Der Krebs-Kompass - Achim Sam - E-Book

Der Krebs-Kompass E-Book

Achim Sam

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Beschreibung

Über 400 Seiten Mut, Zuversicht und wichtiges Wissen, um mit der Krankheit Krebs leben zu lernen

Krebs, ich? Nein, unvorstellbar. Besonders für Verena Sam, die seit über 20 Jahren als Fitnesstrainerin arbeitet und immer überaus gesund gelebt hat. Doch mit 35 Jahren bekommt Verena die Diagnose Krebs im fortgeschrittenen Stadium – laut den medizinischen Leitlinien und Standardtherapien unheilbar. Was nun? Wie weiterleben? Verena und ihr Mann, der Ernährungsexperte Achim Sam, sind trotz ihres Fachwissens zum Zeitpunkt der Diagnose heillos überfordert – wie Millionen andere Betroffene auch. Noch immer Sport treiben – oder lieber ruhen? Nur noch vegan essen – oder hat die rein pflanzliche Ernährung bei hormonabhängigem Krebs vielleicht sogar Nachteile? Wie gehe ich psychisch mit der Krankheit um? Wem erzähle ich vom Krebs? Und: Gibt es neue Therapien, die womöglich doch ein Überleben ermöglichen? Verena und Achim Sam haben unzählige Studien und relevante wissenschaftliche Veröffentlichungen gelesen, führende Experten zu Rate gezogen und die wichtigsten Erkenntnisse und Überlebensstrategien zu einem Buch verdichtet, das Betroffenen und ihren Angehörigen beim Leben mit der Krankheit helfen kann. »Unser Krebs-Kompass« steckt voller Information, voller persönlichen Erfahrungen und voller positiver Energie: über 400 Seiten Mut, Zuversicht und wichtiges Wissen, um der Krankheit Krebs bestmöglich zu begegnen!

Mit Expertenunterstützung von Dr. Marc Baenkler, Dr. Donata Grimm, Prof. Dr. Michael Hamm, Prof. Dr. Dirk Jäger, Prof. Dr. Andreas Michalsen und Dr. Joachim Wiskemann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 562

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Buch

Krebs. Dieser Befund trifft jedes Jahr eine halbe Million Deutsche. Auch die Fitnesstrainerin Verena Sam erhält die Diagnose: Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Nach dieser Hiobsbotschaft macht sie sich gemeinsam mit ihrem Partner, dem Ernährungsexperte Achim Sam, auf die Suche nach Informationen und Hilfe. Die beiden prüfen wichtige Studien und relevante wissenschaftliche Veröffentlichungen, sie ziehen führende Experten zu Rate und entwickeln ein Navigationssystem, das durch die Wirren einer Krebserkrankung führt. In Der Krebskompass verbinden sie ihre Erkenntnisse über neueste Therapiemöglichkeiten mit ihren persönlichen Erfahrungen – und machen anderen Betroffenen Mut.

Autoren

Verena Sam ist seit ihrem 15. Lebensjahr ausgebildete Fitnesstrainerin und Personal Coach.

Ihr Mann Achim ist ein renommierter Ernährungswissenschaftler, Bestsellerautor und TV-Ernährungsexperte.

VERENA UND ACHIM SAM

DER

KREBS

KOMPASS

Wie wir mit Krebs leben lernen

Diagnose, Therapie,

Heilungschancen

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2020 C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Verfasst mit Marc Bielefeld (persönliche Passagen)

und Franziska Pfeiffer (Ratgeber)

Lektorat: Eckard Schuster

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München; total italic/ Thierry Wijnberg

Covermotiv: Gulliver Theis

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25918-1V002

www.cbertelsmann.de

Für jede Umarmung, für Mut,

Forschung und Erdnusseis

Für euch, die wissen, um was es hier geht

Für alle, die nach den Sternen greifen,

und alle, die bereits selbst welche sind

Inhalt

Vorwort

1   Plötzlich ist da was

Vom Supersommer in die Mammografie

2   Der Untersuchungsmarathon

Der Hindernislauf bis zur Diagnose

3   Hoffnungslos war gestern

Zwischen Leitlinie und neuen Therapien

4   Plädoyer für ein Umdenken

»Die Onkologie steht gerade vor einer Schallmauer.«

Von Dirk Jäger

5   Wissen: Die Krankheit Krebs

Ursachen, Therapien, Fakten: Was Sie über den Krebs wissen sollten.

6   Experiment Hoffnung

Meine eigenen Zellen als raffinierteste Waffe gegen den Krebs

7   Iss das! Bloß nicht!

Wie Ernährung plötzlich zu einem delikaten Thema wird.

8   Wissen: Ernährung

Alles, was dem Krebs nicht schmeckt

9   Bewegung ist Leben

Meine absolute Lieblingstherapie: Mit Sport läuft alles leichter.

10   Plädoyer für mehr Sport bei Krebs

Die einzige Therapie ohne Nebenwirkungen

Von Joachim Wiskemann

11   Wissen: Bewegung

Warum selbst kleinste Übungen Großes bewirken

12    Unterschätzte Kräfte

Die große Kraft der Natur nutzen

13   Wissen: Komplementärmedizin

Nebenwirkungen reduzieren, Lebensqualität erhöhen

14   Risiken und Nebenwirkungen von Worten

Wem sage ich was und wann?

15   Kopfsache Krebs

Du entscheidest, ob das Glas halb leer oder halb voll ist.

16   Wissen: Psychologie

Die große Kopfsache: Vom Umgang mit Untersuchungen, Umfeld und dem Ungewissen

17   Erste-Hilfe-Koffer

So finden Sie die passende Behandlung. Kontakte, Adressen, Anlaufstellen

18   Rettung in Sicht

Das Ende ist wie immer offen – aber es gibt Leuchttürme.

Dank

Bibliografie

Vorwort

Der Krebs klopft nicht an. Er klopft nie an. Und es ist ihm auch völlig egal, bei wem er einmarschiert. Er ist auf einmal da. Und dann drischt er wie ein gnadenloser Paukenschlag auf einen ein. Schlimmer kann es kaum kommen. Doch dann geht das Trommelgewitter erst richtig los. Der Krebs fordert alle Aufmerksamkeit und verbraucht dabei jede Kraftreserve. Er ist unsensibel, unberechenbar und unheimlich zugleich. Er kann kaltblütig sein und komplex. Er mischt sich kompromisslos ein und zwingt nicht nur die Gesundheit, sondern das gesamte Leben an seine Grenzen und weit darüber hinaus.

Mit solcher oder ähnlicher Wucht fällt der Krebs allein in Deutschland jedes Jahr über eine halbe Million Menschen her. Und dann steht man da. Ohnmächtig. Gewaltig gefordert, grenzenlos überfordert, geschunden vom Ringen mit der Krankheit und ihrem unheilvollen Ruf.

So donnerte der Krebs auch bei uns ins Leben. Schickte pechschwarze Wolken aus heiterem Himmel und trat einfach die Tür ein. Unter den mehr als 200 verschiedenen Gesichtern hat er sich bei uns ein besonders böses ausgesucht: Brustkrebs, metastasiert. Heilungschancen gleich null. Lebenserwartung? Gering.

Wir, das sind Verena und Achim Sam. Ein bis zum Sommer 2018 unbeschwertes Paar aus Hamburg im vermeintlich besten Alter, verliebt und frohgemut, sportlich und mitten im Leben stehend, versehen nicht nur mit Haus, Hund und Katze, sondern auch mit Plänen für die Zukunft und einem Bündel voller Träume.

Doch dann schnappte sich der Krebs unseren Lebensplan und setzte den Rotstift an.

Verena ist zum Zeitpunkt ihrer Diagnose 35 Jahre alt, von Beruf Fitnesstrainerin und auch privat ziemlich sportlich. Ärzte kannte sie nur vom Hörensagen, und die Medikamente summierten sich in ihrem Leben auf drei Aspirin. Keine Zigarette. Kaum Alkohol. Null krank. Dafür eine geballte Ladung positiver Lebensenergie. Und dann das. Krebs im fortgeschrittenen Stadium.

Achim ist 37 Jahre alt, als die Hiobsbotschaft ins Haus kracht. Er ist ein bekannter Ernährungswissenschaftler, Autor von Food- und Fitnessratgebern, die Bestseller wurden. Er war mal sehr sportlich und ist es zwischendurch immer mal wieder. Früher war er ein erfolgreicher Radrennfahrer, dann geht er in anderen Bereichen an seine Grenzen. Erst feiert er, bis der Arzt kommt. Später arbeitet er bis zum Burnout. Und dann kriegt nicht er Krebs, sondern sie. Verena, sein liebster Mensch. Sein Gesundbrunnen. Seine Sonne.

Nach dem Befund taumelte das »Wir« erst mal über ein Trümmerfeld, überfordert von tausend Fragen, die auf uns einprasselten. Wie geht es weiter? Was sind die ersten Schritte? An wen sollen wir uns wenden? Sind die Standardtherapien gut genug? Oder gibt es bereits bessere Alternativen, die schon viel weiter sind?

Die Fragen krempelten den Alltag bis in die letzte Ritze um. Weiter Sport treiben oder ab jetzt doch lieber ausruhen? Fasten oder besser Kohlenhydrate essen und den Selleriepropheten huldigen? Wir hätten es nie für möglich gehalten – doch mit der Krankheit wogen selbst leichte Themen plötzlich schwer: Denn tatsächlich entscheiden Bewegung und Ernährung mit darüber, wie gut und wie lange das Leben mit der Krankheit weitergehen kann.

Aber so läuft es im wilden Krebskarussell. Es schleudert dich hin und her und hat immer wieder schwindelerregende Sonderfahrten im Programm. Wir erlebten dabei Situationen, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Wem zum Beispiel erzähle ich von der Krankheit? Wem besser nicht? Ein Punkt, der uns vorher gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Doch auch diese Entscheidung wird Konsequenzen haben – im Beruf wie im Privatleben. Am Ende rührte die Krankheit am Job, nagte an Freunden und zerrte sogar an der Familie.

Mittendrin wurden wir immer wieder von Medienberichten und zahllosen Meinungen bombardiert, von gut gemeinten Ratschlägen und haltlosen Unkenrufen. In der Tat, die Zentrifugalkräfte sind nicht ohne. Der Krebs reißt und zerrt an allem.

Und schon bald stellten wir fest: Trotz aller medizinischen Fortschritte, trotz aller neuen digitalen Kommunikationswege und hochmodernen medizinischen Einrichtungen – die wenigsten Betroffenen wissen anfangs, was auf sie zukommt. Wissen nicht, was sie als Nächstes tun sollen und welchen Strohhalmen sie trauen dürfen.

Inzwischen – anderthalb Jahre nach der Diagnose – sind wir schlauer. Im Laufe der Therapie haben wir viele Erfahrungen gesammelt. Haben viele wichtige Studien und relevante wissenschaftliche Veröffentlichungen gelesen, mit zahlreichen Ärzten gesprochen und uns mit vielen Betroffenen ausgetauscht. Es gab auf dieser Reise viel zu tun und zu verdauen. Aber es gab auch viel zu lernen. Denn es ist auch so: Man kann wachsen mit dem Krebs. Wie an jeder größeren Aufgabe, wenn man sich ihr stellt.

Unser Wissen und unsere Erfahrungen wollen wir im vorliegenden Buch versammeln und verdichten. Wollen Fragen beantworten und Rat geben. Wollen Wege und Möglichkeiten aufzeigen, die wir nicht nur für gut befinden, sondern die jeweils auch mit renommierten Experten aus den jeweiligen Bereichen abgestimmt sind. Mit Professoren, Schul-, Sport- und Komplementärmedizinern, mit Ernährungswissenschaftlern und Psychologen.

Es geht um das wichtigste Wissen rund um den Krebs. Es geht um moderne Therapieverfahren. Es geht um die gesunde Dosis Sport und Ernährung. Um Aprikosenkerne und Genscheren, um die Macht der Worte und die Kraft der Hoffnung. Und es geht auch und vor allem: um unsere Seelen, unsere Herzen.

Sie und die ganze Einstellung zur Krankheit sind essenziell. Darum wollen wir Ihnen nicht nur mit Fakten und Wissen, sondern auch mit unserer ganz persönlichen Geschichte helfen, einen Weg, einen guten Weg durch die Zeiten der Krankheit zu finden.

Um es ganz klar zu sagen: Dieses Buch ist kein Präventionsbuch. Es ist ein Überlebensbuch. Und zwar für alle Betroffenen: für die Erkrankten in allererster Linie, aber auch für Ärzte und das Klinikpersonal und besonders auch für Angehörige und Partner. Sie sind die Ko-Betroffenen. Sie sitzen mit im Boot, ob sie wollen oder nicht.

Wir haben uns darum dazu entschieden, unsere Geschichte im Kanon zu erzählen: aus Sicht der Betroffenen und aus Sicht des Partners. Zu eng sind unsere beiden Rollen miteinander verknüpft, zu dick die Stränge, an denen wir beide ziehen, um mit der komplexen Situation klarzukommen.

Der Krebs kommt einem Universum gleich. Die einzig wahre Lösung und den einen Fixstern gibt es nicht. Doch wollen wir zusammen versuchen, einen klärenden Kurs einzuschlagen.

Darum dieses Buch. Eine Navigationshilfe für das Leben mit dem Krebs. Wir hätten gern etwas Ähnliches gehabt, als wir plötzlich dastanden mit der Krankheit, jedoch völlig ohne Orientierung.

Wir fanden wenig, dem wir Vertrauen schenken konnten. Und deshalb begannen wir selbst zu recherchieren und aufzuschreiben.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum uns dieses Buch am Herzen liegt. Weil wir wissen, wie viele andere Menschen gerade von einem ähnlichen Erdbeben durchgerüttelt werden.

Ihnen allen wollen wir Mut machen.

Denn das Leben nach der Krebsdiagnose muss nicht sofort zu Ende sein. Das Leben mit dem Krebs ist möglich. Und mehr als das: Das Leben mit dem Krebs kann ein gutes Leben sein – vielleicht eines mit weniger prognostizierter Quantität, dafür eines, das in anderer Hinsicht wertvoller wird, reicher. Es hat uns vorangebracht. Es ist ein Leben, das bewusster ist als früher, mit einer ebenfalls zuvor ungeahnten Qualität. Wir haben viel gelernt. Über die Krankheit, über uns selbst. Über die Menschen. Und vielleicht sogar ein wenig über das Leben.

Wir wollen nicht das Blaue vom Himmel holen. Wollen keinesfalls Unmögliches versprechen. Unbedingt aber wollen wir die Kulissen zur Seite schieben, die das Thema Krebs oft genug verstellen, verzerren und verbauen. Es eröffnen sich dabei Perspektiven, neue Sichtweisen. Es eröffnen sich neue Einsichten und Aussichten. Und damit letztlich auch völlig neue Wege, diese komplizierte Krankheit besser zu verstehen und ihr effektiver zu begegnen. Wir leben – zum Glück – in einer Zeit, in der sich die Krebsforschung und auch -bekämpfung rasant entwickeln. Dank auch menschlicher Größen, die dies überhaupt ermöglichen und fördern.

Und inzwischen glauben wir nicht nur fest daran, sondern wissen es: Der Krebs trifft das ganze Leben. Aber das Leben kann auch den Krebs treffen. Kann ihn in die Schranken weisen, ihn erträglicher machen oder – niemand weiß es – ihn vielleicht sogar besiegen.

1

Plötzlich ist da was

Vom Supersommer in die Mammografie

Was auf Betroffene zukommt, wenn plötzlich der Verdacht Krebs im Raum steht. Welche Fragen stellen sich? Welche Rolle nimmt der Partner ein? Und warum ist es nicht immer ratsam, alle Ratschläge zu befolgen?

Verena: In Griechenland schien noch die Sonne. Es war Juni 2018, und wir hatten uns den Urlaub auf der Insel Kos redlich verdient. Vor unseren Füßen lag dieser schneeweiße Strand, das Meer war warm, und ich ging jeden Morgen joggen. Ich lief durch die nahen Dünen, am türkisen Wasser entlang. Sport ist für mich wie atmen. Achim lag auf der Terrasse, ein Buch auf dem Bauch, und genoss das Leben. In sein Mailsystem hatte er eine Abwesenheitsnotiz »gedonnert«, wie er sagte. »Ich mache jetzt Digital Detox – Nachrichten werden weder gelesen, gehört noch beantwortet.«

Wir aßen gut, tranken bunte Früchtecocktails, und die einzige Sorge, die uns in diesen Tagen in Griechenland durch den Kopf ging, kreiste um unsere Blumen zu Hause im Garten: ob sie diesen deutschen Supersommer überleben würden.

Nach der ersten Nacht in unserem Ferienapartment hatte ich Achim in die Badewanne verbannt. Jawohl, zum Schlafen. Er schnarcht nämlich wie ein intervallgesteuerter Mähdrescher und war deswegen kürzlich sogar in einer Schlafklinik. Zwei Nächte hatte er dort verbracht. Kameras und Messgeräte sollten seine nächtlichen Säge-Arien aufzeichnen und analysieren. Aber da war nichts. Nur Stille. Nur ein friedlich und ganz leise schlafender Achim Sam.

Glaubt man’s? Ich jedenfalls konnte nicht fassen, dass er ausgerechnet in diesen beiden Nächten in der Schlafklinik die Stille in Person gab: Denn in Griechenland war er diesbezüglich prompt wieder in Hochform. Für die zweite Nacht buchte Achim uns in eine Familiensuite um. Zwei getrennte Schlafzimmer. Es ging nicht anders. Ich war schließlich auch zur Erholung hier. »Denk an die Schlafklinik«, sagte ich abends zu ihm. »Da ging’s doch auch.« Und während ich ihm diese Worte ins Ohr küsste, hatte ich noch keinen blassen Schimmer, dass wir schon bald erneut eine Klinik aufsuchen sollten.

Diesmal allerdings sollte ich die Kandidatin fürs Krankenhaus sein. Und der Besuch gänzlich anderer Natur.

Das Leben war in diesen Tagen ein Traum. Wir lehnten uns zurück, taten endlich mal nichts außer genießen. Und das konnten wir besten Gewissens tun. Achim hatte zu Hause eine leitende Stellung in einem Medienkonzern, er hatte erfolgreiche Bücher über gesunde Ernährung geschrieben, die zu Bestsellern wurden. Er saß danach in zahllosen Talkshows, wurde zum gefragten Food-Experten in Funk und Fernsehen und in vielen Printmagazinen. Bis er am Rand eines Burnouts stand.

Auch im Sportstudio, das ich zusammen mit meinem Bruder aufgebaut hatte, lief es endlich rund. Es ist eine »Box«, so nennt man Sportstudios, die nicht mit den klassischen Geräten ausgestattet sind, sondern mit allen möglichen Utensilien für ein funktionelles Kleingruppentraining. Da sind Stangen für Klimmzüge und Turnübungen, Kletterseile, um sich daran hochzuziehen, Flächen mit Gummimatten und Langhanteln zum Gewichtheben. Eben alles erdenkliche Zeug, das fitter und stärker macht. Der Begriff »Box« entstand aber in erster Linie durch die Tatsache, dass die vier Wände zu einem wesentlichen Bestandteil der Work-outs werden, weil man an ihnen Handstand übt, sie mit schweren Gymnastikbällen bewirft oder schlicht Dehnübungen an ihnen verrichtet. Man kann sich so eine Box in etwa vorstellen wie einen Schuhkarton, in dem man von links nach rechts turnt und die Wände hochgeht.

Wir hatten dort inzwischen tolle und treue Mitglieder, und ich konnte nach Herzenslust dem nachgehen, was für mich nicht nur Beruf, sondern auch Berufung ist: Sport. Bewegung. Fit sein und gesund leben – und andere Menschen dafür begeistern. Meine Güte, das machte ich ja schon als kleines Mädchen. Durch die Gegend turnen, agil sein. Wenn es mit der Familie in die Ferien ging, schleppte ich freiwillig die Koffer ins Auto, packte mit an, wo ich nur konnte. Hauptsache Training!

Wir hatten in Hamburg, in Deutschland und auf der Welt verteilt viele Freunde. Dazu ein schönes Häuschen mit Garten, zwei Autos und einen Sportwagen für Achim zum Schrauben. Wir hatten eine Katze und bald noch fünf weitere, die regelmäßig in unserem »Katzenkiosk« vorbeischauten. Achim bastelte im Keller in letzter Zeit immer an seinen alten Mountainbikes herum, die er so liebt. Er hatte sich kürzlich extra einen türkisfarbenen Nappaledersattel bestellt und irgendeine eloxierte Gangschaltung im Knallbonbon-Look. Was weiß ich.

Und jetzt Griechenland. Sonne. Wellen. Pool. Die Dorade im Salat kam frisch aus dem Meer, das Olivenöl aus den nahen Bergen. Unten am Beach bogen sich die Sonnenschirme im warmen Wind. Elf Tage lang tankten wir in diesem Ferienhimmel auf, dann flogen wir zurück nach Hause. Home sweet Hamburg.

Es war heiß bei uns im Norden. 2018, dieser ewige Sommer. Die Temperaturen hatten die Elbe auf Tiefststände verdampfen lassen, und in unserem kleinen Viertel grillten die Nachbarn draußen auf den Wiesen um die Wette. Deutschland lief in diesem Sommer in Badehose und Bikini durch die Straßen.

Zurück zu Hause, ließen wir es ruhig angehen. Chillen. Nur bei jedem dritten Anruf mal wieder ans Handy gehen, den Urlaub langsam ausklingen lassen. Ich hatte mir ein Magazin geschnappt, lag in der Hängematte und schaukelte so vor mich hin. Achim kam zu mir, sagte irgendwas über die Hitze und strich mir dabei gedankenverloren über den Bauch. Dann ein bisschen seitlicher, ein bisschen höher.

»Was ist da denn?«, sagte er.

»Ach, so ein Knubbel«, sagte ich. »Ist da schon ein paar Tage.«

Achim tastete noch etwas weiter. Ich spürte nichts, es tat nicht weh. Ich spürte nur seine Hand auf meiner Haut.

»Das ist nichts«, sagte ich. »Ist bestimmt nur ein geschwollener Lymphknoten oder so was.«

Einen Moment schwiegen wir. Es war hypnotisch heiß draußen, vor dem Haus nebenan duschte der Nachbar unter seinem Gartenschlauch.

Ich weiß nicht, ob wir Menschen einen siebten Sinn haben. So wie Katzen. So wie die Rehe, die Bären und die Fledermäuse. Aber irgend so etwas in der Art müssen wir doch noch besitzen. Wir spüren das nicht mehr oft. Aber in diesem Moment in der Hängematte spürten wir es. Es fühlte sich an wie ein seltsames, tief verborgenes Wissen. Da war etwas, und wir beide, Achim Sam und Verena Ziemann, ahnten, dies war nichts Gutes.

Es sollte das Ende dieses ewigen Sommers sein.

Meine Frauenärztin weilte gerade im Urlaub, aber Achim und ich meinten am Ende beide, dass ich den »Knubbel« besser jetzt prüfen lassen sollte. Und zwar schnell. Es dauerte eine Woche, bis ich einen Termin bekam.

Wir fuhren durch die brütend heiße Stadt bis zur Radiologischen Allianz an der Schanze. Neben dem gläsernen Eingang standen schon die Schilder mit diesen eisigen Begriffen. Nuklearmedizin. Strahlentherapie. Neuroradiologie.

Mamma Diagnostik. Ich schaute nicht hin, ich ging rein. Dachte an meine Schwester, die hatte auch mal so eine Stelle gehabt.

Stelle. Was für ein harmloses kleines Wort. Doch wie fies konnte es mal eben an Bedeutung gewinnen – und zu einem perfiden Euphemismus mutieren? Bei meiner Schwester war es am Ende zum Glück nur eine Zyste gewesen.

Die Ärztin kam, tastete meine Brust ab und sagte, dass auf jeden Fall ein Ultraschall gemacht werden müsse. Ich lag auf der Pritsche, lag da wie auf Glas und starrte an die weiße Decke des Untersuchungszimmers. Achim saß draußen im Wartezimmer, ich hatte noch seinen Blick im Kopf. Wie er mich angeschaut hatte, als ich in den Untersuchungsraum gebeten wurde. Seine braunen Augen. Es ist der Wahnsinn, was Augen sagen können, ohne dass man ein einziges Wort verliert.

Nach der Untersuchung wurde gleich festgestellt, dass »Ultraschall nicht reichen« würde. Ich vernahm die Worte; wie Drohnen flogen sie durch den Raum. Man müsse sich die Sache genauer ansehen, so in etwa drückte das Klinikpersonal sich aus, und als Nächstes sollte eine Mammografie erfolgen. Ich ging aus dem Untersuchungszimmer und sagte Achim, dass es »Auffälligkeiten« gebe. Dass wir jetzt noch klären müssten, wie und wann genau es weitergeht. Eine weitere Untersuchung auf jeden Fall, vielleicht auch zwei. Heute, morgen, in den nächsten Tagen.

Auffälligkeiten? Und was denn klären? Achim starrte mich an. Die kleinen Glücksbringer, die er sich in seine Hosentasche gestopft hatte, waren schon halb zerquetscht.

Ich wurde in den nächsten Raum zur Mammografie gebeten. Diesmal lag ich nicht da. Ich stand vor einem weißen Monstrum von Gerät, das eine durchsichtige Platte besaß, diverse Hebel und Schalter und diesen großen vorstehenden Kopf mit der Röntgenkamera. Das ganze Teil sah aus wie ein Roboter.

Es dauerte nicht so lange. Der Raum war hell wie grauer Schnee, und die Platte fühlte sich kalt an. Die Ärztin, die mich jetzt untersuchte, stand ein paar Meter weiter hinter ihrem Monitor, und bald sagte sie das erste Mal, dass es wohl nichts Gutes sei. Dass es nach etwas Bösartigem aussehe. Und dass jetzt unbedingt noch eine Biopsie gemacht werden müsse, eine »Stanze«. Im Klartext: Gewebeproben entnehmen. Wir müssten dafür einen Termin ausmachen, hieß es erst, und schon die Aussicht, jetzt womöglich noch ein paar Tage warten zu müssen, kam mir zu diesem Zeitpunkt unerträglich vor. Ein Blindflug durchs Ungewisse. Wie die Fahrt durch einen Tunnel ohne Licht.

Es gab dann plötzlich eine Lücke im Terminkalender. Eine Patientin war nicht gekommen, und so konnte ich zum Glück noch am selben Nachmittag zur Biopsie. Und nun lag ich wieder da, diesmal lokal betäubt. Mehrere Stiche drangen in meine Brust, in meine rechte Seite. Ich spürte nichts, es tat nicht weh. Es war ein Dienstag, und erst am Freitag sollten die Ergebnisse vorliegen. Ich zählte im Kopf. Zwei Tage, drei Nächte. Eine gefühlte Unendlichkeit.

Wir verließen die Radiologie. Draußen war es heiß. Wir hatten das Gebäude in Flipflops betreten, mit Bleischuhen kamen wir wieder heraus.

Zwei Tage warten also bis zur nächsten Stufe, bis zum ersten hieb- und stichfesten Befund. Es war das erste Mal, dass Achim und ich am eigenen Leib erfuhren, was Warten bedeuten kann. Du sitzt bei dieser Art des Wartens in keinem Wartezimmer, stehst in keiner Schlange. Du wartest nicht auf einen verspäteten Zug, nicht darauf, dass die Bank öffnet. Du wartest auch nicht auf einen Flug, der vielleicht gestrichen wurde und erst am nächsten Tag abgeht. Du wartest auf ein nächstes Urteil. Auf ein paar Worte und Sätze von einem Arzt, auf einen verdammten Befund, der unter den acht Milliarden Menschen auf dieser Erde zunächst einmal nur dich betreffen wird. Dann deinen Partner. Und dann ein paar ausgewählte Menschen aus dem Kreis deiner Familie und deiner engsten Freunde, die dieser Befund treffen wird wie eine Abrissbirne.

An diese sehr spezielle Form des Wartens würden wir uns ab jetzt gewöhnen müssen. Dieses Warten würde Teil eines Untersuchungsmarathons werden. Teil der folgenden Therapien. Teil der Suche nach Wissen und gutem Rat. Teil des ganzen Prozedere, bis endlich der Anruf von mal wieder einem Arzt kommen würde oder du ihm höchstpersönlich gegenübersitzen würdest. Diese sehr spezielle Form des Wartens kennt ganz eigene Gesetzmäßigkeiten. Sie kann sehr groß und kalt ausfallen. Sie kann dich aus den Träumen reißen und deine Tage in Achterbahnfahrten verwandeln. Doch diese ganze Warterei auf Ergebnisse und Antworten, darauf, wie es weitergeht, sie wird jetzt ein Teil deines Lebens werden.

Doch wir sollten uns daran gewöhnen. Sollten lernen, auch damit umzugehen.

Nach der Biopsie hatten sie mir nebenbei noch diesen Satz mit auf den Nachhauseweg geschickt: Ich sollte in den nächsten Tagen keinen Sport machen.

Wie bitte? Keinen Sport? Mich nicht mehr bewegen? Nicht mehr meinem Beruf nachgehen, meinem Lebenselixier? Ich wollte das nicht glauben und schon gar nicht befolgen. Und ich befolgte es auch nicht. Ich ging weiter in die Box, ging noch am selben Abend zum Training und zu den Kursen – und hatte natürlich noch überhaupt keine Ahnung, wie eng diese beiden großen Themen am Ende miteinander verwoben sein würden.

Der Sport und die Krankheit. Die Bewegung und der Krebs. Die Wirkung eines gesunden und fitten Körpers auf ein paar Zellen, die aus dem Ruder gelaufen waren. Nun, ich sollte es später noch erfahren.

Doch auch weit über das Thema Sport hinaus wissen wir heute: Es geistert eine Menge Halbwissen und Unwissen durch die Gegend, sobald es um Krebs geht. Da flattern einem zahllose Meinungen, Warnungen und Weisungen entgegen – befolgen allerdings sollte man sie keinesfalls alle.

Achim hatte während der Biopsie draußen gewartet. Wir stiegen danach ins Auto und fuhren erst einmal ziellos durch Hamburg. Natürlich unterhielten wir uns, sprachen über die Details, die wir gehört hatten. Was hatte die Ärztin vorhin noch gesagt? Da war angeblich ein auffälliger Lymphknoten. Achim hatte das so verstanden und ich auch. Ich wollte auf meinem Handy schon googeln, aber ich ließ es sein. Dr. Google sei ein Killer in so einer Situation, hatte ich mal gehört. Drei Klicks bis zum Tod. Ich hielt mich daran, auch wenn die Versuchung groß war, schnell Gewissheit zu erlangen, sich beim Scrollen durch digital generierte Suchergebnisse zu beruhigen oder mal eben Wissen und Fakten anzusammeln.

Nein, ich verzichtete darauf – und ich würde das auch weiterhin tun. Das Internet ist in so einer Lage nicht dein Freund, es kann ganz schnell zu deinem Feind werden. Es sei denn, du gehst gezielt auf eine verifizierte Homepage, wie etwa auf die ausgewiesene Seite des Krebsinformationsdiensts. Oder du willst nur mal eine Telefonnummer herausfinden, eine Adresse.

Mein Motto jedenfalls ist – und es hat sich bis heute bewahrheitet: Bestell dir von mir aus Schuhe im Netz, aber hol dir dort nicht dein Todesurteil ab – von Wildfremden willkürlich und vorschnell zusammengeschustert.

Wir gingen erst mal irgendwo einen Kaffee trinken. Mussten diese ersten Untersuchungen irgendwie verarbeiten, mussten nachdenken und einordnen. Immer wieder kreisten die Szenen im Zimmer der Ärztin in meinem Kopf, es war ja gerade erst eine gute Stunde her. Die Ärztin hatte sich mit ihren Worten zurückgehalten. Aber ich hatte schon heraushören können, dass es sich hier um etwas Gravierendes handelte.

Wir tranken noch einen Espresso, dann fuhren wir nach Hause.

Nach einer Nacht mit dünnem Schlaf lagen wir noch im Bett, als am nächsten Vormittag das Telefon klingelte. Es war überraschend die Ärztin von gestern, und sie sagte, dass die Ergebnisse der Biopsie nun doch schon gekommen seien. Sie machte eine kleine Pause, dann sagte sie das erste Mal das Wort.

Krebs.

Brustkrebs.

Danach verschwamm alles.

Ich sah Achims altes Surfboard an der Wand lehnen, die getrockneten Blumenkränze aus Hawaii, die darüber hingen und Glück bringen sollen. Ich sah unser Stoffnilpferd mit dem roten Lederbezug, auf dem ein paar Bücher lagen. Ich hörte die Stimme der Ärztin. Die Terrassentür stand offen, draußen war es noch immer unverschämt heiß.

Ich hörte die Worte wie Flusen.

Achim war längst nach unten gekommen. Ein Klingeln hatte genügt, allein die Tonalität dieses Gesprächs ausgereicht, damit die Dringlichkeit des Anrufs sich sofort im ganzen Raum verteilte. Achim stand wie ein Schießhund hinter mir.

Als Nächstes ein Brustzentrum suchen, sagte die Ärztin. Vertrauen haben. Vielleicht doch noch ein CT und MRT machen lassen. Verschiedene Anlaufstellen. Ganz sichergehen. Wie Sand rieselten die Worte durch meinen Geist. Folgeuntersuchungen. Überlegen, wohin. Weitere Schritte. Dann: Auf Wiedersehen.

Ja, auf Wiedersehen.

Achim stand für ein paar Sekunden da wie ein Marmorblock. Ich ging kurz nach draußen vor die Tür. Es war Mitte Juli 2018. Ich war 35 Jahre alt, und alles Unbeschwerte in meinem Leben hatte sich in den letzten fünf Minuten am Telefon für immer aufgelöst.

Achim: Der Typ mit den braunen Augen, der Verena ansah, bevor sie in den Behandlungsraum ging, das bin ich. Achim Sam, 38 Jahre alt. Man könnte auch sagen: Ich bin der schnarchende Mähdrescher. Verena übertreibt manchmal ein bisschen, aber sie hat ja recht. Ohne dass ich es merke, zersäge ich nachts manchmal halbe Wälder.

Sie ist gerade beim Sport. Mal wieder und wie fast jeden Tag. Genauer gesagt: sechs Tage die Woche. Verena hat nicht übertrieben, wenn sie schreibt, dass sie Sport liebt. Dass sie ohne Sport und Bewegung nicht leben kann und auch jetzt in keinster Weise vorhat, ihre Work-outs, Gewichthebeeinheiten und Laufrunden an den Nagel zu hängen. Einen Teufel wird sie tun. Und in der Tat: Wir beide wissen heute – das ist gut so. Das ist sogar sehr richtig und sehr gesund so. Und genau dies längst auch wissenschaftlich erwiesen.

Ich würde auch gern wieder mehr Sport machen. So motiviert und fit sein wie Verena. Nun, das wird eh nichts mehr, wenn ich mir meinen Bauch anschaue – und dann ihren. Sie hat einen Schildkrötenpanzer. Absolviert ohne Probleme fünfzig Liegestütze am Stück und könnte aus dem Stand heraus dreißig, vierzig Kilometer laufen – wahrscheinlich sogar mehr und ebenfalls am Stück.

Ich hingegen, ach, lassen wir das. Ich habe zwar auch viel Sport gemacht in meinem Leben, fuhr eine Zeit lang sogar in der deutschen Radcross- und Straßenrad-Nationalmannschaft mit. Ich habe Ernährungswissenschaften studiert, Bücher über effektive Diäten geschrieben und darüber, wie man sich gesund ernährt. All das ist wahr und ein wichtiger Teil von mir. Wahr ist aber auch, dass ich aus Großwallstadt bei Miltenberg komme, dort, wo der Odenwald und Spessart um die Ecke liegen, am äußersten Rand Bayerns, wo Hessen nie weit ist. Zudem: Ich stamme aus einer Metzgerfamilie. Sie wissen, was das bedeutet. Viel Wurst. Reichlich Deftiges. Schon als Kind hörte ich diesen inzwischen durchgereichten Satz, der bei uns allerdings keinesfalls nur als Kalenderspruch galt: »Salat schmeckt am besten, wenn du ihn kurz vor dem Verzehr durch ein Schnitzel ersetzt.«

Ich war ein moppeliger Junge. In der Schule wurde ich gehänselt. Bis ich mit dem Sport anfing, deutlich abnahm und später auch ziemlich fit und austrainiert war. Zwischenzeitlich. Vorübergehend. Immer mal wieder. Ich bezeichne mich selbst als einen Figurpendler. Mal schnellen die Kilos nach oben, dann wieder diszipliniere ich mich, esse gesünder und reduzierter, mache viel Sport und nehme wieder bis auf die Muskeln ab. Das geht dann so hin und her. Mal oben, mal unten. Mal runder, mal schlanker.

Aber Verena? Vergessen Sie’s.

Es ist jetzt genau anderthalb Jahre her, dass sie die Diagnose bekam. Krebs. Brustkrebs. Und dann kam es noch schlimmer. Sie ist, wie gesagt, gerade beim Sport. Und mehr als das. Sie ist – hier und heute, und dafür lege ich meine Hand ins Feuer – eine der fittesten Frauen, die ich je in meinem Leben gesehen habe.

Und ich weiß, wovon ich rede. Nach meinem Studium nämlich arbeitete ich zunächst mehrere Jahre bei einem bekannten Fitness-magazin und habe dort so einige Sportskanonen erlebt. Aber kaum eine vom Kaliber Verena.

Wie kann das sein, dass sie so fit ist? Das kann doch gar nicht sein! Nicht nach so einer Diagnose und mit so einer Krankheit. Aber so ist es. Verena geht es, wenn ich das hier einmal für sie sagen darf, gut. Sogar sehr gut. Wir haben weitergelebt. Und wir leben weiter. Wir lachen. Sie macht weiter Sport. Ich gehe in das Büro meines Medienunternehmens. Wir waren in Kalifornien, vier Wochen. Wir standen auf dem El Capitan, Verena joggend und ganz oben auf dem Gipfel, ich keuchend auf halber Höhe, fix und fertig aus dem Wasserfall saufend.

Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch, neben dem alten Hawaii-Poster von United Airlines und der King-Kong-Figur, die wir aus Kalifornien mitgebracht haben. Ich schreibe diese Zeilen, und Verena wird nach dem Sport auch noch an ihren Zeilen weiterschreiben. Diese Zeilen werden jetzt so langsam zu Seiten, und bald werden diese Seiten zu dem Buch, das Sie gerade lesen.

Unser Buch erzählt im Grunde eine sehr einfache Geschichte. Es handelt von einem jungen Paar, das von einer ziemlich bösen Krankheit erwischt wird: Verena Ziemann, inzwischen Sam, athletisch, Sporttrainerin, tätowiert und verdammt hübsch, wie ich finde, bekommt mitten in ihren besten Lebensjahren Krebs.

Die Krankheit überfiel uns aus heiterem Himmel. Mitten in der Rushhour unseres Lebens: von hundert auf null an einem einzigen heißen Sommertag. Es lief bisher alles so gut. Wir fühlten uns, als könnten wir nach den Sternen greifen. Ich hatte Auftritte im Fernsehen, stand vor Tausenden Zuschauern auf der Bühne. Ich dachte, alles ist machbar. Du musstest eben nur etwas dafür tun.

Was ich, was wir beide nicht wussten: Der hellste, der einzig wirklich wichtige Stern ist die Gesundheit. Dieser Stern war jetzt in den Schatten eines dunklen Monds geraten. Die Prioritäten verschoben sich mit einer solchen Macht, dass alles andere zur Nebensache wurde. Was uns eben noch wichtig und erstrebenswert erschien, was uns eben noch lockte und beschäftigte, große Ziele, kleine Ziele – all das verpuffte auf der Stelle. Es zählte nicht mehr.

Alle Wünsche werden klein gegen den, gesund zu sein.

So waren wir völlig unversehens aus unserer Umlaufbahn gerissen worden. Und saßen nun auf einmal mit Zigtausenden in einem Boot. Im Boot der Krebskranken. Auf Augenhöhe mit den kalten Fakten und den vielen anderen Betroffenen.

Es sollte am Ende eine krasse Diagnose sein. Brustkrebs, der in die Lunge gestreut hat. Das geschieht sehr selten, aber hier ist es geschehen. Der Krebs von Verena ist systemisch, wir reden von über zwanzig Metastasen in beiden Lungenflügeln. Das bedeutet palliative Einstufung. Nicht heilbar. Die Ärzte, die so befanden, sprachen zunächst von ein bis fünf Jahren.

Vielleicht wissen Sie, was das bedeutet. Vielleicht sind Sie selbst betroffen. Als Erkrankter oder Partner, als Freund, Arzt oder als ein Teil des klinischen Personals.

Wir wissen inzwischen auch, was das bedeutet. Vor allem und selbstverständlich Verena. Wir haben viel erlebt seit der Diagnose. Viel durchlebt. Da waren Verzweiflung, Angst und Hilflosigkeit. Da war die Wut. Warum ausgerechnet sie? Wie kann das sein, so fit, wie sie ist? So unfassbar gesund, wie sie immer gelebt hat? Da waren all die Fragen. Was jetzt? Wie weiterleben? Wen fragen? Was tun? Was nicht tun?

Doch trotz aller Rückschläge: Es gibt Grund zur Hoffnung. Und inzwischen haben wir einen Satz mehrfach gehört. »Es ist besser, heute Krebs zu haben als noch vor fünf oder gar zehn Jahren.«

Der Satz verweist auf die rasanten Fortschritte, die bei der Behandlung von Krebs gemacht werden. Heute, jetzt. Und schon morgen. Neue Technologien und Verfahren spielen hier eine entscheidende Rolle – beflügelt durch immer größere Datenmengen und Rechenleistungen, die zu neuen Erkenntnissen führen. In der Forschung, immer öfter aber eben auch in der Anwendung. Mit anderen Worten: Nicht nur unsere Handys und Autos, sondern auch viele andere Produkte, Technologien, Herstellungsmethoden oder Logistikprozesse werden immer besser, smarter und effizienter. Mit den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und drastisch gesteigerter Rechnerkapazität durchlaufen derzeit fast alle Bereiche des modernen Lebens kleinere und größere Revolutionen.

Und das gilt auch für die Bekämpfung von Krebs.

Verena zum Beispiel setzt neben der klassischen Leitlinien-therapie inzwischen zusätzlich auf eine experimentelle Therapie, die nicht pauschal schlechte wie gute Körperzellen tötet. Diese Therapie versucht vielmehr, ihr eigenes Immunsystem wieder scharfzustellen, den Krebs gezielt zu erkennen und schließlich aus eigener Kraft zu bekämpfen. Den eigenen Körper also sozusagen als Waffe gegen den Krebs einsetzen – vielleicht ist das die effektivste Methode, die es derzeit gibt. Die es überhaupt gibt.

Vor zehn Jahren wäre dies noch undenkbar gewesen. Wir sind darum regelmäßig auch in Heidelberg, im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (National Center for Tumor Diseases). Und wenn man dieses NCT betritt, hat man das Gefühl, im Silicon Valley der Medizin zu sein. Ja, ein Krankenhaus. Aber eines, in dem man sich gut fühlt. Ein Ort, der einen bestärkt und der einem Energie gibt. Im Wartebereich hängt ein gerahmtes Bild mit den Worten: »Unser Ziel ist es, den Krebs zu besiegen!« Es sind nicht nur Worte. Dieser Wille ist in jeder Pore des modernen Baus zu spüren.

Und dabei geht es nicht nur um moderne Methoden und Therapien, sondern um noch etwas ganz anderes. Etwas, das ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt, wenn man mit dem Thema Krebs konfrontiert ist. Nämlich darum, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Ein altes Bild, eine Metapher des Volksmunds. Hier und jetzt aber wird dieser Spruch wichtiger denn je. Denn ja: Allein die Sichtweise der Situation kann darüber entscheiden, ob du aufgibst und den Glauben verlierst – oder ob du weitermachst. Ob du dich reinhängst, mehr erträgst, als du je für möglich gehalten hast – und weiterlebst.

Im NCT ist das Glas halb voll. Nicht nur reagieren, sondern agieren. Denn es geht den Ärzten und Spezialisten um den Chef Prof. Dr. Dirk Jäger, den wir inzwischen gut kennen, um nichts Geringeres als um die Entschlüsselung des Kuriosums namens Krebs – und zwar bei jedem einzelnen Patienten. Wissenschaftliche Anerkennung und Auszeichnungen treten hier in den Hintergrund. Im Vordergrund steht der Patient. Der Mensch. Und zwar jeder Einzelne. So wie er ist. So wie eben nur er die Krankheit bekommen hat. Und so, wie vielleicht auch nur er diese besiegen kann.

Der Krebs wird hier nicht über einen Kamm geschert. Er bekommt ein individuelles Gesicht, eine persönliche Geschichte. Denn jeder einzelne Fall von Krebs wird hier bis in die DNA, bis in jedes einzelne Molekül aufgeschlüsselt (siehe Immuntherapie [>>], und Kapitel 6, »Experiment Hoffnung« [>>]). Schlüssel, ja, das ist ein gutes Wort. Damit lassen sich bekanntlich Türen öffnen. Damit lässt sich dieser heimtückischen Krankheit vielleicht beikommen.

Professor Jäger kam einmal in den besagten Wartebereich und rief eine Patientin aus. Sie entgegnete: »Ich bin hier, Herr Professor Jäger! Sie haben mich wohl übersehen.« Der Professor antwortete: »Nein, Frau Koch, ich übersehe Sie ganz bestimmt nicht, ich habe Sie nur nicht gleich gesehen.«

Der Satz spricht Bände. Er steht für eine ganz neue Richtung, steht für die sehr persönliche Betrachtung eines jeden einzelnen Krebsfalls.

Und das hilft. Es hilft ungemein.

Wundern Sie sich übrigens nicht, dass ich ständig von »uns« schreibe und an vielen Stellen das »wir« verwende. Verena ist die Betroffene. Selbstverständlich. Ohne Wenn, ohne Aber. Den Partner jedoch (ebenso wie die Familie und enge Freunde) treffen andere Aspekte der Krankheit. Der Partner ist mit im Boot, das ist sehr wichtig. Doch auch hier sind die Nebenwirkungen keinesfalls zu unterschätzen, und es hilft enorm zu wissen, was auch auf ihn zukommt. Was er tun kann, was er nicht tun soll. Denn der Partner wird – wie der Ko-Alkoholiker an der Seite des Alkoholikers – zum Mitbetroffenen.

Eine wichtige Rolle – für beide.

Und dann ist da natürlich noch etwas, das von Anfang an zählt. Es steht ganz oben auf der Liste: die Einstellung. Die eigene Haltung gegenüber der Krankheit. Verena sagte von Anfang an: Ich schaffe das. Ich gehe das an. Ich gehe das an, so gut ich nur kann. Ich nehme diese Krankheit an wie eine Aufgabe, die mir gestellt worden ist. Aus irgendeinem Grund. Von ganz oben, von irgendwoher. Es hat einen Grund. Es muss einen Grund geben.

Verena will diese Aufgabe wie ein knallhartes Work-out betrachten. Wie eine Lebensaufgabe im wahrsten Wortsinn, die sie fordert, bei der sie an Grenzen kommt, schweißgebadet, bei der sie irgendwann nicht mehr kann, aber dann eben doch noch ein paar Züge durchhält – um dann im besten Fall gestärkt herauszugehen.

Wir wissen, dass es diese Einstellung nirgends zu kaufen gibt. Wir wissen, wie schwierig es ist, einer solch unerbittlichen Situation entgegenzutreten. Woher den Willen nehmen, zu ändern, was zu ändern ist? Woher die Kraft, zu ertragen, was zu ertragen ist? Und woher die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden?

Es gibt hier kein Rezept mehr, keine Apotheke, keinen Zauberer. Und wir werden uns unterstehen, hier pauschalen Rat zu erteilen. Wir würden uns jedoch über beide Ohren freuen, wenn Ihnen dieses Buch vielleicht ein wenig Kraft mit auf den Weg gibt. Wenn es guten Rat weiß. Wenn es Gedanken eröffnet, Ideen schenkt und ein ganz klein wenig die Einsamkeit nimmt.

Und wenn es nur die eine Zeile ist, die Sie in Ihr Herz schließen. Der eine Satz, der Mut macht. Das eine Wort, das Sie wissen lässt, dass Sie nicht allein sind.

2

Der Untersuchungsmarathon

Der Hindernislauf bis zur Diagnose

Der Verdacht erhärtet sich. Und plötzlich stellen sich noch mehr Fragen: Wie finde ich ein gutes Krebszentrum? Wie schaffe ich es, Kraft und Ruhe zu bewahren? Warum ist jetzt ganz wichtig, sich ein Netzwerk zu schaffen, nicht allen Befunden gleich zu trauen? Und: Warum auch der Partner professionelle Hilfe nicht ablehnen sollte.

Die Zeit stand auf einmal still, draußen vor unseren Fenstern schien der Sommer zu einem Standbild gefroren zu sein. Die Ärztin hatte eben angerufen und mir das Ergebnis der Biopsie verkündet. Ich weiß nicht, wie lange wir sprachen. Fünf Minuten? Zehn? Erst hatte ich ihre Stimme noch klar und messerscharf vernommen, mit all der Aufmerksamkeit, die ein Mensch aufbringen kann. Ich hörte mein Herz schlagen. Es schlug mir bis zum Hals. Dann spürte ich, wie für einen Moment die Kraft aus mir wich. Die Stimme der Ärztin verlor sich, verschwand wie in einem Nebel.

Achim stand mit glühenden Nerven neben mir, starr vor Anspannung. Ich ging kurz auf die Terrasse. Dann sagte ich zu ihm: »Es ist nichts Gutes, meint die Ärztin.«

Draußen tobte noch immer das Leben. Aber das war jetzt eine andere Welt. Die Nachbarn, die lachenden Kinder, die Leute, die ihre Badetaschen in die Autos trugen, das waren jetzt alles andere. Auf einen Schlag spielten die für uns in einem anderen Film.

Bei uns hatte das Programm gewechselt.

Ich schwieg, doch bei Achim schien die Nachricht eine Art Kettenreaktion auszulösen. Was die Ärztin genau gesagt hätte, wollte er sofort wissen. Ob das wirklich schon das Ergebnis der Biopsie gewesen sei? Das könne doch gar nicht sein! Brustkrebs? Hatte sie vielleicht doch nur von einem Vorstadium gesprochen? Dann schossen immer mehr Fragen aus ihm heraus: »Wie jetzt? Einfach ein Brustzentrum suchen? Wo denn? Hat sie dir keine Nummer gegeben?«

Achim ging zum Telefon, sagte: »Wir rufen da jetzt nochmals an, ich will das genau wissen.«

Eine Assistentin war am Apparat. Die Frau Doktor, sagte sie, sei schon in der Mittagspause. Achim hatte auf Lautsprecher geschaltet. Dann sagte die Assistentin, sie würde versuchen, die Ärztin noch zu erwischen. Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. Dann hörten wir Stimmen, die näher kamen, und schließlich kam die Ärztin doch noch ans Telefon.

Eine völlig normale Situation im Grunde. Da wird jemand kurz aus der Mittagspause geholt. Für uns aber wurde die Situation zu einem Menetekel: Wenn die Ärztin jetzt extra nochmals ans Telefon kommt, dann hat das sicher seinen Grund. Dann ist das hier alles andere als eine Lappalie.

Und bereits in diesem Moment geschah etwas, das eine Krankheit wie Krebs auslöst, wenn der Betroffene damit konfrontiert wird. Deine Antennen sind auf der Stelle scharfgestellt. Du registrierst jede Nuance, suchst in allem einen Indikator, eine Bedeutung. Selbst Kleinigkeiten verunsichern dich: Du reagierst auf die Welt, auf jede Geste und jedes Zeichen, als hättest du ein entzündetes Nervenkostüm.

Das ist gut zu wissen, für jeden Betroffenen. Vor allem aber sollten es die anderen wissen: die Partner, die Familie, die Freunde, die Kollegen. Und sie sollten bedenken: Sie haben es ab jetzt mit einem Verwundeten zu tun.

Gerade die nahestehenden Menschen nehmen eine besondere Rolle ein. Sie sind mit im Boot, sie wissen alles. Sie kennen dich. Sie können dabei zu einem Anker werden, zu einer ungeheuer wichtigen Stütze. Aber sie können auch mal versagen. Das alles ist zutiefst menschlich. Und weil es so menschlich ist, ist es eben auch nicht so einfach. Wie also geht der Partner damit um, wenn so eine Nachricht kommt? Welche Aufgaben übernimmt er? Welche konkrete Hilfe kann er leisten? Wen anrufen, wie sich informieren?

Das Leben fühlt sich jetzt an wie der zittrige Gang über einen eisigen Gipfelgrat. Du bist nicht gesichert, darfst keinen falschen Schritt machen. Und dann wirst du von hinten geschubst und stürzt in eine völlig neue Welt. Sie besteht aus vielen Fragen und neuen Begriffen. Eine Welt aus Diagnosen und Terminen, eine Welt aus Wartezimmern und Befunden, aus weißen Arztschuhen und den blank gewienerten Fluren der Krankenhäuser, an deren Wänden die Spenderflaschen mit den Desinfektionsmitteln hängen.

Auch betrittst du eine völlig neue Gefühlswelt. Du bist auf einer Reise, wie du sie noch nie angetreten hast. Du musst dich da erst einmal hineintasten, dich zurechtfinden. Und ja, der Partner wird auch hier eine zentrale Rolle einnehmen. Er sollte, er muss das wissen. Er kann jetzt der sprichwörtliche Fels in der Brandung sein. Er kann dich aber auch verrückt machen. Wenn er noch hibbeliger wird als du. Wenn er die Geduld verliert, die Nerven oder kurz vor dem panischen Aufbruch zum nächsten Untersuchungstermin kreischt, wo zur Hölle die Autoschlüssel sind – obwohl er sie gerade in der Hand hält.

Es ist alles menschlich, zutiefst menschlich. Der Krebs ist eine Aufgabe, und keine einfache. Und schon allein das ist am Anfang sehr gut zu wissen.

Was aber geschah genau nach diesem Anruf, bei dem das entscheidende Ergebnis der Biopsie verkündet wurde? Resultat: durchgefallen, Absturz, Pech gehabt.

Ich konnte erst mal gar nicht denken. Die Worte der Ärztin überrollten mich. Und die wichtigsten Fragen, die ich gleich hätte stellen sollen – sie fielen mir nicht ein. Woher bekomme ich die Adresse eines guten Mamma-Zentrums, wie ein Brustkrebszentrum auch genannt wird? Was werden die dort mit mir machen? Gibt es bei den Zentren Unterschiede? Und wäre es nicht sinnvoll, alternative Meinungen einzuholen?

Und auch das kreiste gleich durch meinen Kopf: Wem würde ich es – neben Achim – als Erstes erzählen? Meiner Familie? Meiner besten Freundin? Den Mitgliedern in der Box?

All diese Fragen schossen völlig unsortiert durch mein Leben an diesem Vormittag des 25. Juli 2018. Und die Ärztin hatte dann noch von einem MRT und einem CT gesprochen. Ich wusste nicht einmal, was die Kürzel exakt bedeuteten – ich wusste nur, dass all diese Begriffe nicht gefallen wären, wenn du nur eine Erkältung hättest.

Dann schwang sich noch ein weiterer Gedanke ins Gedankenkarussell. Da war offenbar etwas in meiner Brust, in meinem Körper. Etwas, das nicht kleiner und harmloser wurde, sondern womöglich größer und bedrohlicher. Es war schon gewachsen, vielleicht also wuchs es weiter und war auch jetzt gerade – in diesen Minuten! – am Wachsen. Wie eine rote Warnleuchte ploppte die nächste Frage auf: Wie schnell muss ich reagieren? Reicht nächste Woche? Oder muss es morgen sein? Heute noch?

Das alles raste durch mein Hirn. Es war ein bisschen viel, und so versuchte ich erst einmal, mich zu besinnen. Draußen flogen noch immer die Vögel. Die Katze kam wie immer, leckte an ihrem Fressnapf und schaute mich an.

Ich wollte mich wieder fangen und blickte auf die Uhr. Ich konnte nicht einmal sagen, wie viel Zeit verstrichen war. Ich sagte mir: Bleib ruhig. Dreh jetzt nicht durch. Denn auch wenn ich zunächst fassungslos war, ging ich innerlich schnell in Position: Nee, das nehme ich jetzt nicht gleich hin. Davon lasse ich mich nicht unterkriegen! Auch wenn das etwas Schlimmes ist, bekomme ich das schon wieder in den Griff.

Ein entscheidender Impuls. Ich will und kann hier nicht für jeden sprechen, doch für mich war es – auch im Nachhinein betrachtet – von Anfang an eine gute Herangehensweise: sich nicht von außen verrückt machen lassen. Stattdessen: Hör auf dich selbst. Vertraue deinem Körper, deinem Gefühl. Denn du bist du. Noch immer dein engster Vertrauter. Und ich spürte und wusste: Die Krankheit würde mich nicht gleich niederstrecken. Nicht nächste Woche, nicht nächsten Monat – nein, noch lange nicht.

Dennoch musste ich das jetzt erst mal verdauen. Musste raus. Den Kopf frei kriegen und mich sortieren. Ich wollte unbedingt zum Sport. Mich bewegen, mich austoben, wie aus einem Instinkt heraus. Also nahm ich meine Tasche und fuhr los. Achim schaute mich an. Er sagte nichts, er kennt mich gut.

Bis zur Box ist es nicht weit. Langsam und ruhig fuhr ich durch die Straßen unseres kleinen Viertels. Ich kannte den Weg im Schlaf. Ich parkte den Wagen vor dem großen grauen Tor. Schloss auf, ging rein. Ich sah die Geräte unseres Fitnessstudios, die Ergometer, den schwarzen Gummiboden der Halle, sah die Ringe, die Powerriegel hinter dem Tresen und die Gewichtswesten, die an der Wand hingen.

Dann drehte ich die Musik auf und legte los: 300 Step-ups, um meinen Körper zu spüren. Um mich lebendig zu fühlen und einen klaren Kopf zu kriegen.

Ein Akt der Verzweiflung? Schwitzen und powern, um zu verdrängen? Nein, keinesfalls. Denn auch das weiß ich heute: Mich nicht aus der Bahn schleudern zu lassen, meine Gewohnheiten und Freuden nicht über Bord zu werfen – das war für mich richtig und wichtig. Und das ist es bis heute. Ich würde sogar sagen, dass dies ein wesentlicher Weg ist, um mit der Krankheit umzugehen.

Ich ging also weiter meiner Arbeit und meiner Passion nach. Fuhr zum Sport, lief meine Runden, machte meine Work-outs. Und damit nicht genug. Danach fuhr ich zum Einkaufen, kam nach Hause, duschte. Und so mache ich es bis heute. Denn es ist der Alltag, der enorm wichtig ist: kochen, abwaschen, aufräumen. Den gelben Sack an die Straße tragen. Ins Büro gehen, in der U-Bahn hocken. Im Park sitzen. Freunde treffen. Fluchen, wenn die Espressomaschine spinnt. Mit Achim frühstücken. Oder einen strengen Blick abschießen, wenn er mal wieder mitten im Wohnzimmer mit seinem Kettenöl rumschmiert.

Es sind genau diese Dinge, die zu großen Teilen unser Leben ausmachen – und die wir als so selbstverständlich hinnehmen.

Sie sind es nicht.

Wenn du einmal eine Krebsdiagnose bekommen hast, wenn du ein paar Mal aus diesen Untersuchungen herausgekommen bist, dann weißt du es nicht nur, dann hast du es auch begriffen.

Dann schätzt du das Leben.

Dies ist übrigens kein Genesungsmittel. Es ist weit mehr als das. Es ist ein Weckruf.

Es ist wie die wirkmächtige Erinnerung daran, jeden einzelnen Tag mit offenen Augen durch die Welt gehen zu dürfen.

Und dich wie ein Schneekönig darüber zu freuen.

Darum an dieser Stelle ein Rat, der – so glaube ich zumindest – hilft. Nach der Diagnose »Krebs« sollte sich niemand dazu zwingen, sein Leben komplett umzukrempeln oder es neu zu erfinden. Es ist nicht die First-Class-Reise nach Tahiti, die zählt. Es sind nicht die Follower-Zahlen bei Instagram, und es ist auch nicht die Luxushandtasche, die dich glücklich machen – und bei der Stange halten.

Es sind die kleinen Dinge, die ganz normalen.

An ihnen halte ich mich fest. Und das ist eine heilsame, eine bereichernde Erfahrung. Sie erdet ungemein. Wenn ich ein Motto habe, dann könnte es darum vielleicht so klingen: Der Krebs mag Raum im Körper fordern – aber er wird nicht gleich mein ganzes Leben vereinnahmen. Nein, das lasse ich nicht zu! Das erlaube ich nicht, soweit mir dies auch nur möglich ist.

Es waren jetzt noch immer die ersten wackligen Stunden nach dieser ersten schlechten Nachricht. Und ich bin heilfroh, dass ich so unaufgeregt wie möglich mit ihnen umging. Denn es geschieht bereits enorm viel in diesen ersten Sekunden, Minuten und Stunden, in denen du ja noch immer du selbst bist – aber eben doch ein anderer.

Wem erzähle ich als Nächstes von der Krankheit? Was soll ich ab jetzt essen – und was darf ich womöglich nicht mehr essen? Muss ich mich sofort bei meiner Krankenkasse melden? Was wird aus dem geplanten Treffen mit den Freunden nächstes Wochenende? Alles gleich abblasen?

Noch an diesem Tag erzählte ich es meiner Mutter, sie kam bald in die Box, weinte. Wir saßen kurz neben den Sandsäcken, redeten. Dann steppte ich weiter auf und ab, sank in diesen Rhythmus der schnellen Bewegungen und des eigenen Herzschlags. Die Musik hämmerte den Takt in die große Halle. Ich begann zu schwitzen, spürte meine Muskeln, meine Arme, meine Beine. Ich machte weiter, hörte nicht auf. Spürte diese wunderbare äußere wie innere Balance, die wohl alle Sportler kennen. Wenn du auf Touren kommst und ab einem bestimmten Moment in diesen überaus natürlichen Aggregatzustand übergehst, dich zu bewegen.

Ich konzentrierte mich auf mich. Meine Sinne zu sortieren und beim Sport einen klaren Kopf zu bekommen, das würde jetzt gewiss nicht schaden. Denn schon bald stand ein Marathon ganz anderer Art auf dem Programm. Untersuchungen, Befundgespräche, eine lange Operation, dazu die Gesichter von Ärzten und der Geruch von Krankenhäusern.

Ich machte noch eine Stunde weiter. Hoch, runter, mich immer tiefer in diesen Rhythmus fallen lassen. Bis mein Herzschlag zum Teil des Taktes wurde.

Ein klarer Kopf. In der Tat, das ist eine traumhafte Sache. Und Verena sagt das so dahin. Nun, sie geht zum Sport, macht mal eben zehntausend Kniebeugen, läuft dreimal um die Erde und hat danach einen klaren Kopf. Bei ihr funktioniert das. Sie hat eben keinen Schweinehund, den sie dafür überwinden muss. Ihren Schweinehund muss sie höchstens überwinden, wenn sie sich dazu zwingt, morgens mal eine Viertelstunde länger im Bett zu bleiben, und nicht gleich ihre Laufschuhe anzieht.

Möchte ich auch gern wieder können. Kann ich aber gerade nicht. Und nein: Mir fiel es nach dem Anruf der Ärztin in keinster Weise leicht, einen klaren oder auch nur irgendeinen Kopf zu bewahren. Im Gegenteil: Ich war wie narkotisiert. Völlig geplättet, als hätte mir einer mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen.

Und dabei geschah so einiges, was ich noch nie erlebt hatte. Darum möchte ich Ihnen die Situation auch aus meiner Sicht schildern: aus der Sicht des Partners. Klar war nach diesem ersten Befund nämlich nur eines: Der Achim Sam drehte binnen Sekunden total am Rad.

Ich funktionierte nicht mehr, da ging nichts mehr in diesen ersten Momenten. Und ich wollte es auch nicht wahrhaben. Nicht bei Verena. Die hatte doch ihr Leben lang Sport gemacht! Die hatte ich noch nie ein Stück Sahnetorte essen, nie mehr als ein Glas Wein trinken sehen. Von Zigaretten, Drogen, Tabletten oder Ähnlichem ganz zu schweigen.

Das gibt es doch gar nicht! Diese ganze Diagnose musste an eine falsche Adresse gelangt sein!

Verena war ziemlich ruhig und sagte nicht viel. Ich drehte dagegen so richtig auf. Vermutlich schaute ich sie mit großen, ernsten, wirren Augen an: Was bedeutet das jetzt? Was müssen wir tun? Wohin uns wenden? Wie gehen wir damit um?

Wir saßen an unserem Esstisch, und mir lief der Schweiß von der Stirn, obwohl ich an diesem Vormittag noch nichts getan, mich noch nicht einmal angezogen hatte. Wir redeten. Und redeten uns gleich auch Hoffnung ein. Vielleicht würde es am Ende doch nur eine entzündete Drüse sein. Irgend so etwas und nicht gleich das Allerschlimmste.

Das war der Moment, in dem Verena ihre Sporttasche nahm und in die Box fuhr. Ich wusste, dass es sinnlos war, etwas zu sagen. Die Haustür fiel ins Schloss, weg war Verena – und ich allein.

Draußen kläffte ein Hund und pöbelten sich zwei Autofahrer an, weil einer die Ausfahrt blockierte. Ich hätte rausgehen und sie erwürgen können. Ich schloss die Terrassentür und schaltete den Ventilator ein. Richtete ihn frontal aufs Sofa, auf das ich mich setzte. Computer und Handy lagen schon parat. Wie Waffen. Ich musste jetzt etwas tun. Sofort! Mich schlaumachen und mit Leuten sprechen. Agieren! Nur nicht nichts tun!

Mir geisterten die Worte der Ärztin durch den Schädel. Wir sollten als Erstes ein Mamma-Zentrum finden, hatte sie gesagt. Den Befund würde sie sofort dorthin übermitteln.

Als Erstes rief ich im Büro in Berlin an und sagte meinem Chef Markan und meinem engsten Kollegen Patrick gleich die Wahrheit. Sagte ihnen, dass wir einen schlechten Befund bekommen hätten und ich mich erst mal um andere Dinge kümmern müsse. Mein Gefühl übernahm diese Entscheidung, mich nicht einfach krankschreiben und sie im Ungewissen zu lassen. Ich konnte gar nicht anders, als alles gleich auf den Tisch zu legen – auch wenn ich über mögliche Folgen dieses Schritts noch überhaupt nicht nachgedacht hatte. Und mir die Konsequenzen auch nicht vorstellen konnte.

Von meinem Chef – eher ein Mann der Zahlen – kam eine Reaktion, mit der ich gar nicht gerechnet hatte. Ich blickte aufs Handy, und da stand Minuten darauf die Antwort von ihm:

»Lieber Achim, in solchen Situationen reagiere ich aus Überzeugung so. Ich glaube wirklich, dass es Momente im Leben gibt, in denen das Alltägliche pausieren muss. Und das ist so ein Moment. Sei bei Verena, wenn es wichtig ist, und unterstütze sie, so gut es geht. Und versichere ihr, dass alles gut wird – und dann wird es auch so sein. Alles Liebe für Euch, Markan.«

Mir schossen die Tränen in die Augen. Die Reaktion rührte mich, zeigte mir gleichzeitig aber auch den Ernst der Lage. Beim Thema Krebs vergaßen offenbar selbst hartgesottene CEOs auf der Stelle ihren Taschenrechner und zeigten Milde: Herz vor Zahlen.

Ich hatte meine eigene Stimme noch im Ohr, als ich eben telefoniert hatte. Und konnte noch immer nicht glauben, was ich da tatsächlich selber ins Handy gesprochen hatte. Es war wie ein weiteres Echo, das mir die Dringlichkeit von allem nur noch einmal in aller Deutlichkeit klarmachte.

Dabei merkte ich gar nicht, was sich in diesem Moment tief in mir drin abspielte. Denn ich war bereits geprägt. Mein Opa war früher an Krebs erkrankt, und ich hatte den Krankheitsverlauf als Jugendlicher ziemlich nah miterlebt. Wir waren oft ins Krankenhaus gefahren, und ich hatte gesehen, wie mein Opa abbaute, wie die Chemo ihn auflöste und die Bestrahlung ihn verbrannte – je mehr Medizin in seinen Körper floss, desto mehr wich das Leben aus ihm, bis der Krebs und die Tyrannei der Therapien ihn schließlich besiegten.

Diese Bilder steckten noch immer tief in mir drin. Nun kamen sie mit Wucht wieder zum Vorschein. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Und es ist ja auch völlig normal, dass der Mensch vergangene Erfahrungen als Referenz nutzt.

Doch heute weiß ich: In unserer Situation war es genau das Falsche!

In den Jahrzehnten nach dem Tod meines Opas hat sich unglaublich viel getan. Die Medizin ist weit vorangeschritten, die Medizin ist besser geworden, effektiver, individueller und verträglicher. Auch die Methoden der Diagnostik und Therapie sind heute andere, Ärzte und Forschung haben neue Einsichten gewonnen. Inzwischen leben die meisten Patienten wesentlich länger und besser mit der Krankheit – und weitaus mehr Erkrankte besiegen den Krebs.

Ich will das einmal in Zahlen ausdrücken. Kinder unter 15 Jahren zum Beispiel, die zwischen 1982 und 1985 an Krebs erkrankten, hatten damals eine Zehn-Jahres-Überlebenschance von 66 Prozent. Bis 2015 war diese bereits auf 83 Prozent gestiegen. Und diese positive Zahl steigt weiter.

Solche Studien und Zahlen tun gut. Und ja: Man sollte die positive Botschaft unbedingt aus ihnen herauslesen – und zwar ganz bewusst. Es stärkt die Hoffnung, es macht Mut. Und selbst wenn jemand die Nachricht bekommt, dass die Heilungschancen bei zwei Prozent liegen – dann sollte er an diese zwei Prozent glauben. Sollte alles dafür tun, um zu ebendiesen zwei Prozent zu gehören. Und aus den zwei womöglich drei Prozent zu machen.

Die Leute spielen doch auch Lotto! Und dort sind die Gewinnchancen noch weitaus geringer. Doch genau darum geht es: Glauben und hoffen, das ist wichtig – aber eben auch tun und machen.

Eine Chance ist nur dann vertan, wenn man sie nicht ergreift.

Damit zurück zu den Bildern, die ich von meinem Opa noch im Kopf gespeichert hatte. Ein solches Randphänomen der Krankheit wird natürlich nicht erforscht, von Studien und Statistiken gar nicht erst erfasst. Und doch wiegt es schwer. Denn ja, diese Erinnerungen besaßen wirklich Macht, und nun spulte sich ein regelrechter Horrorfilm vor meinem geistigen Auge ab.

Ich sah meinen Opa. Dann sah ich Verena.

Es war unerträglich.

Ich kann nur jedem raten, sich keine Projektionen aus der Vergangenheit ins Kopfkino beamen zu lassen. Es tut nicht gut – und es hat sehr wahrscheinlich nichts mit der heutigen Realität zu tun. Dabei dürfte es vielen Betroffenen ähnlich ergehen. In der Familie, bei Verwandten oder im engen Freundeskreis werden einige vielleicht ähnliche Schicksale miterlebt haben. Eltern, Großeltern, Tanten oder Großonkel, die früher in irgendeiner Form mit der Krankheit zu tun hatten. Oder womöglich an ihr starben.

Doch heute schreiben wir das Jahr 2020. Wer also von ähnlichen Rückblicken heimgesucht werden sollte, dem empfehle ich dringend, diese Datei auf seiner eigenen Festplatte zu löschen. Sofort. Mich verfolgten die ehemals eingebrannten Bilder noch über Wochen und Monate. Und dieses Denkmuster zog mich fürchterlich nach unten – obwohl ich positiv nach vorn hätte schauen müssen.

Nun saß ich auf dem Sofa, wurde immer panischer und musste plötzlich gähnen. Sam, du gähnst! Spinnst du? Wie konnte das sein – in so einer Situation? Ein Fallschirmspringer, der kurz davor ist, aus dem Flugzeug zu springen, der fängt doch auch nicht an zu gähnen!

Als Nächstes verfiel ich in blinden Aktionismus. Ich nahm das Handy und begann zu telefonieren. Musste jetzt dringend mit den richtigen Leuten sprechen. Musste was tun!

Ich rief bei meinen beiden Anwältinnen Anna und Lea an. Sie kümmern sich seit vielen Jahren um meine geschäftlichen Belange, und wir sind alle eng miteinander befreundet. Anna war vor vielen Jahren selbst betroffen. Sie hatte vieles schon durchgemacht, was Verena bevorstand. Anna ist heute krebsfrei, hat aber noch immer gute Verbindungen zu einigen Ärzten.

Aber der Krebs verpufft ja nie so ganz, wenn du ihn einmal hattest. Er kann jederzeit wieder ausbrechen, weshalb du dem alten Schmarotzer durch regelmäßige Untersuchungen stets auf der Lauer sein solltest. Am besten: ihm zuvorkommen. Anna wusste das alles. Und das alles musste ich nun haarklein von ihr wissen.

Als Erstes stand die Wahl einer Praxis an, und es musste ein gutes Brustzentrum sein.

Aber was sollte »gut« in diesem Fall schon bedeuten? Wem sollten wir uns anvertrauen? Schon bei der Wahl des Zahnarztes macht man sich Gedanken. Da geht man auch nicht unbedingt zum erstbesten Zahnklempner um die Ecke. Da hört man sich um, liest vielleicht Bewertungen im Internet. Und viele haben ja auch mal schlechte Erfahrungen gemacht.

Doch hier ging es nicht um Zahnschmerzen.

Würde die Wahl eines Krebszentrums also umso wichtiger sein?

Annas erster Tipp lautete schlicht: »Klar, Verena braucht jetzt ein kompetentes Krebszentrum, das auf dem neusten Stand ist, aber sie soll auch auf ihr Bauchgefühl hören und im Zweifel danach entscheiden, wo sie sich auf Anhieb wohl fühlt.«

Bei der Wahl des Mamma-Zentrums also sollten wir uns nicht ausschließlich Gedanken um die Therapie machen und um die medizinische Versorgung (siehe Kapitel »Erste-Hilfe Koffer« [>>]), sondern vielmehr auch darum, ob sie sich dort einfach gut aufgehoben fühlt.

Und genau dies sollte ein gravierender Faktor sein bei der gesamten Reihe an Untersuchungen und Behandlungen, die kamen – und die für Verena entscheidend sind.

Behandlung. Ja, genau darum geht es! Wie wird man behandelt auf den Stationen?

Und ich rede hier eben nicht von den Medikamenten, Pillen und Spritzen. Ich rede von den Menschen: den Schwestern und Ärzten, mit denen man es zu tun hat. Ja, wie behandeln sie die Patienten – wie gehen sie mit ihnen um?