30,99 €
Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. E-Book 171: Die Schuld des Vaters E-Book 172: Was geschah in der Silvesternacht? E-Book 173: Gesucht wird Antonia E-Book 174: Wie damals wird es nie wieder sein E-Book 175: Die Tochter des Rivalen E-Book 176: Ich kann die Sonne wieder sehen E-Book 177: Gemeinsam in ein neues Leben E-Book 178: Sag mir, wer ich bin E-Book 179: Auf der Suche nach der Wahrheit E-Book 180: An einem Sonntag im April E-Book 1: Die Schuld des Vaters E-Book 2: Was geschah in der Silvesternacht? E-Book 3: Gesucht wird Antonia E-Book 4: Wie damals wird es nie wieder sein E-Book 5: Die Tochter des Rivalen E-Book 6: Ich kann die Sonne wieder sehen E-Book 7: Gemeinsam in ein neues Leben E-Book 8: Sag mir, wer ich bin E-Book 9: Auf der Suche nach der Wahrheit E-Book 10: An einem Sonntag im April
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1438
Veröffentlichungsjahr: 2020
Die Schuld des Vaters
Was geschah in der Silvesternacht?
Gesucht wird Antonia
Wie damals wird es nie wieder sein
Die Tochter des Rivalen
Ich kann die Sonne wieder sehen
Gemeinsam in ein neues Leben
Sag mir, wer ich bin
Auf der Suche nach der Wahrheit
An einem Sonntag im April
Simone Röcken war seit vier Monaten Telefonistin in einem Luxushotel, und nicht ein einziger Fehler war ihr bisher unterlaufen. Sie blieb auch in schwierigen Situationen immer höflich und hatte auch ein Gespräch mit der bekannten Schauspielerin Alice Valborg zustande gebracht, obgleich diese fünf Nummern hinterlassen hatte, unter denen sie während dieses Tages möglicherweise in dringenden Fällen zu erreichen war. Der Anrufer war der Fernsehregisseur Hanson gewesen, er hatte es sehr eilig gehabt und alle Höflichkeit vermissen lassen.
Als er sich nun zum zweiten Mal meldete, klang seine Stimme ruhiger, aber Simone war bestürzt, als er nach ihrem Namen fragte.
»Haben Sie etwas zu beanstanden?« fragte sie irritiert.
»Wie lange haben Sie Dienst?« fragte er.
»Bis vier Uhr. Darf ich fragen…« Sie kam nicht weiter.
»Sie werden von mir hören, bis dann!«
Das Gespräch war beendet. Du lieber Himmel, was soll denn das bedeuten, dachte sie, aber sie war sich keiner Schuld bewußt. Freilich hatte er ein paar Minuten warten müssen, bis sie die Valborg wirklich erreicht hatte, aber zaubern konnte sie auch nicht.
Aber auch dadurch ließ sich Simone nicht aus der Ruhe bringen. Sie versah ihren Dienst gewissenhaft wie immer, obgleich sie an diesem Tag Sorgen hatte, denn ihre Mutter war erkrankt. Sie hatte ihrer Kollegin gesagt, daß sie ganz pünktlich abgelöst werden müsse, damit sie ihre S-Bahn erreichen konnte, denn sie hatte eine halbe Stunde Fahrt und mußte dann noch zehn Minuten laufen, um daheim zu sein.
Sie wurde pünktlich abgelöst, aber dann sollte sie eine Riesenüberraschung erleben. Ein großer breitschultriger Mann trat auf sie zu. Er hatte schon stark ergrautes Haar, sah aber sonst recht jugendlich aus.
»Frau Röcken?« fragte er.
»Fräulein«, berichtigte sie ihn. »Ich lege Wert darauf.«
»Also, Fräulein Röcken«, sagte er lächelnd, »mein Name ist Hanson, wir haben vorhin telefoniert.«
»Mein Gott, was habe ich denn nur angerichtet?« entfuhr es ihr. »Bitte, sagen Sie es rasch, ich muß meine S-Bahn erwischen. Meine Mutter ist krank.«
»Mit ein paar Worten ist das nicht zu sagen. Ich bringe Sie nach Hause«, erklärte er, und Simone war fassungslos. Aber schon fuhr er fort: »Sie brauchen nichts Falsches zu denken. Ich bin glücklich verheiratet und habe Kinder, die sicher schon älter sind als Sie.«
»Und das soll ich glauben?« fragte sie spöttisch.
»Ich werde es Ihnen beweisen, und ich nehme es gern als Kompliment, wenn Sie es mir nicht zutrauen.« Es war ein sehr sympathischer Charme, mit dem er das sagte, aber Simone wußte noch immer nicht, was er nun eigentlich von ihr wollte.
»Es geht um Ihre Stimme«, sagte er, griff nach ihrem Arm und schob sie vor sich her, und sie war so verblüfft, daß sie sich schieben ließ, bis sie in einem tollen Wagen saß.
»Meine Stimme ist doch in Ordnung, ober haben Sie Anstoß genommen?« frragte sie dann atemlos.
»Fasziniert hat mich diese Stimme«, erklärte er. »Und das Übrige ist nicht weniger erfreulich. Ich brauche Ihre Stimme unbedingt, vorerst diese und dann vielleicht auch das ganze Fräulein Röcken!«
Er war umwerfend. »Du liebe Güte!« staunte Simone.
»Jetzt sagen Sie mir erst Ihre Adresse. Eine kranke Mutter soll man nicht warten lassen.«
Sie sagte es, und dann steuerte er seinen Wagen durch die Straßen, ohne noch einmal zu fragen. Sie brauchte ihm den Weg nicht zu erklären.
»Ich kenne die Gegend«, sagte er. »Ich wohne auch in der Drehe. Komisch, daß wir uns nie begegnet sind. Aber wahrscheinlich wäre ich dann gar nicht auf Sie aufmerksam geworden, da ich Ihre Stimme nicht gehört hätte.«
»Was wollen Sie eigentlich damit?« fragte Simone nun drängend.
»Ich brauche solche Synchronisationsstimme. Sprechen Sie Englisch, oder verstehen Sie es wenigstens?«
»Ich bin Telefonistin in einem Luxushotel, und da braucht man mehrere Sprachen«, erwiderte sie.
»Und wie werden Sie bezahlt?«
»Ich bin zufrieden.«
»Keine Zahlen?«
»Das ist nicht gestattet.«
»Nun, ich biete Ihnen mindestens das Doppelte oder noch mehr, und nicht nur vorübergehend. Wir müssen uns darüber genau unterhalten.«
»Wir allerdings«, sagte Simone atemlos. »Ich lasse mich nicht so schnell einfangen.«
»Das habe ich mir gedacht. Ein Blick genügt. Ich sage lhnen kurz, wofür ich Sie benötige. Die Valborg muß synchronisiert werden. Sie hat eine Kehlkopfentzündung, und der Film muß raus. Die Aufnahmen sind bestens, aber die Stimme ist unmöglich. Sie ist verzweifelt und Sie würden auch ihr einen Gefallen tun, der Ihnen etwas einbringt. Wie jung sind Sie?«
»Einundzwanzig.«
»Und solch eine Stimme!« seufzte er
Fast andächtig. »Das ist einer jener Zufälle, die man göttlich nennt. Ich hoffe, Sie werden mich nicht im Stich lassen. Da wären wir also schon. Sie können mir doch keine unlauteren Absichten unterschieben, Simone Rökken.«
»Das tue ich nicht«, erwiderte sie spontan.
»Hier ist meine Karte und dazu tausend Euro Anzahlung, damit Sie sehen, daß es mir ernst ist.«
»Ich nehme kein Geld geschenkt«, erklärte sie.
»Ich habe gewußt, daß Sie was Besonderes sind«, sagte er »Ich darf Sie bitten, mich anzurufen, damit wir alles besprechen konnen?«
»Ich kann meine Stellung nicht einfach aufgeben.«
»Wir könnten die Termine absprechen. Aber es ist sehr dringend. Mir bleibt nur noch diese Woche, und es wären täglich höchstens drei bis vier Stunden. Eine Woche Einsatz und dafür fünftausend Euro, ist das nicht ein Angebot?«
»Doch«, erwiderte sie errötend, »und ich kann es brauchen, damit meine Mutter eine Kur machen kann. Ich will jetzt hören, was der Arzt sagt. Wenn ich abends weg kann, bin ich zu einem Gespräch bereit.«
»Ich kann Ihnen einen sehr guten Arzt empfehlen. Dr. Norden«, sagte er, »Daniel Norden.«
Jetzt lächelte Simone. »Danke, den haben wir«, sagte sie. Das war nach sorgenvollem Anfang der zweite göttliche Zufall an diesem Tag, für den Rolf Hanson dankbar war. Das Mädchen gefiel ihm. Er hatte schon große Pläne im Kopf, aber es war immer gut, wenn man sich ein wenig informierte, mit wem man es eigentlich zu tun hatte.
Aber Simone gingen ähnliche Gedanken durch den Sinn. Sie war ein attraktives Mädchen und hatte schon manches Mal Angebote bekommen, die recht zwielichtig waren. Sie verließ sich nicht nur auf ihr Gefühl, das nichts gegen Hanson zu haben schien. Sie wollte festen Boden unter den Füßen spüren und nicht einen Höhenflug antreten, weil ein bekannter Produzent Interesse an ihr zeigte. Und sie wußte auch, daß ihre Mutter sehr viel dagegen einwenden wurde.
Simone liebte ihre Mutter. Sie war ohne Vater aufgewachsen, aber sie hatte nicht darunter gelitten. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, daß der Mann, mit dem sie verlobt gewesen war, nicht zur Ehe getaugt hatte und kein Kind wollte. Das hatte ihr genügt. So einen Vater wollte sie gar nicht haben.
Hedi Röcken hatte sich als Graphikerin einen guten Namen gemacht. Üppig hatte sie mit ihrem Kind nicht leben können, aber Simone hatte auch nichts entbehren müssen. Sie hatte eine gute Schulbildung genossen und war nach der Mittleren Reife auf eigenen Wunsch auf eine Handelsschule gegangen. Sprachen lernte sie in Abendkursen. Ihr geheimer Wunsch war es schon gewesen, Schauspielerin zu werden, aber damit hatte sie ihrer Mutter gar nicht kommen dürfen, und sie wollte keine Differenzen heraufbeschwören. Zuerst hatte sie in einem Büro gearbeitet, aber die männlichen Angestellten waren ihr zu aufdringlich gewesen, und als sich dann die Stellung als Telefonistin anbot und sie dort auch gleich mehr verdiente, hatte sie nicht lange gezögert. Ihr war es nur recht, wenn sie keinen direkten Belästigungen ausgesetzt war.
Als sie jetzt die Haustür aufschloß, fuhr gerade Dr. Nordens Wagen vor. Das kam ihr wie gerufen, sie war ohnehin früher zu Hause, als wenn sie mit der S-Bahn gefahren wäre.
»Sie sind ja schon da, Simone«, sagte Dr. Norden erfreut. »Das ist fein. Ich bin mal wieder in Zeitnot.«
»Schade, ich hätte Sie sehr gern etwas gefragt«, erwiderte Simone.
»Nun, so viel Zeit wird schon sein.«
»Ist Ihnen ein Herr Hanson bekannt?« Sie blickte auf seine Karte, die sie noch in der Hand hielt. »Rolf Hanson?«
»Der Produzent? Aber ja. Ich bin dort Hausarzt.«
»Er hat mir ein Angebot gemacht, aber ich wollte mich vergewissern, ob er tatsachlich seriös ist.«
»Nun, das kann ich guten Gewissens bestätigen. Eine nette Familie. Eine reizende Frau, der Sohn ist dreiundzwanzig, die Tochter zwanzig. Da brauchen Sie sich wirklich nichts zu denken, Simone. Worum geht es denn?«
»Er ist auf meine Stimme aufmerksam geworden. Ich könnte synchronisieren und würde sehr gut verdienen. Dann konnte ich Mutsch zur Kur schicken.«
»Das konnten Sie auch so. Ich wollte ihr schon den Vorschlag machen, daß sie mal richtig ausspannt. Es ist keine Grippe, Simone, es ist einfach ein Erschöpfungszustand.«
»Sie mutet sich zuviel zu, ich habe es immer gesagt, aber sie wollte ja nie hören. Aber ich möchte gern, daß sie auf die Insel der Hoffnung geht, da würde es ihr doch bestimmt gefallen.«
»Dann werden wir sie mal überreden«, meinte er lächelnd.
»Und sie bräuchte nicht zu erfahren, daß ich Herrn Hansons Angebot annehme. Sie wird fuchsig, wenn nur etwas entfernt mit Schauspielerei zu tun hat. Dabei ist sie doch sonst wirklich nicht altmodisch.«
»Es wird halt auch viel Negatives berichtet, und sie sorgt sich um ihre reizende Tochter«, meinte Dr. Norden nachsichtig.
»Heute werde ich ja mit Komplimenten förmlich überschüttet«, sagte Simone lächelnd.
»Aber ich bin froh, daß Sie Hanson als seriös bezeichnen. Man wird vorsichtig.«
»Was nicht schlecht ist, aber man darf auch nicht zu mißtrauisch werden.«
»Das hab’ ich wohl von Mama gelernt«, meinte sie schelmisch. »Dennoch muß ich gestehen, daß mich Herrn Hansons Angebot sehr reizt.«
»Er ist jedenfalls kein Schaumschläger«, sagte Dr. Norden.
*
Sicher war Hedi Röcken einmal genauso hübsch gewesen wie ihre Tochter, aber augenblicklich war sie nur ein Schatten ihrer selbst, von Migräne und Nervenschmerzen geplagt, die zu Fieberanfällen geführt hatten. Daß sie sehr an Gewicht verloren hatte, hatte Dr. Norden große Sorgen bereitet, aber seine Befürchtungen hatten sich glücklicherweise nicht bestätigt. Hedi Röcken brauchte einfach mal Ruhe, Tapetenwechsel, den sie sich viele Jahre nicht gegönnt hatte.
Gemeinsam mit Simone gelang es ihm an diesem Tag tatsächlich, sie zu überreden.
»Ich weiß ja, daß ich aufgemöbelt werden muß«, sagte sie, »es gefällt
mir nur nicht, daß Simone dann allein ist.«
»Mutsch, ich hitte dich. Ich bin erwachsen«, sagte Simone. »Ich werde mich doch selbst versorgen können. Schau, ich kann dich doch jeden Tag anrufen, damit du dir keine Gedanken zu machen brauchst. Und es tut mir mal ganz gut, alles selbst machen zu müssen. Und Herr Goetz kann auch mal ohne dich auskommen.«
Hedi senkte ihren Blick. »Er hat schon Ersatz für mich«, sagte sie leise. »Die Jüngeren kommen nach.«
Da liegt also der Hase im Pfeffer, dachte Dr. Norden. Sie fühlt sich zurückgesetzt.
»Das wird er bereuen«, sagte Simone heftig. »Aber du hast doch noch ganz andere Möglichkeiten, Mutsch. Bei Goetz ist es doch auch immer dasselbe.«
»Man ist eben ein Gewohnheitsmensch«, sagte Hedi.
»Und versauert dabei«, sagte Simone. »Finden Sie das nicht auch, Herr Dr. Norden?«
»Ich denke, daß Sie eine ganz andere Einstellung zum Leben bekommen, wenn Sie neue Eindrücke gewonnen haben, Frau Röcken. Was heute so wichtig erscheint, ist dann vergessen. Raffen Sie sich auf. Die Frau von Dr. Schoeller kommt morgen nach München und könnte Sie übermorgen gleich mitnehmen. Da kamen Sie schnell und sicher zur Insel.«
»Das wäre doch fein, Mutsch«, sagte Simone erfreut.
»Es geht ein bißchen zu schnell.«
»Ach was, sag Dr. Norden lieber ein Dankeschön, daß er so lieb um dich besorgt ist.«
Hedi ließ ihren Blick zwischen den beiden hin und her wandern. »Das war wohl schon vorher abgesprochen«, meinte sie.
»Gedanken hahe ich mir ebenso gemacht wie Simone auch, Frau Röcken«, erwiderte Dr. Norden rasch, »aber jetzt bietet sich eben diese günstige Gelegenheit.«
»Dann danke ich Ihnen. Es ist wirklich lieb von Ihnen, Herr Doktor. Ich freue mich, Ihre Insel kennenzulernen. Das ist ja nicht so ein Sanatorium, wo man noch mehr Komplexe bekommt.«
»Man ist darauf bedacht, den Patienten etwaige Komplexe zu nehmen, Frau Röcken. Ich rufe noch mal an und sage Bescheid, wann Frau Schoeller Sie abholt.«
»Und wir werden gleich packen. Morgen habe ich doch den ganzen Tag Dienst«, sagte Simone.
Sie errötete, als Dr. Norden ihr einen schrägen Blick zuwarf, aber das merkte ihre Mutter nicht. Erst später fragte sie, wieso sie schon wieder den ganzen Tag Dienst hätte.
»Es ist eine neue Einteilung, Mutsch«, erwiderte Simone rasch. »Ich kann mich nicht dagegen sträuben.«
»Ich bin ja froh, daß du eine so gute Stellung hast, Kind. Es ist viel wert, wenn man sich wohl fühlt und gern arbeitet.«
»Du hast dich bei Goetz anscheinend nicht mehr wohl gefühlt«, tastete sich Simone vor. »Warum hast du nicht darüber gesprochen?«
»Ich wollte es nicht wahrhaben, Simone. Er hat sich von so einem jungen Ding becircen lassen. Wenn die Männer erst mal über fünfzig sind, kommt der zweite Frühling, und dann merken sie nicht, wenn sie nur ausgenutzt werden.«
»Du hattest doch nicht etwa etwas für ihn übrig, Mutsch!« entfuhr es Simone.
»Gott bewahre, aber so viele Jahre ist man doch gut ausgekommen und dann wird man zum alten Eisen geworfen.«
»Jetzt mach es aber halblang. Du bist zweiundvierzig und könntest viel cleverer sein. Er wird zu Kreuze kriechen, paß mal auf.«
»Nein, das ist vorbei, aber Dr. Norden mag schon recht haben. Was heute wichtig ist morgen nichtig. Ich ärgere mich nur, daß ich andere Angebote abgelehnt habe.«
»Du wirst wieder welche bekommen, aber du erholst dich erst mal gründlich«, sagte Simone. »Ich war viel zu egoistisch.«
»Jetzt fang nicht damit an, mein Liebes. Jetzt machen wir uns einen Kaffee, und dann muß ich überlegen, was ich mitnehme.«
»Zuerst das, was noch unbedingt besorgt werden muß. Das mache ich dann gleich nachher«, sagte Simone.
Einen Hintergedanken hatte sie freilich dabei auch. Von zu Hause aus mochte sie nicht telefonieren. Frei von Gewissensbissen war sie auch nicht, denn noch nie hatte sie Heimlichkeiten vor ihrer Mutter gehabt, aber nun schien ihr Hansons Angebot doch sehr verlockend, und sie brauchte sich nicht jeden Tag eine neue Ausrede auszudenken, warum sie so oft und so lange fern war, denn das hätte ihre Mutter doch stutzig gemacht, da sie sehr selten allein ausging. Einmal im Monat traf sie sich mit ein paar Schulfreundinnen zum Bowling, im Winter zum Schlittschuhlaufen, oder sie ging auch mal schwimmen.
Hedi Röcken war keine egoistische Mutter, die ihr einziges Kind nur für sich haben wollte und da sie selbst beruflich sehr angespannt gewesen war, hatte sie Simone sogar zugeredet, doch allein etwas zu untemehmen, um unter Gleichaltrige zu kommen. Angst hatte sie stets nur gehabt, daß Simone einmal an den falschen Mann geraten könnte, so wie sie selbst. Das wäre schlimm für sie gewesen.
Diesen Teil ihrer Vergangenheit hatte Hedi noch immer nicht bewältigt. Zu tief war sie in ihrem Stolz getroffen worden, als daß sie diese Zeit ganz aus ihrem Gedächtnis verbannen konnte. Sie hatte diesen Mann geliebt und alle Konsequenzen daraus gezogen, bis er dann von ihr verlangt hatte, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Da hatte sie kurzerhand den Schlußpunkt gesetzt, jedoch auch wissend, daß er seine eigenen Wege gehen würde, und wenn sie ihre Simone jetzt betrachtete, dieses liebenswerte, bezaubernde Mädchen, dann wurde es Hedi immer wieder bewußt, um was sie sich gebracht hätte, wenn sie auf das Kind verzichtet hätte, denn sie war auch zu der Überzeugung gelangt, daß jener Mann niemals ein Leben lang bei ihr geblieben wäre.
Aber darüber sprach sie mit Simone nie. Damit sollte ihre Tochter nicht belastet werden.
Simone hatte eine Liste aufgestellt, was alles noch besorgt werden wurde, und sie duldete keinen Widerspruch von ihrer Mutter, daß manches wirklich nicht nötig sei.
»Du wirst es dir gutgehen lassen, Mutschi«, sagte sie weich. »Ich kann doch auch mal was für dich tun, da du solange für mich gesorgt hast.«
»Ich habe mich nie für etwas so überstürzt entschieden, Simone«, sagte Hedi nachdenklich.
»Jetzt fang nicht wieder damit an. Es ist gut so. Ruh dich jetzt aus. Die Koffer packen wir nachher zusammen.«
Und dann ging sie schnell. Ihr er-
ster Weg führte zu einer Telefonzelle. Sie wählte die Nummer von Rolf Hanson.
Es meldete sich eine Männerstimme.
Sie nannte ihren Namen. »Ja, worum handelt es sich?« wurde sie gefragt.
»Über Ihr Angebot. Haben Sie es schon vergessen?« fragte sie bestürzt.
»Ach, Sie wollten wohl meinen Vater sprechen. Ich bin André Hanson. Entschuldigen Sie…«, und dann nahm ihm wohl jemand den Hörer aus der Hand. Eine weiche, warme Frauenstimme tönte nun an Simones Ohr. »Fräulein Röcken? Mein Sohn wußte nicht Bescheid. Mein Mann ist leider noch nicht wieder zurück, aber ich bin informiert. Sind Sie zu einem Gespräch bereit?«
»Ja, ich könnte morgen vormittag früher in die Stadt kommen«, erwiderte Simone zögernd.
»Kommen Sie zu uns«, sagte Irene Hanson. »Wann ist es Ihnen recht?«
»Ich dachte so gegen elf Uhr?«
»Fein, das wird meinem Mann sehr recht sein. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Simone war verwirrt über so viel Entgegenkommen, aber es bewies ihr, daß Rolf Hanson keine Unklarheiten aufkommen lassen wollte.
Der Gedanke war beruhigend, und sie meinte für sich, daß in diesem Fall eigentlich auch ihre Mutter keine Einwendungen machen könnte.
Sie machte die Besorgungen, strich gewissenhaft alles von der Liste, was sie gekauft hatte, und nun brauchte sie nur noch die Drogerie aufzusuchen. Und da traf sie Roland Goetz. Er kam gleich auf sie zu, und sie wappnete sich mit Abwehr. Er hatte ihre Mutter gekränkt, und das machte sie zornig.
»Freut mich, Sie zu treffen, Fräulein Röcken«, sagte er. »Wie geht es denn der Mama?«
»Wieder besser. Sie wird jetzt eine längere Kur machen«, erwiderte Simone kühl.
»Oh, ich hätte sie dringend gebraucht«, sagte er.
»Ich denke, Sie haben Ersatz?« fragte Simone anzüglich.
»Nun ja, von Ersatz kann man nicht reden. Ich dachte doch nur, Ihre Mutter entlasten zu können. Hat sie das etwa falsch verstanden?«
»Ich denke, daß sie es richtig verstanden hat, Herr Goetz. Nein, mit meiner Mutter können Sie nicht mehr rechnen. Sie kann sich vor Aufträgen nicht retten, aber ich bestehe darauf, daß sie sich erst mal Ruhe gönnt und nur an sich denkt. Und jetzt habe ich es eilig, weil ich noch einiges besorgen muß. Guten Abend.«
Er stand wie ein begossener Pudel da, aber das konnte Simone nur freuen. Und sie dachte gar nicht daran, ihrer Mutter etwas von dieser Begegnung zu erzählen.
Als sie aber heimkam, läutete gerade das Telefon. Und Simone hörte, wie ihre Mutter »Herr Goetz« sagte. Schnell trat sie neben sie und legte die Hand auf die Muschel. »Du wirst eiskalt und ablehnend sein, Mutsch!« zischte sie.
Hedi war sowieso nicht bereit gewesen, ihrem früheren Auftraggeber Gehör zu schenken. Sie machte es kurz. »Ich fahre übermorgen weg, Herr Goetz, und ich habe auch keine Zeit mehr zu einem persönlichen Gespräch. Nein, ich werde es mir nicht anders überlegen.«
Das Gespräch war beendet. Hedi warf Simone einen schrägen Blick zu, aber in ihren Augen blitzte es beinahe übermütig. »Er hat gesagt, daß er dich getroffen hat. Was hast du ihm denn alles untergejubelt?«
»Daß du mit Aufträgen eingedeckt bist. Es hat ihn geschlaucht Mutsch. Du hast deinen Triumph, aber du hast es wirklich nicht nötig, jetzt wieder umzuschwenken.«
»Du scheinst mich doch nicht richtig zu kennen, mein Herzblatt. Wenn ich einmal nein sage, ist es auch nein.«
Simone sah ihre Mutter nachdenklich an. »Einem solchen Nein habe ich wohl meine Existenz zu verdanken?« fragte sie gedankenvoll.
Hedi griff nach ihrer Hand. »Da muß ich wohl mit einem schlichten Ja antworten.«
Simone fiel ihr um den Hals und küßte sie. »Ich danke dir, liebste, allerliebste Mutsch. Ich danke dir, daß du mir das Leben geschenkt hast und immer eine so wundervolle Mutter warst und bist.«
Hedis Augen wurden feucht. »Ich liebe dich doch so sehr, mein Kleines. Ich wünsche, daß du glücklich wirst. Du sollst nicht immer Rücksicht auf mich nehmen, du sollst nur kritisch sein in der Wahl deines Partners. Und mich sollst du nicht als Anhängsel betrachten, das zu allem Ja und Amen sagen will. Ich weiß, daß du viel realistischer denkst als ich. Aber das Gefühl sollte auch nicht zu kurz kommen.«
Hedi streichelte ihr Haar, und Simone lehnte ihren Kopf an ihrer Mutter Wange. »Wenn ich mal einen Mann kennenlerne, der mir wirklich gefällt, werde ich ihn angeschleppt bringen«, sagte sie mit einem leisen Lachen, »und dann werden wir beide ihn auf Herz und Nieren prüfen. Ohne dich geht es nicht.«
Und als sie dann in ihrem Bett lag, dachte sie: Die fünftausend Euro werde ich mir verdienen, und davon werden wir einen schönen Urlaub machen, aber wenn es dann durch Hanson weitergehen konnte, soll Mutti einverstanden sein. Ich will sie doch nicht belügen, und ich will auch nichts tun, was ihr nicht gefällt.
*
Kurz vor sechs Uhr war Rolf Hanson in Dr. Nordens Sprechzimmer erschienen.
»Wo fehlt es denn?« wurde er von Dr. Norden begrüßt. »Krank sehen Sie nicht aus.«
»Ich wollte mich nach einer anderen Patientin von Ihnen erkundigen«, erklärte Rolf Hanson, und er war dabei sichtlich verlegen.
Bei Dr. Norden schlug ein Glöckchen an, aber er verriet sich nicht.
»Um wen handelt es sich?« fragte er.
»Um Frau Röcken. Es geht nämlich darum, daß ich Fräulein Röcken kennenlernte. Sie hat eine phantastische Mikrophonstimme, sehr für Synchronisation geeignet.«
»Sie ist ja geschult«, sagte Dr. Norden.
»Sie haben schon mit ihr gesprochen?«
»Ja, aber sie scheint große Rücksicht auf ihre kranke Mutter zu nehmen. Mir brennt es unter den Nägeln, Dr. Norden. Die Valborg hat eine Kehlkopfentzündung, aber der Film muß fertiggestellt werden.«
»Es ist kein Geheimnis, wenn ich Ihnen verrate, daß Frau Röcken übermorgen eine Kur antritt, aber wenn Simone verschaukelt wird, kündige ich Ihnen die Freundschaft.«
»Ich bin bereit, ihr viel zu bieten, mehr als einer anderen, und ich könnte diesem Mädchen eine große Karriere nicht nur prophezeien, ich würde diese sogar garantieren, Dr. Norden«, sagte Rolf Hanson.
»Das steht auf einem anderen Papier. Ich weiß, daß Simone mal den Wunschtraum hegte, Schauspielerin zu werden. Aber ihre Mutter ist strikt dagegen, obgleich sie sonst eine sehr liebevolle und vorbildliche Mutter ist. Und was Simones Stimme betrifft, kann ich Ihnen nur recht geben.«
»Sie würden mich aber wohl nicht ein bißchen unterstützen?« fragte Rolf Hanson.
»Nein, das würde ich nicht. Frau Röcken hat Vertrauen zu mir, das ich niemals enttäuschen möchte. Sie hat ihre Tochter allein aufgezogen. Das möchte ich Ihnen sagen. Sie hat geschuftet, damit das Mädchen wirklich nichts zu entbehren brauchte. Ich sage Ihnen das, weil ich weiß, daß Sie keinen Gebrauch davon machen werden.«
»Ich werde Sie auch nicht enttäuschen«, erwiderte Rolf Hanson. »Es ist gut, daß Sie mir das gesagt haben, denn manchmal ist man ja egoistisch, wenn einem solch Naturtalent über den Weg läuft. Es ist ja nicht nur die Stimme, sie sieht auch bestens aus. Ein ganz besonders aparter Typ.«
Dr. Norden lächelte.
»Ich bin froh, daß Sie glücklich verheiratet sind und der zweite Frühling bei Ihnen nicht zu befürchten ist«, sagte er.
»Der erste herrscht in meiner Ehe noch immer«, erwiderte Hanson lachend. »An meine Irene kommt keine Frau heran. Gelegenheit hat sich oft genug geboten. Jetzt kann ich nur hoffen, daß Fräulein Röcken Frau Valborg ihre Stimme leiht. Dann brauche ich um den Erfolg des Filmes nicht mehr zu fürchten.«
»So sicher sind Sie?«
»Ja, so sicher. Das Mädchen ist nicht nur bildhübsch, es ist auch intelli-
gent.«
»Dann möchte ich aber zur Premiere eingeladen werden, natürlich mit meiner Frau.«
Rolf Hanson sah ihn erstaunt an. »Das würde mir die größte Freude sein«, sagte er herzlich.
*
André Hanson hatte gerade das Haus verlassen wollen, als sein Vater kam. Nun blieb er und musterte den Älteren forschend.
»Was ist mit dem Mädchen, Paps?« fragte André.
»Die Stimme!«
»André meint Fräulein Röcken«, warf Irene Hanson ein, die ganz rasch die Diele betreten hatte. »Er scheint zu denken, daß du fremd gehst, Rolf.«
»Na und, diese karrieresüchtigen Mädchen versuchen doch alle Maschen«, sagte André.
»Werde bloß nicht albern«, sagte Rolf. »Mit solcher Stimme braucht man das nicht.«
»Und vergiß deine Verabredung mit Gabi nicht«, warf Irene ein. »Du kannst ruhig gehen.«
»Und mal nachforschen, ob nicht deine Gabi karrieresüchtig ist«, sagte Rolf bissig. »Oder hast du ihr etwa eingeredet, daß sie Alice Valborg ihre Stimme leihen könnte? Da bist du schief gewickelt, Junior. Flötentöne kann ich da nicht brauchen.«
»Und Ma wird tolerant sein« sagte André bissig. »Viel Vergnügen!«
»Gleichfalls«, sagte Irene.
»Spinnt er?« fragte Rolf, als André die Tür zugeschlagen hatte.
»Gabi hat ihn unter der Fuchtel. Er wird noch viel Lehrgeld bezahen müssen, Rolf, wie sein Vater«, fügte sie dann lachend hinzu.
»Aber ich bin bei dir hängengeblieben und habe es nie bereut.«
»Hoffen wir, daß er auch so schnell schlau wird. Ein Jahr hat er noch Zeit. Hast du eigentlich schon mal daran gedacht, daß wir nächstes Jahr Silberhochzeit haben, Rolf?«
»Mein Schatz, habe ich jemals diesen Tag vergessen? Mir vergeht nur die Zeit viel zu schnell, und für mich bist du jung und schön wie damals.«
Er hielt sie in den Armen, und sie sah ihn nachdenklich an. »Und warum sollte sich nicht ein junges Mädchen in dich verlieben, Rolf? Vielleicht eins, das so eine Vaterfigur sucht?«
»Wenn du Simone Röcken meinst, lerne Sie erst mal kennen, Reni«, sagte er. »Ich wäre glücklich, wenn unser Sohn mal so eine Schwiegertochter daherbrächte. Aber er läßt sich von einer Gabi Nichts an die Angel legen.«
»Gabi Nickmann«, sagte Irene sanft.
»Ich kann nur hoffen, daß er selbst noch dahinterkommt, daß sie ein Nichts mit viel Ambitionen ist. Solange sie nicht den Mund auftut, mag es ja noch gehen, aber…«
»Jetzt hör auf, Rolf. Vicky kommt, und sie ist Gabis Freundin.«
Victoria Hanson trat ein, ein zierliches blondes Mädchen. Elflein, wurde sie von ihrem Vater oft genannt, und so sah sie auch aus.
»Störe ich?« fragte sie leise.
»Aber nein, Kleines, du störst nie«, erwiderte Rolf.
»Hattet ihr Krach mit André? Ich habe ihn draußen getroffen. Er hat sich nicht geäußert.«
»Er hat nur Anstoß genommen, daß ich eine junge Dame mit einer ungewöhnlich schönen Stimme engagieren will«, sagte Rolf Hanson.
»Für Alice?« fragte Victoria leise. »Ich war eben bei ihr. Sie ist sehr verzweifelt. Warum kann man ihr nicht helfen? Begreifst du eigentlich nicht, daß sie wahnsinnig deprimiert ist, Paps? Wer kann denn ihre Stimme ersetzen?«
Rolf Hanson sah seine Frau an. »Unsere Kinder sind gegen mich, Reni, aber ich kann doch nicht zaubern. Ich kann doch den Film nicht wegschmeißen, weil Alice die Kehlkopfentzündung hat. Ich kann Konkurs anmelden, wenn der Film kein Erfolg wird. Begreifst du das wenigstens, Vicky?«
Das Mädchen sah ihn erschrocken an. »Daran habe ich nicht gedacht, Paps«, sagte sie leise.
»Dann denk endlich mal darüber nach, wovon wir leben. Für Simone Röcken bedeuten fünftausend Euro, daß ihre Mutter mal eine Kur machen kann. Dieses Mädchen mit einer phantastischen Stimme verdient sich ihr Geld als Telefonistin. Sie hat keinen Starfimmel wie deine Freundin Gabi, mein liebes Kind. Sie ist äußerst mißtrauisch, und wenn sie nein sagt, dann gute Nacht, meine Lieben. Ich kann nichts dafür, daß Alice ihre Stimme verloren hat, sie kann auch nichts dafür, aber sie denkt an ihren Profit genauso wie ich an meinen. Aber wir können es gern mal andersrum versuchen. Mal sehen, was ihr macht, wenn ihr plötzlich vor dem Nichts steht.«
»Paps, so habe ich das doch nicht gemeint«, schluchzte Vicky auf.
»Aber vielleicht bringst du es fertig, das deinem Bruder klar zu machen.«
»Wozu die Aufregung« sagte Irene einlenkend. »Fräulein Röcken kommt morgen um elf Uhr, Rolf. Und ich bin von ihrer Stimme sehr angetan.«
»Wenn ich dich nicht hätte«, sagte er, und da verließ Victoria das Zimmer.
»Wieso war sie bei Alice?« fragte er.
»Sie rief an. Schließlich ist sie Vickys Patin«, sagte Irene ruhig.
»Und dann macht sie dem Mädchen den Kopf ganz heiß, nachdem sie mir versichert hat, wie glücklich sie doch wäre, wenn ich eine Synchronstimme finden würde.«
»Sie ist down, Rolf. Sie müßte völlig abschalten. Ich habe schon überlegt, ob sie nicht mal ein paar Wochen auf die Insel der Hoffnung gehen sollte.«
»Wenn du sie dazu überreden kannst? Aber frag erst Dr. Norden. Und bei dieser Gelegenheit könntest du dich dann zu deiner Beruhigung auch über Simone Röcken erkundigen. Er kennt sie nämlich auch.«
»Ich brauche keine Beruhigung, Rolf«, erwiderte sie lächelnd. »Ich kenne meinen Mann, und morgen werde ich Simone Röcken kennenlernen.«
»Und ich bin überzeugt, daß du das gleiche sagen wirst wie ich. Ich wünschte, Vicky hätte so viel Rückgrat wie dieses Mädchen.«
»Vicky wurde von ihrem Vater sehr verhätschelt«, sagte Irene nachsichtig.
»Würdest du mir ehrlich sagen, was ich für Fehler gemacht habe, Irene?« fragte er nachdenklich.
»Seit wir verheiratet sind, könnte ich dir keine nachweisen, Rolf«, erwiderte sie lächelnd. »Vielleicht nehmen die Kinder deswegen alles tragisch, was ihnen nicht in den Kram paßt.«
Und da platzte Vicky wieder herein. Sie hatte geweint, man sah es noch.
»Damit ihr es nur wißt«, platzte sie heraus, »so eine gute Freundin ist Gabi nun auch wieder nicht, aber bei Alice ist es was anderes. Sie hat einfach Angst vor dem Alter und daß alles für sie vorbei ist. Und so einem Menschen muß man doch helfen.«
»Ich will ihr doch helfen, Kleines. Aber ich kann ihr am besten helfen, wenn jemand ganz anonym ist, ihr die Stimme zu geben, die sie jetzt nicht mehr hat. Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich froh bin, diese Stimme gefunden zu haben, Vicky? Als dieses Mädchen sich am Telefon meldete, meinte ich zuerst, es wäre Alice, und als ich sie dann kennenlernte, stellte ich sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Alice fest.«
»Und jetzt willst du eine zweite Alice aus ihr machen, Paps?«
»Mein liebes Kind, jetzt möchte ich dir ganz emsthaft mal etwas sagen: Eine Simone Röcken läßt sich nicht zu Alice Valborg machen oder zu jemand anderem. Sie ist einundzwanzig Jahre, aber sie weiß genau, was sie will und was sie tut. Lerne sie mal kennen, und vergleiche sie mit Gabi.«
»Das werde ich auch tun«, erwiderte Vicky trotzig.
»Morgen, elf Uhr, erscheint sie hier«, sagte Irene ruhig. »Du kannst ihr ja die Tür öffnen, wenn du ausgeschlafen hast.«
»Ich gehe heute abend nicht aus«, sagte Vicky darauf kleinlaut.
»War nicht die Rede davon, daß Gabi eine Party gibt?« fragte Irene erstaunt.
»Ich gehe nicht hin«, erwiderte Vicky. »Mich braucht sie bloß zum Aufräumen.«
Und dann verschwand sie wieder. Rolf lächelte breit. »Mit der Zeit wird sie auch schlauer«, sagte er.
»Mir wäre es noch lieber, wir könnten das von André auch sagen«, meinte Irene leise.
»Für mich zählt vor allem, daß zwischen uns kein Keil getrieben wird, Reni« sagte er. »Jeder muß seine Erfahrungen machen.«
*
Gabi Nickmanns Vater war Bauunternehmer und hatte seiner Tochter eine komfortable Dachterrassenwohnung eingerichtet. Seine Frau hatte sich scheiden lassen, als Gabi fünfzehn war, und er war stolz gewesen, als ihm das Sorgerecht zugesprochen wurde. Das hob sein Image, und er zeigte sich Gabi dafür erkenntlich. Außerdem hatte er sich seine persönliche Freiheit damit erkauft, daß er seiner Tochter alle Freiheiten ließ, als sie mündig war.
Gabi bekam monatlich ihre Überweisung auf die Bank und konnte damit tun und lassen, was sie wollte. Sie hatte sich einen anhänglichen Freundeskreis gewonnen, denn sie geizte nicht. Aber sie konnte auch sehr ungehalten sein, wenn man sich ihr nicht entsprechend erkenntlich zeigte.
Das bekam André zu spüren, als er zu ihr kam. »Ich finde es gemein von Vicky, daß sie mich im Stich läßt«, beschwerte sich Gabi sogleich ungehalten.
»Wieso?« fragte er verblüfft? »Sie war bei Alice und ist nicht in Laune, um die Party mitzumachen.«
»Und der Dreck bleibt mir allein«, murrte Gabi. »Ich sehe auch nicht ein, daß alle immer bei mir herumhocken. Ich werde nie eingeladen.«
»Du brauchst ja auch niemanden einzuladen, wenn du nicht willst«, sagte André gleichmütig.
»Es hat sich eben so eingebürgert, daß wir mittwochs bei mir zusammenkommen.«
»Dann hängen wir eben ein Schild an die Tür: Wegen dringender Familienangelegenheiten leider abwesend«, schlug er vor.
»Was du immer für Ideen hast«, sagte sie mürrisch. »Aber eigentlich nicht schlecht. Und was machen wir?«
»Wir fahren irgendwohin und reden mal vernünftig miteinander, Gabi«, erwiderte er.
»Worüber?«
»Über uns.«
In ihren Augen blitzte es auf. »Willst du mir etwa einen Heiratsantrag machen?« fragte sie erregt.
»Das nicht gerade. An Heirat ist bei mir noch nicht zu denken, aber wir müssen doch mal eine gemeinsame Linie finden.«
»Was für eine?«
»Ich meine, daß du dich nicht darauf versteifen solltest, über meinen Vater eine Filmkarriere zu machen, er hat da nämlich Prinzipien.«
»Kannst du dich nicht ein bißchen deutlicher ausdrücken?«
»Du bist fotogen, aber zur Schauspielerin langt es nicht, um es ganz deutlich zu sagen.«
»Das sagt dein lieber Vater.«
»Wenn ich ehrlich sein soll, Gabi, ich sage es auch. Es hat doch keinen Sinn.«
»Halt deinen Mund!« schrie sie ihn an. »Du willst es nur nicht mit ihm verderben, weil du abhängig von ihm bist. Aber ich bin unabhängig. Mein Vater ist nicht so borniert wie deiner. Ich werde einen anderen Produzenten finden, auch ohne deine Hilfe.«
Er starrte sie an. »Darauf geht es hinaus. Du wolltest mich auch nur für deine Zwecke einspannen?« sagte er tonlos.
»Dreh mir nicht das Wort im Mund um. Ich habe von dir erwartet, daß du meine Interessen vertrittst«, sagte sie. »Zumindest hätte ich auch etwas mehr Entgegenkommen von deinem Vater erwartet.«
»Er hat seine eigenen Ansichten.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Dann werde ich mich eben anderweitig engagieren«, sagte sie spitz.
»Tu, was du nicht lassen kannst«, erwiderte André erbost. »Ich weiß jetzt jedenfalls Bescheid. Dann viel Vergnügen heute abend.«
Sie wurde noch wütender. »Nun spielst du auch noch den Beleidigten.«
»lch habe nicht gedacht, daß ich für dich nur ein Mittel zum Zweck bin«, erklärte er aggressiv. »Ich ziehe daraus meine Konsequenzen.«
Dann ging er, und sie lachte schrill hinter ihm her. Es gefiel ihm nicht. War er blind und taub gewesen? Oder so verliebt, daß er ihre Fehler einfach nicht sehen wollte?
Er fuhr nicht nach Hause. Er ging in eine Disco. Es war noch kein Betrieb, aber ein paar junge Leute saßen an der Bar, die er kannte und die Gabi auch für diesen Abend eingeladen hatte.
»Willst du uns abschleppen, André?« fragte einer. »Keine Chance. Tendenz lustlos. Ist doch immer derselbe Quatsch bei Gabi. Langweilt es dich auch?«
»Hattet ihr etwa Krach?« fragte ein anderer, als André düster vor sich hin starrte. »Warum hast du Vicky nicht mitgebracht?«
»Sie ist zu Hause«, knurrte André. »Ein Bier, bitte.«
Aber auch hier blieb er nicht lange. Er bummelte dann noch durch die Straßen und versuchte, mit sich ins reine zu kommen.
*
Bei den Nordens herrschte vergnügte Stimmung. Isabel Schoeller war schon eingetroffen, und da gab es viel zu erzählen. Zuerst hatte sie sich natürlich mit den Kindern beschäftigen müssen.
Sie kannten sich schon lange. Vor ihrer Ehe mit dem Arzt Dr. Jürgen Schoeller war Isabel eine bekannte Journalistin gewesen, und niemand hatte es für möglich gehalten, daß ihr das Leben auf der Insel der Hoffnung auf die Dauer behagen würde. Aber Isabel trennte sich von Mann und ihren Kindern und der Insel tatsächlich nur, wenn sie in München einkaufen mußte. Freilich freute sie sich dann auch, mit den Nordens beisammen zu sein, mit denen sie eine herzliche Freundschaft verband.
Selbstverständlich hatte sie sich auch sofort bereit erklärt, Hedi Röcken mitzunehmen.
»Ist überhaupt noch Platz?« fragte sie.
»Ich habe mit Paps schon telefoniert«, erwiderte Fee. »Du weißt ja, daß er uns nie einen Korb gibt. Ich kann manchmal nur staunen, daß es überhaupt keinen Leerlauf gibt.«
»Wir sind auch schon für’s nächste Jahr ausgebucht«, erklärte Isabel. »Ist doch fein, endlich wirft die Insel Gewinn ab. Die Belastungen sind getilgt. Das zehnjährige Bestehen der Insel der Hoffnung kann groß gefeiert werden.«
»Wenn dazu Zeit ist«, meinte Daniel schmunzelnd.
»Die wird sich genommen, das schwöre ich euch«, sagte Isabel.
»Ich habe nicht gedacht, daß wir so rasch Gewinn erzielen würden«, sagte Daniel.
»Hannes hat halt die richtige Frau gefunden«, meinte Isabel verschmitzt. »Ich kann Anne immer nur bewundern.«
»Und wir hätten nie gedacht, daß dir dieses Leben gefallen würde, Isabel«, sagte Fee.
»Gefallen ist gar kein Ausdruck. Ich weiß doch erst jetzt, was tiefinnerliches Glück ist. Ich habe es euch zu verdanken. Auf daß wir es noch lange genießen können«, sagte sie, ihr Glas hebend. »Was sonst so alles in der Welt passiert, kann einem doch nur Angst einjagen.«
Sie richtete ihren Blick auf Daniel. »Hast du nicht mal gesagt, daß du deine Praxis aufgibst, wenn Hannes ins Rentenalter kommt?«
»Er denkt doch gar nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen«, sagte Daniel.
»Und wir werden ihm nicht das Gefühl geben, daß er eigentlich ins Rentenalter kommt«, warf Fee ein. »Ein paar Allgemeinmediziner werden hier auch noch gebraucht.«
»Die großen Idealisten«, sagte Isabel gedankenvoll. »Die anderen spezialisieren sich und haben geregelte Sprechzeiten, und dann ist Feierabend.«
»Beschrei es bitte nicht«, seufzte Fee. Und es dauerte nicht lange, da läutete schon das Telefon.
Es war Rolf Hanson. Er entschuldigte sich wegen der späten Störung. Alice Valborg sei zu ihm gekommen, einem Nervenzusammenbruch nahe. Ob es wohl möglich sei, daß Dr. Norden kommen könne.
»Da kann ich schlecht nein sagen« erklarte Daniel. »Es handelt sich um die Valborg.«
»Was fehlt ihr denn?« fragte Isabel aufhorchend.
»Fee kann es dir erklären. Ich werde hoffentlich bald zurück sein«, erwiderte Daniel.
*
»Sie hat eine Kehlkopfentzündung«, erklärte Fee.
»Das ist schlimm in diesem Beruf«, meinte Isabel, »und langwierig. Und sie muß doch jetzt schon über vierzig sein. Da kommt die Existenzangst dazu.«
»Doch nicht, wenn man so viel verdient hat«, sagte Fee.
»Sie hat auch viel einstecken müssen«, sagte Isabel. »Ich kann mich noch gut erinnern. Ich hatte mal ein Gespräch mit ihr, als ich noch die rasende Reporterin war. Da hatte sie gewaltige Scherereien mit ihrem Bruder. Der Name Rex Borg sagt dir wohl nichts?«
»Nein«, erwiderte Fee.
»War ein ganz bekannter Schauspieler. Kometenhafter Aufstieg und ebenso schneller Sturz. Nur wenige Eingeweihte wußten, daß er der Bruder von der Valborg war. Borg ist ihr richtiger Name. Sie hat sich aber nie mit ihrem Bruder verstanden, und dann hat er auf ihren Namen gepumpt, soviel ich mich erinnere. Die Aufregung schlug ihr schon damals aut die Stimmbänder, daran erinnere ich mich genau. Sie ist übersensibel.«
»Und eine großartige Schauspielerin«, sagte Fee.
»Aber nie ihrer selbst sicher, ob sie wirklich so spielt, wie andere es sehen wollen. Ich bin sehr gespannt, was Daniel erzählt.«
Dr. Norden fand eine verzweifelte Frau vor, die kein Wort über die Lippen brachte, so sehr sie sich auch quälte.
Rolf Hanson erklärte dem Arzt, daß sie eine schreckliche zusätzliche Aufregung gehabt hätte und voller Angst sei.
»Es könnte ihr sicher helfen wenn sie bald zur Insel der Hoffnung fahren könnte, Herr Doktor«, sagte Irene. »Wäre es wohl möglich?«
»Es wird einzurichten sein, wenn sie einverstanden ist«, sagte Dr. Norden. »Wir haben gerade Besuch von Frau Schoeller. Sie nimmt übermorgen noch eine andere Patientin mit zur Insel, Frau Röcken.« Er sah Rolf Hanson an, und dessen Augen wurden ganz weit. Aber auch Alice Valborg tat durch Handbewegungen kund, daß etwas sie sehr bewegte und zugleich ihre Zustimmung fand. Sie schrieb etwas auf einen Block, da sie wieder nur ein Krächzen hervorbrachte.
Isabel Schoeller, geborene Guntram? las Dr. Norden.
»Ja, um sie handelt es sich«, erwiderte er.
Alices Gesicht entspannte sich. Tränen rollten plötzlich über ihre Wan-gen, und sie nickte immer wieder.
Das konnte man als Zustimmung auffassen, und sie schrieb es dann auch auf.
»Gut, dann halten Sie sich bereit, gnädige Frau«, sagte Dr. Norden. »Übermorgen vormittag geht die Reise los. Wo kann Frau Schoeller Sie abholen?«
»Bei uns«, sagte Irene rasch. »Sie kam schon mit Sack und Pack«, raunte sie dann Dr. Norden zu, als sie ihn zur Tür begleitete. Rolf Hanson hatte sich Alices angenommen. »Sie hat Angst«, fuhr Irene fort. »Da steckt wohl mal wieder ihr Bruder dahinter, aber sie schämt sich seiner so, daß sie nicht darüber redet.«
»Was wissen Sie über ihn?« fragte Dr. Norden.
»Nichts, seit er als Schauspieler vergessen ist. Daran ist er aber selbst schuld. Durch seinen Lebenswandel ist er total heruntergekommen. Er hat dann das Glück gehabt, eine recht vermögende Frau zu heiraten, aber das wissen wir auch nur von Alice. Er war völlig von der Bildfläche verschwunden. Alice ist sehr introvertiert. Sie teilt sich niemandem mit. Glauben Sie, daß ihr geholfen werden kann?«
»Es ist wie ein Krampf, der sich lösen muß«, erwiderte er. »Mein Schwiegervater ist ein guter Psychologe. Nur eine darauf ausgerichtete
Therapie kann da wohl helfen, aber natürlich wird sie auch gründlich untersucht werden. Jetzt ist sie völlig verkrampft. Geben Sie ihr einen Schlummertrunk. Ich lasse Ihnen diese Tropfen hier, oder nimmt sie starke Medikamente?«
»Das glaube ich nicht. Sie hat eine panische Angst vor Betäubungsmitteln, seit ihr Bruder sich durch Drogen ruinierte. Seinerzeit wurde das Mode. Man kann wirklich froh sein, wenn die Familie mit so was nicht konfrontiert wird. Was meinen Sie, welche Angst ich manchmal um unsere Kinder ausgestanden habe. Man kann sie ja nicht an die Kette legen.«
»Sie haben liebevolle, vernünftige Eltern«, sagte Dr. Norden beruhigend, »aber ich verstehe solche Ängste. Oft genug habe ich damit zu tun.«
»Und leider ist es ja so, daß man immer Entschuldigungen findet. Wenn es sich um Leute handelt, die bekannt sind. Ein armer Schlucker wird gleich verdammt, wenn er zur Spritze oder Flasche greift, aber die Prominenz wird verteidigt.«
»Bewahren Sie sich Ihren gesunden Menschenverstand, Frau Hanson«, sagte er »Sie gehören doch auch zur Prominenz.«
Sie lächelte ganz flüchtig. »Der Name Hanson bürgt wirklich für Qualität«, erwiderte sie »Sie werden Dr. Cornelius informieren, daß er behutsam mit Alice umgeht?«
»Das wird er von selbst tun. Er ist nach meinem Vater der beste Arzt, den ich kenne.«
»Sie brauchen Ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen«, sagte Irene. »Danke, daß Sie gleich gekommen sind, und sagen Sie Ihrer Frau liebe Grüße, und sie möge die Störung verzeihen.«
Als er heimkam, gab es noch viel zu erzählen. Isabel war allerdings sehr nachdenklich.
»Ich werde mich auch um Alice Valborg kümmern«, versprach sie.
»War sie eigentlich nie verheiratet?« fragte Daniel.
»Es wurde mal gemunkelt, aber das muß gewesen sein, bevor sie berühmt wurde, aber ihr Privatleben wurde wenig bekannt, und kaum jemand weiß, daß sie die Schwester von Rex Borg ist. Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt.«
»Es scheint so. Frau Hanson hat angedeutet, daß sie sich seinetwegen aufgeregt hat. Kanntest du ihn persönlich?«
Isabel schüttelte den Kopf. »Als er seine Blütezeit hatte, war ich eine blutige Anfängerin. Ich darf dich doch erinnern, daß ich erst vierzig bin, Daniel?« fragte sie schelmisch.
»Und siehst aus wie dreißig«, sagte er.
»Ist er nicht lieb, Fee? Er macht einer alten Freundin Komplimente«, lachte Isabel.
»Auf die alte Freundin war ich mal sehr eifersüchtig«, gab Fee lächelnd zurück.
»Und ich auf die liebe Fee, die für meinen Jürgen die Traumfrau war!«
»Jetzt werden wieder olle Kamellen auf’s Trapez gebracht«, brummte Daniel. »Trinken wir lieber noch einen guten Schluck, und dann ab in die Falle.«
Da gab es keinen Widerspruch. Müde waren sie alle.
*
Als Simone am nächsten Morgen erwachte, werkelte ihre Mutter schon in der Küche. Schnell war sie auf den Beinen und eilte zu ihr.
»Muß das sein, Mutsch?« fragte sie noch ein bißchen verschlafen »Du sollst dich schonen.«
»Ich habe jetzt viel Zeit dazu, mein Kind«, erwiderte Hedi. »Außerdem fühle ich mich bedeutend besser.«
»Das freut mich, aber es bleibt dabei, daß du fährst, basta«, sagte Simone.
»Ich freue mich ja sogar«, sagte Hedi »Aber ich möchte doch noch gemütlich mit dir frühstücken.«
»Wir haben viel Zeit. Ich muß erst halb elf Uhr aus dem Haus.«
»Ihr habt jetzt eine etwas komische Diensteinteilung«, wunderte sich He-di.
»Ist doch gut, Mutti. So wird dann manchmal ein freier Tag herausspringen.«
»Vermißt du nicht doch den Kontakt zu Menschen?« fragte Hedi später gedankenvoll
»Nein, gar nicht. Vorerst bin ich restlos zufrieden, und wenn sich mal was anderes bietet, werde ich das kritisch prüfen. Das kommt nur in Frage, wenn ich mich auf die Dauer sehr verbessere.«
»Und ans Privatleben denkst du gar nicht?«
»Das habe ich doch mit dir«, erwiderte Simone lächelnd.
»Ich möchte nicht schuld sein, wenn du auf alles verzichtest, Simone«, sagte Hedi leise.
»Was du immer denkst! Ich bin doch noch so jung, Mutsch. Mir ist noch kein Mann über den Weg gelaufen, mit dem ich gern das Leben verbringen würde, ausgenommen Dr. Norden, und der ist verheiratet.«
»Du würdest dich doch nicht mit einem verheirateten Mann einlassen, Simone«, sagte Hedi hastig.
»Wir wollen es mal so sagen: Ich würde nie ein Glück auf dem Unglück eines anderen Menschen aufbauen wollen, aber manche Ehen sind zum Scheitern verdammt, und wer will vorher sagen, ob man an den genau richtigen Mann gerät. Ich sehe das wirklich ganz nüchtern, und deshalb bin ich auch nicht wild darauf, früh zu heiraten. Und wenn ich mal den Wunsch verspüre, ein Kind haben zu wollen, muß ich doch den Vater nicht unbedingt heiraten. Sind wir zwei nicht ein Beweis, daß es auch ohne Mann gutgehen kann?«
»Es würde mir leid tun, wenn ich dir ein schlechtes Beispiel gegeben hätte, Simone«, sagte Hedi leise
»Aber ich bitte dich, du hast mir das beste Beispiel gegeben, wie großartig sich eine Mutter verhalten kann. Dennoch muß ich sagen, daß gerade du den besten Mann verdient hättest.« Sie ergriff Hedis Hand. »Werde jetzt bloß nicht sentimental, Mutsch. Immerhin bist du auch noch jung genug, um vielleicht doch einem Mann zu begegnen, der deine Qualitäten zu schätzen weiß.«
»Jetzt hör aber auf«, widersprach Hedi heftig.
»Man kann doch auch darüber reden«, meinte Simone. »Es gibt auch anständige Männer.«
»Dieses Kapitel ist für mich erledigt.«
»Streiten will ich darüber nicht, Mutsch«, sagte Simone. »Aber zwei erwachsene Frauen können sich auch darüber vernünftig unterhalten.«
Und so verging die Zeit. – Simone mußte sich in aller Eile ankleiden, um rechtzeitig bei Rolf Hanson zu sein. Doch der Weg war wirklich nicht weit, obgleich sie das abgelegene Villenviertel noch nie aufgesucht hatte. Dabei standen dort die schönsten Häuser, die sie je gesehen hatte.
Scheu ging Simone auf das Haus zu, aber diese Scheu schwand sofort, als Irene Hanson sie lächelnd empfing. Nun war sie ganz beruhigt.
Victoria war auch schon zur Stelle, von brennender Neugier getrieben.
»Unsere Tochter Vicky«, stellte Irene vor.
»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte Vicky. »Vielleicht sehen wir uns noch öfter. Komisch, daß man in einer Gegend wohnt und sich doch noch nie getroffen hat.«
Irene war recht zufrieden mit ihrer Tochter, die sich dann auch gleich zurückzog.
Rolf Hanson hatte eben noch telefoniert. Im sportlichen Pullover wirkte er noch jünger. Doch Simone hatte schon festgestellt, daß auch seine Frau sehr jugendlich geblieben war und dennoch mütterliche Güte ausstrahlte, was sie besonders anziehend machte.
»Vicky kümmert sich um Frau Valborg. Sie ist Gast in unserm Haus«, erklärte Irene. »Sie ist derzeit in einem recht desolaten Zustand und kann nicht an unserer Unterhaltung teilnehmen.«
»Ist sie ernsthaft erkrankt?« fragte Simone bestürzt. »Es würde mir sehr leid tun.«
»Sie haben sie auf der Bühne gesehen oder im Film?« fragte Rolf.
»Ja, mehrmals. – Eine großartige Schauspielerin.«
»Dann könnten Sie sich in ihre Mentalität hineindenken?« fragte Rolf.
„Das weiß ich nicht. Ich kann es versuchen«, erwiderte Simone zurückhaltend.
»Sie nehmen mein Angebot an?« fragte Rolf.
»Ich willige ein. Es muß sich herausstellen, ob ich Ihre Hoffnungen erfüllen kann«, erwiderte Simone. »Es trifft sich wirklich sehr gut, daß meine Mutter gerade zur Kur fährt.«
»Ja, ich weiß, zur Insel der Hoffnung«, sagte Rolf. »Frau Valborg wird auch dorthin fahren und ebenfalls mit Frau Schoeller.«
Simone war erschrocken. »Das könnte Schwierigkeiten geben«, sagte sie überstürzt. »Ich habe meiner Mutter nichts von Ihrem Angebot erzählt, und sie hat aus unerfindlichen Gründen etwas dagegen, daß ich etwas tue, was mit der Schauspielerei in Zusammenhang steht.«
»War sie selbst Schauspielerin?« fragte Irene.
»Nein, sie ist Graphikerin. Ich kann mir nur erklären, daß sie selbst mal den Wunschtraum hegte und ihr der Erfolg versagt blieb.«
»Hatten Sie auch diesen Wunschtraum?« fragte Rolf vorsichtig.
»Ich habe ihn längst aufgegeben. Nein, Schauspielerin möchte ich nicht sein, aber wenn man synchronisiert, bleibt man ja anonym.« Sie sah ihn forschend an. »Das wird doch so sein?«
»Ich müßte es sogar zur Bedingung machen, um Frau Valborg nicht zu schaden.«
»Mir ist das sehr recht. Meine Stellung gebe ich natürlich nicht auf.«
»Die Zeit können Sie bestimmen«, sagte Rolf Hanson. »Ich richte mich danach.«
»lch habe meinen Dienstplan mitgebracht. Aber zuerst sollten Sie sich doch überzeugen, ob ich solch einer Aufgabe gewachsen bin.«
»Es ist nicht so sehr schwierig, da Sie ja keine Ausländerin synchronisieren sollen«, meinte er. »Ihre Stimme ist der von Frau Valborg verblüffend ähnlich, will man vom jetzigen Zustand absehen.«
»Ich kann das nicht beurteilen. Man sieht und hört sich ganz anders, als andere Menschen das tun«, erwiderte Simone ruhig.
»Wann kann eine Probe stattfinden?« fragte Hanson.
»Meinetwegen gleich. Ich brauche erst um zwei Uhr im Hotel zu sein.«
»Gut, dann fahren wir ins Studio. Kommst du mit, Irene? Du bist objektiv.«
»Gern. Ich sage Burgel Bescheid, daß sie das Essen für Alice und die Kinder richtet.«
Sie eilte hinaus, und Rolf Hanson verschränkte lächelnd die Arme über der Brust.
»Sind Sie beruhigt, daß ich nicht geschwindelt habe, Simone?« fragte er.
In ihren Augen tanzten goldene Fünkchen.
»Ich habe mir erlaubt, mich bei
Dr. Norden zu erkundigen«, erwiderte sie.
Er lachte warm und herzlich. »Das hätte ich mir eigentlich schon denken dürfen. Sie sind ein cleveres Mädchen.«
»Nur vorsichtig. Man darf nicht immer nach dem Gefühl gehen.«
»Aber das Gefühl hatte nichts gegen mich?«
»Nein.«
»Das beruhigt mich«, meinte er humorvoll.
»Ihre reizende Frau hat dazu beigetragen«, sagte Simone hastig.
»Das wird meine reizende Frau freuen. Nächstes Jahr feiern wir Silberhochzeit, und wenn wir dann noch zusammenarbeiten, werden Sie Ehrengast sein.«
Simone errötete. »Das ist sehr nett, Herr Hanson, aber wenn ich für Sie tätig sein sollte, wenn ich es wollte, muß ich erst mit meiner Mutter klar kommen. Ohne sie und ihre Einwilligung geht das nicht.«
»Sie kann sich ja überzeugen, daß es ein durchaus seriöses Angebot ist. Sie hängen sehr an Ihrer Mutter?«
»Ich habe nur sie.«
Irene kam zurück. »Alles okay«, sagte sie. »Wir können starten. Aber draußen liegt unser neugieriger Sohn auf der Lauer, der sich anscheinend überzeugen will, ob auch alles in Ordnung ist.«
Simone mußte unwillkürlich lachen, weil sie das so charmant sagte. Doch gleich darauf wurde sie von einem jungen Mann angestarrt, dessen Blick sie befremdete, obgleich er eigentlich nur maßlose Verblüffung verriet.
»Mein Sohn André«, stellte Rolf Hanson vor. »Erwähne Alice gegenüber bitte den Namen Röcken nicht.«
»Das hat mir Vicky schon gesagt. Warum eigentlich nicht?« fragte André.
»Das erkläre ich dir später. Ich hoffe, ich kann mich auf euch verlassen!« sagte Rolf Hanson.
»Ich möchte vermeiden, daß Alice unruhig wird«, erklärte Rolf, als sie im Wagen saßen. »Sie kann zwar nicht sprechen, aber sie kann hören, und sie wird mit Ihrer Mutter beisammen sein. Und Sie wollen doch nicht, daß Ihre Mutter von Ihrer Nebentätigkeit erfährt.«
»Nein, das will ich nicht« erwiderte Simone verlegen. »Sie bedenken sehr viel, Herr Hanson.«
»Ich habe mir auch erlaubt, mit Dr. Norden zu sprechen, damit alles klar ist. Wir haben einen sehr verständnisvollen Hausarzt, der Sie sehr gern hat, Simone.«
»Und er war gestern abend bei uns, um nach Alice zu sehen«, warf Irene rasch ein. »Sie verlor plötzlich ihre Stimme völlig.«
»Wird sich das bald beheben?« tragte Simone.
»Das ist schwer zu sagen. Auch Dr. Norden konnte das nicht beurteilen. Anscheinend ist ein Schock daran schuld.«
»Es muß schlimm sein«, sagte Simone. »Wenn mir das passieren würde, müßte ich meine Stellung aufgeben.«
»An so was wollen wir gar nicht denken«, sagte Rolf Hanson aufmunternd. »Haben Sie eine schwache Ahnung, wie eine Synchronisation vor sich geht?«
»Ja, ich weiß Bescheid. Man muß die Rolle kennen und dann mit den Mundbewegungen des Darstellers übereinstimmen. Ich stelle es mir ziemlich schwer vor.«
»Es ist nicht schwer, wenn man sich in die Rolle selbst hineindenkt, oder besser hineinlebt. Es wäre natürlich gut, wenn Sie sich mit dem Drehbuch befassen würden.«
»Ja, selbstverständlich«, erwiderte Simone. »Darf ich es mitnehmen?«
»In diesem Fall sage ich ja. Ich vertraue Ihnen.«
*
André bekam seine Schwester zu fassen, als sie in die Küche ging, um Kamillentee für Alice zu holen.
»Hast du sie gesehen?« fragte er drängend. »Wie findest du sie?«
»Ein paar Klassen besser als Gabi«, erwiderte sie schnippisch. »Hast du ihr gesagt, daß ich es leid bin, die Putzfrau für sie zu spielen?«
»Ich bin gegangen«, entgegnete er.
Sie sah ihn konsterniert an. »Wieso denn das?« staunte sie.
»Weil mir auch manches nicht paßte. Ich bin kein Steigbügelhalter.«
»Sie scheint sich ja ganz schön aufgeführt zu haben, wenn du das begriffen hast«, meinte Vicky. »Ich habe nur deinetwegen solange mitgespielt. Ich dachte, sie sei deine große Liebe.«
»Liebe ist ein großes Wort, Vicky«, sagte er ernst, »aber wie dem auch sei, ich bin enttäuscht.«
»Das gibt sich«, sagte sie lässig. Dann seufzte sie schwer. »Ich habe Alice wirklich gern, aber wenn man mit einem Menschen nicht reden kann, ist es schon hart.«
»Mit manchen Menschen redet man viel und hat sich eigentlich doch nichts zu sagen«, brummte er.
»Du bist plötzlich so weise«, meinte sie anzüglich. »Du kommst mir so menschlich vor. Könntest du uns vielleicht ein bißchen Gesellschaft leisten und Alice aufmuntern?«
»Wir können ihr ja ein paar alte Filme vorführen«, sagte er.
»Eine gute Idee. Aber erwähne den Namen Röcken nicht. Mami hat es mir ans Herz gelegt.«
»Ich weiß Bescheid. Woher kenne ich dieses Mädchen?« sagte er dann gedankenverloren. »Wenn mir das nur einfallen würde.«
»Du kennst sie?«
»Sie kommt mir bekannt vor«, sagte er. »Ich kann es mir nicht einbilden. Sie ist kein Dutzendtyp.«
Sie brauchten Alice Valborg keine Gesellschaft zu leisten. Alice wollte schlafen. Die alten Filme, die André schon vorgeholt hatte, blieben im Kasten.
Burgel rief André ans Telefon. Er vernahm die laut dröhnende Stimme von Gabis Vater, der von ihm wissen wollte, was mit ihm los sei, da Gabi ihm die Ohren vollheule.
»Wenn es Ihnen Ihre Tochter nicht sagen kann, werde ich es tun«, sagte André. »Sie soll sich ihre Ambitionen aus dem Kopf schlagen.«
Vielleicht war das ein bißchen zu deutlich, aber Gabis Vater schien es ihm nicht zu verübeln. Er hätte ihr das schon oft genug gesagt, erwiderte er. Er werde den Geldhahn zudrehen.
Dann aber kam Gabi ans Telefon und redete auf ihn ein, und schließlich verabredete er sich mit ihr.
»Ich habe es mir ja gedacht, daß du umfällst«, sagte Vicky spöttisch. »Jetzt wird sie dich auf’s Standesamt schleppen. Ich kenne den alten Nickmann. Er wird ihr die Pistole auf die Brust gesetzt haben.«
»Ich denke nicht an Heirat«, stieß André hervor.
»Darüber solltest du dir klar sein, wenn du dich mit solchen Mädchen einläßt, André.«
»Ich denke, ihr seid befreundet?«
»Ich bin eben auch klüger geworden.« Sie sagte es und entschwand.
*
Simone hatte eine anfängliche Unsicherheit schnell überwunden. Atemlos lauschten Rolf und Irene Hanson, wie sie Alices Rolle vortrug.
»Ich habe es doch gesagt, sie ist ein Naturtalent«, raunte Rolf seiner Frau zu. Da blickte Simone auf ihre Armbanduhr und sprang auf.
»Ich muß ins Hotel, es ist höchste Zeit«, rief sie aus.
»Wir bringen Sie hin«, sagte Rolf.
»Den Film lasse ich Ihnen dann morgen vorführen. Wann haben Sie Zeit?«
»Ab vier Uhr. Sie haben doch meinen Dienstplan«, meinte sie neckend.
»Den haben Sie mich vergessen lassen, als Sie die Rolle lasen«, sagte er. »Kein erfreulicher Gedanke, daß Sie sich jetzt wieder an eine Telefonvermittlung setzen.«
»Es muß sein, das hat schon Beethoven gesagt«, lachte sie. »Sie sind zufrieden mit mir?«
»Mehr als das. Sie hat der Herrgott in einer Sonntagslaune geschaffen.«
»Das hätte ich lieber mal von meiner Mutter gehört«, sagte sie gedankenverloren. »Vergessen Sie das, Herr Hanson.«
Auf der Fahrt zum Hotel schwieg sie. Sie hatte sich in das Drehbuch vertieft. Er tauschte ab und zu einen nachdenklichen Blick mit seiner Frau. Dann waren sie am Ziel.
»Ich hole Sie morgen hier ab, Simone«, sagte er.
»Aber bitte so, daß uns niemand zusammen sieht«, erwiderte sie. »Ich komme hinten raus zur Seitenstraße.«
»Abgemacht.«
»Und nach getaner Arbeit essen Sie bei uns, Simone«, sagte Irene herzlich.
Simone drückte ihr die Hand. »Ich habe nicht gedacht, daß ein Filmproduzent eine so liebe Ehefrau haben kann«, sagte sie leise. Ein zweistimmiges Lachen folgte ihr, als sie auf das Hotel zueilte. Da kam gerade ein Mann mittleren Alters heraus, der sie auf eine Weise anstarrte, daß es Aggressionen in ihr weckte.
Wenn Hanson so ein Typ gewesen wäre, hätte er eine gewaltige Abfuhr bekommen, dachte sie, aber ihr grimmiger Ausdruck wich, als der Portier sie freundlich begrüßte.
»Guten Tag, Toni«, sagte sie freundlich.
»Hat der Kerl Sie belästigt?« fragte der gutmütige Toni unwillig.
»Wieso?«
»Er hat eben nach Frau Valborg gefragt. Anscheinend ein Theateragent. Wissen Sie, warum Frau Valborg uns diesmal so schnell verlassen hat, Fräulein Simone?«
»Nein, Toni, aber mit so einem schmierigen Kerl hätte sie bestimmt kein Wort gewechselt«, erwiderte Simone. »Ich muß an die Arbeit.«
»Sind ja noch zwei Minuten Zeit«, meinte er schmunzelnd.
Anja Seeger nickte ihr zu, als sie eintrat.
»Du brauchst dich nicht zu überschlagen, Simmi«, sagte sie. »Es ist nicht viel los, seit die Valborg wieder weg ist.«
Simone hatte es nicht gern, wenn man sie Simmi nannte, aber ansonsten hatte sie an Anja nichts auszusetzen.
»Könntest du morgen mal länger für mich Dienst machen?« fragte Anja.
»Das geht leider nicht. Ich habe etwas Wichtiges vor, Anja. Tut mir wirklich leid. Für die nächste Zeit kann ich dir keinen Gefallen tun.«
»He, ein Mann?« fragte Anja. »Hat es geschnackelt?«
»Es muß doch nicht immer gleich ein Mann sein! Ich muß einer Kranken helfen«, redete sich Simone heraus, um weitere Fragen zu vermeiden. Und das war nicht mal eine Lüge. Sie leistete Alice Valborg Hilfe und zugleich auch Rolf Hanson. Aber für sie selbst war es ein Erlebnis, das sie völlig in Bann hielt. Als sie allein war, legte sie das Drehbuch aufgeschlagen neben sich hin. Sie lebte sich in die Rolle hinein. Und dann kam ein Anruf.
»Ist Frau Valborg jetzt im Haus?« fragte eine Männerstimme.
»Frau Valborg ist abgereist«, erwiderte Simone, nach einer kurzen Pause, während der sie ein anderes Gespräch vermittelte. »Mach doch nicht solche Witze, Alice«, sagte der Mann. »Ich kenne doch deine Stimme.«
»Hier ist die Vermittlung«, sagte Simone. »Frau Valborg ist abgereist.«
Ein blechernes Lachen. »Mich kannst du nicht täuschen, aber ich kriege dich schon zu fassen.«
Simone erschrak. Sie erschrak in doppelter Hinsicht. Einmal, weil die Stimme drohend geklungen hatte, zum andern, weil man ihre Stimme anscheinend tatsächlich mit der von Alice Valborg verwechseln konnte. Oder war sie schon so in die Haut dieser Frau geschlüpft, daß sie auch ihren Tonfall anpaßte?
An diesem Abend war sie froh, als ihr Dienst zu Ende war, und zum ersten Mal ließ sie sich von einem Taxi heimbringen. Sie konnte die Blicke fremder Menschen nicht ertragen, und sie hatte sich eingebildet, wieder jenen Mann zu sehen, der ihr schon mittags begegnet war. In ihrer Rolle als Julie war auch Alice Valborg vor einem Mann auf der Flucht, der sie erpressen wollte. Und plötzlich fragte sich Simone, ob es diese Rolle gewesen sei, die Alice Valborg Depressionen verursachte.
»Da bist du ja endlich«, wurde sie von ihrer Mutter empfangen. »Du siehst ganz erschöpft aus. Das ist doch zuviel, Simone.«
»Ach was, Mutsch, du hättest lieber um dich so besorgt sein sollen. Wieviel Überstunden hast du gemacht.«
»Halte mir das nicht immer vor, Simone. Stell dir vor, ich bekomme berühmte Gesellschaft auf der Insel der Hoffnung. Dr. Norden hat mich angerufen und mir gesagt, daß auch Alice Valborg mit Frau Schoeller fährt.«
»Du bist ja ganz aufgeregt, Mutsch«, staunte Simone.
»Sie ist doch eine großartige Schauspielerin. Ich hätte nie gedacht, daß ich sie mal persönlich kennenlerne. Wir müssen ungefähr in einem Alter sein. Sie hat eine Kehlkopfentzündung.«
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: