«, sagte Jonas Bernulf, »du warst auch kein Kind von Traurigkeit. Und das ist doch alles menschlich.«
»Ich verstehe nicht, wie du über die intimsten Dinge so reden kannst«, warf sie ihm vor.
»Warum denn nicht? Was man tut, soll man auch verantworten. Ich fand dich sehr begehrenswert, und wir waren beide in einem Alter, in dem man noch nicht entsagungsvoll auf alles verzichtet, was das Leben lebenswert macht. Jedenfalls glaubte ich, dass es lebenswert ist. Zweifel kommen mir erst jetzt. Ich denke, dass du sehr viel dazu beitragen könntest, dass sich alles wieder normalisiert. Mir hängt das Herumgerede und Getue nachgerade zum Hals heraus, um es ganz deutlich zu sagen. Ich bin kein Tattergreis, und du bist eine Frau von knapp fünfundvierzig Jahren. Bettinas seltsame Krankheit ist nicht einmalig, und mag sie auch schwer ergründlich sein, werden wir damit leben müssen. Es genügt, dass Conny auch damit fertig werden muss, aber Jonas hat ein Recht, sich sein Leben besser einzurichten. Um es ganz deutlich zu sagen, Charlotte, wenn wir morgen einen bildschönen Jüngling zu Bettina schicken, wird sie sich auch einbilden, dass er der einzige Mann ist, der sie glücklich machen kann.«
»So darfst du nicht reden, Jonas.« Sie legte die Hände vors Gesicht und schluchzte.
»Wir können es ja probieren«, sagte er. »Ich will nicht nur Bettina helfen, Charlotte, sondern auch dir und damit uns, denn bald weiß ich auch nicht mehr weiter. Aber vielleicht erklärt sich auch Conny bereit, uns zu helfen – um des Kindes willen. Er ist doch für Bettina viel attraktiver als Jon. Wenn du einverstanden bist, werde ich ihn darum bitten. Er ist auf Sparflamme gesetzt. Er darf nicht mehr fliegen, weil er mit den Nerven fertig ist. Aber Sandra ist sein Kind, genauso wie Bettinas Kind. Und ich glaube, ihn richtig einzuschätzen, wenn ich sage, dass er für sein Kind einiges zu tun bereit ist, wenn er sich von uns nicht angegriffen fühlen muss. Wir sollten gemeinsam alles daran setzen, Bettina zu helfen. Wie sind die Aussichten, Jon?«
»Ich kann es nicht sagen. Es müsste ein Neurologe hinzugezogen werden.«
»Ihr könnt doch nicht sagen, dass Bettina geisteskrank ist«, stöhnte Charlotte.
»Das sagt niemand, es ist das Zentralnervensystem, Charlotte«, erklärte Jon. »Medizinisch könnte ich es dir genauer erklären, aber du würdest es nicht verstehen.«
Charlotte widersprach nicht. Sie weinte haltlos, und ihr Mann tröstete sie. Er brachte sie ins Bett und gab ihr Beruhigungstropfen.
Es ängstigte ihn, als er sah, wie abhängig auch sie von Medikamenten war. Eine Vielzahl von Dosen und Fläschchen standen in der Hausapotheke, verschreibungspflichtige Medikamente, aber nie hatte Charlotte gesagt, dass sie in ärztlicher Behandlung war. Er wollte sie jedoch jetzt nicht fragen. Sie war zu erregt. Er war froh, dass das Beruhigungsmittel rasch wirkte und sie einschlief.
Er ging zu Jon in den Wohnraum zurück. Sein Sohn saß in einem Sessel, den Kopf in die Hände gestützt und starrte vor sich hin.
»Würdest du mir sagen, wie das Mädchen heißt, dass du heiraten willst?«, fragte Jonas Bernulf.
»Katrin Dietsch. Sie ist die Tochter von Dr. Dietsch.«
»Das ist doch noch ein Schulmädchen«, meinte der Ältere bestürzt.
»Sie macht jetzt ihr Abitur und wird Medizin studieren«, erwiderte Jon.
»Du bist vierzehn Jahre älter, hast du das bedacht?«
»Es macht Katrin nichts aus. Wir lieben uns, wie verstehen uns, und wir können auch warten. Wir haben uns ausgesprochen, Vater. Sie weiß alles, auch von Bettinas absurden Ideen. Zwischen uns gibt es keine Unklarheiten. Und sie würde mich nie mit einem Kind erpressen, da bin ich ganz sicher.«
»Das klingt sehr hart, Jon«, sagte sein Vater.
»Es tut mir leid, aber ich glaube, dass diese Ehe nicht zustande gekommen wäre, wenn Bettina nicht nach außen hin den Schein der Jungfräulichkeit hätte wahren wollen. Sie ist total verklemmt erzogen worden. Mir tut Conny leid.«
»Wir werden mit ihm sprechen, Junge. Ich verschließe die Augen und Ohren auch nicht mehr. Man macht auch Fehler, wenn man schon alt genug ist, um die Welt und die Menschen zu kennen. Ich will damit nicht sagen, dass ich es als einen Fehler betrachte, Charlotte geheiratet zu haben. Es war aufrichtige Zuneigung, und ich kann mich nicht beklagen. Sie ist in gewisser Weise immer noch naiv. Sie wäre auch hilflos ohne Mann. Ich hatte nie etwas für emanzipierte Frauen übrig. Es schmerzt mich, wenn sie leidet.«
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