Der kleine italienische Buchsalon - Paola Calvetti - E-Book
NEUHEIT

Der kleine italienische Buchsalon E-Book

Paola Calvetti

0,0

Beschreibung

Eine zweite Chance für die große Liebe Seit dreißig Jahren führt Emma voller Leidenschaft ihre kleine Buchhandlung in Mailand. Nichts bereitet ihr mehr Freude als der Austausch mit ihren Stammkunden und das heimliche Schmökern in Liebesromanen hinter dem Tresen. Denn die Liebe ist nun mal das schönste Gefühl der Welt!, findet die romantische Emma. Ausgerechnet davon fehlt es ihr jedoch im eigenen Leben – bis das Schicksal Regie führt: Beim Sortieren ihrer Bücher fällt ihr eine handschriftliche Notiz mit einer Telefonnummer entgegen – und Emma stockt der Atem. Die geheime Botschaft stammt zweifelsfrei aus der Feder ihrer großen Liebe Federico. Mit klopfendem Herzen nimmt Emma den Kontakt auf und erlebt ein zauberhaftes Wiedersehen mit ihrem alten Freund. Doch für beide steht viel auf dem Spiel. Können sie der Macht ihrer Gefühle trauen? Oder ist das Happy End doch nur ein Märchen, das in den Regalen ihrer Buchhandlung wohnt?  »Spritzig, witzig, einfühlsam!« Die Neue Frau Ein wunderbarer Liebesroman mit Italien Flair und einer guten Portion Romantik – für Fans von David Nicholls und Hanna Holmgren. 

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 571

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

 

Seit dreißig Jahren führt Emma voller Leidenschaft ihre kleine Buchhandlung in Mailand. Nichts bereitet ihr mehr Freude als der Austausch mit ihren Stammkunden und das heimliche Schmökern in Liebesromanen hinter dem Tresen. Denn die Liebe ist nun mal das schönste Gefühl der Welt!, findet die romantische Emma. Ausgerechnet davon fehlt es ihr jedoch im eigenen Leben – bis das Schicksal Regie führt: Beim Sortieren ihrer Bücher fällt ihr eine handschriftliche Notiz mit einer Telefonnummer entgegen – und Emma stockt der Atem. Die geheime Botschaft stammt zweifelsfrei aus der Feder ihrer großen Liebe Federico. Mit klopfendem Herzen nimmt Emma den Kontakt auf und erlebt ein zauberhaftes Wiedersehen mit ihrem alten Freund. Doch für beide steht viel auf dem Spiel. Können sie der Macht ihrer Gefühle trauen? Oder ist das Happy End doch nur ein Märchen, das in den Regalen ihrer Buchhandlung wohnt?

eBook-Neuausgabe September 2025

Die italienische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »Noi due come un romanzo« bei Arnoldo Mondadori Editore S.p.A., Mailand. Die deutsche Erstausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Und immer wieder Liebe« im Wilhelm Goldmann Verlag, München,

Copyright © der italienischen Originalausgabe 2009 by Paola Calvetti

Copyright © der deutschen Erstausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: A&K Buchcover, Duisburg, unter Verwendung eines Bildmotives von creativefabrica/Haha_Hub, depositphotos/numismarty, shutterstock/Francesco Scatena

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)

 

ISBN 978-3-98952-891-8

 

***

 

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

***

 

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected] . Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

 

***

 

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

 

***

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Paola Calvetti

Der kleine italienische Buchsalon

Roman

Aus dem Italienischen von Claudia Franz

 

Meinen G.

Zu Stein erstarrt stehen die Liebenden seit Ewigkeiten an der windgepeitschten Straße. Für einen Tag im Jahr befreit sie der sanfte Hauch einer Fee vom Verhängnis. Die beiden Verliebten werden zu Fleisch; der unachtsame Wanderer jedoch, der sie in ihrer Umarmung bestaunte, würde von dieser unmöglichen und ewigen Liebe zerschmettert.

Kapitel 1

 

Mittlerweile wache ich früh auf.

Zuvor aber, unmittelbar zuvor, widme ich Alice und der Buchhandlung die Phase der Glückseligkeit, die sich zwischen Schlaf und Wachen ausspannt. Sie beginnt gegen sechs, spätestens aber um Viertel nach sechs, wenn das Kräutergebräu, das ich nun statt der traumtötenden Pillen zu mir nehme, seine Wirkung getan hat und ich langsam zu mir komme. Meine Glieder sind dann noch schwer vom Schlaf und ich schaue mich – immer ein wenig überrascht – im Zimmer um. Gerade in dieser hohlen Stille meines Schlafzimmers entstehen die besten Ideen.

Und das Herz beruhigt sich.

Mein vorzeitiges Erwachen hat einen unangenehmen Nebeneffekt: Unmittelbar nach dem Frühstück verfalle ich in eine erbarmungswürdige Lethargie, und meine Lider gleiten wie Rollläden herab. Wenn ich könnte, würde ich auf dem Kassentresen der Buchhandlung die Arme verschränken, den Kopf darauf legen und ein Nickerchen machen, sei es auch noch so kurz. Oder ich würde mich wie Gabriellas Gordon Setter Mondo auf dem Kelim zu meinen Füßen ausstrecken, die Nase zwischen den Pfoten, mit seitlich abgewinkeltem Schwanz.

Weil das selbstverständlich nicht geht, beherrsche ich mich aber Morgen für Morgen.

Um das Gefühl der Taubheit abzuschütteln, begebe ich mich nach oben und ziehe mich unter dem Vorwand, die Thermoskanne auffüllen zu wollen, in die Kaffee-Ecke zurück. Sie ist nichts Besonderes, meine Kaffee-Ecke – sie ist kein echtes Café, sondern besteht nur aus zwei Sesseln und einigen Bistrotischen mit passenden Stühlen vom Flohmarkt an der Porte de Clignancourt, von wo ich sie wie die Reliquien eines Heiligen zu einem vollkommen überteuerten Preis habe anliefern lassen.

Punkt zehn öffnet Lust&Liebe die Türen für die Welt.

Die Öffnungszeiten sind nicht zufällig gewählt, denn das dringende Bedürfnis, in einer Liebesgeschichte zu blättern, macht sich selten direkt nach dem Frühstück bemerkbar oder wenn man sich voller Elan vor dem Bürocomputer niederlassen will. Für die schlaflosen Leser wiederum ist mein gediegener salle de thé auch nicht der richtige Ort. Komplizierte Geisteszustände wie die Euphorie des Verliebtseins, der Schmerz über ein unerklärliches Ende der Beziehung, das Bedauern über eine verpasste Gelegenheit, die Verwirrung einer ersten Nacht oder die Entscheidung zu einer schnellen Affäre lassen sich nicht bei einem Milchkaffee klären, trotz der beruhigenden Raffinesse der Porzellantassen und Gläser, die in Reih und Glied dastehen wie ein Bataillon dicklicher Soldaten. Pappbecher à la coffee break sind hier nicht zugelassen, ebenso wenig Croissants, Rosinen-Focaccine oder Kuchen, wie er in viktorianischen Romanen gereicht wird. Für die wahren Genüsse habe ich keine Lizenz, und ich habe auch noch nie in meinem Leben ein Soufflé zubereitet.

In meiner freien Stunde vor der Öffnung gehe ich ganz im Staubwischen auf. Eine weiche, sanfte Energie, die kaum mehr ist als ein leichtes Kitzeln, das mich von oben bis unten durchströmt, lässt den Staubwedel über Buchrücken und Buchdeckel tanzen. Mit seinem Bambusstiel und der Wolke von Gänsefedern ist er eine Hommage an mein altes Kindermädchen. Sie hieß Maria (»wie die Callas« sagte sie immer und war stolz, einen so handfesten und würdigen Namen zu tragen), und während sie die Esszimmermöbel polierte, sang sie Grazie dei fior und Vola colomba. Nachmittags kehrte ich von der Schule heim und traf sie in der Küche an, wo sie mit meiner Mutter in ein anregendes Gespräch vertieft war. Ich lauschte den Auswüchsen eines unglücklichen Lebens, und in meinen Kinderaugen und mit meiner überbordenden Fantasie erschien mir Maria wie ein Ausbund an Leidensfähigkeit, der allen Widrigkeiten zu trotzen vermochte.

Wenn ich Staub wische, singe ich vor mich hin. Popsongs aus den Siebzigerjahren, wahlweise Lucio Battisti, die Beatles oder Bruce Springsteen. Auf Opernarien verzichte ich, weil sie für mein dünnes Stimmchen zu kompliziert sind. Staubwolken wirbeln durch die Luft und provozieren im Synkopenrhythmus allergische Niesanfälle. Dennoch ist diese Tätigkeit eine notwendige Gymnastik und der Staubwedel ein treuer Verbündeter. Er pflegt den Kontakt zu Titeln und Schriftstellern, bringt Buchcover in Erinnerung, schielt auf die Inhaltsangaben im Klappentext, spürt verloren geglaubte Exemplare auf, gräbt die zu Unrecht vergessenen wieder aus. Der stumme Morgenappell ist ein Willkommensgruß an die Neuheiten, eine Form der Vertraulichkeit mit Romanen, die ich noch nicht kenne, eine Möglichkeit, Romane jenseits der Grenzen von Genres, Jahrhunderten und Schauplätzen miteinander in Verbindung zu bringen. Im düsteren Herrenhaus Thornfield Hall gesteht Jane Eyre der scharfzüngigen Elizabeth Bennet, die dem äußeren Anschein nach vor dem gerissenen Mr. Darcy flieht, ihre unglückliche Schwärmerei für Rochester, während in der Kategorie »Liebe auf Eis« Mr. Stevens in sturem Schweigen Miss Kenton nachseufzt, das Silberzeug poliert und von Neid zerfressen ist auf die von John Fowles höchstpersönlich signierte Geliebte des französischen Leutnants, die im »Nolime-tangere«-Schaufenster einem Brief von Mary McCarthy an Hannah Arendt Gesellschaft leistet, einem Einweihungsgeschenk von Gabriella.

Das ist ein Stilbruch, ich weiß.

Für das Staubputzen schreiben die Lehrbücher des Buchhandels exakte Regeln vor, verbunden mit der Empfehlung, die Ware – wie die Fantasielosen das nennen – am Abend vor dem Schließen wieder einzuräumen. Ich ziehe es vor, die Bücher auf den Tischen dösen zu lassen. Mögen sie nachts unter sich sein, frei und unbeaufsichtigt.

 

Ein leichter Schritt ist es nicht gewesen.

Ich lebte in einem undefinierbaren Wartezustand, wusste, dass sich etwas ändern musste, hatte aber nicht die geringste Vorstellung, was ich tun und wo ich anfangen sollte.

Ich sehnte mich nach Einfachheit.

Ich hatte das Bedürfnis nach Weite, nach Ruhe, nach Beständigkeit. Nach jahrelangen aufreibenden Dienstreisen um die ganze Welt machte ich einen Schnitt und brach ein letztes Mal auf. In der reinen Anonymität von Arvidsjaur, einem Ort im schwedischen Lappland, erwog ich bei Rentiersteaks und becherweise dunklem Bier meine Möglichkeiten. Als mich der vom Hotel gebuchte blonde Hüne zu einer »exklusiven und unvergesslichen« Schlittenfahrt ins blanke Eis begleitete, leuchtete plötzlich auf meinem inneren Bildschirm ein einziger blinkender Satz auf: Die Stunde für den Wechsel ist da . Ich fühlte mich, als wäre ich ein zweites Mal geboren worden, auch wenn ich mich an das erste Mal nicht erinnern kann.

Zurück in Italien wartete eine ominöse Nachricht auf mich – ich möge mich bei Notar Predellini melden, hieß es. Selbiger entpuppte sich als eine grazile, etwa vierzigjährige Notarin, der meine Tante sich anvertraut hatte.

»Du bist naiv, unvorsichtig, stur. Bei aller Sympathie, Emma, aber du bist vollkommen übergeschnappt.« Der Schwall von Beleidigungen kam aus dem Mund meines Treuen Feinds. Er heißt Alberto, arbeitet in der Wirtschaft, ist seit fünfundzwanzig Jahren der Ehemann meiner besten Freundin und hat sich meinem Projekt vom ersten Atemzug an widersetzt. Nach einem lapidaren »Das wird nicht funktionieren« sah ich mich schon von Insolvenz, Pleite und Elend bedroht, in die ich laut seinen Prophezeiungen innerhalb eines halben Jahres stürzen würde. Das hatte nicht zuletzt auch mit meinem ökonomischen Unverstand zu tun, der genauso abgrundtief ist wie der in Bezug auf Naturwissenschaften, Rätsellösen, Petit-Point-Stickerei und Hundezucht.

»Das wird nicht funktionieren«, war das leiernde Mantra des Treuen Feinds. Ich habe ihn zum Essen eingeladen, nur er und ich, um ihm wenigstens die Fotos zu zeigen.

Er war auf Diät.

Nudeln mit Soße verwarf ich also und setzte all meine Hoffnung in gedämpften Seebarsch mit neuen Kartoffeln, grünen Bohnen und einem Trebbiano d’Abruzzo, der mich ein Vermögen gekostet hat. Für den Fall, dass er sein rigides Kalorienprogramm über den Haufen werfen würde, hatte ich in der Pasticceria Cova ein Schokoladentörtchen gekauft, das ich mit dem besten Dessertwein der Welt servieren würde, einem Sherry Pedro Ximenes. Der Aderlass war notwendig, um ihn von meinem Unternehmen zu überzeugen.

»Hier, schau. Ich habe die Zimmer fotografiert, um dir einen Eindruck vom Ambiente zu vermitteln. Sobald du einen Moment Zeit hast, zeige ich es dir. Es ist schon sehr schön, und wenn man noch ein wenig nachbessert, könnte es wunderschön werden. Man muss nur die Wände streichen, das Parkett abziehen, die Einrichtung umräumen, ein paar Tische zusätzlich aufstellen und die Regale aufmöbeln.« Wenn zu befürchten steht, dass andere meine Wünsche durchkreuzen, übertreibe ich manchmal ein bisschen.

»Du bist wie ein Mädchen, das Kaufladen spielt: ›Guten Tag, gnädige Frau, was darf es denn Schönes sein? Soll ich es Ihnen einpacken?‹ Das ist die Midlifecrisis, Emma. Irgendwann denkt jeder, dass er die Jahre anhalten kann, wenn er nur sein Leben ändert. Man nennt das den zweiten Frühling. Warum machst du nicht mit Gabriella eine schöne Reise?«

»Klar, und dann lass ich mich liften und das Fett an den Schenkeln absaugen. Albi, ich bin es satt, in der Welt herumzukurven. Ich möchte endlich sesshaft werden. Alles, was ich von dir möchte, ist, dass du mir die Grundregeln des Unternehmertums beibringst. Tu mir doch diesen winzig kleinen Gefallen.«

»Die Konkurrenz ist gnadenlos, Emma. Du bekommst es mit den Buchhandelsketten zu tun, die fünfzehn, zwanzig, dreißig Prozent Rabatt auf den empfohlenen Ladenpreis geben. Und denk an den Internethandel: Man geht ins Internet, sucht sich dort ein Buch aus, klickt auf Bestellen , und zwei Tage später kommt die Ware per Post direkt nach Hause. Du bringst dich in gigantische Schwierigkeiten.«

»Du siehst immer nur die negativen Seiten! Ich will doch eine Fachbuchhandlung eröffnen, keine stinknormale Buchhandlung.«

»Heutzutage bekommt man überall Bücher in Originalsprache.«

»An so etwas hatte ich ja auch gar nicht gedacht. Es gibt bislang noch keine Fachbuchhandlung, die auf Liebe spezialisiert ist.«

»Aber ich bitte dich! Das soll wohl ein Scherz sein. Hast du auch schon beschlossen, die Wände bonbonrosa zu streichen? Liebesromane – das ist doch keine Literatur, Emma. Die Läden quellen über vor Liebesschmonzetten.«

»Das wird die absolute Neuheit sein. Nicht einmal in London oder Paris ...«

»Genau. Frag dich doch mal, warum das so ist. Die Liebe ist ein absolut unkontrollierbares Gefühl, das zu wechselhaft ist, um sich positiv in der Bilanz niederzuschlagen. Das ist wie mit Boccia, Schach und Pferden – alles Nischen für Spezialisten, lauter überkandideltes Zeug.«

»Alberto, die Literaturgeschichte, die gesamte Literaturgeschichte, ist ein unaufhaltsamer Fluss der Liebe. Sie ist keine aussterbende Art wie Pandas, Zwergrobben oder Hühner. Die gehören tatsächlich ins Museum und in ›National-Geographic‹-Reportagen.«

»Jedes Kind weiß, was ein Huhn ist, also gehört es wohl kaum zu den aussterbenden Arten.«

»Geh mal in Mailand in eine Grundschule und bitte die Kinder, ein Huhn zu zeichnen. Fünf von zehn Schülern wären nicht dazu in der Lage, und weißt du, warum? Weil sie noch nie mit eigenen Augen ein lebendes Huhn gesehen haben.«

»Lenk nicht ab. Hast du dir einmal überlegt, dass es vollkommen unwirtschaftlich ist, Romane zu verkaufen? Und eine Buchhandlung mit dem Schwerpunkt Liebe zu eröffnen, ist der sichere Weg ins Fiasko, da musst du jetzt gar nicht beleidigt sein.«

»Alberto, glaub mir, die Wirklichkeit kann es mit der lasterhaften Liebenswürdigkeit eines Grafen Wronski nicht aufnehmen. Und erst recht nicht mit der herrlichen Alabasterhaut von Prinz Andrej. In Wirklichkeit kann niemand wie die Marquise de Merteuil intrigieren oder wie der Schurke Heathcliff dein Leben auf den Kopf stellen«, erwiderte ich in kleinlautem Stolz. Es war, als würden zwei Taube miteinander reden.

Mein Wirtschaftsexperte hatte nicht die leiseste Ahnung, wer Heathcliff war.

»Streng dein Gehirn an, zähl bis zehn, bevor du antwortest, und erklär mir, warum um alles in der Welt ein Kunde ein Buch ausgerechnet bei dir erwerben sollte und nicht in einer dieser Riesenbuchhandlungen im Einkaufszentrum.«

Ich nippte an meinem Mineralwasser, ließ mir Zeit und schenkte ihm Trebbiano nach. Als überzeugte Abstinenzlerin ist mir die Macht des Alkohols fremd, und daher vertraute ich ihr blind.

»Versuch mal, in der Filiale einer Buchhandelskette an einen anonymen Verkäufer mit dem vielsagenden Ich heisse Marco F. am Revers heranzutreten und zu erklären: ›Entschuldigung, ich habe mich mit meiner Verlobten gestritten. Könnten Sie mir ein Buch empfehlen, das uns bei der Versöhnung hilft?‹ Marco F. würde auf den Bildschirm starren, würde die Dreierkombi Verlobte + Streit + Versöhnung eintippen und darauf warten, dass die Kiste eine Liste mit Buchtiteln ausspuckt. Oder er würde, ohne dich auch nur anzuschauen, mit dem Finger in Richtung der Sachbücher zeigen: ›Die stehen hinten links‹. Sachbücher, verstehst du? Buchhandelsketten sind Orte, die man gänzlich meiden sollte. Nicht-Orte, würde Marc Augé sie nennen. Meine Buchhandlung soll ein Jetzt-erst-recht-Ort sein. Bei mir werden Personen verkehren, keine Kunden oder Konsumenten, wie ihr Wirtschaftsleute das nennt, und sie werden Freundlichkeit und Rat finden. Sie werden weder verwirrt sein wie im Buchkaufhaus, noch eingeschüchtert wie in Antiquariaten, wo man Bücher wie Denkmäler behandelt und sie betrachten, aber nicht berühren darf. Mein Laden wird ein menschliches Antlitz haben. Ich werde für eine Kaffee-Ecke sorgen und sie mit gebrauchten Möbeln ausstatten. Du müsstest für das erste Jahr die Buchführung übernehmen. Und mir bitte mit deinen verdammten Zahlen wegbleiben.«

Obwohl ich nur noch ein gedemütigtes Häuflein Elend war, versuchte ich, seinen zynischen Kommentaren und seiner Strategie der steten Demoralisierung etwas entgegenzusetzen. Ich musste ihn überzeugen.

»Dein Enthusiasmus ist rührend, meine Liebe, aber ich versichere dir, dass die Welt, das Leben und sogar die Reproduktionsbemühungen der Tiere um die verdammten Zahlen kreisen.«

»Die einzige Alternative wäre, es zu verkaufen. Das hieße, es zu töten. Vorsätzlicher Totschlag.«

Tiefes Einatmen. Pause. Er schreckt vor der Tat zurück. Vielleicht.

»Du würdest einen Haufen Geld dafür bekommen. Fünfundneunzig Quadratmeter mit Zwischengeschoss mitten im Zentrum sind Pi mal Daumen mehr als eine Million Euro wert. Aber okay, ich versuche es. Ich werde mir die Sache anschauen und eine Machbarkeitsstudie erstellen. Einige meiner Kunden arbeiten im Literaturbetrieb, und ich möchte dir deinen Traum nicht zerstören. Ich möchte nur, dass du nicht deine Ersparnisse verspielst. Du hast einen Sohn zu versorgen und erfreust dich bester Gesundheit, meine Liebe.«

Mein Alberto! Er ist eben doch ein wahrer Bruder, erst recht, da ich selbst keine Brüder mehr habe. Mit einem Ausdruck der Resignation hatte er sich vom Tisch erhoben, war zur Tür gegangen und hatte mich dann mit einem sardonischen Grinsen erstarren lassen, demselben Grinsen, das meine beste Freundin an den Altar getrieben hatte. Alberto ist groß, hat eine faszinierende Ausstrahlung und immer noch dichtes Haar, das ihn nicht als Mann der Wirtschaft zu erkennen gibt. Trotz seines rationalen und rechthaberischen Auftretens ist er im Grunde ein sanfter, großzügiger Mensch. Er hatte mich umarmt und zum Abschied gesagt: »Du solltest unbedingt auch den verpatzten Liebesgeschichten ein Regal widmen. Die sind, statistisch gesehen, häufiger als die glücklichen.«

Das Regal der »gebrochenen Herzen« im Obergeschoss – es trägt ein vergoldetes Schildchen – ist ihm gewidmet. Ihm, dem Geschäftsmann, der mir den Rücken freihält, sich um Strichcodes und Rechnungen kümmert und es mir ermöglicht, Verkäufe und Bestellungen handschriftlich zu erfassen. In meiner Buchhandlung fehlt tatsächlich jede Spur eines Computers. Seit ich gelesen habe, dass mindestens zwanzig Millionen Italiener von der modernen Kommunikationstechnologie enorm gestresst sind und dass die Lektüre von E-Mails und SMS den Intelligenzquotienten senkt, habe ich die allerbesten Gründe, ohne E-Mail-Adresse auszukommen. Ich gönne mir das Vergnügen, immer nur eine Sache gleichzeitig zu tun. Mich daran zu gewöhnen, war so schwierig, wie einen Kopfstand zu erlernen, aber jetzt bin ich stolz darauf. Eine Ecke habe ich den Hinterlassenschaften meiner Tante Linda gewidmet – ein Sammelsurium aus pastellfarbenen Umschlägen, Briefpapier mit Veilchenbordüre, haufenweise Carand’Ache-Bleistiften mit weicher Mine, Tintenfässern, Heften mit schwarzem Deckblatt und roter Umrandung, Schwammkissen zum Anfeuchten von Briefmarken, Beuteln mit Gummibändern, roten Siegellackstangen, Heftklammern und Stecknadeln mit bunten Köpfen, Filzlappen zum Abwischen von Tafeln, Radiergummis, Dosen und Fläschchen mit altmodischen Papierklebern und einem vereinzelten roten Lederranzen mit einer Klappe aus Pferdeleder und eingearbeitetem Etui. Im Hinterzimmer der Schreibwarenhandlung habe ich eine Lettera 22 von Olivetti gefunden, ein nicht funktionstüchtiges Juwel, das nun dank der Aufmerksamkeit des einzigen Mailänder Spezialisten, dem solche Schreibmaschinen noch am Herzen liegen, einen Ehrenplatz bei den Briefen bekommen hat.

Mattia ist das einzige Familienmitglied, das mich unterstützt hat: »Das Absurdeste, was einem Sohn passieren kann, der noch nicht einmal seine Schulbücher von ihrer Zellophanhülle befreit hat, ist eine Buchhändlerin zur Mutter«, hat er gesagt.

Jetzt geht es mir gut, inmitten meiner Liebesgeschichten. Sie lösen sich nicht auf in ein Spinnennetz von Falten, und sie belästigen mich auch nicht mit ihren Sorgen und Vorwürfen wie meine Freunde und Freundinnen, Exmänner und Exliebhaber, die mich in besserwisserischer Manier traktieren, weil sie davon überzeugt sind, dass ich mich auf dem Gebiet der Gefühle nicht nennenswert weiterentwickelt habe. Dabei ist es noch viel einfacher: Ich habe mit dem Thema abgeschlossen. Zehn Monate nach meiner Flucht nach Lappland sind Übelkeit und Unpässlichkeiten passé, und wenn ich doch einmal traurig bin, nehme ich einen Roman zur Hand. Mit realen Liebesgeschichten muss ich mich nicht mehr herumschlagen.

Ich bin eine Frau, die angekommen ist.

Der Staubwedel wandert über »Behausungen der Liebe« – Himmelbetten und Hotels, die den Schauplatz für solide Ehen und verbotene Irrungen und Wirrungen abgegeben haben: die »kleine, aber feine zweigeschossige Villa mit dem halbkreisförmigen Tor« von Marguerite Gaultier, das »Vestibül mit dem bunten Marmorboden« des Geschäftemachers Dambreuse, die »mit unbehandeltem Tannenholz ausgekleidete Hütte«, wo D. H. Lawrence’ Connie wartet und wartet und wartet, die Londoner Häuser von Thomas Carlyle in Chelsea und von John Keats in Hampstead. Während der Möbelmesse, die zurzeit stattfindet, habe ich nur wenige davon verkauft; wer weiß, vielleicht verlieben sich Schreiner und Designer nicht. Nur noch wenige Minuten bis zehn, gerade Zeit genug für eine Tasse Tee bei den Zitruspflanzen.

Ich steige die Treppe hoch und bin stolz auf die mönchische Ordnung, mit der Tische und Regale aufgestellt sind. Zwischen den Seiten von Ballades d’amour à Paris (ein Einzelexemplar in Originalsprache, das ich bei einem Pariser Kollegen erworben habe) steckt ein neongelbes Zettelchen. Ich hasse es, wenn man Bücher misshandelt, aber ich verdanke es meiner eigenen Duldsamkeit, dass die Leute sich hier so benehmen, als wären sie zu Hause. Irgendjemand hat seine Spuren hinterlassen, aber wenigstens kein Eselsohr in die Seiten gemacht. Vorsichtig, um das Papier nicht einzureißen, ziehe ich den Klebezettel ab. In grüner Schrift stehen ein Name und eine Telefonnummer darauf. Dieser Name. Möglich?

Möglich.

 

»Ich habe dir eine Focaccina mitgebracht, sie ist noch warm. Soll ich sie dir hochbringen?«

Alices Gesicht ist von der Morgengymnastik gerötet, ihre feuchten Haare riechen nach Vanillebalsam.

»Danke. Ich räume noch den Rest auf und komme dann runter. Öffne du schon einmal, es ist bereits spät.«

Ich sitze seit zwanzig Minuten auf dem Stuhl und versuche, meine Gedanken zu sortieren. Ein Scherz, eine zufällige Übereinstimmung, ein Vorkommnis ohne jede Bedeutung. Federico ist ein verbreiteter Name. In der Schublade suche ich nach dem Taschenrechner, den mir Mattia zu Weihnachten geschenkt hat, einem unbenutzten radieschenroten Spielzeug mit gelben Tasten, die an Mantelknöpfe erinnern. Er funktioniert. Einunddreißig mal zwölf mal zweiundfünfzig mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig, das macht einunddreißig Jahre, dreihundertzweiundsiebzig Monate, eintausendsechshundert Wochen, elftausenddreihundert Tage. Vor zweihunderteinundsiebzigtausendsechshundert Stunden habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Ungefähr. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört, und sogar im Gespräch mit Gabriella, der einzigen Zeugin dieser Geschichte, ist das Thema auf den Buchstaben G. zusammengeschrumpft. Grober Irrtum.

Oder Gefühle.

Was oft miteinander einhergeht.

Diese Nummer zu wählen, wäre, wie sich auf ein speed date einzulassen, jene grauenhaften Verabredungen aufs Geratewohl, bei denen du dich innerhalb weniger Minuten entscheiden musst, ob du mit jemandem ins Bett gehen willst. Bei der Geschichte mit Federico ging es nie in erster Linie um Sex. Er ist Hals über Kopf aus meinem Leben verschwunden, wurde in aller Eile begraben und ist vor wenigen Minuten wieder hinter den Schulbänken aufgetaucht.

Man muss kein Drama daraus machen.

Ab einem gewissen Alter ist es statistisch möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass sich unter den mehr als sechs Milliarden Erdenbewohnern ein Exfreund bei einem meldet, als wäre nichts gewesen. Irritierend ist nur – falls es sich nicht doch um einen Namensvetter handelt –, dass er genau in dem Moment auftaucht, in dem die Vergangenheit gut verpackt ist und ich strahlend in das Paradies meiner neuen Altjungfernschaft eingezogen bin. Ich habe meinen Laden, und die Bücher beschützen mich vor allem, was draußen lauert.

Nur dass seit heute er es ist, der draußen lauert.

Nach zweihunderteinundsiebzigtausendsechshundert Stunden kann ich ihn nicht mehr anrufen. Ich könnte den enttäuschten Blick eines Mannes nicht ertragen, der aus Gründen der guten Erziehung – er war immer äußerst wohlerzogen – nicht sagt, was ihm durch den Kopf geht, »da bin ich ja noch einmal davongekommen« nämlich. Was wäre außerdem, wenn er fett wäre oder durchgedreht, Vertragshändler für Autos, Handelsvertreter, Anwalt, Notar. Oder Manager, der slides sagt statt Dias, briefing statt Besprechung, badge statt Abzeichen wie die Pfadfinder. Oder phone room statt Telefonzentrale. Bleibt allerdings der Zettel, der am Daumen meiner rechten Hand klebt. Wieso um alles in der Welt rennt jemand mit einem Zettelblock in der Tasche herum? Vielleicht ist er Künstler oder eine gewissenhafte Person, die sich Notizen macht und sie sich zu Hause an den Kühlschrank heftet. Vielleicht ist er ein Aufreißer, der zufällig Federico heißt. Gabriella um Rat zu fragen, kommt nicht in Frage. Sie würde die Vorteile und Nachteile abwägen, würde über die Hintergründe spekulieren und das Ganze aufbauschen. Nach einer exakten Bestandsaufnahme der bekannten Tatsachen – Telefonnummer, Handschrift, für die Botschaft gewähltes Buch, Bedeutung der Vergangenheit, verstrichene Zeit zwischen Abschied und Auffinden der Botschaft – würde sie für A. plädieren.

Archiv.

 

»Hallo. Ich bin’s.«

»Gott sei Dank. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben.«

Er hatte nach fünf endlosen Klingelzeichen abgenommen.

Jetzt höre ich die Stimme, die mich den ganzen Tag in einem Zustand zwischen Wagemut und weisem Zögern gehalten hat. Die Stimme am anderen Ende der Leitung kommt schnell zur Sache und ist keineswegs so weich, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich bremse den Impuls, die Unterhaltung zu beenden, bevor sie auch nur angefangen hat. Schön hinsetzen, es gibt keinen Grund, sich aufzuregen.

»Wie geht es dir, Emma?«

»Gut. Mir geht es gut. Wo bist du?«

Ich habe sie tatsächlich gestellt, diese Frage. Ausgerechnet ich, die ich meine Verachtung für Mobiltelefone und speziell für diese Frage, auf die jede beliebige Person mit jedem beliebigen Unsinn antworten kann, in alle Welt hinausposaune. Ausgerechnet ich, die ich Mattia mein Nokia (in meinem früheren Leben hatte ich auch so etwas) angedreht habe und dann zunächst ein dumpfes Verlustgefühl verspürte, schließlich aber ein snobistisches Gefühl der Befreiung. Ich gebe gern zu, dass die ersten Tage eine Katastrophe waren, aber ich hatte der halben Welt meine historische Entscheidung mitgeteilt und konnte nicht mehr zurück – das ist, als wenn man Diät macht oder zu rauchen aufhört und es allen sagt, denen man über den Weg läuft. Mögen die ersten Stunden, die ersten Tage, die ersten Wochen ohne zwanghafte Konversation auch schrecklich sein, wenn man den Wiederholungszwang kraft des eigenen Willens besiegt hat, steigt das Selbstwertgefühl ins Unermessliche. Handy und PC waren Teil meines Körpers geworden. Wenn mein Computer abstürzte, war ich am Boden zerstört. Nicht auf Mails zu antworten, war ein Zeichen schlechter Erziehung, und wenn ich im Speicher meine SMS gelöscht habe, war mir, als löschte ich damit meine Identität aus. Die wichtigsten habe ich in ein kleines, in Varese-Papier eingeschlagenes Heft übertragen. Alice wirft mir »steinzeitliche Sturheit« vor, aber das trifft es nicht. Ich verhelfe dem unantastbaren Recht auf Unauffindbarkeit zu neuer Geltung und gönne mir das perverse Vergnügen, nicht erreichbar zu sein. Nicht immer online zu sein, hat seine Nachteile – durch meine Verwandlung habe ich den Kontakt zu einer Menge Leute verloren –, aber ich genieße nun die Freiheit, keine Spuren mehr hinterlassen zu müssen. Ich glaube, dass es möglich ist, ohne Technologie zu leben. Wer mich mag, findet mich auch. Ich habe einen Festnetzanschluss, und sowohl zu Hause als auch im Laden steht ein Telefon mit schwerem Hörer und Wählscheibe.

»Ich bin im Hotel. Montagmorgen fliege ich nach New York zurück. Da lebe ich jetzt.« Die Nachricht seines baldigen Aufbruchs beruhigt mich. »Wir könnten zusammen essen gehen. Heute ist es allerdings schon ziemlich spät. Sollen wir uns morgen treffen?«

»Zum Essen?«

Warum stammle ich? Das ist schließlich nicht das erste Mal, dass mich jemand zum Essen einlädt. Ich verpasse mir innerlich eine Ohrfeige.

»Morgen früh zum Kaffee? Oder besser zum Mittagessen? Wenigstens ein kurzes Treffen ...«

Federico drängt. Aus der Geschwindigkeit, mit der sich seine Worte überschlagen, könnte man schließen, dass er von kindlicher Begeisterung gepackt ist oder möglicherweise Angst vor einem kühlen, entschiedenen »Nein« seiner ehemaligen Schulkameradin hat. Vor einem unbestimmten »Ich kann nicht« oder einem »Das tut mir wahnsinnig leid, aber ich habe am Wochenende schon etwas vor, es wäre so schön gewesen, sich nach so langer Zeit wiederzusehen«. Ich habe in den nächsten vierundzwanzig Stunden nichts vor. Nichts, als mich unwiderstehlich zu machen. Federico redet, ich sehe seine knochigen Finger vor mir, die eckigen, abgekauten Fingernägel, die asymmetrischen Hände, die sich wie Fische in einer Goldfischkugel bewegen. Gerade erst habe ich sie wiedergesehen. Bevor ich den Mut fand, die Nummer zu wählen, habe ich zwischen Fotos von Verwandten, Grundschulfreunden, Taufen, Erstkommunionen und Examensessen herumgewühlt, bis er schließlich aus dem Haufen aufgetaucht ist, vor einem weiß gekalkten Haus am Meer. Auf der Rückseite stand mit Kuli: »23. August 1969«. Ich zögere, als plagten mich Gott weiß welche Fragen. Wie sieht ein Fünfzigjähriger aus, den ich seinem Schicksal überlassen habe, als er noch nicht einmal zwanzig war?

»Federico ...«

»Emma ...«

»Und wenn wir uns nicht wiedererkennen?«

Sei es wegen der Stimme, sei es wegen des Fotos, das ich am Nachmittag angeschaut hatte, plötzlich sah ich seine perfekten, tadellos weißen Zähne vor mir.

»Im Zweifelsfall können wir doch telefonieren, oder? Außerdem habe ich dich vor ein paar Stunden gesehen. Soll ich vorbestellen? Gibt es die Trattoria in Santa Marta noch?«

Er scheint überschwänglich, fast übermütig. Meine Stimme überschlägt sich, was er sicher merkt.

»Die hat der Sohn übernommen. Okay, um halb neun dort. Meine Nummer ist die 02 34 93 47 38, für alle Fälle. Hast du einen Stift griffbereit?«

»Schon notiert. Bis morgen.«

Klick. Ich lasse den Hörer auf die Gabel fallen, nachdenklich, wie im Film. Und nun?

Morgen ist Sonntag. Wenn ich mir die Haare allein wasche, wird mein 80-Euro-Carré-Schnitt die Form eines Salatkopfs annehmen. Der Friseur ist eine meiner Drogen, wie das Sportstudio und die Kosmetikerin, und ich lasse mir wöchentlich die Haare nachschneiden. Die Lösung des Problems trägt den schönen Namen Alice, die aus Liebe zum Buch ihr literaturwissenschaftliches Abschlusszeugnis in die Schublade gesteckt und eine befristete Anstellung »im Vertriebsbereich« angenommen hat.

»Ich such dir im Internet einen Friseur raus, der auch zu den Kunden nach Hause kommt, und mache einen Termin für dich. Du wirst schon sehen, dass ich es schaffe, ihn auch für morgen zu buchen. Ach so, Emma, brauchst du auch eine Maniküre?«

 

»Mama, ich bin spät dran und hab kein Benzin mehr. Andrea wartet unten vor seinem Haus auf mich, und mein Handy ist leer. Ich habe genau neuneinhalb Minuten, um zu duschen.«

Die nervenaufreibenden Auftritte von Mattia stören mich heute Abend. Ich versuche mich gerade mit dem gebotenen Ernst auf die wimpernverlängernde Mascara zu konzentrieren, als ich ihn mit der energischen Arroganz, die ich normalerweise so rührend finde, gegen die Badezimmertür klopfen höre. Jetzt lenkt mich das von den Restaurationsmaßnahmen ab, die sich schon seit Stunden hinziehen. Sechs Stunden habe ich investiert, um mich meines Äußeren auch nur ein klein bisschen sicher zu fühlen, und er treibt mich zur Eile an.

»Du kannst ihn doch vom Festnetz aus anrufen, oder? Andrea, meine ich«, schreie ich ihm durch die Tür zu, von der er sich keinen Schritt wegbewegt.

»Mum, was ist das für eine blödsinnige Musik?«

»Das ist My Girl von den Temptations, du Ignorant. Du kannst ins Gästeklo gehen.«

Für Mattia gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Körperpflege und Sex. Wenn er so scharf darauf ist, sich zu waschen, dann trifft er mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Mädchen, das mit ihm ins Bett geht. Wenn ich mit jemandem ins Bett gehen sage, guckt er mich stets mitleidig an.

»Man sagt ficken, Mama.«

Ich kann nicht ficken sagen. Als ich ihn allerdings einmal dabei beobachtet habe, wie er sich Zahnseide durch die Zahnzwischenräume zog, Pfefferminzbonbons lutschte, sich bei der Körperpflege auf den unteren Teil seines Körpers konzentrierte und meinen Rat zu verschiedenen Deos einholte, war ich fast gerührt. Und trotz meiner Unkenntnis bezüglich der sexuellen Gepflogenheiten von Achtzehnjährigen vermutete ich damals, dass sich seine Hoffnungen auf etwas Umfassenderes richteten als auf einen Kuss.

Ich öffne die Tür, drehe mich um mich selbst und mache mit dem einzig greifbaren Relikt meiner Ehe den Glaubwürdigkeitstest: »Na, was sagst du?«

»Danke, Mammina, in der Wanne im Gästebad kann ich mich nicht mal richtig ausstrecken. Wieso bist du eigentlich so nett heute? Und wo willst du hin, dass du dich so aufgebrezelt hast?«

»Ich begebe mich auf die Suche nach dem Mädchen, das ich einmal war«, antworte ich mit dem poetischsten Satz, der mir einfällt, und stelle den CD-Player leiser. Und hoffe insgeheim, dass er nicht weiter fragt. Wir haben ein vertrauensvolles Verhältnis, aber ich bin immerhin seine Mutter und möchte ihm nicht erklären müssen, dass ich mich nicht vor der Erscheinung meiner selbst als Achtzehnjähriger blamieren möchte. Obwohl er mich ermuntert, mir Verehrer zu suchen, hat für Mattia mein Liebesleben seit der Trennung von Michele, seinem Vater und meinem Exmann, ein Ende gefunden.

 

Die welligen Haare vom Foto sind alle noch da. Die kastanienbraune Flut, die sich damals über seine Schultern ergoss, ist jetzt ein ordentlich gestutzter, taubengrau gesprenkelter Schopf. Seine Hände stecken tief in einem Montgomery mit Hornknöpfen, oben schaut ein Brooks-Brothers-Kragen heraus, unten eine Flanellhose mit Aufschlag, außerdem Churchs aus dunkelbraunem Gamsleder. Hat er das extra gemacht? Es ist eher anzunehmen, dass er seine Uniform nie gewechselt hat. Ich atme tief ein und aus, und dann ... los. Mit erhobenem Kopf überquere ich das kurze Stück Straße, das mich von dem Montgomery trennt. Er wird mich erblicken und zweifellos die Farbe meiner Wangen bemerken. Sie glühen, vermutlich sind sie rot und changieren im schlimmsten Fall ins Auberginefarbene. Ich bin nämlich schüchtern, auch wenn diese Charaktereigenschaft nur meinen engsten Freunden bekannt ist. Auf alle anderen wirke ich extrovertiert und rede unaufhörlich überflüssiges Zeug, auch wenn ich mit den Jahren und der Erfahrung den melodramatischen Einschlag abgelegt und den therapeutischen Nutzen der Ironie schätzen gelernt habe. Wir Kleinen schreiten nicht einher, wir bahnen uns mühsam einen Weg; nur noch wenige Meter trennen mich von ihm, aber es ist, als würde ich mich einem unbekannten Kontinent nähern. Unmöglich kehrtzumachen, das Ganze zu verschieben, und sei es auch nur, um zu entscheiden, wie man jemanden begrüßt, der einem vor einer unglaublichen Anzahl von Jahren das Herz geraubt hat. Einen Kuss könnte er falsch verstehen, als Übermaß an Vertraulichkeit. Ich könnte ihm einfach die Hand schütteln. Freut mich, hallo, ich bin Emma. Im Prinzip ist es ein wenig wie ein erstes Mal. Er wird mich ein bisschen zu förmlich finden, und das wird ihn für den Rest des Abends gehemmt sein lassen. Undenkbar, ihm um den Hals zu fallen. Federico ist über eins achtzig groß, und ich erreiche, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, bestenfalls die Marke von eins fünfundsechzig. Der graumelierte Herr tritt auf mich zu. Die Zeit reicht nicht, um mich an dieses neue Gesicht mit den Spuren von Altem zu gewöhnen, sie reicht nicht, um zu begreifen, mit wem ich es zu tun habe, nur so, aus einem rein anthropologischen Interesse heraus, denn kaum stehe ich vor ihm, drückt Federico mich mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt an sich. Wie kommt es, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin?

»Hallo, Emma.«

»Federico ...«

»Sollen wir reingehen?«

Der Atem beruhigt sich, mein Herzmuskel beendet den Galopp, in den er sinnloserweise verfallen war. Ich trete hinter ihm in die Wärme der Trattoria. Sein Duft ist noch derselbe: Eau Sauvage. Offensichtlich ist es immer noch ein Klassiker, wie der meine – Chamade –, ein Andenken an mein früheres Leben, duty-free. Vielleicht hat er ihn auch absichtlich gewählt.

Ruhig, Emma, Romane haben nichts mit dem wahren Leben zu tun. Und das war, wie der Treue Feind sagen würde, ein Gedanke aus einer Liebesschmonzette.

Federico hat etwas Altmodisches an sich, und seine Größe zwingt ihn zu einer leicht gebeugten Körperhaltung. Fett ist er nicht geworden, und galant war er schon zu Schulzeiten, als die anderen den Rüpel herauskehrten, weil sie nicht wussten, wohin mit sich und ihrem Körper. Er nimmt mir den schwarzen Mantel von den Schultern und gibt ihn der Kellnerin, zieht für mich den Stuhl vor, und als ich bequem sitze, nimmt er rechts von mir Platz. Dann greift er nach der Weinkarte, als wäre es nach so langer Zeit die normalste Sache der Welt.

»Rot oder weiß?«

Und nun? Wie soll ich ihm klarmachen, dass ich nichts mehr trinke?

Mein Exmann hielt das für den Anfang vom Ende unserer Ehe, und Federico war schon ein Weinkenner, als wir noch in Billigpizzerien gingen. Zu einem Glas »vino della casa« hat er nie Nein gesagt. Ich warte, dass etwas passiert, oder vielleicht werde ich auch beeinflusst von der absoluten Natürlichkeit, mit der er sich verhält, seiner selbst vollkommen sicher.

»Ich trinke keinen Wein, lieber ein Bier.«

»Bier ist nicht gerade ideal zum Feiern.«

»Wie findest du mich?«, frage ich und zerkrümle ein Grissino auf der dunkelgelben Tischdecke der Trattoria, in der die Zeit seit dem Abituressen stillgestanden zu haben scheint: dieselben Stühle mit den Sitzflächen aus Strohgeflecht, die Anrichte mit den weißen Tellern und den flaschengrünen Gläsern, die Wände mit den Filmplakaten und den Schwarzweißfotos von Opernsängern, Theaterschauspielern und anderen Prominenten, die ich nicht kenne.

»Unverändert«, antwortet er, ohne dass seine Stimme einen besonderen Tonfall annimmt.

»Sag das noch mal«, bitte ich, höchst dankbar für diese unwiderstehlich großzügige und taktvolle Geste.

»Du hast dich überhaupt nicht verändert, Emma. Du bist Un-ver-än-dert «, wiederholt er, betont die Silben und lächelt mich an – Un-ver-än-dert auch das, dieses unendlich breite, frauenmordende Grinsen, das mich in der letzten Klasse des Gymnasiums umgehauen hat, als wir Mädchen noch schwarze Kittel tragen mussten, während die Jungs in Schlaghosen und groß karierten Hemden herumliefen. Die Schmach der schwarzen Tauchermontur, die eine explosive Mischung aus karierten Röcken, Miniröcken, Cowboystiefeln und knappen Jäckchen verhüllte, wurde am 17. Juli 1970 dem Vergessen anheim gegeben. Bestnoten und freie Bahn für den ersten Urlaub mit Freunden.

Als Federico von einer Privatschule zu uns kam, schlug er wie ein Meteorit in unsere Klasse ein und stellte mein Leben auf den Kopf. Und trieb einen Keil in meine symbiotische Beziehung zu Gabriella, denn sie fand ihn vom ersten Augenblick an abscheulich, arrogant und armselig, Sohn reicher Leute eben. Ein Mensch mit zu vielen Fehlern für ihren Geschmack, den sie ihrer Herkunft aus einer besseren Familie und ihrer spartanischen und immer auch etwas snobistischen Erziehung verdankt.

Nebenprodukt dieser Erziehung ist der harmonische Klang ihres nicht rollenden R, der sie für das Französische prädestiniert. In Wahrheit war sie eifersüchtig. Viele Jahre später hat sie das zugegeben, als wir nämlich bei der Beerdigung unserer Englischlehrerin, die uns als Einzige je verstanden und angespornt hat, die Trauerstimmung durch Spekulationen über das »Wer war wer« und »Was ist wohl aus dem geworden« vertrieben haben. Gabriella erinnerte sich an ihn, suchte die mit drei Generationen von Schülern vollgestopften Bänke der Chiesa di San Marco nach ihm ab und sagte: »Wer weiß, was aus der Bohnenstange geworden ist.« So pflegte sie ihn zu nennen.

»Nur noch vier Monate.«

Das ist der erste Satz, der mir in den Sinn kommt, nachdem ich Risotto alla milanese und Hackfleischklößchen mit Kartoffelpüree bestellt habe. Ich brauche Zeit. Und Kalorien. Wie eine Pennälerin schlage ich die Augen nieder und spiegle mich im leeren Teller, wo die Grissini bereits eine winzige sandfarbene Düne bilden.

»Vier Monate bis wohin, Emma?«

»Bis zum mittleren Lebensalter.«

»Oh, das habe ich soeben erreicht, und ich versichere dir, dass nichts Schlimmes passiert ist. Nur eine etwas größere Party als sonst.«

»Ich werde keine Party feiern. Geburtstage zu ignorieren, ist der beste Weg, um Depressionen zu vermeiden. Deine Lippen sind schmaler geworden«, murmle ich und gehe näher an sein Gesicht heran. Im selben Moment bereue ich schon, dass ich meine Ungeduld, von mir zu erzählen und vor allem etwas über ihn zu erfahren, mit einem so unpassenden Satz bezwingen wollte. Wenn man sich in meinem Alter mit jemand Neuem trifft, ist man zu einem lästigen Resümee der jeweiligen Fehler, Universitätsbesuche, Arbeitsstellen, Ehefrauen, Ehemänner, Exfreunde und literarischen Vorlieben gezwungen. Nicht zu vergessen die Auflistung der zehn Songs, von denen man sich nie trennen würde. Der Vorteil bei Federico ist, dass wir uns, wenn man von den Narben und Wunden der vergangenen zweihunderteinundsiebzigtausendsechshundert Stunden einmal absieht, schon kennen. Würde man an die Zeit dazwischen rühren, würde das etwas über den gegenwärtigen Gemütszustand aussagen, aber tatsächlich fällt mir nichts dazu ein.

»Du arbeitest in einem sehr netten Laden«, sagt er.

»Das ist kein Laden. Das ist eine Buchhandlung, und sie gehört mir. Ich habe sie geerbt.«

»Muss schön sein, eine Buchhandlung zu erben, statt haufenweise Geld.«

»Du hättest mich beim Notar sehen sollen – bei der Notarin vielmehr! Ich habe mich wie eine wahre Erbin aufgeführt, während sie in ernstem Tonfall das schlichte Briefchen vorlas, mit dem Tante Linda, die nach neunundsiebzig Jahren Bleistifte anspitzen, Hefte verkaufen und Schüler trösten gestorben war, mir, ihrer Lieblingsnichte, ihren legendären Papierwarenladen vermacht hat. Ich war die einzige noch lebende Verwandte, und sie hat ihre Hefte in gute Hände gelegt.«

»Und wie ist aus dem Papierwarenladen Lust&Liebe geworden?«

»Ich bin in einer einzigen Woche durch mehr Einkaufszentren marschiert als in meinem ganzen Leben zusammen, und je mehr Bücher ich zwischen Bergen von Windeln und Büchsen mit geschälten Tomaten aufgestapelt sah, desto stärker kam ich zu der Überzeugung, dass es einen Ort geben muss, wo sich Leute treffen und in Büchern blättern können, ohne gezwungen zu sein, etwas zu kaufen. Ich habe mich bei meinen Freunden umgehört, habe sie mit Fragen überhäuft und schließlich begriffen, dass ich in eine Buchhandlung gehöre, die mir ähnelt. An einen Ort, der mit Gefühlen zu tun hat.«

»Auch in dieser Hinsicht hast du dich nicht verändert.«

»Was die Gefühle angeht?«

»Du redest wie ein Maschinengewehr und lässt dein Risotto kalt werden.«

»Ich wollte eine unsterbliche Ware verkaufen: die Liebe.«

»Unsterblich, mag sein. Aber leicht verderblich.«

»Weniger leicht verderblich als elektronisches Zubehör, das, kaum aus der Verpackung geholt, schon wieder von einem Modell der neuen Generation abgelöst wird.«

»Es ist ein wunderschöner Ort, und du bist die perfekte Chefin. Ich wäre schon deshalb geblieben, um die Atmosphäre zu genießen.«

»Stattdessen bist du abgehauen.«

»Abgehauen nicht, aber ich war ... Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.«

»Hast du noch nie eine Exfreundin wiedergesehen?«

»Für gewöhnlich gehe ich ihnen aus dem Weg. Meist ist es eine Enttäuschung. Du bist aber nicht einfach irgendeine Exfreundin.«

»Ex ist immer noch besser als post.«

»Entschuldigung, mir gefällt die Vorsilbe auch nicht.«

Wir redeten stundenlang weiter. Unsere studentische Vergangenheit war die reinste »Geschichte Italiens«, dicke Bände, die man in meiner Buchhandlung nie finden würde.

Was ist aus dem Streber in der ersten Bank geworden?

Enrico, dein bester Freund? Hat er tatsächlich diese dumme Kuh Teresa geheiratet?

Ich habe Architektur studiert.

Ich arbeite beim Renzo Piano Building Workshop. Das Büro ist in Paris, aber zurzeit betreibe ich ein Projekt in New York.

Ich habe einen siebzehnjährigen Sohn.

Und ich eine dreizehnjährige Tochter.

Ich bin geschieden.

Ich nicht.

Die Alpträume der Klassenarbeiten haben uns so im Griff, dass wir ihn nicht bemerken. Mit bittendem Blick und höflicher Bestimmtheit reicht er Federico eine Rechnung. Wir sind die letzten Gäste, es ist Sonntag, und irgendwo wartet sicher eine Frau auf ihn. Federico zieht eine Kreditkarte aus einem schmalen Portemonnaie. Kein Foto, scheint’s. Wir gehen hinaus. Die Straße ist ausgestorben. Mailand riecht nach Frühling und nach Eau Sauvage.

»Nehmen wir ein Taxi?«

»Lass uns ein bisschen gehen, wenn es dir recht ist.«

»Natürlich ist mir das recht.«

Wir sind bis nach Hause gegangen.

»Da sind wir. Hier wohne ich.«

Die Verlegenheit ist mit Händen greifbar. Und auch eine Art Heiterkeit, zumindest was mich betrifft. Vor der Haustür verabschiede ich mich von einem Mann und fühle mich wie eine Debütantin nach dem Ball. Eine Art Aschenputtel mit Schuhen, das sich dem Finale auf Umwegen nähert. Der Prinz begleitet sie und verschwindet in der Nacht. Merkwürdig ist, dass ich ohne jedes Gebräu und ohne exzessive Grübeleien einschlafe.

 

Ich gehe hinten über den Hof hinein. Die Buchhandlung ist in ein Mietshaus eingelassen und prangt dort wie ein altmodisches Schmuckstück am faltigen Hals einer Dame zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Die philippinische Hausmeisterin, die sich ihre wenigen Quadratmeter mit Unmengen an Plastikkitsch und Reispapierlampen teilt, kommt mir mit ihrem Reisigbesen entgegen und überreicht mir einen Umschlag. Nur mein Name steht darauf, in grüner Tinte, die Schrift ist gerade, die Großbuchstaben rollen sich ein wie die Turmspitzen der Sagrada Familia in Barcelona.

 

Emma Valentini. Persönlich.

 

»Den hat heute früh ein attraktiver Herr abgegeben«, murmelt Emily, als hielte sie eine Rechnung in den Händen, was nur Ärger bedeuten kann.

Ein Gentleman, ganz klar. Heutzutage nimmt man elfenbeinfarben gefütterte Briefumschläge nur noch für die Einladung zur ersten Hochzeit. Für die zweite und dritte ruft man bestenfalls noch an und macht nicht einmal mehr eine Geschenkeliste. Ich öffne den Umschlag. Wer auch immer der attraktive Herr sein mag, er muss mich gut kennen.

 

Mailand, den 12. April 2001

Grand Hotel et de Milan

Via Manzoni 29

Liebe Emma,

während ich das hier schreibe, denke ich an Deine Hände und preise den Erfinder der elektrischen Rollläden. Ich stelle mir vor, wie Du meinen Brief öffnest und »mit immer noch tränenfeuchten Augen und umfangen von der unsichtbaren Hülle der Melancholie« Dein Reich betrittst (diesen einfältigen Satz habe ich wortgetreu aus einem Roman abgeschrieben, den irgendjemand hier im Hotelzimmer vergessen hat). Ich lasse mir Zeit, aber bereits als Kind kam ich immer schon am Anfang der Schulaufsätze ins Schwadronieren. »Du hast dich nicht hinreichend an das Thema gehalten«, lautete das Urteil über mein Gestammel. Vielleicht habe ich mich für Architektur entschieden, um zum Punkt zu kommen. Es war ein wunderschöner Abend. Ich wollte Dich anrufen, aber es ist zu spät. Seit Tagen bin ich nun schon in Mailand und habe mich bei niemandem gemeldet. Ich habe keine Lust auf Freunde, Familien von Freunden, erwachsene Kinder von Freunden. Ich möchte mich nicht als Gast fühlen, auch wenn sie alle sauer sein werden, allen voran Enrico, der Exklusivrechte auf mich beansprucht. Ich rufe ihn nicht an, weil ich mir wie ein Idiot vorkommen würde, wenn ich ihm nicht erzählte, dass ich Dich wiedergesehen habe. Ich hätte gedacht, Heimatgefühle zu entwickeln, aber Fehlanzeige. Mailand ist ein großer Rummelplatz. Mit all diesen Sofas, Möbeln, Lampen, Tischchen, Festen, Cocktailempfängen, Eröffnungsfeiern zu jeder Tages- und Nachtzeit hat es nichts mehr mit mir zu tun. Neulich war ich in der Gegend der Via Tortona, wo die alten Fabrikhallen des Ansaldo dem Viertel das Flair einer internationalen Stadt verleihen sollen. Das Kino in der Via Torino, wo wir uns morgens versteckt haben, gibt es nicht mehr, dafür reihen sich dort lauter ununterscheidbare Geschäfte aneinander: All die Mokassins mit ihren Troddeln, die Cowboystiefel und Unterhosen sind nichts als gehobene Pornographie. Vor den rumpelnden Straßenbahnen bin ich geflüchtet – wie kann etwas nur so laut sein? – und bin in Richtung Piazza Sant’Alessandro gegangen. Der Himmel hing schwer wie ein Metallgitter herab und hat die Fassade der Basilika von 1601, dieses großartigen Barockjuwels, in Schatten getaucht. Vier alte Frauen mit wolkenartig aufgebauschter Haartracht humpelten die Granitstufen hoch. Die kleinste von ihnen hat versehentlich meinen Ärmel gestreift, und plötzlich hatte ich den vertrauten Geruch von Kampfer und Puder in der Nase. Ich musste darüber nachdenken, wie meine Mutter wohl geworden wäre. Runzlige Alte scheinen sich einig zu sein, was Perlenketten angeht. Auch diese trug eine über ihrer fliederfarbenen oder bläulichen Strickjacke, dazu eine Brosche am Kragen und eine festliche Kopfbedeckung. Ich bin ihr in die dunkle Kirche gefolgt, bis in die erste Reihe. Unzählige Votivkerzen brannten in unermüdlichem Gebet. Ich habe eine Banknote in den Opferstock geworfen und mit Hilfe eines Kerzenstummels eine angezündet. Um mich herum erhob sich der Gesang von Menschen, deren Glaube schon ein Weile Bestand hat. Ich wäre gern geblieben, aber als der Priester einzog, musste ich einfach verschwinden. Aus einem konditionierten Reflex heraus deutete ich sogar eine Kniebeuge an. Es ist nämlich so, dass ich nicht mit Gott sprechen kann, und das macht mir Angst. Es erzeugt ein vages Schuldgefühl in mir, als würde ich nicht alles versuchen, nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen. Auf dem düsteren Platz ist mir ein Laden ins Auge gefallen. Er schien einer Postkarte aus viktorianischen Zeiten entsprungen, und das Schild »Lust&Liebe« – ein gänseschnabelgelber handgeschriebener Schriftzug auf nachtblauem Grund – hat mich neugierig gemacht. Im Schaufenster lagen, ausgebreitet wie Taschentücher und von Romanen flankiert, kostbare Fotobände von Hotels: Das Grand Hotel Quisisana auf Capri lag neben den Briefen von Simone de Beauvoir an Sartre, Der Mord im Orientexpress von Agatha Christie neben dem Pera Palas in Istanbul, eine Biographie des Hotel Danieli in Venedig neben einem blauen Band mit dem Briefwechsel von Georges Sand und Alfred de Musset. Als ich die Glastür aufschob, verkündete ein Glöckchen einem Paar Flamingobeinen, die aus einem Schottenrock hervorragten, meine Ankunft. In den beiden Räumen mit den weinroten Wänden und besonders in dem dritten, etwas kleineren und zart aprikotfarben gestrichenen Raum verbreitete sich der unvergleichliche Geruch von Büchern. Die gebeizten Holzregale reichten bis zur Kassettendecke hinauf und rahmten zwei große Schneidertische aus massivem Nussholz ein. Vor den Fenstern hingen schwere bodenlange Baumwollvorhänge. Aus Weidenkörben schauten Zeitschriften und Illustrierte hervor. An den Wänden hingen Schwarzweißfotos, Bildunterschriften informierten Ignoranten wie mich, um wen es sich bei all diesen Leuten handelt: eine Dame mit zerzaustem Haar und wildem Blick (eine gewisse Colette) streut für die Tauben Reiskörner aus dem Fenster, daneben das vor Gesundheit strotzende Gesicht Hemingways, der dem schmalgesichtigen Harold Pinter zuzwinkert. Ein gemütlicher Ort – das war es, was mir besonders gefiel. Wie eine Wohnung wirkte er, für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr »Marie Claire«, ein wenig zu weiblich, aber anheimelnd. Glückwunsch, wer auch immer der Innenarchitekt gewesen sein mag. Ich bin in den ersten Stock hoch- und an den Regalen dort vorbeigegangen. Die »Liebe ohne Hoffnung« drängte sich zwischen »Von hier in alle Ewigkeit« und »Mission: Impossible«. Hinten standen drei Tischchen, zwei Sessel, beige und weinrot kariert, und eine alte Schlachtertheke, auf die eine gewissenhafte Seele Thermoskannen, Teebeutel und löslichen Kaffee gestellt hatte. So lief ich durch den Buchladen, als ich Dich plötzlich auf einem Hocker sitzen sah. In Deinen Händen ein schmales, in Leder gebundenes Buch, aus dem ein Lesebändchen hervorsah. Dein Gesicht, das sich in unendlicher Einsamkeit zwischen den Seiten verlor, hat mich sehr berührt. Eine absurde Mischung aus Panik und Angst ergriff von mir Besitz, ich lief die Treppe hinab und versuchte, mich unsichtbar zu machen, aber sofort rückte die eifrige schottische Garde näher: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie. »Ich suche ein Geschenk. Vielleicht käme der Band infrage, der ... im Schaufenster liegt. Es ist für einen Architekten, wissen Sie.« Märchen zu erzählen, um mich aus der Patsche zu ziehen, ist immer noch eine meiner Spezialitäten. Nicht von ungefähr gefallen mir Buchhandlungen, in denen man sich auf Stühle oder ein Sofa setzen und in Zeitschriften blättern kann, ohne dass jemand auch nur im Traum daran denken würde, sich nach deinen Kaufabsichten zu erkundigen. Geschweige denn nach deinen Wünschen. »Suchen Sie sich in Ruhe etwas aus, wir sind ja da«, antwortete sie. »Ich sehe mich mal um, danke.« Das da oben warst Du. Irrtum ausgeschlossen. Hose mit hoher Taille, Schnürstiefel, weißes Hemd und Hosenträger, Ohrringe, der obligatorische schulterlange Pagenschnitt und diese Aura einer Person, die alles ernst nimmt. Die Haare verdeckten einen Teil Deines Gesichts, und hinter Deinem Kopf verkündete ein Schild in Times New Roman: »Der einzige Rat, den man einer Person in Sachen Literatur geben kann, ist, niemals einen Rat anzunehmen, sondern seinem Instinkt zu folgen, sein Gehirn zu benutzen und selbst zu einem Urteil zu gelangen.« Ich hätte dieser Mahnung folgen können, hätte ein Buch auswählen, zur Kasse gehen und mal schauen können, ob Du mich wiedererkennst, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen. Ich habe gezögert, habe geschwankt, aber ja, tu’s doch, habe ich mir gesagt, im schlimmsten Fall schmeißt sie ihn weg, und das war’s dann. Ich habe meine Telefonnummer aufgeschrieben, und das war gut so. Den Rest kennst Du. Diesen Brief werde ich Dir zukommen lassen, bevor ich abreise. Er enthält einen Vorschlag. Per Internet (bitte nimm mir diesen Ausflug in die Welt der Technologie nicht übel) habe ich in New York ein Postfach eingerichtet. Ich würde mich freuen, wenn wir uns schreiben könnten. Das mag altmodisch und unbequem wirken, aber es scheint mir die ideale Form zu sein, wie wir von uns erzählen können, ohne Deine Gewohnheiten durcheinanderzubringen. Ein privater Ort. Der einzig vertretbare für ein Wesen wie Dich, das sich den modernen Kommunikationsmitteln verschließt. »Mails for your eyes only« lautet der Slogan, den sich ein genialer Werbetexter für die amerikanischen Postfächer ausgedacht hat. Die Briefe sind für alle anderen unsichtbar. Wenn es Dir recht ist, schreib mir an diese Adresse:

Federico Virgili, Post Office Box 772 – New York, NY 10002

Ein Kuss über den Atlantik,

Federico

 

Wenn Federico ein Postfach eingerichtet hat, muss er wohl ein großes Bedürfnis verspüren, mit jemandem zu reden.

»Zwei Dinge muss ich dir sagen, etwas Gutes und etwas Schlechtes. Was möchtest du zuerst hören?«

»Das Schlechte«, hatte ich geantwortet.

»Eigentlich ist es beides dasselbe«, hatte er sanft und unverfroren zugleich erklärt. »Es sind mehr als dreißig Jahre vergangen.«

»Und die gute Nachricht?«

»Mehr als dreißig Jahre sind vergangen, aber es ist, als wäre es nicht einmal ein Tag gewesen.«

Hat er eine derart schweigsame Frau geheiratet? Mir hat er nur gesagt, dass sie Anna heißt.

 

Die Post an der Piazza Cordusio ist nur wenige Minuten von der Buchhandlung entfernt. Um dort hinzugelangen, muss ich durch ein paar enge Sträßchen hindurch, und die Räder meines Fahrrads bleiben, wie sonst meine Absätze, zwischen den Pflastersteinen stecken. Ich befestige das Schloss an einem Straßenschild, auf dem ein weißer Pfeil auf blauem Grund Richtung Himmel zeigt. In meinem Stolz, keinen Führerschein zu besitzen, sagen mir auch die Straßenschilder nichts, oder besser: Sie sagen mir das, was ich glauben möchte. Der Pfeil verweist auf ein Oben, das ich mir heiter vorstelle, mit Wölkchen und all den Requisiten eines demokratischen Paradieses. Außer Brüdern und Eltern sind dort noch etliche andere Leute, die ich liebe, und es freut mich, sie an einem angenehmen Ort zu wissen.

Die Halle mit dem gelben Schild ist in Neonlicht getaucht. Dutzende von Leuten warten langmütig oder ungeduldig, je nach Alter und Charakter, an den Schaltern. Andere sitzen auf Metallbänken und halten wie in der Wurstabteilung im Supermarkt eine Nummer in der Hand. Jemand blättert in einer Zeitschrift, zwei junge Menschen küssen sich leidenschaftlich, ungeachtet der missbilligenden Blicke eines älteren Herrn, der, obwohl es nicht kalt ist, einen Lodenmantel trägt. Es ist Frühling, und sechs von zehn Leuten hängen am Handy. Die Post ist ein sicherer Ort. Hier werden Umschläge verschlossen und frankiert, Rechnungen beglichen, Formulare ausgefüllt, hier gibt es Computer, hier wird die Rente ausgezahlt. Das Postamt ist eine Welt für sich, nur ich war schon seit Jahren nicht mehr hier. Ich betrete einen engen Flur, dessen Wände vollständig mit durchnummerierten Postfächern bedeckt sind. Dank der schwachen Lampen fällt ein weiches, goldenes Licht auf die geheimnisvollen Metallklappen, hinter denen ich vergessene Pakete, heimliche Schriftwechsel und krumme Geschäfte vermute. In einem Glaskasten sitzt eine junge Frau und scheint sich zu langweilen. Sie sieht mich und bedeutet mir, zu ihr zu kommen. Ich muss an den alten Film Rendezvous nach Ladenschluss denken; wer weiß, ob die junge Dame je davon gehört hat.

»Ich möchte ein Postfach einrichten«, sage ich so unbefangen wie möglich. In Wahrheit schäme ich mich, als würde ich etwas Unrechtes tun. Ohne zu ahnen, welch schweres Unwetter sie in meinem Geist auslöst, hebt die Frau die Augen von der Zeitschrift, die auf ihren Knien liegt: »Haben Sie einen Personalausweis?«

»Natürlich habe ich einen Personalausweis. Warum?«

Sind Postfächer denn nicht anonym?

»Ich muss das Formular ausfüllen. Zahlung im Voraus. Jedes Postfach hat eine Nummer und ein Sicherheitsschloss. Es gibt verschiedene Größen. Wir stecken die Post morgens hinein, Sie können sie jederzeit abholen.« In einem Land, in dem sich die unheilige Sitte durchgehender Ladenzeiten unter gar keinen Umständen durchsetzen wird, scheint mir das ein Wunder an Kundenfreundlichkeit zu sein. Als wäre es dringlicher, zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Brief lesen zu können, als einen Liter Milch, einen Salatkopf oder ein Päckchen Zigaretten zu kaufen. Und als wäre es das Natürlichste auf der Welt (für sie ist es das Natürlichste auf der Welt), überreicht mir die junge Frau den Schlüssel für mein Postfach.

Als ich mit einer für meine innere Schweizer Uhr ungewöhnlichen Verspätung die Buchhandlung betrete, kümmert sich Alice gerade um eine kleine, rundliche Kundin mit aggressiv karottenrotem Haar, die in der Abteilung »Liebe und Verbrechen« herumstöbert.

»Gott sei Dank, Emma. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

Klar, ich hatte ihr nicht gesagt, dass es später werden würde. Die Karotte hat ihre Wahl getroffen, Der Liebesbeweis – die Geschichte vom rachedurstigen Mord an einer Ehefrau. Sie zahlt und geht deutlich aufgeheitert hinaus, ahnungslos, was sie in dem Buch erwartet.

»Kennst du Rendezvous nach Ladenschluss, Alice?«

»Nie gehört. Ist mir da etwas Wesentliches entgangen?«

»Das ist ein Film von Ernst Lubitsch, glaube ich. Der Originaltitel lautet The Shop Around the Corner. James Stewart arbeitet in einem Laden, dem Laden aus dem Titel nämlich, und ist unsterblich in ein Mädchen verliebt, das er nie persönlich kennengelernt hat. Sie schreiben sich aber ständig Briefe. Im selben Laden wie er arbeitet auch Margaret Sullavan. Die beiden können sich nicht ausstehen und wissen nicht, dass sie sich längst lieben. Margaret ist nämlich das Mädchen, das James Stewart nie kennengelernt und in das er sich verliebt hat ... brieflich.«

»Das ist ja dieselbe Geschichte wie in E-Mail für Dich! Meg Ryan ist Buchhändlerin und Tom Hanks der arrogante Besitzer einer riesigen Buchhandelskette, so eine von denen, die du in Grund und Boden stampfen willst! Meg hat von ihrer Mutter eine kleine Kinderbuchhandlung geerbt und muss nun schließen, weil in ihrer Nähe eine riesige Filiale dieser Kette eröffnet. Ihre Wut lässt sie in E-Mails an einen Unbekannten aus, der sich in sie verliebt. Ein Lobpreis auf die virtuelle Kommunikation. Den Film müsstest du mal sehen, damit du das Internet nicht immer so verteufelst.«

»Du redest vom Remake, Alice. Ich rede vom Original.«

»Soll ich mir den Roman besorgen?«

»Ich glaube nicht, dass diese Geschichte eine Romanvorlage hatte. Es ist mir nur so eingefallen.«

»Wenn ich heute Abend nach Hause komme, schaue ich im Internet nach.«

Das sagt sie mit Bedacht. Sie lässt keine Gelegenheit aus, mir unter die Nase zu reiben, dass im Laden ein Computer fehlt. Ich ignoriere die Provokation, gehe hinauf, um mir einen Kaffee zu machen, schnappe mir Eine und eine Nacht von Ennio Flaiano und denke über Titel für das Schaufenster »Blitzaffären« nach – die besten, behauptet mein Exmann, der die Verpflichtungen, die sich aus einer zweiten Verabredung ergeben, schon nicht mehr mit seinem Charakter vereinbaren kann.

 

Mailand, den 14. April 2001

Lust&Liebe

Lieber Federico,

das Geräusch, mit dem die Feder über das Papier kratzt, ist schon richtig ungewohnt, und ich bemühe mich, locker zu bleiben, um nicht Löcher oder Flecken auf dem Papier zu hinterlassen. Sonst müsste ich ja alles noch einmal abschreiben. Ungewohnt ist es auch, beim Schreiben seine Gedanken sortieren zu müssen.

Es hätte eine Katastrophe werden können. Wir hätten ein Gefühl der Fremdheit empfinden können, hätten uns langweilen können, vielleicht hätte ich auf und davon laufen mögen. Ich bin ein vergesslicher Mensch. Du hast mir von uns erzählt, und das war, als würde ich eine unveröffentlichte Geschichte hören. Die Hauptfiguren verändern sich, entwickeln sich, bekommen Falten. Wolltest Du auch eine Person wiedertreffen, die Du als ziemlich schön in Erinnerung hattest, nur um sie uninteressant zu finden und nach Gesprächsthemen suchen zu müssen? Mir ist das jedenfalls nicht gelungen. Es war ein sehr schöner Abend, da hast Du wirklich recht. Und noch bewegender war es, Deinen Brief mit dem Vorschlag zu erhalten.

Seit jenem Abend leide ich mehr als sonst unter dem Phänomen, das die Franzosen esprit de l’escalier nennen, eine Beeinträchtigung, die mich schon seit Jahren plagt. Um das in den Griff zu bekommen, habe ich angefangen, eine Liste von Fragen zu erstellen. Einem der nächsten Briefe werde ich sie beifügen. Fühl Dich frei, nicht zu antworten, aber aus Deinen Antworten wird sich das Bild zusammensetzen, das ich mir von Dir machen werde. »Alle menschlichen Wesen erzählen sich die Geschichte ihres Lebens, indem sie eine Auswahl treffen. Sie treffen eine Auswahl und machen bestimmte Erinnerungen stark, während sie andere dem Vergessen anheimgeben. Alle menschlichen Wesen wollen an den Zufall glauben.« Diese Worte stammen von meiner Lieblingsschriftstellerin Antonia S. Byatt. Solltest Du noch nie einen ihrer Romane gelesen haben, bitte ich Dich, das nachzuholen. Fang mit Besessen an; falls Du den überstehst, bist Du für alle anderen gewappnet. Wenn Du meine Liste bekommst, kannst Du auf alle Fragen antworten oder auch nur auf die Hälfte. Aber beantworte nicht weniger als ein Drittel, das würde ich nicht aushalten. Das war wirklich eine tolle Idee von Dir. Mein Postfach wartet.

Emma

 

P.S. Der esprit de l’escalier schlägt zu, wenn du merkst, dass du am Ende der Treppe angekommen bist und nicht alles gesagt hast. Das ist der Moment, in dem dir die schlagfertigsten Repliken und die scharfsinnigsten Kommentare einfallen ... du hast nur nicht mehr die Zeit, sie auszusprechen.