Lückenpresse - Ulrich Teusch - E-Book

Lückenpresse E-Book

Ulrich Teusch

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Beschreibung

Die etablierten Medien stecken in einer massiven Glaubwürdigkeitskrise. Teile des Publikums proben den Aufstand, öffentliche und veröffentlichte Meinung driften auseinander. Nicht nur hierzulande, auch in vielen anderen Ländern geraten die angeblichen Leitmedien unter Beschuss. Stein des Anstoßes sind die Inhalte - Stichwort "Lügenpresse". Doch sind Lügen wirklich das Problem? Ulrich Teusch stellt zwei andere, weit gravierendere Faktoren ins Zentrum seiner Analyse: die Unterdrückung wesentlicher Informationen und das Messen mit zweierlei Maß. Beide Defizite sind in unserem Mediensystem strukturell verankert. Wenn sich daran nichts ändert, wird sich das Siechtum der Mainstreammedien fortsetzen. Und der Journalismus, wie wir ihn kannten, wird bald der Vergangenheit angehören.

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Seitenzahl: 260

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ULRICH TEUSCH

LÜCKENPRESSE

Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten

eBook Edition

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-647-7 © Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016 Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin Satz: Publikations Atelier, Dreieich Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

Die Wahrheit über die Lügenpresse

Vergebliche Liebesmüh?

Von Hagenbuch bis Scholl-Latour

Zwischen den Stühlen

Schimpfendes Publikum – und Publikumsbeschimpfungen

Und jetzt … die Nachrichten des Tages!

Alle Angaben ohne Gewähr

Lücken und Lügen

Fachidioten – und Idioten in allen Fächern

»I know I’m right«

Glaubwürdigkeit und Vertrauen

Ansichten eines Alpha-Journalisten

Typisch Mainstream – vier ganz alltägliche Beispiele

Immer wieder Russland

Eine simulierte Redaktionskonferenz

Wenn die Medien ihren Job gemacht hätten

Kriegsberichte – Wahrheit und Lüge

Der ganze Rest ist Werbung

Wer will wem was damit sagen?

Journalisten regieren mit – und wie!

Die Belangbaren – gute Journalisten machen schlechte Erfahrungen

Erklärungsversuche

Besitzverhältnisse – wem gehören die Medien?

Interessante Zeiten – interessanter Journalismus?

Das Mainstream-Paradoxon

Rezipienten als mediale Opportunisten

Guten Journalismus wird es weiterhin geben – aber wo?

Anmerkungen

The problem that many media organizations face is not to stay in business, but to stay in journalism.

Harold Evans

Vorwort

Die Politiker sagen uns nicht die Wahrheit! Die Politik lügt uns an, heute mehr denn je! Wir glauben denen da oben gar nichts mehr!

Diese verbreitete politikverdrossene Stimmung war Anlass meines Hörfunk-Features »Nicht schwindelfrei: Lügen in der Politik«, das Anfang 2013 vom SWR ausgestrahlt wurde. Darin habe ich versucht, diese Stimmung zwar zunächst aufzugreifen, aber im weiteren Verlauf zu relativieren und zu differenzieren. Einerseits habe ich in der Sendung eine Vielzahl unbe-zweifelbarer Lügen vorgeführt, andererseits aber auch zu vermeiden versucht, in eine populistische Falle zu tappen – nach dem Motto »Hier sind die zehn dreistesten Politikerlügen«.

Ich wollte zeigen, dass die politische Lüge oft ein schwer fassbares, zwiespältiges Phänomen ist, dass Politik nicht selten in einer Grauzone operiert, also weder die ganze Wahrheit sagt noch offenkundig lügt. Es ging mir darum, ein realistisches Politikverständnis zu befördern. Nicht zuletzt hatte ich das Ziel, die Bürger an ihre Bringschuld zu erinnern. Sie müssen lernen, politische Mechanismen zu durchschauen und Lügen oder Halbwahrheiten zu erkennen. Die Botschaft kommt am Schluss in Gestalt eines abgewandelten György-Konrád-Zitats: »Mündig sind Bürger nicht, wenn sie irgendeiner Politik zustimmen. Mündig sind sie, wenn sie sich von keiner täuschen lassen.«

Das schafft niemand im Alleingang. Wir brauchen Hilfe, Unterstützung. An erster Stelle brauchen wir ein intaktes, unabhängiges, kritisches Mediensystem. Jedoch: Erfüllen unsere Medien diese Aufgabe? Werden sie unseren legitimen Ansprüchen gerecht? Leisten sie, was wir von ihnen erwarten? Zweifel sind erlaubt. Sie werden auf den folgenden Seiten weitere Nahrung finden.

Seit zwei, drei Jahren erleben wir in diesem und anderen Ländern eine Mediendebatte von bislang ungekannter Schärfe. Endlich, möchte man sagen. In einer von Medien geprägten Welt kann es gar nicht genug Medienkritik geben. Wer da glaubt, die ganze Aufregung werde sich bald wieder legen, der Sturm werde vorbeiziehen und alles wieder gut, dürfte sich noch wundern. Denn die Mediendebatte ist in letzter Instanz eine Debatte über den aktuellen Zustand und die Zukunft der Demokratie. Sie stößt zum Kern der Sache vor.

Auch Bücher sind selbstverständlich Medien. Es ist erfreulich, dass einige Verlage die Zeichen der Zeit erkannt und in jüngster Zeit profunde Beiträge zur Mediendebatte publiziert haben. Gerade Bücher bieten die Chance, medienkritische Argumente systematisch vorzutragen, die Spreu vom Weizen zu trennen und Perspektiven zu entwickeln. Mein herzlicher Dank gilt dem Westend Verlag für die vorzügliche und schöne Zusammenarbeit.

Ulrich Teusch, Edermünde im Juli 2016

Die Wahrheit über die Lügenpresse

Ulrich Wickert, einst »Mr Tagesthemen«, hat Ende Januar 2016 der Wirtschaftswoche ein Interview gegeben, in dem er einen außergewöhnlich interessanten Gedanken äußerte. Er vermutete, der berüchtigte Begriff »Lügenpresse« könnte vom russischen Geheimdienst KGB in Umlauf gebracht worden sein.1

Nun existiert das KGB zwar schon seit etlichen Jahren nicht mehr – aber egal. Das ist ein verzeihlicher Irrtum, immerhin ist Wickert schon länger nicht mehr im tagesaktuellen Nachrichtengeschäft. Jedenfalls ist unbestreitbar, dass es Nachfolgeorganisationen des KGB gibt, wie die auch immer heißen mögen. Die hat Wickert wohl gemeint. Und die haben womöglich, so seine anregende Spekulation, den unsäglichen Begriff lanciert. Auf die Frage, ob er für seine These irgendwelche Belege vorbringen könne, musste Wickert freilich passen: »Nein. Keineswegs. Ich sage nicht, dass es so ist. Aber wir müssen darüber nachdenken!«

Von interessierten Kreisen wurden Wickerts Ausführungen vorschnell als »1a-Verschwörungstheorie« abgetan.2 Doch so einfach sollten wir es uns nicht machen. Wickerts Spürnase hat zweifelsohne eine echte Witterung aufgenommen. Der Mann, bislang nicht bekannt für allzu investigativen Journalismus, hat eine Spur entdeckt, die zu verfolgen sich lohnt. Mehr noch: Wer sich ernstlich auf die Suche begibt, vor dem tun sich Abgründe auf. Ob es auch Abgründe von Landesverrat sind, mögen andere entscheiden. Ich begnüge mich an dieser Stelle mit ein paar zugespitzten Hinweisen.

Zunächst ist sonnenklar, dass russische Geheimdienste, so sie denn hinter dem Begriff »Lügenpresse« stecken, diesen nicht aus eigenem Antrieb in die deutsche Debatte eingeführt haben können, sondern nur auf Weisung ihres Herrn und Meisters, also auf Geheiß Putins. Die spannende Frage lautet: Warum ist diese (vermeintliche oder tatsächliche) Aktion Putins in Deutschland auf solch positive Resonanz gestoßen? Warum finden so erstaunlich viele Menschen, dass »Lügenpresse« die Sache im Kern trifft?

Wie wir wissen, überlässt Putin nichts dem Zufall. Wenn er also einen Kampfbegriff wie »Lügenpresse« in die Welt setzt, dann nur, weil er sich absolut sicher ist, dass dieser auch auf fruchtbaren Boden fallen wird. Das wiederum heißt: Dieser Boden musste entweder schon vorhanden sein, oder er selbst musste ihn bereiten.

Der fruchtbare Boden, von dem hier die Rede ist, ist selbstverständlich das notorische Russland-Bashing des deutschen Medienmainstreams. Ob einem dieses Bashing gefällt oder nicht -seine Existenz lässt sich schwerlich bestreiten und wird auch von kaum einem ernstzunehmenden Beobachter in Abrede gestellt. Seit Monaten, eigentlich seit Jahren befinden sich die Medien in einem Kalten-Krieg-Modus. Russland, sagen sie, besteht aus Pussy Riot, Homophobie und einem bösen, nach innen und außen gleichermaßen aggressiven Kreml-Chef, der sich mehr oder weniger autistisch auf den Weg zurück ins Jahr 1937, zum Genickschuss-Sozialismus Josef Stalins, gemacht hat.

Man kann durchaus verstehen, dass vielen Menschen dieses von den Medien geschaffene Bild etwas holzschnittartig vorkommt. Manch einer hat vielleicht erst kürzlich eine Urlaubsreise nach Russland unternommen, sich ganz unbefangen umgesehen und dabei Dinge entdeckt, von denen in Deutschlands Medien nie die Rede ist. Wen kann es da wundern, dass das Misstrauen wächst und sich nun im Schlagwort »Lügenpresse« verdichtet? Sicher, wer halbwegs bei Verstand ist, erkennt ohne Mühe, dass sich die Medien mit ihrer russlandfeindlichen Stimmungsmache ins eigene Knie schießen. Man glaubt ihnen immer weniger. Die Kunden laufen weg. Und man fragt sich entgeistert: Warum in Gottes Namen gebietet dem niemand Einhalt? Wo soll das am Ende noch hinführen? Was nützt es einem Medium, wenn es irgendwann kein Publikum mehr hat?

Nun könnte man natürlich mit gut gemeinten Therapievorschlägen kommen und sagen: Vielleicht sollten die Medien – in wohlverstandenem Eigeninteresse – ein wenig einlenken. Wenn schon antirussische Propaganda (wogegen ja im Prinzip nichts einzuwenden ist), dann bitte etwas intelligenter, etwas subtiler. Statt zu 100 Prozent negativ zu berichten, könnte man doch einfach die Gewichtung ein klein wenig verschieben. Sagen wir: 90 Prozent negativ, 10 Prozent positiv, oder 80 Prozent negativ, 20 Prozent positiv. Man kann im Grundsatz ruhig dabei bleiben, dass Putin ein schlimmer Finger ist und fast alles falsch macht. Aber man könnte doch hin und wieder großzügig einräumen, dass er auch mal etwas richtig gemacht hat. Oder man kann grundsätzlich darauf beharren, dass Lawrow ein blindes Huhn ist, aber bei Gelegenheit ganz sachlich mitteilen, dass er ein Korn gefunden hat. Das muss ja nicht gleich in ein »Bravo, Putin!« oder »Bravo, Lawrow!« ausarten. Aber es würde für ein bisschen Abwechslung sorgen, es würde die Medien wieder interessanter machen und vielleicht dazu führen, dass manch verlorenes Schaf am Kiosk wieder zugreift.

Und Medienleute, denen mein Vorschlag zu weit geht, könnten ja mit leichteren Übungen beginnen, also zum Beispiel ganz normale russische Alltagsszenen zeigen. Zur Winterzeit: russische Kinder, die beim Schlittschuhlaufen auf die Nase fallen oder einen lustigen Schneemann bauen; im Sommer: das muntere Treiben an einem Badesee, dazu die Frage, wie die Russen der Mückenplage Herr werden. Das ist doch eigentlich nicht zu viel verlangt. Ein leichter Schwenk nur, der dem Publikum den Eindruck vermittelt, dass unseren Medien die Fähigkeit zu einer differenzierten Betrachtung nicht völlig abhandengekommen ist. Viele Menschen, die sich zurzeit entgeistert abwenden, würden vielleicht neues Zutrauen gewinnen. Und sie würden – schöner Nebeneffekt – die negativen Dinge, über die berichtet wird, eher glauben.

Doch leider sind überhaupt keine Anzeichen für ein mediales Umdenken zu erkennen. Im Gegenteil, es wird immer noch draufgesattelt. Wenn man glaubt, jetzt sei der Höhepunkt erreicht, jetzt lasse sich das Ganze nicht weiter steigern, kreuzt garantiert einer auf, der uns eines Schlechteren belehrt. Es ist wie bei einem Erdbeben, wo es immer heißt: »Auf der nach oben offenen Richterskala …«

Wie um alles in der Welt soll man das erklären? Warum tun die das? Warum lassen sich unsere Journalisten von nichts und niemandem beirren? Warum schalten sie lieber die Kommentarfunktion ab als ein wenig nachzudenken? Liegt es etwa an ihrer mangelnden Intelligenz? Diese Vermutung kann man getrost ausschließen. Die meisten von ihnen haben Abitur, sogar studiert, zeigen bei vielen anderen Themen ein gewisses Urteilsvermögen. Nur wenn es um Russland geht, sind sie irgendwie blockiert.

Eine weitere Vermutung, über die in jüngerer Zeit viel Aufhebens gemacht wurde, besagt, dass unsere Medien unter westlicher Kuratel stünden. Weil der Westen sich in einem neuen Kalten Krieg wähne, sorge er dafür, dass seine (also die westlichen) Medien die entsprechende Propaganda verbreiten. Auch das ist fragwürdig. Es gibt viele westliche Politiker, auch viele Leute aus der Wirtschaft, die sich nichts dringlicher wünschen als ein intaktes Verhältnis zu Russland. Ungeduldig sehnen sie den Tag herbei, an dem die Sanktionen endlich aufgehoben werden.

Noch unübersehbarer war und ist das Stirnrunzeln bei jenen Politikern, die nicht mehr in Amt und Würden sind. Solche Elder Statesmen, die auch bei Journalisten für gewöhnlich in hohem Ansehen stehen, haben immer wieder gemahnt und gewarnt. Die westliche Russophobie, sagen sie, mache bereits Erreichtes zunichte und könne nur in eine Sackgasse münden. Man denke an Kohl, Genscher, Schröder, Schmidt, aber auch an Henry Kissinger, Romano Prodi, Nicolas Sarkozy, Dominique de Villepin, Wolfgang Schüssel, Václav Klaus und viele andere. Auf solch unverdächtige Leute könnten sich differenzierungswillige Journalisten doch ohne Weiteres berufen. Warum tun sie es nicht?

Vielleicht kommen wir einer Antwort näher, wenn wir die »Cui bono«-Frage stellen. Also: Wem nützt das penetrante Russland-Bashing? Dem Westen etwa? Oder den westlichen Medien? Weder noch, lautet die Antwort. Insbesondere die Medien sind wegen ihrer dämonisierenden Berichterstattung in eine ernste Glaubwürdigkeitskrise geraten. Man kann also schwerlich behaupten, dass sie von ihrem Gebaren profitieren. Im Gegenteil, sie graben sich das eigene Wasser ab. Also noch mal: Wem nützt das Ganze?

Die Antwort liegt für jeden klar Denkenden auf der Hand: Es nützt Putin! Je russophober sich die veröffentlichte Meinung hierzulande aufspielt, desto besser für ihn. Denn es führt – inzwischen deutlich erkennbar – genau zu dem, was Putin beabsichtigt: Das westliche Publikum kehrt seinen einst vertrauenswürdigen Medien den Rücken und läuft in schierer Verzweiflung zu alternativen Angeboten über, am Ende gar zu »Russia Today«. Es kann gar nicht anders sein. Putin selbst steckt nicht nur hinter dem Begriff »Lügenpresse«, sondern auch hinter dem nervigen und stupiden Russland-Bashing, das die Verbreitung dieses Begriffs überhaupt erst möglich gemacht hat. Was auf den ersten Blick paradox erscheint, entpuppt sich als teuflischer Schachzug. Putin ist bekanntlich Schachspieler und kann um die Ecke denken. Indem er unsere Medien zu schrillem Russland-Bashing anhält, delegitimiert er sie nachhaltig und leitet Wasser auf die eigenen Mühlen. Merke: Schlechte Presse für Russland ist in Wahrheit gute Presse für Russland.

Ich weiß, das klingt jetzt alles verdächtig nach Verschwörungstheorie. Aber es ist die bei weitem plausibelste Erklärung. Bedient man sich des Ausschlussverfahrens, geht also alle möglichen Erklärungen der Reihe nach durch, ist das die einzige, die am Ende übrig bleibt, so abwegig sie auf den ersten Blick erscheinen mag.

Die Frage ist natürlich, wie Putin und seine Leute das alles bewerkstelligt haben. Wie haben sie es geschafft, den deutschen Medienmainstream zu einer antirussischen Phalanx zu formen? Stehen etwa sämtliche relevanten politischen Journalisten Deutschlands auf Gehaltslisten russischer Geheimdienste? Mitnichten. Einer solch breitgefächerten Initiative bedurfte es nicht, um das vom Kreml-Herrn gewünschte Ergebnis zu erzielen. Denn: In Deutschland ist man seit jeher autoritätsund hierarchiegläubig. Also genügt es völlig, wenn man sich die maßgeblichen Leute vornimmt, eine überschaubare Reihe aus Chefs, Redaktionsleitern, Nachrichtenpräsentatoren, wichtigen Korrespondenten. Die leiten dann die jeweiligen Tagesparolen an die Subalternen weiter. Zudem verfügt Deutschland über beachtliche russophobe Traditionen, denen sich einige Journalisten eng verbunden fühlen. Bei ihnen musste der Kreml gar nicht nachhelfen, die machen ihre Arbeit vollkommen freiwillig und aus tiefster innerer Überzeugung. Auf Leute wie Josef Joffe oder Berthold Kohler kann sich Putin blind verlassen. Sie sind in der Wolle gefärbte Russlandfeinde, und in dieser überspitzten Lesart, wenn man so will, »nützliche Idioten« des Kreml. Andere hingegen schwanken in ihrem Urteil. Sie müssen entsprechend bearbeitet und auf russophobe Linie getrimmt werden. Wie das im Einzelnen geschieht – mithilfe materieller Vergünstigungen zum Beispiel oder Karriereversprechen – vermag im Moment niemand zu sagen. Vielleicht findet sich ja irgendwo ein Whistleblower, der offenlegt, wie das System genau funktioniert.

Der Erfolg jedenfalls spricht für sich. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine derart negative Berichterstattung über Russland wie bei uns in Deutschland. Das haben die Russen selbst durch Auswertung westlicher Medien zweifelsfrei herausgefunden. Man darf annehmen, dass sie sich ob dieses schönen Ergebnisses zufrieden die Hände gerieben und – natürlich – landesüblich darauf angestoßen haben. Ihrem großen Ziel, Deutschland aus seiner engen Westbindung herauszulösen, sind sie wieder ein Stück näher gekommen.

Und was würde Ulrich Wickert an dieser Stelle sagen? »Über den letzten Stand der Dinge informiert Sie die Spätausgabe der >Tagesschau<. Wir wünschen Ihnen eine geruhsame Nacht.«

Vergebliche Liebesmüh?

Meine einleitenden Betrachtungen über Ulrich Wickert und Wladimir Putin sind selbstverständlich eine Satire, oder bescheidener: Sie sind ironisch. Manchmal weiß ich mir einfach nicht anders zu helfen. Denn ich bin Medienrezipient, wie wir alle. Und wie viele andere Medienrezipienten bin ich verärgert, genervt, manchmal empört. Ich rege mich auf. Was ich tagtäglich in unseren Medien lese, höre und sehe, hat zu großen Teilen nichts mit dem zu tun, was ich unter seriösem Journalismus verstehe.

Sie nennen sich selbstbewusst Leit- und Qualitätsmedien. Aber ganz allmählich bürgert sich auch bei uns der im englischen Sprachraum längst verbreitete Begriff »Mainstream« ein, auch in Gestalt der Abkürzung MSM (für Mainstreammedien). Dieser Begriff ist zutreffender, neutraler, normativ weniger aufgeladen. Mainstream heißt: Es gibt einen medialen Hauptstrom. Der fällt sofort ins Auge, wenn man einen Bahnhofskiosk betritt, den hört und sieht man, wenn man das Radio oder den Fernseher einschaltet – FAZ, Süddeutsche Zeitung, Zeit, Spiegel, die vielen Regionalzeitungen, die Fernseh- und Hörfunkprogramme der ARD, das ZDF, und so weiter. Der Begriff Mainstream will sagen, dass sich die genannten Medien »in der Mitte der Gesellschaft« bewegen, dass sie den mittleren Streifen okkupieren, mit leichten Ausschlägen ins linke oder rechte Feld. Was die Auswahl der von ihnen vermittelten Informationen angeht, weisen sie mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Bei manchen besonders wichtigen Themen (Außen- und Sicherheitspolitik, Wirtschaft und Finanzen) sprechen sie nicht selten mit einer Stimme, und wenn doch Differenzen auftreten, handelt es sich eher um Streitigkeiten innerhalb ein und derselben Denkschule. Generell gilt: Der Mainstream hält sich für tonangebend, für meinungsbildend.

Und über ihn, den Mainstream, rege ich mich auf. Aber immer öfter frage ich mich: Warum eigentlich? Auch wenn man sich aufregt, es wird sich nichts ändern. Es wird immer so weitergehen, allenfalls schlimmer werden.

Warum sollte ich mich aktuell (Frühjahr/Sommer 2016) darüber empören, dass sich kaum ein Mainstreamer für den Coup d’État in Brasilien zu interessieren scheint oder für die heftigen Sozialproteste in Frankreich? Warum darüber, dass 2014/15 russische U-Boote in schwedischen Gewässern hohe mediale Wellen schlugen und nun, da sich die Sache als Ente entpuppt, dezentes Schweigen herrscht oder man allenfalls widerwillig seiner Chronistenpflicht genügt? Warum darüber, dass manche Terroristen, wenn sie nicht gerade in Brüssel oder Paris wüten, als »moderate Rebellen« durchgehen? Warum darüber, dass ein Anschlag auf den Brüsseler Flughafen (2016) ganz anders dargestellt und bewertet wird als ein Anschlag auf den Moskauer Flughafen (2011)? Warum darüber, dass das Charlie-Hebdo-Blutbad tagelang die Schlagzeilen beherrschte, hingegen das am selben Tag (den 7. Januar 2015) verübte Massaker der Terrororganisation Boko Haram in Nigeria (man vermutet bis zu 2000 Tote) kaum Beachtung fand? Warum darüber, dass unsere Türkei-Berichterstattung mal hinschaut, mal wegschaut, je nach politischer Opportunität? Warum darüber, dass Medien nach jedem, aber wirklich jedem Strohhalm greifen, um Russland eins auszuwischen (zuletzt: von den »Panama Papers« über vermeintliche Hackerangriffe bis hin zu Hooligans oder Doping-Vorwürfen), aber nie fragen, warum das angeblich rein defensiv gestimmte NATO-Manöver an der russischen Westgrenze auf den schönen Namen »Anaconda« hört (bekanntlich eine fürchterliche südamerikanische Riesenschlange)? Warum darüber, dass Deutschlands Medien im eigenen Land kein vermeintlicher oder tatsächlicher Nazi durch die Lappen geht, aber die militanten Nazis in der Ukraine systematisch verharmlost werden? Warum darüber, dass die – vorsichtig ausgedrückt – suspekte ukrainische Kampfpilotin Nadija Sawtschenko in der »Tagesschau« zur Nationalheldin ihres Landes stilisiert wird, der Wikileaks-Gründer Julian Assange aber selbst von liberalen Medien wenig bis keine Solidarität zu erwarten hat? Warum darüber, dass Ägypten beim Sturz Mubaraks unangefochten im medialen Fokus stand (»Verfolgen Sie die Ereignisse auch auf unserem Live-Ticker!«), inzwischen aber wieder eine Randexistenz fristet, obwohl die »Nachrichtenlage« nach wie vor etwas ganz anderes hergäbe? Warum darüber, dass Viktor Orbán der rechtsnationalistische Buhmann Europas ist, die Ernennung des rechtsradikalen Avigdor Lieberman zum israelischen Verteidigungsminister dagegen als mehr oder weniger normale Kabinettsumbildung hingestellt wird? Warum darüber, dass so gut wie alle Medien wissen, wer nächster amerikanischer Präsident, oder besser: nächste amerikanische Präsidentin werden sollte? Warum darüber, dass »Experten«, die zu befragen sich lohnt, in Deutschland offenbar nur bei der »Stiftung Wissenschaft und Politik« zu finden sind?3

Und warum sollte ich mich in diesen Tagen (Juni 2016) über die hyperventilierende, komplett aus dem Ruder laufende mediale Reaktion auf den unerwarteten »Brexit« echauffieren? Sie hat mich zwar in ihrer Einseitigkeit und Einfältigkeit überrascht – aber war denn, nüchtern betrachtet, etwas anderes zu erwarten?

Ich bewundere einen Journalisten wie Glenn Greenwald, der zwei Tage nach dem britischen Referendum eine mitreißende Kritik des westlichen Medienechos veröffentlicht hat.4 Aber sind solche medienkritischen Glanztaten nicht vergebliche Liebesmüh? Welchen Sinn hat das? Erzielt es irgendeine Wirkung? Wird es auch nur einen der Betroffenen zur Einsicht und Umkehr veranlassen? Werden sie Greenwalds großartigen Text überhaupt zur Kenntnis nehmen?

Von Hagenbuch bis Scholl-Latour

Man muss zugeben: Gelegentlich zeigen sich auch Journalisten selbstkritisch und einsichtig. Der Politikchef der Wochenzeitung Die Zeit, Bernd Ulrich, kommt in einem Buch auf die viel diskutierten »transatlantischen Netzwerke« zu sprechen, in die viele Top-Journalisten westlicher Länder auf die eine oder andere Weise involviert sind. Ulrich erwähnt namentlich die Atlantik-Brücke und die Bilderberg-Konferenzen. Er schreibt: »Diese Veranstaltungen, von denen nicht berichtet werden darf, haben einen bestimmten Zweck – in der Regel: offiziell die Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit. De facto sind sie auch ein Transmissionsriemen für die amerikanische Denkart in der Außenpolitik, für die je angesagte Politik Washingtons. In diesen Netzwerken wurde in den Jahren der Mit-telost-Kriege eine Politik vordiskutiert und rationalisiert, die aus heutiger Sicht als stellenweise durchgeknallt bezeichnet werden muss.«5

Etwas später spricht er im gleichen Zusammenhang von einem »journalistische[n] Eingebettetsein«, das der »außenpolitische[n] Debatte hierzulande zuweilen einen merkwürdigen amerikanischen Akzent« verleihe. Und weiter: »[…] oft gewinnt man beim Lesen den Eindruck, als würde einem in Leitartikeln etwas beigebogen, als gäbe es Argumente hinter den Argumenten, fast glaubt man, eine Souffleur-Stimme zu hören.«6

Ein wenig haben mich diese Offenbarungen Ulrichs an eine legendäre Nummer des Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch erinnert: Hagenbuch hat jetzt zugegeben…

Es müsste Journalisten geradezu die Schamesröte ins Gesicht treiben, wenn selbst Spitzenpolitiker, die sich doch sonst über »Ruhe an der Medienfront« eher freuen, für mehr Aufmüpfigkeit und Pluralität plädieren. »Reicht die [Medien-] Vielfalt in Deutschland aus?«, fragte Außenminister Steinmeier anlässlich der Verleihung der LeadAwards in Hamburg im November 2014. Eher nicht, kann man aus seiner Antwort schließen: »Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.

Das Meinungsspektrum draußen im Lande ist oft erheblich breiter.«7

Das sah Altbundeskanzler Helmut Schmidt gegen Ende seines Lebens ganz ähnlich. Viele Medien schreiben anders, als die Deutschen denken, konstatierte er, und fügte hinzu: »Die Deutschen sind bei weitem friedfertiger als die Leitartikler in der Welt, der FAZ, der BILD und auch meiner eigenen Zeitung, der Zeit.«8

In einer Rede, die Schmidt zum 90. Geburtstag des mit ihm befreundeten großen Journalisten Peter Scholl-Latour gehalten hat, steht dieser Satz: »Die Arbeit von Peter Scholl-Latour hat gezeigt, dass es möglich ist, sich gegen den Mainstream der öffentlichen Meinung zu stellen.«9 Wobei vielleicht zu präzisieren wäre, dass Scholl-Latour weniger gegen die öffentliche als gegen die veröffentlichte Meinung rebellierte.

Nichts zeigt das eindrücklicher als Scholl-Latours letztes großes Buch Der Fluch der bösen Tat, eine ebenso fulminante wie fundamentale Abrechnung mit westlicher Außen- und Sicherheitspolitik. Ob es sich um Russland und die Ukraine handelt, ob um Syrien oder Libyen, um den Irak oder Iran, um Israel oder die Türkei, um Ägypten oder die Golfstaaten – in allen Kriegen und Konflikten, die sich mit den genannten Staaten verbinden, vertritt Scholl-Latour Positionen, die denen des Medienmainstreams entgegenstehen. Sein Buch ist mindestens ebenso sehr eine Politikkritik wie eine Medienkritik. Er liest seinen Kollegen die Leviten, verpasst ihnen einen Satz rote Ohren nach dem anderen.

Ganz gegen den herrschenden Meinungs- und Berichterstattungstrend sieht er Russland als Opfer »einer systematischen Kampagne durch die ferngesteuerten Medien Europas und deren politische Einflüsterer«10. Nicht Russland, sondern der Westen sei expansiv; die USA und ihre europäischen Trabanten hätten die Konfrontation heraufbeschworen, und der NATO-»Drang nach Osten«11 sei »eine Fehlentscheidung historischen Ausmaßes«12.

Über das vom Mainstream so bewunderte Amerika heißt es: »Ein tugendhaftes Vorbild sind die USA […] längst nicht mehr, seit sie mit ihrer globalen >Counter-Insurgency< gegen den Terrorismus den Weg zum >dirty war< als Zukunft beschritten haben, zum Einsatz mörderischer Drohnen, skrupelloser Söldnertrupps und der Folterexzesse des >water boarding<.«13 Und weiter: »Im schonungslosen Rückblick erscheinen die USA als dubioser, ja gefährlicher Partner.«14

Auch mit Blick auf Syrien sieht Scholl-Latour westliche Politik und Medien in »einer systematischen Desinformationskam-pagne«15 vereint. An anderer Stelle, aber zum selben Thema, spricht er von »systematische[r] Stimmungsmache und Desin-formation«16. Ausgerechnet Frankreich sieht er »an die Spitze einer einseitigen und gehässigen Propagandakampagne« weltweiten Ausmaßes, die »mit geradezu missionarischem Eifer« betrieben werde.17 Schon lange vor den ersten Anti-Assad-Pro-testen 2011 »hatte eine hemmungslose Kampagne, eine systematische Hetze in den amerikanischen und europäischen Medien gegen diese Arabische Republik eingesetzt«18. Es empört Scholl-Latour, dass Frankreichs »angesehenste Zeitung« – gemeint ist Le Monde – »in einseitiger Polemik Bashar el-Assad anklagte, Giftgas gegen seine Gegner zu verwenden«19.

Gegen Ende des Buches kommt er nochmals ausführlicher auf Syrien zu sprechen: »Irgendwo, an geheimen Kommandostellen, in diskreten Fabriken der Desinformation, die von angelsächsischen Meinungsmanipulatoren meisterhaft bedient wurden, war die Losung ausgegangen, daß Syrien sich den amerikanischen Vorstellungen einer trügerischen Neuordnung im Nahen und Mittleren Osten zu unterwerfen habe. Bei einer Medienveranstaltung der ARD in Berlin erwähnte ich diese allumfassende propagandistische Irreführung der breiten Öffentlichkeit, der sich – in Deutschland zumal – weder die linksliberalen noch die erzkonservativen Printmedien und Fernsehsender zu entziehen wußten. Der frühere Intendant des WDR, Fritz Pleitgen, und der arabische Journalist Suliman, der sein Amt als Korrespondent der TV-Station von Qa-tar, El Jazeera, quittiert hatte, weil er dessen Nachrichtenverfälschung nicht mehr ertrug, stimmten mir spontan zu. Die subtile, perfide Unterwanderung und Täuschung globalen Ausmaßes, denen die Medien ausgeliefert sind, bedarf einer ebenso schonungslosen Aufdeckung wie die hemmungslose Überwachungstätigkeit der National Security Agency. Gerüchteweise hatte ich vernommen, daß sich in North Carolina eine solche Zentrale der gezielten Fälschung befände, was die Existenz ähnlicher Institute in den USA, in Großbritannien und in Israel keineswegs ausschließt.«20

Auch im Hinblick auf Afghanistan beklagt Scholl-Latour, dass die deutsche Öffentlichkeit immer wieder »irregeführt«21 werde. Am viel bejubelten »arabischen Frühling« lässt er kaum ein gutes Haar, auch nicht am Umsturz in Ägypten: »Es wurde >foul< gespielt in Kairo, und eine krakenähnliche Desinformation – woher sie auch immer gesteuert wurde – führte die Berichterstattung der internationalen Medien in die Irre.«22 Libyen sei nach dem Umsturz gleichsam über Nacht in Chaos und Anarchie versunken: »Die Medien Europas und Amerikas blamierten sich wieder einmal zutiefst, als sie eine Wende zum Guten diagnostizierten.«23

Und so weiter. Aber was hilft das alles? Glaubt im Ernst jemand, Marietta Slomka oder Caren Miosga würden sich ihre eher schlichten Weltbilder von einem wie Scholl-Latour ausreden lassen? Haben sie sein letztes Buch überhaupt gelesen? Selbst wenn, so werden sie Scholl-Latour als einen alten, zornigen Mann wahrnehmen, der seine Verdienste haben mag, dem man pflichtschuldigst Respekt zollen muss, der aber schon längst seinen wohlverdienten Ruhestand hätte genießen sollen.

Wenn Scholl-Latour die jungen Leute nicht zu überzeugen vermag, wie wäre es dann mit Patrick Cockburn? Er berichtet für den Londoner Independent (Mainstream!)24 vornehmlich aus Syrien und dem Irak. Der vielfach preisgekrönte Journalist ist der derzeit wohl renommierteste Auslandskorrespondent der Welt. Und dies, obwohl seine Sicht auf die Vorgänge in Syrien quer zum Mainstream liegt, obwohl er in immer neuen Anläufen ein der Komplexität des Konflikts gerecht werdendes Bild zu zeichnen versucht und in diesem Bemühen nicht selten heftige Kollegenschelte betreibt. So auch in seinem Vorwort zu einem der besten Syrien-Bücher, die ich bislang gelesen habe, dem 2016 erschienenen Syria Burning von Charles Glass.25 Dort schreibt Cockburn: »Es gibt nur wenige Ereignisse in der jüngeren Geschichte, die in solch hohem Maße einer unangemessenen und lückenhaften Berichterstattung zum Opfer gefallen sind, und es gibt nur wenige Journalisten, die über die nötige Wahrnehmung und Erfahrung verfügen, um diese furchtbare Tragödie angemessen zu beleuchten.«26

Und weiter: »Es ist schwierig, vernünftig und ausgewogen über einen Konflikt zu berichten, in dem alle Parteien, inklusive vieler Medien, derartig voreingenommen sind. Seit Beginn des arabischen Frühlings – und zwar nicht nur in Syrien, sondern auch in anderen Ländern, die in diesen komplexen Entwicklungen verfangen sind – wurde seitens der Journalisten häufig die eine Seite auf plumpe Art und Weise dämonisiert, während die andere als unbescholtene Demokraten dargestellt wurde. Offensichtliche Widersprüchlichkeiten wurden hierbei ignoriert. Ein Beispiel: Wie können die syrischen Rebellen die säkularen Demokraten sein, die sie vorgeben zu sein, wenn ihre wichtigsten Unterstützer und Geldgeber Saudi-Arabien, Katar und die Golfstaaten sind, deren Herrscher die letzten theokratischen Monarchen auf der Erde sind?«27

Schließlich: »Diese Zusammenhänge zu verstehen, ist nicht einfach und setzt ein tiefes geopolitisches Verständnis wie auch aktuelles Wissen über eine der gefährlichsten Regionen der Welt voraus.«28

ARD und ZDF unterhalten bekanntlich keinen festen Korrespondentenplatz in Syrien.

Nochmals kurz zu Scholl-Latour. Es ist interessant, dass er in seinem Buch von einem Fall berichtet, in dem er politisch massiv unter Druck gesetzt wurde, aber ein prinzipienfester Intendant ihn schützte. Das war während des Vietnamkriegs. Schon bei der Landung der ersten US-Marines in Da Nang hatte Scholl-Latour einen für die USA tragischen Ausgang des Krieges prophezeit. »Das führte zu einer Demarche des damaligen Außenministers Schröder [gemeint ist der CDU-Politiker] bei meinem Sender, dem WDR, der in meiner Berichterstattung einen Verstoß gegen die atlantische Solidarität zu entdecken glaubte. Dieser Zensur-Vorstoß war seinerzeit am Standvermögen des Intendanten Klaus von Bismarck gescheitert. Dieser hochdekorierte ehemalige Frontoffizier befragte mich zwei Stunden lang zu den Prognosen, die sich auf meine persönlichen Erfahrungen im französischen Indochina-Krieg stützten, und gab mir kurz und preußisch die Weisung: >Machen Sie weiter!<«29

Ähnliches erlebte Scholl-Latour beim ZDF. Der damalige Intendant, Dieter Stolte, habe ihn völlig gegen jede Kritik von außen abgeschirmt. In seiner Fernsehtätigkeit sei er frei gewesen. Heute sei das nicht mehr so. In diesem Zusammenhang erinnert er an den konservativen Leitartikler Paul Sethe, der in den 1960er Jahren geschrieben hatte, die Freiheit der Presse im Westen sei die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu sagen. Inzwischen, so Scholl-Latour, seien es keine zweihundert mehr, sondern nur noch vier oder fünf.30

Zwischen den Stühlen

Die wenigen Beispiele, die ich angeführt habe, ließen sich schier endlos vermehren. Wer daran interessiert ist, kann durch die Seiten des Medien-Watchblogs »Propagandaschau« scrollen und findet dort eine ziemlich lückenlose Dokumentation journalistischer »Schandtaten« und Verblendungen.31 Die Betroffenen ignorieren das alles. Sie sagen – völlig zu Recht übrigens –, die »Propagandaschau« befleißige sich eines polemischen, unflätigen, beleidigenden, jedenfalls schwer erträglichen Tons; das müsse man sich nicht bieten lassen. Diese Abwehrhaltung kann ich noch verstehen. Aber ich verstehe nicht, dass auch Einwände, die in zivilisierter, höflicher Form daherkommen – wie etwa die zahllosen Programmbeschwerden des früheren »Tagesschau«-Redakteurs Volker Bräutigam und seines Kollegen Friedhelm Klinkhammer (mit Schwerpunkt Russland, Ukraine, Syrien)32 -bei den Betroffenen nicht verfangen.33 Es scheint so, als wolle man sich auf so etwas gar nicht erst einlassen, weil man befürchtet: Wenn wir damit mal anfangen, nimmt es kein Ende mehr …

Das ist bedauerlich. Denn was könnte für ein zunehmend medienkritisches Publikum interessanter sein als – zum Beispiel – ein abendliches Fernsehstreitgespräch zwischen dem »ARD aktuell«-Chef Kai Gniffke und einem früheren Redakteur, dem die ganze Richtung nicht passt? Das wäre doch was!

In Großbritannien und den USA ist man diesbezüglich weiter. Die bekannteste medienkritische Website auf der Insel heißt Medialens34 und wird von David Edwards und David Cromwell verantwortet, zwei gefürchteten, aber von der Medienwelt respektierten Beobachtern, die ihre Kritik in der Sache scharf, aber im Ton konziliant vortragen. Ihre Zielscheibe sind insbesondere die als vergleichsweise seriös und glaubwürdig geltenden Flaggschiffe des britischen Mediensystems, also der Guardian, der Independent und die BBC. Cromwell und Edwards, die auch medienkritische Bücher publiziert haben35, schaffen es immer wieder, Top-Journalisten des Landes wie Alan Rusbridger, Andrew Marr oder George Monbiot bei ihrer Ehre zu packen und in kontroverse Debatten zu verwickeln. Mitunter führen diese sogar zu konkreten Ergebnissen, also zu einer partiellen Anerkennung der Kritik und zu besserer Berichterstattung.

Nichts anderes gilt für das US-amerikanische Pendant. Die Website FAIR (für »Fairness and Accuracy in Reporting«) genießt einen guten Ruf, wird von vielen Journalisten wahr- und ernstgenommen.36 Und auch sie erzielt Erfolge. Als FAIR kürzlich der Washington Post vorwarf, innerhalb von sechzehn Stunden sage und schreibe sechzehn Bernie-Sanders-kritische Geschichten gebracht zu haben37, sah sich die Post zu einer umfangreichen Erwiderung genötigt.38

Aber hierzulande ist es anders. Um im Nachrichtenjargon zu sprechen: Die Lage spitzt sich zwar dramatisch zu – doch es bleibt alles beim Alten. Und immer öfter ertappe ich mich dabei, dass ich mich nicht