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Warum werden in Disneys Musical »Tarzan« die Affen von Schwarzen Schauspieler*innen dargestellt? Was klingt so »arabisch« an den Nächten von »Aladdin«? Und wer verdient eigentlich an den afrikanischen Masken aus dem »König der Löwen«? Der Musikethnologe Nepomuk Riva wirft einen facettenreichen Blick auf die deutsche Musicalszene, die seit zwei Jahrzehnten vom Disney-Konzern dominiert wird. Anhand von Produktionen, die an außereuropäischen Schauplätzen spielen, kritisiert er rassifizierende Produktionspraktiken sowie kulturelle Aneignung, orientalisierende Inhalte und Musik in den Inszenierungen. Interviews mit Sänger*innen, Produzent*innen und Fans gewähren seltene Einblicke in die Berufswelt von BIPoC-Musicaldarsteller* innen und öffnen die Augen für die komplexen Hierarchien innerhalb der Szene und die daraus resultierenden widersprüchlichen Wahrnehmungen. Es wird klar, dass Disneys Musicals keineswegs harmlose Massenunterhaltung sind, sondern zentrale gesellschaftspolitische Fragen nach Vielfalt, Toleranz und Gleichberechtigung verhandeln. Doch sichtbar werden auch ermutigende Wege des Widerstands und der Selbstermächtigung.
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Seitenzahl: 397
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nepomuk Riva (*1974), Musikethnologe, Studium in Heidelberg und Berlin, 2012 Promotion über Kameruner Kirchenmusik, 2016–2021 Koordinator des DAAD-Graduiertenkollegs »Performing Sustainability« in Kooperation zwischen den Universitäten Hildesheim, Cape Coast (Ghana) und Maiduguri (Nigeria). 2022–2024 Vertretungsprofessor an der Universität Würzburg.
Forschungen zu rassistischen deutschen Kinderliedern, Forschungen zum deutschen Afrikabild in der Musik, v.a. anhand von Schwarzen Opernsänger*innen, und Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Musikstudierender, Workshops und Weiterbildungen im Rahmen des von der bpb geförderten Projekts »Fairplay in der Musikpädagogik. Kultursensibler Umgang mit Kindermusik«.
Nepomuk Riva
Der König der Raubtiere
Orientalismus, Rassismus und kulturelle Aneignung in Disneys Musicalwelt
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Nepomuk Riva:
Der König der Raubtiere
1. Auflage, Oktober 2024
eBook UNRAST Verlag, Dezember 2024
ISBN 978-3-95405-204-2
© UNRAST Verlag, Münster 2024
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Vorwort
DAS ERFOLGSGEHEIMNIS VON DISNEYS MUSICALPRODUKTIONEN
»Hakuna matata?« Disney-Musicals als Massenphänomen in Deutschland
Der König der Löwen im Hamburger Hafen
Die Geschichte von Völkerschauen und Exotenfilmen in Deutschland
Ausgangslage der Forschung
Struktur des Buches
»Mein, mein, mein!« Der Disney-Konzern und die deutsche Musicalszene
Rettung oder neue Abhängigkeit?
Die deutsche Musicalszene
Disneys Musical-Sparte
Disneys Einstieg in die Musicalbranche
Die Weltmusik-Filme und Musicals
Vom Drehbuch zum Libretto
Vom Soundtrack zum Musical
Auseinandersetzungen um Megamusicals in Deutschland
TEIL 1: WERK- UND INSZENIERUNGSANALYSEN
»Ich aber hab’ das Affenleben hier satt« Orientalismus, Exotismus und Rassismus in magischen Handlungen
Rassismusvorwürfe gegenüber dem Disney-Konzern
Der orientalisierende und exotisierende Blick auf Kulturen
Rassentheorien in Darstellungen von Charakteren
Diskurse über Rassismus in der amerikanischen Musicalszene
Die Geschichten hinter Disneys Geschichten
Verarbeitungen literarischer Stoffe
Verarbeitungen historischer Stoffe
Plagiierte Erzählungen
Aktualisierung von Musiktheaterwerken
Disneyfication von nicht-westlichen Kulturen
»Es ist eine kleine Welt« Weiße Überheblichkeit in exotisierender Weltmusik
Eine musikalische Weltreise in Disneys Freizeitparks
Weltmusik als kultureller und ökonomischer Begriff
Weiße Überheblichkeit in der Weltmusikszene
Klangliche Konstruktion von nicht-westlichen Kulturen
Zuschreibung von westlichen populären Musikstilen zu nicht-westlichen Kulturen
Aneignung von musikalischem Material aus nicht-westlichen Kulturen
Weltmusik in Disneys Filmen und Musicalversionen
Koloniale und rassistische Klangwelten in Das Dschungelbuch und Tarzan
Exotisierende Darstellungen fremder Kulturen in Mulan und Ein Königreich für ein Lama
Alan Menkens imaginierte Weltmusiken in Aladdin und Pocahontas
Elton Johns Wandlung zur Weltmusik in Der König der Löwen und Aida
Die kooperative Weltmusik von Lin-Manuel Miranda in Vaiana und Encanto
Eine kleine Welt mit großen Auswirkungen
»Das Leben, ein ewiger Kreis« Kulturelle Aneignung und Rassifizierungen in illusionistischen Inszenierungen
Vom Museum auf die Bühne und in den Merchandising-Shop
Formen kultureller Aneignung
Kulturelle Aneignung in Disneys Bühneninszenierungen und Merchandising-Produkten
Gemeinfreie Inspirationen für das Bühnenbild
Umdeutung spiritueller und kultureller Symbole
Umformung künstlerischer Erzeugnisse zu Merchandising-Produkten
Übertragung religiöser Ausdrucksformen auf die Tierwelt
Rassifizierungen und Tokenismus bei Rollenbesetzungen
Schwarze Zootiere in Der König der Löwen
Schwarze als Affen in Tarzan
Ein Schwarzer Lampengeist in Aladdin
Die Schwarze Nubierin und die weiße Ägypterin in Aida
Der Kreislauf der kulturellen Aneignung
TEIL 2: REZEPTION
»Wer hat sonst noch einen Freund wie mich?«Der Erfolg des klassischen Disney-Formats beim Publikum
Publikumsreaktionen bei aktuellen Disney-Musicalproduktionen
Die Könige der Löwen – Fankultur bei der Hamburger Produktion
Der familiäre Bezug zu den Musicals
Identifikation mit den Handlungen
Die Faszination des Live-Erlebnisses
Sehnsucht nach exotischen Handlungsorten
Wahrnehmung der rassifizierenden Besetzungspraktiken
Fähigkeit zu Kritik am Disney-Konzern
Der Erfolg des ›Classic Disney‹-Formats
»Es ist barbarisch, aber hey, so ist unser Zuhause«Leerstellen in der Presserezeption
›Blackfacing‹ oder ›Goldfacing‹ bei Aladdin?
Die Phasen des Bewusstwerdungsprozesses für rassistische Diskriminierungen
Disneys Imagekampagne eines ›Happy Land‹
Die Behauptung von unpolitischen Musicals
Die Verschmelzung von Urlaubsreise und Musicalbesuch
Das Narrativ der Superlative und Innovation
Der Anspruch eines Empowerment von PoC-Darsteller*innen
Die Disneyization der deutschen Gesellschaft
Rezeption der Disney-Musicalproduktionen in der deutschen Presse
Rezensionen in der Fachpresse. Das musicals-Magazin
Musical-Berichterstattung im deutschen Feuilleton
Berichterstattung zu Rassismus in der deutschen Musicalszene
Der Erfolgsdruck und die öffentliche Meinung
TEIL 3: PARTIZIPATION UND EMPOWERMENT
»Die Sonne Nubiens, scheint sie auch fern, kommt wieder.«Ausbeutung und Teilhabe in Disneys Produktionen
PoC-Empowerment innerhalb des Disney-Konzerns?
Bewusstwerdung der PoC-Identität bei Darsteller*innen
Die wirtschaftliche und kulturelle Dominanz des Disney-Konzerns
Der amerikanische Global Player
Die Zusammensetzung der Kreativteams
Partizipation von PoC an den Produktionen
Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse bei der Herstellung des Merchandising
Neokoloniale Strukturen und Meinungsfreiheit
PoC-Darsteller*innen in der deutschen Musicalszene
Soziale Herkunft und Berufswahl
Rassifizierungen in der weißen Musicalwelt
Verbale Mikroaggressionen im Berufsalltag
Kritisches Bewusstsein für Antirassismus
Schriftstellerische Auseinandersetzungen mit Diskriminierungen
Ana Milva Gomes’ Autobiographie Look at me
Abla Alaouis Roman Bissle Spätzle, Habibi?
Black Musicals Matter
»Zwei Welten, eine Familie« Diversität und Inklusion in der deutschen Musicalszene
Der blinde König der Löwen-Fan
Diversity-Management anstelle von Antidiskriminierung
Diversity Strategien bei der Stage Entertainment
Umgang mit Vielfalt im Studiengang Musical/Show der UdK Berlin
Vielfalt als Wunsch und in der Realität
»Ist es denn weit? Bin ich bereit?« Kritisches Bewusstsein und künstlerische Auseinandersetzung
Wie lässt sich kritisches Bewusstsein vermitteln?
Musikzentrierte Interventionen als Mittel zur Transformation
Künstlerische Auseinandersetzungen mit Walt Disney und Megamusicals
Philip Glass’ Oper The Perfect American
Der ›Disney-Mörder‹: Felix Krakaus Theaterstück Celebration (Florida)
Olivia Hyunsin Kims Miss Yellow and Me
Jon Cozarts Disney-Parodien »After Ever After«
Individuelle und strukturelle Handlungsempfehlungen
Bibliographie
Anmerkungen
Mit Disney-Zeichentrickfilmen kam ich erst in Berührung, als ich erwachsen war. In meinem ansonsten weltoffenen Elternhaus wurden nur zwei Dinge verteufelt: Fernsehen und Comics. Trotz der wenigen Serien, die ich in meiner Kindheit an Nachmittagen mal bei Nachbarskindern sah, hatte ich deshalb nie eine engere Beziehung zu Zeichentrickfilmen. Meine Familie wollte mich aber weder von Geschichten noch von Musik fernhalten. Mein Interesse am Musiktheater wurde von meinen Eltern immer unterstützt, sei es durch Schallplatten, Opernbesuche oder Reisen zu Musicalaufführungen nach Wien, Bochum und Hamburg in den 1980er- bis 90er-Jahren. Meine Faszination für das populäre Musiktheater führte mich erst später zu den Soundtracks von Disney-Filmen. Elton Johns Interpretationen seiner Songs aus Der König der Löwen konnte ich mich als junger Erwachsener in den 1990er-Jahren nicht entziehen. Die Musik mit ihrer spirituellen Dimension und dem Wunsch nach persönlicher Selbstverwirklichung, gepaart mit einer traumhaften afrikanischen Klangkulisse, hat mich damals tief beeindruckt. Aber ich brauchte den Film nicht, ich konnte mir die Handlung in meinem Kopf ausmalen.
Das Erziehungskonzept meiner Eltern hat wenig gefruchtet. Mit Anfang zwanzig begann ich neben meinem Studium für mehrere Jahre bei deutschen Fernsehsendern als Cutter für Nachrichten, Magazine und Dokumentationen zu arbeiten und entwickelte später 3D-Animationen für Kinderopern, Kindertheaterstücke und Videoclips. So begann ich, mich auf einmal für die technische Seite von Animationsfilmen und die kreativen Möglichkeiten dieser Bildsprache zu interessieren.
Einen Realitätsschock erlebte ich 2003, als ich zum ersten Mal nach Kamerun reiste und lernte, was afrikanische Spiritualität real bedeuten kann und wie wenig der Alltag und die Lebenschancen dort mit Disneys imaginärem Afrikabild zu tun haben. In den folgenden Jahren verbannte ich die Melodien von DerKönig der Löwen aus meinem Kopf, bis ich 2010 zum ersten Mal Südafrika besuchte. Während ich mehrere Stunden im Transferbereich des Flughafens in Johannesburg verbringen musste, begann plötzlich ein südafrikanischer Chor vor einem Café spontan, vielstimmig und voller Begeisterung »The Circle of Life« zu singen. Mir war es rätselhaft, wie sich Afrikaner*innen diese Musik aneignen konnten und sie als Teil ihrer Identität ansahen.
In meinem musikethnologischen Unterricht kam ich später auf die Idee, Exotismus und Orientalismus anhand von Disney-Filmen mit Studierenden zu behandeln. Das hatte den Vorteil, dass alle die Musik bereits kannten und unmittelbar mitdiskutieren konnten. Gleichzeitig merkte ich, wie viele Studierende sich mit Figuren wie Pocahontas oder Mulan identifizierten und äußerst emotional reagierten, wenn ich das Bild der Heldinnen ihrer Jugend dekonstruierte. Mein später Zugang zu Disneys Soundtracks, die technische Beschäftigung mit Film und Animation sowie meine Erfahrungen mit nicht-westlichen Kulturen erleichterten es mir anscheinend, distanzierter und analytischer über die Werke nachzudenken. Umso mehr freute es mich, dass sich einige Studierende dennoch für kritische Untersuchungen von Disney-Filmen interessierten und Haus- oder Abschlussarbeiten dazu schrieben. Dabei ist mir aufgefallen, wie wenig die umfangreichen sogenannten kritischen Disney-Studien aus dem anglophonen Bereich in Deutschland wahrgenommen werden und wie sehr eine kritische Auseinandersetzung gerade mit den Stücken fehlt, die hierzulande seit Jahren auf Musicalbühnen vor einem Massenpublikum gezeigt werden. Lukas Lessing, einer meiner Masterstudierenden in Hannover, entwickelte ein so großes Interesse an Musicals unter postkolonialen Fragestellungen, dass er im Rahmen einer Forschungsarbeit Schwarze Darsteller*innen in Deutschland interviewte. Seine Ergebnisse zeigten, dass zwei Ereignisse bei dieser Gruppe in den letzten Jahren eine neue Haltung zur Musicalszene hervorgebracht haben: die ›Black Lives Matter‹-Bewegung sowie das Musical Hamilton von Lin-Manuel Miranda, in dem die Geschichte der Gründungsväter der USA von einem ›All-Black-Cast‹ gespielt wird. Beide Ereignisse wirken sich mit einigen Jahren Verzögerung auf die deutsche Musicalszene aus und werden meiner Meinung nach auf absehbare Zeit die Diskussionen um bestimmte Stücke verändern. Da ich mittlerweile eigene Kinder habe, die sich für Disney-Filme zu interessieren beginnen, war es für mich an der Zeit, mir nun eine eigene Meinung darüber zu bilden, inwieweit ich diese Neigungen unterstützen soll.
Im Sinne der Schwarzen Musicaldarstellerin Ana Milva Gomes verstehe ich mich mit diesem Buch als »Verbündeter im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten« (Gomes 2021, 247) in dieser Branche und in der deutschen Gesellschaft. Gleichzeitig möchte ich wie der amerikanische Autor Warren Hoffmann (2020) zeigen, dass eine kritische Beschäftigung mit bestimmten Musicals nicht bedeuten muss, dass ich nicht gleichzeitig ein großer Fan dieses Genres bleiben kann. Ich glaube, diese Ansicht teile ich mit vielen Menschen, die der deutschen Musicalszene angehören und mit denen ich mich während meiner Forschungen für dieses Buch unterhalten konnte.
Ich danke meiner Tante in England, die mir in den 1980ern erstmals Lloyd Webbers Musicals durch Schallplattenaufnahmen näherbrachte, der Gastfamilie in London, die mich während eines Schüleraustauschs 1990 zu Les Misérables einlud, sowie meiner Schwester, die ich während ihres mehrjährigen Aufenthaltes in Wien in den 1990ern besuchen durfte und dabei die dortige Musicalszene von den billigen Stehplätzen aus kennenlernte. Musicals zu besuchen, Produktionen und Beteiligte zu begleiten und Musicals selbst aufzuführen, hat mich im Laufe meines Lebens immer wieder mit Menschen in Verbindung gebracht, die mich nachhaltig geprägt haben. Diese Erinnerungen klingen in mir nach, wenn ich mich mit diesem Genre beschäftige. Für die Diskussionen, Beratung und Unterstützung bei der Anfertigung dieses Buches danke ich Lukas Lessing, Oscar Aquite Pena, Oliver Koch, den Studierenden meiner Seminare an der HfM Rostock, der HMTM Hannover, der Universität Bremen und der Universität Würzburg sowie all den Menschen aus aller Welt, mit denen ich in den letzten Jahren intensive Gespräche über Disneys Filme und Musicals geführt habe. Ich habe versucht, ihre Kommentare und Meinungen in diesem Buch aufzunehmen, auch wenn ich einige von ihnen nicht namentlich nennen kann.
Seit 2001 wird das Disney-Musical Der König der Löwen achtmal wöchentlich im Stage Theater im Hafen in Hamburg aufgeführt, nur unterbrochen durch die Corona-Pandemie. Mehr als fünfzehn Millionen Menschen haben bisher die Fabel mit der beschwerlichen Coming-of-Age Geschichte des afrikanischen Löwenjungen Simba gesehen, der aus dem Exil zurückkehrt, um seinen bösartigen Onkel Scar und eine Gruppe von Hyänen zu besiegen, um das Reich seines Vaters Mufasa zurückzuerobern und sein rechtmäßiges Erbe antreten zu können. Damit ist das Stück, dessen Libretto[1] von den Amerikaner*innen Irene Mecchi und Roger Allers stammt, die erfolgreichste Musicalproduktion in Deutschland und hat die Rekordspielzeit von Andrew Lloyd Webbers Cats in Hamburg schon lange übertroffen. Das Musical basiert auf dem Kinder-Zeichentrickfilm Der König der Löwen von 1994, der von der Theaterregisseurin Julie Taymor 1997 für den New Yorker Broadway adaptiert wurde. Nach Die Schöne und das Biest (1994) war es der zweite Zeichentrickfilm, der als Musical erfolgreich aufgeführt wurde, und der Ausgangspunkt für eine seither andauernde Strategie des Disney-Konzerns, aus populären Zeichentrickfilmen Bühnenversionen zu entwickeln. Das Programmheft suggeriert eine afrikanische Geschichte, die in einer deutschen Hafenstadt aufgeführt wird:
»Wenn über dem Hamburger Hafen die Morgensonne aufgeht und sich ihre Strahlen auf dem Elbstrom brechen, liegt seit 2001 ihr Glanz auch über dem savannengelben Dach von Hamburgs neuestem Theater. […] Achtmal pro Woche erwacht dort unter dem riesigen Kuppeldach des spektakulären Theaterbaus die Savanne Afrikas zum Leben.« (Bombeck 2001)
Das Musical erzählt jedoch keine afrikanische Geschichte. Das Stück basiert weitgehend auf der japanischen Zeichentrickfilmserie Kimba, der weiße Löwe(Kimba the White Lion) von Osamu Tezuka (1928–1989), aus der ein Großteil der Handlung, der Tiercharaktere und der visuellen Inszenierung übernommen wurde (Schweizer und Schweizer 1998, 163–179). Übernahmen von erfolgreichen Drehbüchern aus nicht-amerikanischen Ländern sind beim Disney-Konzern keine Besonderheit, aber auf den Plakaten und im Programmheft wird die Vorlage mit keinem Wort erwähnt. Anders als bei europäischen Vorlagen wurden den Erben des japanischen Autors allen Aussagen nach bislang keine Tantiemen gezahlt. Beide Werke haben ihre Tierfiguren und die afrikanische Umgebung aus der deutschen, Oscar-prämierten Tierdokumentation Serengeti darf nicht sterben (1959) von Bernhard und Michael Grzimeks übernommen. Das Stück steht damit auch in der Tradition eines deutschen Afrikabildes, das eine Wildnis propagiert, in der die indigenen Menschen nur stören. Reproduziert der Disney-Konzern mit diesem Stück koloniale Imaginationen und eignet sich dabei zugleich rücksichtslos die Geschichte eines asiatischen Autors an?
Der König der Löwen gehört zum Genre der Disney-Filme, die eine Geschichte in einer nicht-westlichen Kultur erzählen. Anders als z.B. Das Dschungelbuch, Pocahontas, Mulan, Tarzan oder Aladdin spielt dieser Film ausschließlich in der Tierwelt einer nicht näher bezeichneten Region Afrikas südlich der Sahara. Der Kilimandscharo, der zu Beginn des Films zu sehen ist, sowie das Lied »Hakuna Matata« mit einem Motto in Suaheli verweisen auf Ostafrika. Andere Lieder werden auf Zulu gesungen und viele musikalische Elemente stammen aus südafrikanischen Musikgenres. Die Kostüme und Masken sind dagegen westafrikanisch geprägt. Damit verstärkt der Disney-Konzern das koloniale Stereotyp, den afrikanischen Kontinent als eine einheitliche Region zu sehen.
Hinzu kommt, dass in dem dargestellten Vielvölkerstaat der Tiere, der absolutistisch von einer monarchischen Löwenfamilie beherrscht wird, im Film ein Affe namens Rafiki die priesterliche Rolle übernimmt. Ausgerechnet dieser wird anthropomorph mit einem rituellen Holzstab dargestellt, an dem Trockenkürbisse hängen, die er bei seinen Tauf- und Wahrsageritualen verwendet. In der Bühnenfassung wird er von einer bunt gekleideten Schamanin dargestellt, die stets von einer Schwarzen[2] gespielt wird. Sie praktiziert eine animistische Ahnenreligion, die an südafrikanische Sangoma-Praktiken[3] angelehnt ist, aber auch christliche und hinduistische Elemente enthält. Die Dialoge des Films bleiben in der Bühnenfassung weitgehend erhalten, so dass die Darstellerin mehrfach scherzhaft als »Affe« oder »Pavian« angesprochen wird – woran auch ihr Make-up erinnert. Die Nähe zwischen einem Schwarzen Menschen und einem Affen wird von der Regisseurin sogar gewünscht:
»Maintaining the absolute humanity of this character, she [Rafiki] became the only one neither wears a mask nor is in puppet form, on or off the body. Vibrant red, yellow, and blue makeup hints at the contours of a baboon’s face.«[4] (Taymor 2017, 79)
Das am menschlichsten dargestellte Tier auf der Bühne ist damit ausgerechnet jenes, mit dem Afrikaner*innen seit Beginn der europäischen Rassentheorien in der Neuzeit abwertend verglichen werden. Noch heute kommt es in deutschen Fußballstadien vor, dass Schwarze Spieler von gegnerischen Fans mit Affenlauten begrüßt oder mit Bananenschalen beworfen werden. Reproduziert das Musical stereotype koloniale und rassistische Vorstellungen über Schwarze und den afrikanischen Kontinent?
Die Musik, die der Brite Elton John zusammen mit dem deutsch-amerikanischen Filmkomponisten Hans Zimmer für das Werk geschrieben hat, orientiert sich an westlichen Popmusik- und Filmgenres. Zimmer komponiert einen orchestralen Hollywood-Soundtrack, Elton John eingängige Popsongs und Balladen. Beide versuchen nicht, eine afrikanische Musik zur Geschichte zu schreiben, sondern bedienen sich verschiedener Genres Schwarzer Weltmusik, die auch karibische Klänge und afroamerikanische Stile umfasst. In der Musical-Version ist der südafrikanische Musiker und Produzent Lebo M stärker als in der Filmmusik beteiligt, indem er die vorhandenen Stücke um südafrikanische Chorgesänge und Percussion-Arrangements ergänzt. Bei einigen Liedern, wie z.B. zu Beginn des 2. Aktes bei »One by One«, ist nicht mehr klar, ob hier Vögel oder Schwarze Menschen auf der Bühne singen (vgl. Granger 2019). Reproduziert der Disney-Konzern mit dieser Musik die Zuschreibungen, wonach letztlich alle von Schwarzen entwickelte Musik afrikanisch sei und diese zugleich aus dem Tierreich stamme?
Dem Film wurde bereits in den 1990er-Jahren Rassismus vorgeworfen (Gooding-Williams 1995). Ein Grund war, dass die Hautfarbe des bösartigen Onkels Scar dunkler war als die der königlichen Herrscherfamilie und die blutrünstigen Hyänen von Schauspieler*innen mit afroamerikanischem und hispanischem Großstadtdialekt gesprochen wurden (Pinsky 2004, 155). Der positiv dargestellte Teil der Löwenfamilie redete dagegen akzentfreies britisches Englisch (Giroux 1999, 105–106). Diese symbolische Zuordnung von Gut und Böse wird auf der Hamburger Bühne nicht übernommen. Stattdessen hat sich eine an Hautfarben orientierte Besetzungspraxis eingebürgert, die ebenfalls nicht wertfrei ist. Der bösartige Scar, Zazu und Timon sowie kleinere Nebenrollen werden mit weißen Darsteller*innen[5] besetzt, für den guten Teil der Löwenfamilie und die anderen afrikanischen Lebewesen werden durchgängig Schwarze ausgewählt. Da alle als Tiere verkleidet und geschminkt die Bühne betreten oder Tierpuppen wie Marionetten vor sich her bewegen, ist diese Besetzungspraxis als rassifizierend zu bezeichnen. Die Darsteller*innen werden zunächst aufgrund ihrer Hautfarbe und nicht aufgrund ihrer stimmlichen, tänzerischen oder schauspielerischen Qualitäten ausgewählt. Zwar wird in dem Stück hin und wieder in südafrikanischen Sprachen mit Klicklauten gesungen, was Muttersprachler*innen leichter fallen mag. Aber längst nicht alle Schwarzen auf der Bühne kommen aus Südafrika. Die Besetzungspraxis wird sogar im Programmheft offen thematisiert, in dem Kinderdarsteller*innen mit der Formulierung »Mädchen und Jungen afrikanischer, afroamerikanischer, südeuropäischer oder asiatischer Abstammung oder Herkunft« für ein Casting gesucht werden (Bombeck 2003, 29). Die enge Verbindung von Schwarzen Darsteller*innen und Tieren in dem Musical ist sogar von der Regisseurin bewusst getroffen worden:
»Der besondere Reiz für den Zuschauer besteht darin, die Schauspieler und Tänzer hinter den Tiercharakteren zu sehen. Er sieht Tiere und Menschen im harmonischen Einklang. Ich nenne das den ›double event‹. Die Mimik und Bewegung der Darsteller überträgt sich auf die Tier-Puppets. In der Fantasie der Zuschauer verschmelzen die Erzählebenen zu einer Einheit.« (Taymor in Bombeck 2001)
Die rassistischen Bezüge der Handlung nehmen nur wenige der etwa 1.800 Zuschauer*innen pro Vorstellung wahr. Viele von ihnen besuchen ansonsten eher Kinofilme oder Popmusikkonzerte. Für sie ist der Besuch des Musicals ein hochwertiges Live-Erlebnis, das ihnen durch die reichhaltige Inszenierung mit Tierpuppen, Tanzchoreographien und Musik ein unvergessliches Wohlgefühl bereitet. Sie erkennen in der Geschichte zwar Bezüge zu Politik und zum Thema Rassismus. Sie bemerken aber nicht, wie diese Produktion ihr Afrikabild beeinflusst. Der Fan Friedrich (Name v. A. geändert), der das Stück seit vielen Jahren regelmäßig allein oder mit seiner Familie besucht, erklärte mir das auf folgende Weise:
»Du kannst das so übertragen auf das aktuelle politische Geschehen. Nehmen wir mal das Beispiel ›Seid bereit‹. Wenn Scar da singt, und die Hyänen lassen sich von ihm verführen. […] Was passiert, wenn ein Verführer das Volk verführt? Er sagt ja auch: ›Macht alle mit und dann werdet ihr nie wieder hungrig sein.‹ Natürlich kannst du das auch in der Corona-Pandemie zeigen. Das kannst du auch auf einen Hitler übertragen. Der hat das im Prinzip auch gemacht. Trump … alle! […] Aber ich finde gerade die Hyänen auch wahnsinnig spannend: Die sind ja gar nicht doof. Und am Ende stirbt ja dann auch Scar, weil sie dann alles checken. Dann wird er auch zu Recht aufgefressen.« (Friedrich, 10.10.2022)
Ist der Ort der Handlung möglicherweise vernachlässigbar und geht es in dem Stück vor allem um die dargestellten Konflikte zwischen den Figuren? Dient der afrikanische Kontinent nur als Kulisse für eine leicht nachvollziehbare Handlung um Macht und Liebe?
Es gibt noch eine weitere Perspektive auf dieses Musical. Für talentierte südafrikanische Sänger*innen, bedeutet die Aufnahme in diesen Cast in einem westlichen Land den ersehnten wirtschaftlichen Aufstieg. Die südafrikanische Casting-Agentur im Auftrag des Disney-Konzerns behauptet sogar, mit dieser Besetzungsstrategie bewusst an einer Chancengleichheit zu arbeiten und Schwarzen den internationalen Markt für Gesang und Schauspiel öffnen zu wollen. Südafrikanische Darsteller*innen in den USA berichteten dem Journalisten Michael Paulson (2017), dass sie in der Handlung des Stückes die Geschichte ihres Landes wiedererkennen: Der Löwenjunge Simba kämpft wie Nelson Mandela erfolgreich darum, das Land seines Vaters aus den Händen seines bösartigen Onkels zurückzuerobern. Der Vergleich zur südafrikanischen Geschichte ist nicht aus der Luft gegriffen, da der Zeichentrickfilm 1994 in die Kinos kam, als Mandela gerade der erste Schwarze Präsident Südafrikas wurde, die politische Periode der Apartheid beendete und damit ein neues Bild des afrikanischen Kontinents verkörperte. Unverständlich bleibt nur, warum sich südafrikanische Darsteller*innen gerade mit einer amerikanischen Disney-Fabel über Afrika identifizieren, obwohl ihre eigene Musicalgeschichte zahlreiche Produktionen vorzuweisen hat, die die Geschichte der Apartheid thematisieren und international aufgeführt oder verfilmt wurden, wie etwa King Kong (1958), Sarafina! (1987) und TheMandela Trilogy (2010). Ist Der König der Löwen einfach die erfolgreichste Geschichte?
In der Tat kann das Musical durch seine ungewöhnliche Besetzungspraxis beim Publikum eine neue Wahrnehmung erzeugen. Schwarze europäische Darsteller*innen erzählen, dass in diesem ansonsten von Weißen dominierten Genre ausgerechnet Musicals wie Der König der Löwen sie ermutigt haben, ihrem bis dahin unmöglich erscheinenden Berufswunsch zu folgen. So berichtet etwa die Musicaldarstellerin of Color Madina Frey, die in Süddeutschland aufgewachsen ist:
»Ich glaube, ich bin schon ins Musical gegangen, weil ich da im Verhältnis zum sonstigen Theater eigentlich dann doch viele People of Color [PoC] gesehen hab. Weil es eben ein amerikanisches Genre ist und weil deshalb Dinge wie Tina Turner, König der Löwen oder Bodyguard auf die Bühne gebracht werden. Weil das am Nürnberger Staatstheater eigentlich nicht passiert ist!« (Frey in Lessing, 2021, Z. 586–590)
Also alles »Hakuna Matata (Es gibt keine Probleme)«, wie Timon, Pumbaa und Simba im Musical singen? Wenn südafrikanische Darsteller*innen ihren antikolonialen Befreiungskampf in Der König der Löwen erkennen und die Besetzungspraxis als Schwarzes Empowerment in der Musicalbranche verstanden wird, kann das Stück dann nicht kolonialistisch, exotisierend und rassistisch sein? Ein Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte bringt etwas anderes ans Licht. Dieses Disney-Musical schwebt hierzulande historisch betrachtet nicht in einem luftleeren Raum, sondern erinnert an äußerst problematische Vorläufer im Schaugewerbe.
Der König der Löwen wird ausgerechnet in der Hafenstadt aufgeführt, die zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs Ende des 19. Jahrhunderts das Tor zu den Kolonien und dem damit verbundenen Handel war. Durch den Hamburger Hafen kamen die ersten Afrikaner*innen nach Deutschland, hier entstand eine der ersten Schwarzen Communitys in einer deutschen Stadt. An diesem Ort gab es zudem zeitgleich bereits einen Produzenten, der mit der Inszenierung nicht-westlicher Kulturen ökonomische Erfolge feierte. Der Begründer des modernen westlichen Zoos, Carl Hagenbeck (1844–1913), begann hier seine Karriere mit der Ausstellung exotischer Tiere. Er bezog sie von Händlern aus den afrikanischen und asiatischen Kolonien und präsentierte sie in Europa einem städtischen Publikum in nachgebauten Miniaturwelten. Elefanten, Zebras, Giraffen, Antilopen und Affen wurden in Gehegen domestiziert, um dem Publikum einen Eindruck von den ›wilden‹ Teilen der Welt zu verschaffen. (Debusmann und Riesz 1995; Thode-Adora 2008; Zickgraf 2012). Als der Mahdi-Aufstand[6] im Sudan in den 1880er-Jahren den Tierhandel zum Erliegen brachte, stellte Hagenbeck sein Geschäft auf Menschen aus fernen Regionen um, die er ebenfalls als Kuriositäten ausstellte. Diese wurden jedoch nicht hinter Gittern eingesperrt, sondern in einer Umgebung inszeniert, in der sie täglich ›Wilde‹ spielen mussten. Für die Schwarzen wurden afrikanisch anmutende Dörfer gebaut, in denen sie ein imaginiertes ›primitives‹ Leben mit Essenszubereitung, Handwerk, Tierhaltung und kriegerischen Schaukämpfen zeigten (Wolter 2005; Thode-Adora 2013; Blanchard und Buchner-Sabathy 2012). Das Publikum wurde wie in einem Disney-Freizeitpark durch die Anlagen geführt und mit theatralischen Inszenierungen und akrobatischen Darbietungen unterhalten. Schwarze Darsteller*innen unterschiedlicher Herkunft mussten eine Mischung kultureller Praktiken vorführen: vom Trommeln über Hochzeitstänze, Speer- und Kriegstänze bis hin zu rituellen Zeremonien. Das Ganze geschah vorzugsweise in Verkleidungen von halbnackten Männern und Frauen, um eine fremdartig-erotische Atmosphäre zu schaffen. Die Menschen sollten als ›Mischwesen‹ in Erscheinung treten, die in enger Beziehung zu den Tieren lebten, die neben ihnen zur Schau gestellt wurden oder mit denen sie Umzüge veranstalten mussten. Diese Form der Darstellung begeisterte das deutsche Publikum, das sich nach Exotik sehnte. Zugleich sollten die Ausstellungen den Besucher*innen bestätigen, dass die westlichen Gesellschaften anderen Kulturen überlegen waren.
PoC-Darsteller*innen[7] wurden vielfach mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt, schlecht bezahlt und lebten unter menschenunwürdigen Umständen. Sie hatten keine Rechte und wurden mehr oder weniger zu den erniedrigenden Darbietungen gezwungen. Einige überlebten das für sie ungewohnte Klima nicht. Bis in die 1930er-Jahre betrieb Hagenbeck solche Menschenzoos in Deutschland und europaweit (Dreesbach 2005).
Stumm- und Tonfilm setzten diese Inszenierung Afrikas in Deutschland nahtlos fort, auch wenn die Dreharbeiten in Europa stattfanden. Schwarze aus den ehemaligen deutschen Kolonien, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten, sahen in der Unterhaltungsindustrie eine der wenigen Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen (Fuhrmann 2007). In exotisierenden und kolonialrevisionistischen Filmen mussten sie jedoch das Stereotyp des gutmütigen Schwarzen Sklaven, Dieners und kolonialen Untertanen spielen, der in ›primitiven‹ Verhältnissen lebt und dessen Talente vor allem im Tanzen, Trommeln und Singen liegen. Auf der Leinwand verkörperten einige berühmte Schwarze Schauspieler*innen afrikanische Stereotype, für die sie gut bezahlt wurden. Gleichzeitig organisierten sie sich in der Weimarer Republik und kämpften politisch für ihre Rechte (Nagl 2004; 2010).
Der Nationalsozialismus griff diese Darstellungsform auf und versuchte mit Propagandafilmen in der Bevölkerung die Hoffnung auf eine Rückeroberung der deutschen Kolonien zu schüren (Linne 2008). Die Publikumserfolge bewahrten die Schwarzen Darsteller*innen vor rassenideologischer Verfolgung und Vernichtung. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges setzten die Machthaber zudem bevorzugt Schwarze, meist französische Kriegsgefangene, unter Zwang für Massenszenen in diesen Filmen ein. Deutsche Schwarze Zeitzeugen schildern in Autobiographien ausführlich diese politisch bedrohlichen Zeiten für sie (Massaquoi 1999; Michael 2013). Einige von ihnen wurden von den nationalsozialistischen Behörden für mehrere Jahre als Mitglieder in Die Deutsche Afrika Schau zusammengefasst, die sich wiederum an dem Konzept der Menschenzoos des 19. Jahrhunderts orientierte. Schwarze unterschiedlicher Herkunft präsentierten in dieser Wanderausstellung eine imaginierte afrikanische Kultur durch Showelemente und verschiedene Handwerkskünste (Lewerenz 2006; Möhle u. a. 2006). Nicht alle Formate dieser Art verschwanden nach dem Zweiten Weltkrieg. Die stereotype Inszenierung von Schwarzen blieb vor allem im Zirkus sowie in verschiedenen kulturellen Veranstaltungen präsent (Brändle 2013).
Die Auswirkungen dieses deutschen Afrikabildes sind bis heute in Film und Fernsehen nachweisbar (Baer 2006). Schwarze Schauspieler*innen beklagen sich, dass sie weiterhin nur gecastet werden, um bestimmte Stereotype zu verkörpern (Cherrat 2005; Eilers 2011). Dieses Afrikabild ist auch im deutschen Alltagsrassismus nachzuweisen, der Schwarze in vielen Lebensbereichen diskriminiert und ausgrenzt (Sow 2008; Hasters 2019; Roig 2021).
Die amerikanischen Disney-Produktionen Der König der Löwen und Tarzan stehen in Deutschland in der Fortführung dieser Menschenzoos und exotischen Inszenierungen von Afrikaner*innen. Wenn die Besetzungspraxis dazu führt, dass Schwarze bevorzugt Tiere wie Löwen, Zebras, Giraffen und Affen spielen, wird ein Bezug zur deutschen Kolonialzeit und deren rassistischer Weltsicht hergestellt. Wenn Schwarze in Kostümen auftreten, die ihre Hautfarbe betonen, und artistische und musikalische Fähigkeiten demonstrieren oder kämpferische Szenen spielen, sind die historischen Vorbilder der Kolonialausstellungen nicht zu übersehen. Die Frage ist nur, ob Disneys Musicalproduktionen das koloniale und rassistische Afrikabild reproduzieren oder ein neues, realitätsnäheres erzeugen. Führen die Produktionsbedingungen dazu, dass Schwarze weiterhin ausgebeutet werden oder werden sie heutzutage an den Produktionen und den Gewinnen fair beteiligt?
Für mich als Musikethnologe ist es einerseits spannend zu sehen, wie viele unterschiedliche Perspektiven es auf ein Massenphänomen wie das Disney-Musical Der König der Löwen gibt. Mit meinem Forschungsschwerpunkt auf afrikanischen Musikkulturen und ihrer Geschichte fällt es mir jedoch nicht leicht, alle Perspektiven gleichwertig zu beurteilen. Zu schwer wiegt für mich die Geschichte und die Auswirkungen des westlichen Kolonialismus und Rassismus. Nicht zuletzt diente die exotisierende Darstellung afrikanischer Kulturen der deutschen Politik in der Kolonialzeit dazu, die Landnahme, wirtschaftliche Ausbeutung und Vernichtung ganzer Volksgruppen vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Welche Ausbeutungsstrukturen und Gewalttaten könnten heute durch eine Fortschreibung dieser Darstellung verschleiert werden? Bei meinen Recherchen zu Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Musikstudierender und Opernsänger*innen in Deutschland in den letzten Jahren habe ich zudem andere Berichte über Arbeitsverhältnisse im Kulturbereich erhalten, als dass ich den obigen Aussagen Schwarzer Musicaldarsteller*innen vorbehaltlos zustimmen könnte. Mich interessiert daher, wie die unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Musical entstehen und warum einige davon in der Öffentlichkeit dominant erscheinen, während andere bisher kaum thematisiert werden. Widersprüche zwischen einer Produktion und ihrer Rezeption existieren in der Regel nicht ohne Grund, auch wenn die dafür verantwortlichen Strukturen zunächst nicht sichtbar sind.
Allen Perspektiven ist gemein, dass mit Der König der Löwen Fragen der Repräsentation einer nicht-westlichen Kultur, kultureller Aneignung und Rassifizierung, aber auch der Partizipation am Produktionsprozess und des Schwarzen Empowerments verhandelt werden. Gerade weil der Handlungsschauplatz in Afrika liegt und das Stück in Lizenz des global agierenden Disney-Konzerns in Hamburg mit internationalen Darsteller*innen aufgeführt wird, ist das Musical keine harmlose Massenunterhaltung. Es ist Teil von Diskussionen um den Umgang mit nicht-westlichen Kulturen und ihren Bevölkerungen sowie um politisches Selbstbewusstsein von PoCs in einer mehrheitlich weißen westlichen Gesellschaft. Damit werde ich grundsätzlich dem Forschungsansatz folgen, den der britische Theaterwissenschaftler George Rodosthenous vor einigen Jahren zu Disney-Musicals entwickelt hat:
»I will suggest that we revisit musicals not only as popular entertainment […] or as a globalized commercial product […], but firstly as a political tool for enhancing our understanding of race, sexuality and gender, secondly as an educational tool for younger children and thirdly as a place for artistic innovation.«[8] (Rodosthenous 2017, 2)
Die Auseinandersetzung mit Rassismus, Sexualität und Gender lässt sich allerdings nicht allein an den Filmen und Bühnenwerken ablesen. Sie erfordert in gleicher Weise eine Untersuchung des sozialen Kontextes, in dem die Stücke aufgeführt und rezipiert werden. Eine solche qualitative ethnographische Forschung wird in diesem Buch vorgenommen. Dazu wird der Kreis der untersuchten Stücke erweitert.
Was bei der Hamburger Produktion von Der König der Löwen auffällig ist, spielt auch bei anderen Disney-Musicals eine Rolle, die nicht-westliche Handlungsorte besitzen, wie Aladdin, Tarzan oder Aida. Es lässt sich eine generelle Strategie hinter den Stückentwicklungen, ihren Aussagen und den Vermarktungsstrategien erkennen. Dieses Vorgehen ist bislang in der deutschen Gesellschaft kaum kritisch diskutiert worden. Disneys Produkte werden von der Mehrheit als hochwertige Unterhaltung und pädagogisch unbedenklich angesehen – mit Ausnahme gelegentlicher Kritik an den propagierten Frauenbildern (Vonier und Krause 2005). Amerikanische Wissenschaftler*innen, die seit einiger Zeit kritische Disney-Studien betreiben, berichten von ähnlichen Erfahrungen. Elizabeth Bell und ihre Kolleg*innen beschreiben frustriert aus Seminaren, dass Studierende oft ablehnend auf ihre kritischen Forschungen reagieren und Disney-Produkte mit den immer gleichen Argumenten verteidigen: »It’s only for children, it’s only fantasy, it’s only a cartoon, and it’s just good business.«[9] (Bell, Haas, und Sells 1995, 4). Ein Grund für diese Reaktionen sind die unterhaltsamen, märchenhaften und magischen Erzählstoffe, die Disneys Kreativteams, bestehend aus Produzent*innen, Autor*innen, Animator*innen und Komponist*innen, ihrem Publikum präsentieren. Der Erziehungswissenschaftler Henry Giroux warnte allerdings vor Jahren bereits eindringlich vor einer Verblendung des Publikums durch diese Geschichten.
»Media conglomerates such as Disney are not merely producing harmless entertainment, disinterested news stories, and unlimited access to the information age; nor are they removed from the realm of power, politics, and ideology. But recognition of the pleasure that Disney provides should not blind us to the realization that Disney is about more than entertainment.«[10] (Giroux 1999, 4–5)
In diesem Sinne möchte ich mit dem folgenden Buch eine Lücke schließen und ausgehend von den anglophonen kritischen Disney-Studien die deutschen Disney-Musicalproduktionen untersuchen. Aus meiner musikethnologischen Perspektive lege ich den Schwerpunkt auf Stücke, die nicht-westliche Kulturen mit Musik repräsentieren. Dieser Stil soll nicht als Musiktheater, sondern als populäre ›Weltmusik‹ verstanden werden, mit allen positiven wie kritischen Assoziationen, die dieser Begriff beinhaltet. Ausgehend von den Stücken soll dann die Rezeption analysiert und der Frage nach Partizipation im Produktionsprozess und Möglichkeiten des Empowerments von PoC-Darsteller*innen nachgegangen werden.
Meines Erachtens ist es eine wichtige Frage, ob die deutsche Gesellschaft es unterstützen sollte, dass ein internationaler Unterhaltungskonzern, der einen dominanten Einfluss auf die hiesige Musicalbranche hat, ein bestimmtes Welt- und Menschenbild verbreiten darf, obwohl seine Produktionsbedingungen in vielen Bereichen fragwürdig erscheinen. Dabei geht es nicht um künstlerische Freiheit und Innovation im kommerziellen Musiktheater. Die großen Musicalhäuser wurden und werden von der deutschen Politik seit Jahren großzügig mit Infrastrukturförderungen unterstützt. Musical-Theaterbauten wurden mit öffentlichen Geldern gefördert, Traditionshäuser wie das Theater des Westens in Berlin für symbolische Summen an private Betreiber abgegeben. Die größte kommerzielle Musical-Produktionsfirma, die Stage Entertainment, erhielt staatliche Unterstützungsleistungen im Rahmen des NEUSTART KULTUR-Programms nach der Corona-Pandemie. Zudem werden kommerzielle Musicals vorbehaltlos für die großstädtische Tourismuswerbung genutzt, wie etwa der Slogan »Musicalmetropole Hamburg« belegt. Der deutsche Staat hat außerdem an mehreren Hochschulen in den 1990ern eigene Studiengänge gegründet, um Darsteller*innen für diesen Markt auszubilden. Eine Untersuchung der Inhalte der Werke, der Methoden der Aneignung sowie der rassifizierenden Besetzungspraktiken und ihrer Auswirkungen soll dazu anregen, darüber nachzudenken, ob sich diese Stücke und ihre Produktionsweisen mit den demokratisch legitimierten Werten der Inklusion und Antidiskriminierung vereinbaren lassen. Die Filmwissenschaftlerin Amy Davis hat die Notwendigkeit dieser Diskussion vor einigen Jahren mit den Worten zusammengefasst:
»In discussing Disney, we are discussing not just a film studio, not just a corporation, but a significant aspect of Western popular culture. Not to discuss it is to ignore one of the greatest forces of the twentieth and twenty-first centuries.«[11] (Davis 2019, 13)
Es ist kein Geheimnis, dass der Disney-Konzern sich freizügig Geschichten und Musiken anderer Kulturen aneignet, aber schnell reagiert, wenn es um den Schutz seiner eigenen Urheberrechte geht. Selbst kleine, unwesentliche Fälle unerlaubter Nutzung seiner Zeichentrickfiguren verfolgt er (Wasko 2001, 83–86; Grover 1992, 335–359). Ich kann mir vorstellen, dass sich das Unternehmen dagegen wehren wird, wenn ich sein weitgehend makelloses Image in Deutschland durch dieses Buch in Frage stelle. Als weißer Deutscher bin ich mir aber meiner historischen Verantwortung für die deutsche Kolonialzeit und den von meinem Land ausgegangenen Rassismus im 20. Jahrhundert bewusst. Ich fühle mich ebenso der demokratischen Grundordnung unserer Gesellschaft verpflichtet, die sich besonders in den letzten Jahren durch verstärkte Migration nachhaltig verändert hat. Deswegen halte ich es für notwendig, darüber zu diskutieren, wie wir in diesem Land ein faires, gleichberechtigtes und diskriminierungsfreies Miteinander auch in unserem Kulturleben verwirklichen können. Dieser Zustand ist nicht erreicht, solange beispielsweise Schwarze Musicaldarsteller*innen gecastet werden, die auf der Bühne Affen verkörpern, dabei Rasta-Perücken tragen und sich in einer von der afrobrasilianischen Capoeira inspirierten Choreographie bewegen wie in Disneys Musical Tarzan.
Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte, in denen ich mich in verschiedenen Analysezyklen nach und nach den unterschiedlichen Perspektiven auf die Disney-Musicalproduktionen widme. Nach einer allgemeinen Darstellung der deutschen Musicalszene und einer Beschreibung von Disneys Weltmusik-Musicals werden im ersten Hauptteil die Handlungen, Kompositionen und Inszenierungen der Stücke mit Text- und Musikanalysen deduktiv untersucht. Anhand postkolonialer und rassismuskritischer Forschungsansätze erfolgt eine Analyse der Drehbücher und Libretti. Dadurch wird deutlich, welche kolonialen und rassistischen Muster in den Filmen und Musicals reproduziert werden. Anschließend wird die Vertonung der Werke unter dem Aspekt der Verbreitung von Weltmusik betrachtet und aufgezeigt, nach welchen Kategorien weißer Überheblichkeit der Disney-Konzern die Kreativteams zusammenstellt und welche Methoden diese bei ihren Kompositionen anwenden. Schließlich werden verschiedene Formen kultureller Aneignung und rassifizierender Kategorien analysiert, die sich in den Inszenierungen im Bühnenbild, bei den Kostümen und in der Maske sowie in den Besetzungspraktiken manifestieren. Die Gestaltung der visuellen Ebene setzt sich in gleicher Weise in Merchandising-Produkten fort. Im zweiten Teil geht es um die unterschiedlichen Rezeptionen der Werke. Ausgehend von einer induktiven ethnographischen Untersuchung von Publikumsreaktionen und qualitativen Interviews mit Fans wird unter der Fragestellung eines kritischen Bewusstseins für rassistische Diskriminierung analysiert, warum die problematischen Elemente der Produktionen in der deutschen Presse kaum Beachtung finden. Als Untersuchungsmaterial bieten sich hier Rezensionen und Zeitungsartikel an, da sie die einzige kontroverse öffentliche Diskussion darstellen, die von Personen geführt wird, die sich mit den Stücken und der deutschen Musicalszene beschäftigen. Daran schließt sich der dritte Teil an, der sich damit beschäftigt, warum die problematischen Inszenierungsformen von PoC kaum thematisiert werden. Dies beinhaltet eine übergreifende Darstellung der Struktur des Disney-Konzerns und eine qualitative Inhaltsanalyse von Aussagen ausgewählter PoC-Darsteller*innen. Erweitert wird der Blick auf das Feld durch eine Darstellung der Aktivitäten im Bereich von Diversity, wie sie betriebsintern von der Stage Entertainment durchgeführt werden und künstlerisch in den Projekten des Studiengangs Musical/Show an der Universität der Künste (UdK) Berlin zu erkennen sind. Daran lässt sich die herausfordernde Tätigkeit ablesen, Möglichkeiten des Widerstands und des Empowerments in der Musicalszene zu finden. Im abschließenden Kapitel werden anhand exemplarischer künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Disney-Konzern und der Musicalszene Vorschläge unterbreitet, wie die Dominanz von Disney-Produktionen vielleicht nicht gebrochen, aber doch kreativ unterlaufen werden kann.
Die deutsche Musicalszene besteht aus vielen Akteur*innen. Ich habe versucht, alle mir erreichbaren Personen in die Untersuchungen einzubeziehen. Manche Analysen können nicht abschließend verifiziert werden, weil die dafür Verantwortlichen nicht erreichbar sind. Einige Situationen und Erlebnisse bleiben Einzelfallbeschreibungen. Ich habe mich bemüht, ein breites Bild der Diskussionen um Disney-Musicals von PoC und weißen Personen abzubilden und nehme die verschiedenen Meinungen, Erfahrungen und Biographien der Befragten ernst. Alle Beteiligten tragen meiner Meinung nach bewusst oder unbewusst Verantwortung für den aktuellen Zustand der deutschen Musicalszene. Meine Recherchen zeigen aber auch, dass politische Einstellungen und Engagement für Gerechtigkeit nicht immer an der Hautfarbe festzumachen sind.
Solche kritischen Untersuchungen mögen für einen Teil der Leserschaft zunächst überraschend klingen. Dies liegt daran, dass Disneys Musical-Produktionen in den letzten zwanzig Jahren unhinterfragt eine wirtschaftlich dominierende Funktion übernommen haben, ohne die die deutsche Musicallandschaft nicht mehr denkbar wäre.
Für die deutsche Musicalszene der kommerziellen Großproduktionen kam Disneys Der König der Löwen 2001 wie eine Retterin in der Not. Nach einer Wachstumsphase zu Beginn der 1990er-Jahre mit zahlreichen Spielstätten in deutschen Großstädten ließ die Publikumsnachfrage nach den seit Jahren laufenden Stücken zum Ende des Jahrzehnts nach. Die Erfolgskomponisten Andrew Lloyd Webber (*1948) und Claude-Michel Schönberg (*1944) erreichten mit ihren neuen Werken keine Laufzeiten mehr, die für einen en-suite Betrieb[12] wirtschaftlich attraktiv waren. Zeitweise sah es sogar so aus, als würde der Markt für diese Art der Unterhaltung in Deutschland ganz zusammenbrechen. Der Disney-Konzern mit seinem immensen finanziellen Investitionskapital, mit einem in Deutschland weitgehend positiv wahrgenommenen Branding und mit einem durch die populären Zeichentrickfilme bereits vorhandenen Publikum war der ideale Partner für die Stage Entertainment, den fast monopolartigen Produzenten sogenannter Megamusicals. Auch musikalisch entsprach die Mischung aus populärer Musik und orchestralen Soundtracks den Gewohnheiten des deutschen Musicalpublikums. Dass ein Großteil der Einnahmen der Merchandising-Produkte direkt an das Unternehmen ging, wurde in Kauf genommen. Weniger bekannt ist, in welche Abhängigkeit sich die Produktionsfirma dadurch begab. Die amerikanische Journalistin Liane Bonin berichtet, dass der Disney-Konzern seit Der König der Löwen mit internationalen Musicalproduktionsfirmen nur noch Paketverträge mit hohem wirtschaftlichem Risiko abschließt.
»In the case of The Lion King, Disney has chosen to change the very rules by which the theatrical game is played. For producers who want to showcase The Lion King in other parts of the world, the rights are available only if they accept a package deal of five more productions. While packaging is common in the film industry, it is a rarity in theatre, when even a hit show can operate on the red for years.«[13] (Bonin in Giroux, 1999, 46)
Ein Blick auf die Spielpläne der Stage Entertainment zeigt, dass dieser Deal auch hierzulande zu gelten scheint. Die deutsche Produktionsfirma kann sich glücklich schätzen, dass die Musicals Tarzan und Aladdin in Deutschland erfolgreicher waren als in den USA, wo sie nie die Gewinnzone erreichten. Der Disney-Konzern will mit seinem Erfolgswerk, wie der Löwenjunge Simba singt, »jetzt gleich König sein« und kulturimperialistischen Einfluss auf die deutsche Musicalszene ausüben. Durch seine Lizenzierungsstrategie verdrängt er damit andere Werke, da die Aufführungsorte in Deutschland und das Publikum für dieses Genre begrenzt sind. Das Unternehmen bestimmt seither maßgeblich die Form und die Inhalte der kommerziellen Musicalszene, die in den 1980er-Jahren anders begonnen hatte.
Mit der Uraufführung von Lloyd Webbers Cats (1981) etablierte sich zunächst am Londoner Westend, dann auch am New Yorker Broadway eine neue Form der Massenunterhaltung und ihrer internationalen Vermarktung. Die sogenannten Megamusicals orientierten sich nicht mehr an den Formen des Sprechtheaters, sondern dramaturgisch an den Techniken der actionreichen und handlungsorientierten Blockbuster-Drehbücher des Hollywoodkinos (besonders auffällig bei Les Misérables (1985) und Das Phantom der Oper (1986)). Musikalisch versuchten die Stücke im Gegensatz zum amerikanischen Broadway-Musical des frühen 20. Jahrhunderts, populäre Musikformen mit Elementen europäischer romantischer Operntraditionen zu verbinden, und präsentierten durchkomponierte Werke. Als besonders erfolgreich erwiesen sich Adaptionen populärer literarischer Vorlagen, Aktualisierungen von Opern- und Filmstoffen sowie Biographien berühmter Persönlichkeiten. Die Idee, Sportereignisse zu dramatisieren, war nur teilweise erfolgreich, ebenso wie Vertonungen des populären literarischen Genres von Kriminalromanen. Die Produktionsteams setzten auf eine illusionistische Inszenierung des Bühnengeschehens durch historisierende Kulissen und Kostüme. Vergleichbar mit den Filmkopien in der Kinobranche werden Megamusicals seither in Form von Lizenzen für identische, durchchoreographierte Inszenierungen international meistbietenden Produktionsfirmen angeboten. Wirtschaftlich erfolgreich kann nur sein, wer die Stücke bis zu acht Mal pro Woche fortlaufend in wechselnder Besetzung aufführt. Auf der Bühne stehen hauptsächlich Darsteller*innen zwischen 20 und 40 Jahren, die eine Ausbildung in populärem Gesang, Modern Dance und Schauspiel erhalten haben. Die Stimmen werden mit Funkmikrofonen abgenommen und mit einem kleinen Ensemble von maximal 40 Instrumentalist*innen abgemischt. Letztere spielen nicht immer im Orchestergraben, sondern können aus anderen Räumen übertragen werden. Im Laufe der Jahre wurden Teile des Instrumentalklangs als Playback eingespielt oder durch weitere computergenerierte Sounds ergänzt. Daneben sind spektakuläre Bühneneffekte oder Kostümideen wichtiger Bestandteil der Megamusicals: seien es die tanzenden Katzen in Cats oder die auf Rollschuhen fahrenden Züge in Starlight Express (1984), der über dem Publikum schwingende Kronleuchter in Das Phantom der Oper, der Hubschrauber auf der Bühne in Miss Saigon (1989) oder der fliegende Teppich in Aladdin (2011). Ohne ein solches Alleinstellungsmerkmal, das nur durch den individuellen Besuch zu erleben ist, können Musicals nicht über Jahre hinweg ein Publikum in dieser Größenordnung anziehen. Darüber hinaus entwickelten die Produzenten seit Beginn der 1980er-Jahre ein einheitliches Branding ihrer Werke mit rechtlich geschützten Bildern, Logos und Merchandising-Artikeln, das den Kreativteams der Uraufführungen eine dauerhafte Beteiligung an den Einnahmen aller weltweiten Aufführungen sicherte. Lloyd Webber gründete gar mit The Really Useful Group eine eigene Produktionsfirma, die sich weitgehend auf die Vermarktung seiner Werke konzentriert.
Erhalten blieb das Konzept eines Musiktheaterwerkes, das auf den individuellen Ideen eines Komponisten und Librettisten beruht, auch wenn diese weitere Personen für das Libretto und Arrangement engagierten. Die Genialität der Einfälle von Komponisten wie Lloyd Webber oder Schönberg wurde zunächst nicht in Frage gestellt und deren Misserfolge von Neuproduktionen in den 1990er-Jahren zunächst in Kauf genommen (Sternfeld 2006).
Anders als in der österreichischen Hauptstadt Wien, wo die britischen Megamusicals in den 1980er-Jahren rasch in einem Verbund von drei Bühnen gezeigt wurden, verlief die Entwicklung von Musical-Großproduktionen in Deutschland zunächst schleppend. Den Anfang machte Cats, das ab 1986 fast 15 Jahre lang ununterbrochen im Hamburger Operettenhaus aufgeführt wurde. Daraus entwickelte sich das Konzept kommerzieller Langzeitproduktionen in neu errichteten Theatergebäuden mit mehr als 1.500 Sitzplätzen in verschiedenen deutschen Städten (Starlight Express in Bochum ab 1988, Das Phantom der Oper in Hamburg ab 1990, Miss Saigon in Stuttgart ab 1994, Les Misérables in Duisburg ab 1996, Der Glöckner von Notre Dame in Berlin ab 1999).
Wolfgang Jansen (2008) und Jonas Menze (2018) zeichnen in ihren Büchern die Entwicklung der deutschen Musicalszene detailliert nach. Der folgende Überblick soll nur grundlegende Entwicklungslinien und Unterschiede der Produktionen im Vergleich zu Disneys Musicals aufzeigen. Das Megamusical hatte in Deutschland anfangs einen so hohen Neuigkeitswert, dass insbesondere mit den opernhaften Stücken der 1980er-Jahre Publikumsschichten bis ins Bildungsbürgertum erreicht werden konnten. Mit Starlight Express zeigte sich jedoch, dass vor allem die sportbegeisterte Mittelschicht angesprochen werden musste, um langfristig erfolgreich zu bleiben. Statt eines Theaterviertels wie im Londoner Westend oder am New Yorker Broadway setzten sich in Deutschland dezentrale Produktionen in einzelnen Großstädten durch, die sich zugleich mit städtetouristischen Angeboten verbinden ließen und über Busreiseveranstalter vermarktet wurden. Die Einrichtung von staatlichen Musicalstudiengängen und privaten Musicalschulen sollte diese Szene fördern und deutsche Darsteller*innen mit der Dreifachqualifikation Musical-Gesang, Tanz und Schauspiel für die Produktionen ausbilden. Waren die Anfangsjahre von Einzelproduzenten wie Friedrich Kurz (*1948) und Rolf Deyhle (1938–2014) geprägt, entstand später die monopolartige Produktionsfirma Stella AG, die nach ihrer Insolvenz 1999 zunächst vom Konzertveranstalter Peter Schenkow (*1954) übernommen wurde, bis sie 2002 in den Besitz der internationalen Stage Holding Gruppe von Joop van den Ende (*1942) überging. Der seit 2005 unter dem Namen Stage Entertainment agierende Unterhaltungskonzern mit Hauptsitz in Amsterdam produziert europaweit verschiedene Bühnenshows. Deutschland ist dabei sein größter Markt. Von 2003 bis 2017 besaß das Unternehmen mit der Joop van den Ende Academy eine eigene Ausbildungsstätte für Musicaldarsteller*innen in Hamburg. Seit 2018 gehört Stage Entertainment dem amerikanischen Medienunternehmen Advance Publications.
Nach einem ersten Hype mit fast einem Dutzend neu eröffneter kommerzieller Musicaltheater, die von verschiedenen Produzenten betrieben und oft auch von der öffentlichen Hand in der Hoffnung auf wachsende Tourismuszahlen unterstützt wurden, hat sich das Angebot in den 2000er-Jahren in Deutschland reduziert. Ein direktes Engagement von Lloyd Webbers The Really Useful Group mit einem Standort bei Frankfurt und einem in der Schweiz endete bereits nach wenigen Jahren mit Verlusten. Es kam zu einer Konzentration der von der Stage Entertainment produzierten Stücke auf die Großstädte Hamburg (vier Bühnen), Stuttgart (zwei Bühnen) und Berlin (zwei Bühnen). Diese tauschen inzwischen regelmäßig einen Teil ihrer Produktionen untereinander aus. Als letzter Standort im bevölkerungsreichen Ruhrgebiet wurde 2020 das Stage Metronom Theater in Oberhausen abgegeben. Die Produktionsfirma Semmel Concerts versucht ab Ende 2024 dieses Musical-Theater mit kleineren Produktionen wiederzueröffnen. Lediglich der Starlight Express, der beständig von einer eigenständigen Gesellschaft produziert wurde, erlebt seit 1988 ununterbrochen in Bochum Aufführungen und wurde bis 2018 von 16,5 Millionen Zuschauer*innen gesehen. Ein Standort für Megamusicals im finanzstarken Bundesland Bayern hat sich erstaunlicherweise nie durchgesetzt, sieht man von dem zeitweiligen privaten Betrieb des Festspielhauses Neuschwanstein und Produktionen mit kürzeren Laufzeiten am Deutschen Theater München ab.
Die Gründe für den Rückgang der Musicalstandorte sind zunächst wirtschaftlicher Natur. Zum einen erfordern Musiktheaterproduktionen enorme Investitionen und haben hohe laufende Kosten, so dass sie sich privatwirtschaftlich nur rechnen, wenn sie über mehrere Jahre ausverkauft laufen. Nach den überwältigenden Erfolgen der Übernahmen von Westend-Produktionen in den 1980–90er-Jahren wurde ein Mangel an vergleichbar populären Werken deutlich. Neue Großproduktionen in England oder den USA hatten kürzere Laufzeiten und waren damit für den deutschen Markt mit seinen festen Strukturen wenig attraktiv. Einige Werke Lloyd Webbers erlebten in Deutschland nur noch einzelne Aufführungen an Stadt- und Landestheatern. Schönberg zog sich nach zwei Misserfolgen in den 1990er-Jahren ganz aus der Musicalsparte zurück. Gleichzeitig entstand der Wunsch nach deutschsprachigen Eigenproduktionen, die sich aber nicht dauerhaft und international durchsetzen konnten. Ausnahmen bilden nur die österreichischen Produktionen Elisabeth (1992) und Mozart! (1999) von Sylvester Levay und Michael Kunze sowie Tanz der Vampire (1997) von Jim Steinman und Michael Kunze. Zudem reagierten die zahlreichen Stadt- und Landestheater auf die private Konkurrenz mit eigenen Musicalproduktionen von Werken, die nicht exklusiv lizenziert waren, mehr künstlerische Freiheit boten und intellektuellen Anspruch besaßen als die englischen und amerikanischen Großproduktionen. Damit wurde diesen ein Teil des bildungsbürgerlichen Publikums wieder abgeworben. Die Musicalproduktionsfirmen versuchten, diese Abwanderung durch ein neues Publikumssegment zu ersetzen und präsentierten ab den 2000er-Jahren eine Reihe von sogenannten Jukebox-Musicals, deren Handlung mit Songs aus dem Pop- und Schlagerbereich untermalt wurden. In diesen Jahren investierten auch einige private Unternehmen mit unterschiedlichem Erfolg in Tourneeproduktionen nationaler und internationaler Musicals. Die zum Teil mit geringen finanziellen Mitteln realisierten Stücke führten zu einer gewissen Enttäuschung beim deutschen Publikum, das mit der Bezeichnung Musical hohe qualitative Erwartungen verband und in der Folge nicht mehr vorbehaltlos verhältnismäßig teure Eintrittskarten für unbekannte Werke kaufte.