Der Krieg vor dem Krieg - Ulrich Teusch - E-Book

Der Krieg vor dem Krieg E-Book

Ulrich Teusch

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Beschreibung

Kriegspropaganda ist nichts Neues. Doch sie hat weltweit eine neue Qualität und Dimension angenommen. Wir leben in einer Zeit permanenter Kriege. Doch kein Krieg bricht unvermittelt aus. Kriege haben einen medialen Vorlauf: Bevölkerungen werden systematisch bearbeitet, man konstruiert bedrohliche Szenarien, dreht an Eskalationsspiralen und erzeugt Feindbilder. Am Ende erscheint der Einsatz militärischer Gewalt als plausible ultima ratio. Ulrich Teusch untersucht die aktuellen Propagandastrategien und geht der Frage nach, von welchen wahren Interessen die "Kriegsverkäufer" in Politik, Wirtschaft, Militär und Medien angetrieben werden.

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Ebook Edition

Ulrich Teusch

Der Krieg vor dem Krieg

Wie Propaganda über Leben und Tod entscheidet

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-864-89734-4

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort
Alle Optionen liegen auf dem Tisch
Kriegspropaganda – davor, dabei, danach
Permanenter Krieg und Kriegspropaganda in Permanenz
Alter und neuer Kalter Krieg
Der Erste Weltkrieg und die zehn Prinzipien der Kriegspropaganda
Massentäuschungswaffen und Massenzerstreuungswaffen
Massentäuschung: wie sich die Vorzeichen von heute auf morgen ändern
Massenzerstreuung: wie Wichtiges unwichtig wird
Wer die Macht über die Geschichte hat, Teil 1: Deutschland
Der hässliche Deutsche: Gauck auf der Westerplatte
Der andere Holocaust
Zweierlei Maß: Israel und Russland
Antisemitismus (und Antirussismus)
Antirussismus (und Antisemitismus)
Wer die Macht über die Geschichte hat, Teil 2: USA
Empire im Niedergang
Versteht ihr, was ihr angerichtet habt?
Der Schlüssel liegt in Washington
United States of Amnesia26
Die Kriegsverkäufer
Irakkrieg 2003 (USA, Großbritannien)
Libyenkrieg 2011 (Großbritannien, Frankreich)
Von Bagdad nach Damaskus – mediale Wiederholungstäter
Die Propagandamacher
Der »Permanent War Complex«
Krieg, Zensur, Repression – damals und heute
Damals: Russiagate 1918/19
Und heute: Desinformationskriege
Erkundungen am medialen Abgrund
US-Medien machen auf blöd
Lüders am Pranger
59 Tomahawks – auf ihrem Weg zum Horizont
Deutsche Journalisten auf dem Kriegspfad
Vorsicht, Realität!
Die Lückenmedien und das Giftgas
Zweierlei Maßlosigkeit
Was auf dem Spiel steht – der Kampf um die Tatsachenwahrheit
Systemkrise und propagandistischer Amoklauf
Anmerkungen
Literatur
Personenverzeichnis

Vorwort

Unsere angeblichen Leit- und Qualitätsmedien erwecken den Eindruck, die Meinung der Herrschenden sei die herrschende Meinung. Es gehört sogar zu den vornehmsten Aufgaben besagter Medien, diese Illusion zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Es ist gewissermaßen ihr Kerngeschäft – sind sie doch die Medien der Herrschenden. Noblesse oblige.

Die etablierten Medien, so hatte ich vor drei Jahren prognostiziert1, werden weder durch Liebesentzug (sinkende Auflagen und Quoten) noch durch gediegene Medienkritik von ihrem manipulativen Tun und ihrem selbstzerstörerischen (Dis-) Kurs abzubringen sein. Sie werden weiterhin wichtige Nachrichten absichtsvoll unterdrücken, Informationen einseitig gewichten oder mit einem Spin versehen, mit zweierlei Maß messen, interessengeleitete Narrative konstruieren, gelegentlich Kampagnen fahren oder sich für handfeste Propaganda hergeben.

Ich muss einräumen, dass meine damalige Prognose auch einen Schuss Zweckpessimismus enthielt. Klammheimlich hatte ich gehofft, Unrecht zu haben und eines Besseren belehrt zu werden. Der sich seit 2013/14 aufbauende medienkritische Druck, der »Aufstand des Publikums«, konnte doch nicht einfach verpuffen, sagte ich mir, er musste doch irgendeine positive Wirkung erzielen. All die kritischen Bücher, Artikel, Leserforen, Diskussionsrunden! Vielleicht ließen sich einzelne Journalisten, sogar einzelne Medien ja doch bei ihrer Ehre packen? Vielleicht würden sie sich an die eigene Nase fassen? Ein Signal des Aufbruchs senden? »Ja, wir haben verstanden. Spätestens ab morgen machen wir – richtigen Journalismus!« Oder so ähnlich.

Nichts dergleichen geschah. Nichts dergleichen war zu erwarten. Es ging einfach weiter wie gehabt.

Heute können wir einen Schlussstrich ziehen und die wesentliche Erkenntnis festhalten: Wir haben es mit Medien zu tun, die nicht reformierbar sind. Sie sind ins gegebene Macht- und Herrschaftssystem integriert. Sie sind nicht das, was sie zu sein vorgeben. Nein, sie sind keine »vierte Gewalt«. Nein, sie schaffen keine umfassende Informationsgrundlage, die uns eine unabhängige Urteilsbildung ermöglichen würde. Nein, sie organisieren keinen offenen und ehrlichen gesellschaftlichen Diskurs. Nein, sie sind nicht Ihre oder meine Anwälte. Es ist genau umgekehrt: Im Zweifelsfall, wenn es ernst wird, wenn es darauf ankommt, dienen sie den etablierten Mächten, in deren Besitz oder unter deren Kontrolle sie sich befinden. Und sie verschleiern diese Tatsache oder machen sich selbst etwas vor.

Vor diesem Hintergrund gilt: Wir sollten Medienkritik zwar auch weiterhin nicht vernachlässigen; sie kann vor allem uns, die Rezi­pienten, dabei unterstützen, die Mechanismen der Beeinflussung und Manipulation zu durchschauen. Aber wir sollten uns von der Vorstellung befreien, dass Kritik am Journalismus, an den Medien, am Mediensystem etwas Grundlegendes ändern könnte. Das tut sie nicht. Wohl aber kostet sie uns viel Zeit, Kraft und Nerven. Der Aufwand steht in einem Missverhältnis zum Erfolg. Ist es sinnvoll, uns Tag für Tag an dem abzuarbeiten, was uns Spiegel und Zeit, FAZ und Süddeutsche, ARD und ZDF vorsetzen? Nein. Wir sollten viel öfter dankend ablehnen, wenn sie uns wieder einmal zum Tänzchen auffordern. Wir sollten unsere eigenen Themen setzen. Unser Ideal sollte sein: Nicht wir befassen uns mit den Medien, sondern die Medien befassen sich mit uns. Wir sind das Volk. Wir bestimmen die Agenda. Das klingt populistisch, steht aber so im Grundgesetz. Auch für ein solches Projekt braucht es natürlich Medien, allerdings solche, die wir selbst besitzen oder kontrollieren. Gegen das etablierte Mediensystem, gegen die »Systemmedien« helfen nur antisystemische Medien. Einige gibt es schon (in Deutschland etwa die NachDenkSeiten, Telepolis, Rubikon, KenFM, German Foreign Policy). Je mehr es werden, desto besser.

In diesem Buch geht es um kriegsvorbereitende Propaganda im weitesten Sinn. Auch da wird von Medien die Rede sein. Von Medien, die den Krieg herbeireden oder -schreiben, von Medien, die den äußeren und inneren Frieden aufs Spiel setzen. Die historische Erfahrung lehrt: Kriegstreiber haben von den etablierten Medien viel (bis alles) zu erwarten, Kriegsgegner wenig (bis nichts). Wer das für eine zu pauschale Aussage hält, mag sich die Frage stellen: Wann je haben Medien einen Krieg verhindert oder dies auch nur erkennbar versucht, indem sie die herrschenden Kriegsvorwände oder -begründungen einer rigorosen Prüfung unterzogen? Und umgekehrt: Wie oft haben Medien durch tendenziöse, emotionalisierende Berichterstattung und Kommentierung »für den Krieg gesorgt« (William Randolph Hearst)? Wie oft haben sie jene gesellschaftliche Sportpalast-Atmosphäre erzeugt, die ihn erst möglich machte?

Sicher, es gibt ein paar Ausnahmen. Sie sind rühmlich, keine Frage. Aber sie sind bloß Ausnahmen von der Regel.2 Im Kampf gegen den Krieg, im Kampf für den Frieden ist auf die Medien der Herrschenden kein Verlass. Verlassen können wir uns nur auf uns selbst.

Alle Optionen liegen auf dem Tisch

Mit der National Defense Strategy des Jahres 2018 haben die USA nach 17-jähriger Konzentration auf den »Krieg gegen den Terror« ihr Blickfeld erweitert und nach neuen Feinden Ausschau gehalten. Vier Staaten kommen als Kriegsgegner infrage, zunächst Russland und China, sodann die Nuklearmacht Nordkorea und der konventionell gerüstete Iran.1

Schon kurz vor Weihnachten 2017 hatte General Robert B. Neller, Kommandant des U.S. Marine Corps, von einem sich abzeichnenden großen kriegerischen Konflikt gesprochen.2 Generalleutnant Ben Hodges wiederum, von 2014 bis 2017 Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa, prognostizierte am 24. Oktober 2018 vor einem Sicherheitsforum in Warschau, dass es innerhalb der nächsten 15 Jahre zu einem Krieg zwischen den USA und China kommen werde.3 Der chinesische Präsident Xi Jinping hat die Botschaft vernommen. Gegenüber Militärs des Southern Theatre Command (in dessen Zuständigkeit das Südchinesische Meer fällt) erklärte er, China müsse besser als bisher auf Krieg vorbereitet sein, da die Spannungen mit den USA sich verstärkten.4

Mitte Oktober 2018 hatte US-Präsident Donald Trump angekündigt, aus dem 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow abgeschlossenen INF-Vertrag auszusteigen; er verbietet den USA und Russland die Produktion und Dislozierung landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5 500 Kilometern. Einige Tage später erwiderte Russlands Präsident Putin in Moskau: Sollten die USA in Europa erneut Mittelstreckenraketen stationieren, würden die europäischen Staaten sich des Risikos eines russischen Gegenschlags aussetzen. In den vergangenen Jahren hatte Putin wiederholt Mahnungen dieser Art ausgesprochen, zum Beispiel gegenüber jenen europäischen ­Staa­ten, die das amerikanische Raketenabwehrsystem installierten (also Rumänien und Polen). Durch diese Entscheidung würden sie zwangsläufig ins russische Fadenkreuz geraten, sagte er.

Andrej Beloussow, ein hoher Repräsentant des russischen Außenministeriums, gab derweil Folgendes zu Protokoll:

»Kürzlich bei einem Treffen stellten die USA fest, dass Russland sich auf Krieg vorbereite. Ja, Russland bereitet sich auf Krieg vor, ich kann das bestätigen. Ja, wir bereiten uns vor, unser Heimatland, unsere territoriale Integrität, unsere Prinzipien, unsere Werte, unser Volk zu verteidigen. Wir bereiten uns auf so einen Krieg vor.

Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen uns und den USA. Sprachlich liegt der Unterschied in nur einem Wort, sowohl im Russischen wie im Englischen. Russland bereitet sich auf einen Krieg vor, während die Amerikaner einen Krieg vorbereiten.«5

Vor dem Waldai-Klub, einem alljährlich stattfindenden Forum von russischen und ausländischen Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern, erinnerte ein leicht gereizter Wladimir Putin in Sotschi (18. Oktober 2018) an eine alte Erkenntnis aus dem ersten Kalten Krieg (»Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter«), bediente sich aber einer ungewöhnlich drastischen Sprache: »Jeder Aggressor sollte wissen, dass Vergeltung unausweichlich ist und dass er vernichtet werden wird. Und da wir die Opfer seiner Aggression sein werden, werden wir als Märtyrer in den Himmel eingehen. Sie werden einfach verrecken und nicht einmal Zeit haben, zu bereuen.«6

Am 2. Oktober 2018 wiederholte die NATO-Botschafterin der USA, Kay Bailey Hutchison, den Vorwurf ihrer Regierung, Russland verletze den INF-Vertrag. Moskau bestreitet die Vorwürfe und kontert sie schon seit Längerem mit der Aussage, dass die USA selbst den INF-Vertrag verletzten. Statt nun die Kontroverse auf dem dafür vorgesehenen Weg auszutragen – also die Special Verification Commission damit zu beauftragen –, drohte Hutchison kurzerhand mit Krieg. Sollte Moskau die (angebliche) Dislozierung nicht stoppen, würden die USA die Raketen militärisch zerstören, bevor sie einsatzfähig sind. Der Publizist Justin Raimondo, verantwortlich für das renommierte Portal Antiwar.com, war ob dieser Aussage derart erschüttert, dass er die sofortige Entlassung der Botschafterin forderte. »Wie verrückt-dumm muss man sein, um auf ein Podium zu steigen und Russland einen militärischen Präventivschlag anzudrohen?«, fragte Raimondo, um dann hinzuzufügen: »Man muss nicht Hutchison sein, aber es hilft.« Er wollte nicht glauben, dass es neuerdings in den Kompetenzbereich einer amerikanischen NATO-Botschafterin fällt, mal eben so Russland den Krieg zu erklären. Wenn das Schule macht, spottete er, dann werden wir demnächst erleben, dass der Generalpostmeister die Invasion Irans anordnet.7

Bereits am 28. September 2018 hatte US-Innenminister Ryan Zinke vorgeschlagen, die Navy des Landes könne eine Blockade gegen den russischen Energiehandel verhängen und so dafür sorgen, dass die russischen Energielieferungen ihre Zielmärkte nicht erreichen. Ist Zinke bewusst, dass eine Maßnahme dieser Art ein feindlicher Akt wäre und von der Gegenseite mit Gewalt beantwortet werden würde?

Trident Juncture, das größte Militärmanöver der NATO seit 2002, fand vom 25. Oktober bis zum 7. November 2018 in unmittelbarer Nähe zur russischen Westgrenze statt – aus russischer Sicht eine Provokation. Mitunter wird in diesem Zusammenhang von westlichen Beobachtern entlastend darauf hingewiesen, dass ja auch Russland große Militärübungen durchführe. Kurz vor Trident Juncture sei das Wostok-Manöver über die Bühne gegangen, das größte seiner Art seit Ende des Kalten Krieges. Der feine Unterschied: Während das westliche Manöver direkt an die russische Grenze gelegt wurde, fand Wostok im Osten Russlands statt, weit entfernt vom NATO-Territorium.

Anders als in den westlichen, insbesondere den amerikanischen Medien, wird in Russland die Möglichkeit eines Krieges mit den USA beziehungsweise der NATO immer wieder thematisiert – verbunden mit der Frage: Sollten sie wirklich so wahnsinnig sein, uns anzugreifen, obwohl sie doch wissen müssen, dass dies ihre eigene Vernichtung bedeuten würde? In der US-Bevölkerung spielen Befürchtungen dieser Art keine oder eine allenfalls untergeordnete Rolle. Etwas anders sieht es bei jenen Amerikanern aus, die zu den unmittelbar Betroffenen eines Krieges gehören könnten. Das US-Magazin Military Times veranstaltete im Herbst 2018 unter seinen Lesern, die aktiven Militärdienst leisten, eine anonyme Umfrage. 46 Prozent der Teilnehmer glaubten, dass die USA innerhalb des nächsten Jahres (also 2019) in einen neuen Krieg eintreten würden. Das ist ein drastischer Anstieg gegenüber einer entsprechenden Umfrage im Jahr davor. 2017 waren lediglich fünf Prozent der Meinung, ein Krieg stehe an.8

Parallel zu alledem liefen und laufen die üblichen und mutmaßlich koordinierten Angriffe wegen angeblichen russischen oder chinesischen Fehlverhaltens.9 Am 4. Oktober 2018 zum Beispiel – vor dem Hintergrund eines NATO-Gipfels, auf dem die USA einen verschärften Cyberkrieg gegen Russland verlangten – erhoben Großbritannien und auch die Niederlande Spionagevorwürfe gegen den russischen Militärgeheimdienst (GRU). Er habe die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) ausspioniert, ebenso das britische Außenministerium. Zudem habe Russland europäische und amerikanische Wahlen beeinflusst und die Anti-Doping-Agentur WADA gehackt. Auch das US-Justizministerium erhob neue Anklagen gegen angebliche GRU-Agenten.

Zeitgleich wurde eine ganz ähnliche Kampagne gegen China losgetreten. Die Zeitschrift Bloomberg Businessweek verbreitete eine Geschichte, der zufolge chinesische Firmen Hardware manipuliert hätten, die sie für die US-Firma SuperMicro produzierten und die dann an Apple, Amazon und andere für deren Cloud-Server-Geschäfte verkauft wurde.

Ebenfalls am 4. Oktober hielt US-Vizepräsident Mike Pence im Hudson Institute eine ungewöhnlich feindselige Rede gegen China, in der er dem Land vorwarf, eine Schuldendiplomatie zu betreiben. Pence warnte andere Länder davor, sich mit China einzulassen. China wolle Entwicklungsländer von sich abhängig machen, indem es sie in die Falle locke. In dieselbe Kerbe schlug Außenminister Mike Pompeo, als er am 18. Oktober behauptete, Chinas Investitionen in Lateinamerika seien Neokolonialismus, seine Kredite an afrikanische Länder allesamt »Schuldenfallen«.10

Auch ein neuer und umfangreicher Pentagon-Bericht schürte Angst vor China. Eine seiner Erkenntnisse lautet, dass China ein erhebliches und wachsendes Risiko für die Lieferung von Materialien und Technologien darstelle, die von strategischer Bedeutung für die nationale Sicherheit der USA seien.11 Unabhängige Beobachter wie der Politikwissenschaftler Michael T. Klare sehen allerdings andere Gründe für den US-Unmut über China. Es sei vor allem der »Made in China 2025«-Plan, der die USA aufbringe: eine ambitionierte Strategie, ein chinesischer Sprung nach vorn in technologischen und technischen Schlüsselsektoren wie der Künstlichen ­Intelligenz oder der Robotik. Trump & Co., so Klare, seien entschlossen, diesen Plan zu sabotieren. Statt sich einer offenen Konkurrenz zu stellen (und diese gegebenenfalls zu verlieren), sähen sie das quantitative und qualitative Wachstum Chinas als Bedrohung des bisherigen Status der USA, den sie nicht kampflos aufzugeben bereit seien. Die große Gefahr sieht Klare darin, dass die USA diesen Kampf nicht mit gleichen Mitteln austragen, sondern auf die einzige Ebene verlagern werden, auf der sie noch Maßstäbe setzen: die militärische.12

China und Russland stehen zwar im Fokus der USA, aber sie sind nicht allein. Als George W. Bush einst die Achse des Bösen ausrief, wussten die betroffenen Regierungen Irans, des Iraks und Nordkoreas, was die Stunde geschlagen hatte. Die Achse des Bösen war ein scharfes Geschütz (ähnlich wie die Dämonisierung der Sowjetunion als Reich des Bösen durch Ronald Reagan). Manchmal reicht es schon, wenn die USA eine andere Regierung als »Regime« bezeichnen. Kennern der Lage ist dann klar, dass es vom »Regime« zum »Regime Change« nur ein kurzer Weg ist.13 Geradezu alarmierend aber war die Äußerung des Sicherheitsberaters John Bolton am 1. November 2018 in Miami. Da fasste er die Länder Venezuela, Nicaragua und Kuba zu einer »Troika der Tyrannei« zusammen (eine offenkundige Reminiszenz an die »Achse des Bösen«). Es habe sich, so Bolton weiter, ein »Dreieck des Terrors« gebildet, »das sich von Havanna über Caracas bis Managua erstreckt«.14 Schon 2015 hatte Barack Obama Venezuela aufs Korn genommen, das Land als außerordentliche Sicherheitsbedrohung für die USA bezeichnet und Sanktionen verhängt. Trump hat die Sanktionen inzwischen verschärft. Kuba ist schon seit über einem halben Jahrhundert sanktionserprobt, gegen Nicaragua sind entsprechende Maßnahmen auf den Weg gebracht. Unilaterale Sanktionen, die vor allem die normale Bevölkerung treffen und diese gegen die Regierung aufwiegeln sollen, sind eine Form der kollektiven Bestrafung, die sowohl gegen die UN-Charta als auch gegen die Charta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verstößt.15

Fast alle hier aufgeführten Aussagen, Ereignisse und Entwicklungen datieren aus dem Herbst 2018, aus den Monaten Oktober und November. Was danach geschah, konnte ich wegen des fälligen Redaktionsschlusses für dieses Buch nur noch sporadisch registrieren: beispielsweise den ukrainisch-russischen Zwischenfall in der Straße von Kertsch, das Kidnapping von Meng Wanzhou, der stellvertretenden Vorsitzenden des chinesischen Huawei-Konzerns, durch kanadische Behörden16, oder das Aufheulen der üblichen Verdächtigen angesichts von Trumps Entscheidung, die völkerrechtswidrige Einmischung der USA in Syrien zu beenden.17

Was erwartet uns 2019 und danach? Politiker, Diplomaten, Militärs, Journalisten reden wieder ganz offen über Krieg. Auch über den ganz großen Krieg. Es ist gespenstisch, beängstigend. Alle Optionen, so scheint es, liegen auf dem Tisch.

Kriegspropaganda – davor, dabei, danach

Thema dieses Buches sind kriegsrechtfertigende Ideologien, kriegsvorbreitende Propaganda, aggressive Maßnahmen unterhalb der Schwelle direkter militärischer Gewalt. Zumindest theoretisch kann man die Propaganda vor dem Krieg unterscheiden von der Propaganda im Krieg und der Propaganda nach dem Krieg. Praktisch liegen die Dinge allerdings nicht immer so klar. Selbst die scheinbar so weit auseinanderliegenden Extreme der Propaganda vor und der Propaganda nach dem Krieg können in einem engen Zusammenhang stehen.

So spielte im Gefolge des Ersten Weltkriegs die Nachkriegspropaganda eine derart beherrschende Rolle, dass die Politik nach 1918 partiell als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln betrachtet werden kann. Propagandistischer Natur waren diese Mittel in dreierlei Hinsicht. Zum einen stritten die einstigen Kriegsgegner mit großem publizistischem Aufwand über die Kriegsursachen; jeder versuchte sich reinzuwaschen und einer der anderen Seiten die Schuld zuzuschieben. Zum anderen wurde der insbesondere in Deutschland als grobe Ungerechtigkeit und nationale Demütigung empfundene Friedensvertrag von Versailles zum politischen Dauerbrenner, bestens geeignet für Agitation und Propaganda. Und schließlich vergiftete die Dolchstoßlegende das politische Klima, indem sie die Verantwortung für die deutsche Kriegsniederlage dort ablud, wo sie nicht hingehörte, nämlich bei der neuen Repu­blik und ihrem Führungspersonal. Wenn die Zeit von 1914 bis 1945 zuweilen als »Dreißigjähriger Krieg« bezeichnet wird oder wenn gesagt wird, der Erste Weltkrieg habe bereits den Keim für den Zweiten gelegt, dann heißt das mit anderen Worten: Die Propaganda zwischen 1919 und 1939 war nicht bloß Propaganda nach dem vergangenen Krieg; sie war zugleich und immer schon Propaganda vor dem und für den kommenden Krieg.

Ein anderes Beispiel für die Schwierigkeiten eindeutiger Abgrenzungen ist der Irakkrieg 2003. Auf den ersten Blick scheint hier ein unbezweifelbarer, eindeutiger Zusammenhang zwischen kriegsvorbereitender Propaganda und Krieg zu bestehen. Zunächst fiel in Washington (und London) die Entscheidung, einen Krieg gegen den Irak anzuzetteln. Dann folgte eine mehrere Monate währende Propagandakampagne. Ihr Ziel bestand darin, das potenzielle Opfer zu dämonisieren, Angst vor ihm und seinen militärischen Fähigkeiten zu erzeugen, dringenden Handlungsbedarf zu suggerieren und auf diese Weise möglichst große Zustimmung für den Krieg zu erzeugen – wobei es für die Akteure keine besondere Rolle spielte, ob die Kriegsbegründungen auf Tatsachen beruhten oder fiktiv waren.1 Schlussendlich kam der Krieg selbst, ausgetragen von einer »Koalition der Willigen« unter Führung der USA. Einige Wochen später glaubte der damalige US-Präsident ausrufen zu können: »Mission accomplished!«

Tatsächlich verhält es sich auch in diesem Fall etwas komplizierter. Der Krieg von 2003 stand in einem zwar entfernten, aber unverkennbaren Zusammenhang mit dem Golfkrieg von 1991, der sich gegen Iraks Invasion Kuwaits gerichtet hatte und von dem man nachträglich sagte, er sei nicht zu Ende geführt worden, weil Saddam Hussein trotz seiner militärischen Niederlage im Amt und an der Macht blieb. Sodann machte der 1998 vom US-Kongress verabschiedete und von Präsident Bill Clinton unterzeichnete Iraq Liberation Act den Regimewechsel in Bagdad schon fünf Jahre vor dem Krieg zur offiziellen US-Politik. Vor allem aber stand der Überfall von 2003 in enger Verbindung mit den jahrelangen Sanktionen gegen den Irak. Diese Sanktionen waren zweifellos ein wesentlicher Teil des Krieges vor dem Krieg – oder besser: Sie waren bereits Teil des Krieges (auf diesen Punkt komme ich gleich zurück).

Der Krieg vor dem Krieg – der Titel dieses Buches legt nahe, dass die propagandistische Vorbereitung eines Krieges selbst schon eine Art Krieg sei. Aber verwischt man damit nicht Grenzen, die unbedingt beachtet werden sollten? Müsste man nicht streng unterscheiden zwischen all dem, was vor dem Ausbruch des eigentlichen Krieges geschieht und den tatsächlichen militärischen Kampfhandlungen?

Sicher, man müsste. Aber es wird immer schwieriger. Die eindeutige Unterscheidung zwischen Kriegs- und Friedenszuständen ist kaum noch zu treffen.2 Kürzlich schrieb mir ein Leser, dass der Krieg zwischen der NATO und Russland doch längst begonnen habe. Das sehen auch einige Wissenschaftler und Journalisten so.3 Es mag sich noch nicht um einen kinetischen Krieg handeln, sagen sie, aber sehr wohl um einen Wirtschaftskrieg, einen Cyberkrieg, einen hybriden Krieg, einen Propagandakrieg, auch einen Krieg mit militärischen Provokationen oder »Nadelstichen«. Dort, wo man sich unmittelbar gegenüber steht, etwa in Syrien, bedarf es eines erheblichen Koordinationsaufwands (und manchmal auch beachtlicher Nervenstärke), um den direkten Konflikt und dessen Eskalation zu vermeiden. Als die USA und andere die vermeintlichen Chemiewaffenattacken der syrischen Regierung mit völkerrechtswidrigen Raketenangriffen »bestraften«, hätte Syriens Verbündeter Russland auch weniger zurückhaltend reagieren können.

Der Krieg vor dem Krieg wird für gewöhnlich unterschätzt. Das sei ja kein richtiger Krieg, wird gesagt; von Krieg könne man da allenfalls in einem metaphorischen Sinn sprechen. Manchmal wird sogar der Krieg vor dem Krieg als humane Alternative zum echten Krieg betrachtet. Viele Menschen, die Krieg verabscheuen, sind zum Beispiel (auch heute noch) der Auffassung, Sanktionen seien eine probate Alternative zur militärischen Gewaltanwendung. Mit Sanktionen könne man seine Ziele auf friedlichem Weg erreichen, ohne Menschenleben zu gefährden. Gerade für die Außenpolitik der »Zivilmacht« Deutschland seien sie wie geschaffen.

Die Wirklichkeit sieht allzu oft leider völlig anders aus.4 In einem Interview, das er kurz vor seinem Tod gegeben hat, erinnerte Peter Scholl-Latour an den besonders drastischen Fall der Irak-Sanktionen:

»Als ich die Auswirkungen der Sanktionen im Irak zwischen 1991 und 2003 miterlebt habe, war das derart grauenhaft. Das Wasser konnte nicht mehr gereinigt werden, die Landwirtschaft nicht mehr betrieben werden. Das war furchtbar. Die Sterblichkeit unter Kindern und Säuglingen war erschreckend. Die Deutschen müssten es ja wissen, die hatten im Ersten Weltkrieg auch eine Blockade erlebt, wo die Bevölkerung fast halb verhungert ist. Insofern sind Sanktionen ein unmoralisches Mittel der Außenpolitik.«5

Die heute schon fast in Vergessenheit geratenen Sanktionen gegen den Irak hatte die UNO 1990 verhängt. Sie währten dreizehn Jahre, bis zur US-geführten Invasion des Landes 2003. Diese Invasion, so Scholl-Latours Kollege Patrick Cockburn, habe den irakischen Staat und seine Armee zerstört. Doch zuvor hätten schon die verheerenden Sanktionen die Gesellschaft und Wirtschaft des Landes zugrunde gerichtet. Cockburn vermutet, dass die Sanktionen mehr Iraker getötet haben als irgendeiner der folgenden Kriege. Am 8. August 1998 schrieb er im Independent:

»Keiner der Chefs der UN-Agenturen in Bagdad, mit denen ich sprach, äußerte den leisesten Zweifel daran, dass das gegenwärtige Embargo eine Katastrophe ist. Im Westen waren es – vor dem zweiten Golfkrieg 1990/91 – ironischerweise die ›Tauben‹, die Sanktionen forderten, und die ›Falken‹, die nach Bomben riefen. Der Irak hat beides erlebt. Acht Jahre später haben sich die Sanktionen als die grausamere Option erwiesen, die weit mehr Iraker getötet hat als die Bomben.«6

Etwa eine halbe Million Kinder sind den Sanktionen zum Opfer gefallen. Bekanntlich stand Joschka Fischers Busenfreundin, die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright, nicht an, dieses barbarische Verbrechen auch noch zu rechtfertigen. Gegenwärtig leidet Iraks Nachbar Syrien unter einem erbarmungslosen westlichen Sanktionsregime. Kein Thema für die westlichen Mainstream-Medien, denen doch angeblich das Wohl des syrischen Volkes so am Herzen liegt.7 Patrick Cockburn gehört zu den ganz wenigen Journalisten, die die verheerenden Folgen öffentlich gemacht und angeprangert haben.8

Permanenter Krieg und Kriegspropaganda in Permanenz

Bekannte Journalisten wie John Pilger, Charles Lewis oder Dan Rather halten es für sehr wahrscheinlich, dass der Irakkrieg 2003 hätte verhindert werden können, wenn die Medien – vor allem in den USA und Großbritannien – »ihren Job« gemacht hätten.1 Leider konnte davon keine Rede sein; vielmehr gab es ein großflächiges professionelles Versagen. Journalisten haben in Einzelfällen bewusst die Unwahrheit verbreitet oder eine ihnen bekannte Wahrheit verschwiegen. Vor allem haben sie in ihrer großen Mehrheit die Lügen der Regierenden willfährig an ihre Leser, Hörer und Zuschauer weitergereicht. Die Medien fungierten zu weiten Teilen als Transmissionsriemen. Sie agierten als Hilfstruppe der ersten Gewalt, der Exekutive.

Es gab sogar einzelne Medienverantwortliche, die ausgesprochen proaktiv handelten – Rupert Murdoch zum Beispiel. In der Woche vor der entscheidenden britischen Unterhausabstimmung über den Irakkrieg telefonierte der »Medienmogul« dreimal mit Premier Tony Blair. Es sei gefährlich, die Sache zu verzögern, schärfte er Blair ein, die Zeit dränge, der Regierungschef könne sich auf die Unterstützung der Murdoch-Medien verlassen.2 Ein paar Jahre später gab der Journalist Paul Dacre von der Daily Mail seine damaligen Beobachtungen zu Protokoll:

»Ich denke es ist klar, dass er [Murdoch] in der Sache klare Ansichten vertritt und diese auch mit seinen Redakteuren geteilt hat, die natürlich Folge zu leisten haben. Das Paradebeispiel hierfür ist der Irakkrieg. Ich bin mir nicht sicher, ob es der Blair-Regierung oder Tony Blair selbst ohne die uneingeschränkte Unterstützung der Murdoch-Zeitungen überhaupt möglich gewesen wäre, die Briten für diesen Krieg zu gewinnen. Murdoch selbst ist davon absolut überzeugt.«3

Dass Medien sich gerade in Sachen Krieg derart kooperativ verhalten, ist nichts Neues. »Befindet sich die eigene Nation im Krieg, wird die Berichterstattung zum Teil der Kriegsanstrengung«, sagte der renommierte britische Journalist und Kriegsreporter Max Hastings.4

Wie schon festgestellt: Die Grenzlinien zwischen Kriegs- und Friedenszuständen werden immer undeutlicher. Kalte Kriege, latente Kriege, heiße Kriege unterschiedlicher Art und Intensität, Kriege vor und Kriege nach dem Krieg … Folgt man einem weit gefassten Kriegsverständnis, dann ist Krieg – global betrachtet – zu einem Normalzustand geworden. Die westliche Führungsmacht befindet sich seit 2001 im permanenten Krieg, der selbst von den politisch Verantwortlichen des Landes so bezeichnet wird: als Generationenkrieg, langer Krieg oder unendlicher Krieg.5 Viele Beobachter stellen fest, Krieg sei für die USA mittlerweile zum natürlichen Zustand, zum Way of Life, zur Raison d’être geworden. Das System brauche den Krieg, um noch funktionsfähig zu sein. Es sei einer »Kriegssucht« verfallen, so der Anti-Terror-Experte und frühere CIA-Mann Philip Giraldi – und dies, obwohl auf dieser Welt niemand die nationale Sicherheit der USA ernstlich bedroht.6

Krieg geht mit Kriegspropaganda einher, permanenter Krieg mit Kriegspropaganda in Permanenz. Wenn es in Kriegen zu einer Quasi-Gleichschaltung der etablierten Medien kommt, dann ist der Umstand, dass wir in einer Zeit des permanenten Krieges leben, möglicherweise der Hauptgrund für die seit Jahren zu beobachtende mediale Formierung. Unter einem Druck dieser Art wird der ohnehin schon enge Mainstream-Korridor zum Laufställchen. In einer solchen Konstellation kann nicht mehr über die Frage diskutiert werden, ob eine russische Bedrohung überhaupt existiert, sondern nur noch darüber, wie ihr am besten zu begegnen wäre.

Ein kalter Krieg, wie wir ihn gegenwärtig erleben, bringt eine innergesellschaftliche beziehungsweise innerstaatliche Polarisierung und Formierung mit sich. Es entsteht eine Wechselwirkung: Zum einen beschränkt die innere Formierung die außenpolitischen Handlungsspielräume. Selbst wenn Donald Trump ernstlich eine grundlegende Verbesserung der russisch-amerikanischen Beziehungen im Sinn hätte, könnte er sich angesichts des aufgeheizten antirussischen Klimas in seinem Land kaum durchsetzen. Eher steht zu vermuten, dass der innenpolitische Druck ihn nötigt, gerade gegenüber Russland Härte zu zeigen. Zum anderen bleibt Aggressivität nach außen nicht ohne Rückwirkung im Inneren. Auf Dauer tritt eine Gefährdung der inneren Liberalität ein. Die Guten werden von den Bösen, die Freunde von den Feinden geschieden. Wenn die internationalen Spannungen wachsen, wenn tatsächlich Kriegsgefahr be- oder entsteht, dann verschärfen sich auch die innenpolitische Tonlage und Gangart. Die ohnehin schon niedrige Toleranzschwelle gegenüber Dissidenten sinkt weiter ab. Alternativen Kommunikationskanälen, so sie denn größere Resonanz finden, droht Ungemach. Selbst wer eine mittlere und vermittelnde Position einnimmt und sich bemüht, die Dinge differenziert zu beurteilen oder nach Gemeinsamkeiten Ausschau zu halten, kann in die Bredouille geraten und als unsicherer Kantonist geführt werden. »Neutralismus« oder »Äquidistanz« lauteten die entsprechenden Vorwürfe im ersten Kalten Krieg, heute spricht man etwas plakativer von Putin- oder Russland-Verstehern. Und wer gar das direkte Gespräch mit Vertretern der anderen Seite sucht und irgendwo in ihrer Begleitung gesichtet wird, muss sich auf den Vorwurf der »Kontaktschuld« gefasst machen.

Etiketten dieser Art helfen, die Good Guys von den Bad Guys zu unterscheiden. Sie verfügen zwar über eine lange Tradition, haben aber mit der Wirklichkeit in aller Regel nur wenig bis nichts zu tun. Ganz früher war von Ketzern oder Hexen die Rede, im 19. Jahrhundert dann von Unruhestiftern, Aufrührern, Demagogen, Gottesleugnern oder vaterlandslosen Gesellen. In der Weimarer Republik sprach man von Erfüllungspolitikern, in der Bonner Republik von Verzichtspolitikern. Man diffamierte Andersdenkende als Kulturbolschewisten oder Salonkommunisten, verortete sie in einer fünften Kolonne oder unter den nützlichen Idioten. Man beschwor den Konsens und die Solidarität der Demokraten gegen die Verfassungsfeinde, empfahl Gesellschaftskritikern: »Dann geh doch nach drüben, wenn’s dir hier nicht passt!«, warnte vor den Sympathisanten des Terrors oder dessen geistigen Wegbereitern. Man schied die guten »Realos« von den bösen »Fundis« oder »Chaoten«. Man war (und ist) schnell bei der Hand mit Vorwürfen wie Rassismus, Antisemitismus oder Antiamerikanismus. Wer unbequeme Fragen stellt, bringt »Hate Speech« oder »Fake News« in Umlauf. Und wer besonderes Pech hat, der wird über Nacht zum Populisten (ob rechts oder links), zum Querfrontler oder Verschwörungstheoretiker erklärt.

Es ist immer das gleiche, öde Spiel. Die eigenen Reihen schließen – Störenfriede ausgrenzen. Ein denkbar primitives Verfahren. Vermutlich hätte man es schon längst aufgegeben, wenn es nicht immer wieder so schöne Erfolge zeitigen würde.

Alter und neuer Kalter Krieg

The First Cold War as Tragedy – the Second as Farce. Der erste Kalte Krieg als Tragödie – der zweite als Farce. Das ist der Untertitel eines aktuellen Buches, in dem Jeremy Kuzmarov und John Marciano 2018 die beiden internationalen Konfliktkonstellationen vergleichen.1 Sie kommen zu dem Ergebnis, der zweite, der neue kalte Krieg sei im Grunde überflüssig und ohne echte Substanz. Das mag man so sehen. Dennoch ist er eminent gefährlich, zumal er sich in einigen wesentlichen Punkten unvorteilhaft vom ersten Kalten Krieg unterscheidet.

Der erste Kalte Krieg war ein struktureller, sowohl ideologischer als auch machtpolitischer Konflikt im internationalen System. Man kann ihn (als Ost-West-Konflikt) bis zur russischen Oktoberrevolution 1917 zurückverfolgen. Der Kalte Krieg im engeren Sinn entwickelte sich seit 1946/47, als sich die Spannungen zwischen der Sowjetunion und den anderen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs verschärften. Bestand in der frühen Phase des Kalten Krieges eine eindeutige Überlegenheit der USA (und insoweit ein »unipolarer Moment«), entwickelte sich im Laufe der Zeit eine amerikanisch-sowjetische Parität. Die beiden Führungsmächte und ihre Bündnissysteme hatten ökonomisch, politisch und ideologisch unterschiedliche und prinzipiell unvereinbare Wege eingeschlagen. Beide erhoben den Anspruch, dem jeweils anderen überlegen zu sein und sich auf längere Sicht im globalen Maßstab durchzusetzen. Trotz aller Ungleichgewichte, also beispielsweise technologischer oder ökonomischer Vorsprünge beziehungsweise Rückstände, begegneten sich die Zentralmächte auf Augenhöhe. In den 1960er- oder 70er-Jahren hätte niemand prognostizieren können, welches der Systeme am Ende die Oberhand behalten würde. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass der Ost-West-Konflikt auf Dauer gestellt sei und noch auf lange Zeit das beherrschende Strukturmuster des internationalen Systems bleiben werde.

Der Konflikt durchlief verschiedene Aggregatzustände, Phasen der Spannung (Konfrontation) wie auch Phasen der Entspannung (Kooperation). Trotz mehrerer höchst gefährlicher Situationen kam es in den paktgebundenen Kernstaaten nicht zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung oder gar zu einem Nuklearkrieg. Anders sah es in den Ländern der Peripherie oder Semiperipherie aus; hier forderten zahlreiche »Stellvertreterkriege« zig Millionen Opfer.2 Obwohl viele Staaten dieser Welt während des ersten Kalten Krieges blockfrei blieben, drückte der Konflikt doch dem gesamten internationalen System seinen Stempel auf. Es war auf zwei Führungsmächte ausgerichtet – also bipolar.

Hier liegt ein wesentlicher und gravierender Unterschied zum neuen kalten Krieg. Mit der Auflösung der Sowjetunion (1991) kam auch die bipolare internationale Ordnung zu einem Ende. Ein gutes Jahrzehnt lang bestand eine weithin unangefochtene US-amerikanische globale Hegemonie. Das einstige bipolare System war durch ein unipolares (und einen erneuten »unipolaren Moment« der USA) abgelöst worden. Seit allerdings die US-Hegemonie im Schwinden begriffen ist, befinden wir uns im Übergang zu einer multipolaren Ordnung. Die Frage, wie viele Pole es genau sind oder sein werden, lässt sich noch nicht beantworten. Drei, vier oder noch mehr? Sicher ist, dass wir auf absehbare Zeit mit mindestens drei Polen rechnen müssen: den USA, China und Russland.

Im Unterschied zu den USA und im Unterschied zum ersten Kalten Krieg streben Russland und China keine globale Hegemonie an. Sie präferieren eine multipolare Welt des Leben-und-leben-Lassens. China ist zwar ökonomisch und technologisch expansiv (was sein gutes Recht ist), Russland pocht zwar auf seine nationale Souveränität und Sicherheit, lässt hier und da geopolitische Interessen erkennen und unterstützt Verbündete wie Syrien (was ebenfalls sein gutes Recht ist). Aber keines der beiden Länder strebt eine globale Dominanz an oder eine unipolare Ordnung unter veränderten Vorzeichen. Der neue kalte Krieg und die aktuellen Konflikte im internationalen System rühren letztlich daher, dass zum einen die USA nicht bereit sind, ihren unipolaren, global-hegemonialen Anspruch aufzugeben, zum anderen China und Russland diesen Anspruch keinesfalls länger dulden wollen oder können. Sie müssen ihm entgegentreten, weil anders ihr Konzept einer multipolaren Welt nicht realisierbar ist.

Das zu diesem Zweck eingesetzte Mittel kennen wir, seit es internationale Politik gibt: China und Russland bilden Gegenmacht. Sie tun dies mit dem Ziel, ein neues Gleichgewicht herzustellen. Jeder halbwegs realistische Beobachter musste früher oder später mit einer solchen Entwicklung rechnen. Die beiden Staaten agieren teils jeder für sich, teils stimmen sie sich untereinander oder mit weiteren Verbündeten ab. Auf diese Weise versuchen sie das eigene Terrain und ihren legitimen Bewegungsspielraum zu sichern. Es geht ihnen darum, die USA in ihre Schranken zu weisen, nicht aber darum, sie aus dem Rennen zu werfen. Es handelt sich also um einen defensiven, nicht um einen offensiven oder aggressiven Ansatz (auch wenn die USA dies anders wahrnehmen und entsprechend propagandistisch ausbeuten).

Vergleicht man das konkrete Agieren beziehungsweise die üblichen Verhaltensmuster Chinas und Russlands mit denen der USA, dann lässt sich die Frage nach den Ursachen der Konflikte relativ leicht beantworten. Es ist offenkundig, dass nicht alle drei Akteure gleichermaßen und in gleicher Weise zum Aufbau der Spannungen beigetragen haben. Vor allem die USA haben die gegenwärtige Zuspitzung zu verantworten und lassen nicht davon ab, weiterhin Öl ins Feuer zu gießen. Russland oder China sind zwar keine Unschuldslämmer, aber man wird ihnen schwerlich vorwerfen können, dass sie in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren systematisch auf die derzeitige Konfrontation hingearbeitet haben. Es sind die permanenten Krieger der USA, die Unruhe und Unsicherheit ins internationale System bringen.

Woher diese Aggressivität rührt, werde ich noch ausführlich erörtern. An dieser Stelle nur zwei, drei Bemerkungen zur Frage, ob ich mich mit den gerade getroffenen Aussagen nicht selbst einer »antiamerikanischen« Gesinnung überführe. Zunächst: In einer Zeit, in der das Trump-Bashing im deutschen Medien-Mainstream große Mode ist und selbst eingefleischte Transatlantiker wie der Zeit-Herausgeber Josef Joffe live und in Farbe über »Mord im Weißen Haus« grummeln, sollte sich der Antiamerikanismus-Vorwurf eigentlich erledigt haben. Sodann: Mit meinen Einschätzungen befinde ich mich, global betrachtet, in guter Gesellschaft. Eine 2013 durchgeführte Umfrage des Worldwide Independent Network of Market Research (WINMR) und von Gallup International unter 66 000 Menschen in 68 Ländern ergab, dass eine deutliche Mehrheit in den USA die Hauptkriegsgefahr sieht.3 Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2017.4

Zudem – und wichtiger noch: Die meisten Weisheiten, die ich in diesem Buch ausbreite, verdanke ich US-amerikanischen Autoren unterschiedlichster Couleur. Was die großen Fragen nach Krieg und Frieden oder nach der Rolle der USA in der Welt angeht, gibt es zwar gegenwärtig einen geradezu beängstigenden Konsens in den beiden großen Parteien, also bei Republikanern und Demokraten. Aber die Opposition gegen die Dogmen und das Gruppendenken des Establishments ist durchaus vorhanden und scheint zu wachsen, sei es rechts, links oder in der Mitte. Dass diese breite und fundierte Kritik von CNN, MSNBC oder der Washington Post ebenso selten zur Kenntnis genommen wird wie von den Mainstream-Medien hierzulande, ändert nichts an ihrer Existenz und ihrer Bedeutung. Gerade in außenpolitischen Fragen kann man eine ermutigende Übereinstimmung zwischen ansonsten sehr unterschiedlichen politischen Kräften beobachten. Wertkonservative, etwa aus dem Umkreis des Magazins The American Conservative, haben da praktisch keine Differenzen mit libertären Kriegsgegnern5 oder mit den meist anti-imperialistischen Autoren der zahllosen links-alternativen Portale und Magazine6. Ähnlich sieht es im akademischen Bereich aus: Der Harvard-Politologe Stephen Walt zum Beispiel, ein Vertreter der eher konservativ gestimmten »realistischen Denkschule« in den internationalen Beziehungen, schlug kürzlich sogar vor, die Realisten sollten sich mit den Libertären und den gerade erwachenden demokratischen Sozialisten verbünden, um dem kriegsaffinen Establishment Paroli zu bieten.7 Ganz sicher mit von der Partie wären da nicht nur einige renommierte Kollegen Walts wie der Chicagoer Politikwissenschaftler John Mearsheimer oder der Osteuropa-Historiker Stephen Cohen8, sondern auch viele ehemalige Politiker und Diplomaten. Paul Craig Roberts und David Stockman beispielsweise, beide einst hochrangige Mitarbeiter der konservativen Reagan-Regierung, sind heute vehemente und wortmächtige Kritiker der Washingtoner Politik. Das Gleiche gilt für den früheren Präsidentschaftskandidaten Ron Paul, es gilt für Patrick Buchanan, für Reagans Ex-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, oder Clintons Verteidigungsminister William Perry.9 Erst recht gilt es für viele ehemalige Soldaten oder einstige Spitzenkräfte der CIA, der NSA und anderer Geheimdienste, die sich vor einigen Jahren zur Gruppe Veteran Intelligence Professionals for Sanity10 zusammengeschlossen haben, unter ihnen so beeindruckende Persönlichkeiten wie Ray McGovern, Philip Giraldi oder der frühere technische Direktor der NSA, William Binney. Sie alle sind seit langem unglücklich über die US-Außenpolitik und halten den eingeschlagenen Kurs für fatal. Insbesondere die Konfrontation mit Russland bereitet ihnen größte Sorgen. Es sind Organisationen und Menschen aus diesem anderen (und besseren) Amerika, denen sich meine Darstellung verpflichtet fühlt.

Wie steht’s nun mit Russland, dem Lieblingsobjekt westlicher Propaganda? Welchen Zweck verfolgt das antirussische propagandistische Trommelfeuer? Soll es uns, die Lämmer, tatsächlich auf einen Krieg einstimmen?