Der kubanische Käser - Patrick Tschan - E-Book

Der kubanische Käser E-Book

Patrick Tschan

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Beschreibung

In einer bitterkalten Winternacht im Frühmärz 1620 treiben Liebeskummer und Branntwein den jungen Toggenburger Noldi Abderhalden in die Fänge eines Anwerbers der Spanischen Armee. Als Reisläufer für die katholische Sache lernt der Sechzehnjährige das raue Soldatenleben kennen. Das Kriegshandwerk scheint ihm zu liegen, und die Kameradschaft sagt ihm zu. Als er den Heereskommandanten Gómez Suárez de Figueroa, den Duque de Feria,vor einer protestantischen Kanonenkugel rettet, wird er als Kriegsheld an den spanischen Hof beordert. Dort liesse es sich aushalten, doch das Leben hat andere Pläne. Noldi entgeht nur knapp der Spanischen Inquisition und wird nach Kuba verbannt, wo er eine Horde Rindviecher zu beaufsichtigen hat. Kein Problem für Noldi – denn Noldi Abderhalden wäre nicht Noldi Abderhalden, wenn er aus dieser Situation nicht machte, was nur er daraus machen kann. Patrick Tschan lässt einen geradlinigen Toggenburger quer durch die Wirren des Dreissigjährigen Kriegs marschieren und bitterem Ernst mit heiliger Einfalt die Stirn bieten.

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Seitenzahl: 232

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PATRICK TSCHAN

DER KUBANISCHE KÄSER

Autor und Verlag danken für den Druckkostenbeitrag:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2019 Zytglogge Verlag AG, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Thomas Gierl

Coverbild: James Connolly on Unsplash

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN epub 978-3-7296-2256-2

ISBN mobi 978-3-7296-2257-9

www.zytglogge.ch

Patrick Tschan

DERKUBANISCHEKÄSER

Das wunderbarlicheLeben und Lieben desNoldi Abderhalden

Roman

Es war nicht so, dass Noldi Abderhalden in dieser bitterkalten Winternacht im Februar 1620 freiwillig über die eisigen Trampelpfade auf den Chüeboden oberhalb Alt-St. Johanns aufgestiegen wäre, um von dort seinen ganzen Schmerz über dieses verdammte Tal hinwegzuschreien.

Nein. Die Heidi hatte ihn verlassen. Wegen dem Heiri Obderhalden.

Er war so stolz gewesen, dass gerade er die Heidi küssen und mit ihr gehen durfte. Wie ein Pfau war er Hand in Hand mit ihr die Dorfstrasse rauf und runter flaniert, unter den neidischen Blicken der anderen Burschen, die wie er fast täglich wegen der Heidi einen Ständer weggedrückt hatten. Geheiratet hätte er sie, auf der Stelle – hätte er gekonnt, hätte er gedurft.

Aber, was eh nicht gut ausgehen durfte, war durch den Heiri bereits nach dem zweiten Gang am Ende der Dorfstrasse abgeklemmt worden.

«Komm, Heidi», hatte er gerufen, und die Heidi hat die Hand vom Noldi losgelassen, sich beim Heiri untergehakt, sich zu Noldi umgedreht, ihm zugeraunt, der Heiri käme eben draus, im Gegensatz zu ihm, er solle jetzt ja nicht flennen, sondern zum kleinen Babettli gehen, die käme auch noch nicht draus, aber irgendwann kämen sie dann beide draus, und dann käme es schon noch gut für ihn.

Und so krümmte er sich jetzt dort oben auf dem Chüeboden vor Liebesschmerz mit einer Flasche saurem Wein im Kopf, beobachtet von Bär, Wolf und Gämsbock, tobte, schrie, stampfte, weinte und schluchzte so laut, dass sich Bär, Wolf und Gämsbock einig waren, dass nur Menschen sich so saudumm aufführen konnten.

Da er die Heidi doch schon ein gutes Stück weggetrunken hatte, wusste er plötzlich nicht mehr, was er eigentlich ausser Schreien und Toben dort oben wollte, und machte sich daran, wieder vom Chüeboden hinabzusteigen, bahnte sich einen Weg durch die Dunkelheit und das einsetzende Schneetreiben, wählte im Suff zweimal die falsche Abzweigung, rutschte aus, landete unsanft auf dem Hintern, und da er auf dem blanken Eis nicht mehr hochkam, entschied er sich, in den Spuren der schweren Holzfällerschlitten auf dem Hosenboden ins Tal zu rutschen. Hei, da nahm der Noldi Fahrt auf, zog die Beine an und gab leichte Rücklage, nutzte die Schneewechten als Steilwandkurven, eine Tannenwurzel riss ein Stück Leder aus der Hose und dem Hintern und eine Eule stob aufgeschreckt in das ewig Gründunkle des Tannenwalds. Am Ende der Schussfahrt landete er geradewegs vor den Füssen eines Anwerbers für Reisläufer der von Planta.

«Ha», rief der Anwerber, «da kommt ja einer vom Chüeboden geflogen. Schau, Trommler, ein stämmiges Exemplar von einem Alt-St.-Johanner Sautreiber! He, was meinst du?»

Der Trommler antwortete mit einem kräftigen ‹Terrrräng›.

«Der wäre doch was, um gegen die vermaledeiten Bündner Protestanten, gegen den Jörg Jenatsch und Konsorten zu kämpfen. Was meinst du, Trommler?»

Terrrräng!

«Jörg Schnaps?», lallte Noldi und versuchte aufzustehen.

Der Anwerber drückte ihn zu Boden. Jetzt erst spürte er den stechenden Schmerz in seinem Hintern von all den blauen Flecken, Hautschürfungen und Rissen, die er sich beim wilden Ritt über Steine, Felsvorsprünge, Tannennadeln und -zapfen zugezogen hatte.

«Schnaps?»

«Schnaps!»

«Ja, was würde so ein dahergerutschter Sauhirt denn für Schnaps geben?»

«Kuhhirt!»

«Von mir aus. Also, was gäbe ein Kuhhirt für Schnaps?»

Terrrräng!

«Was würde denn so ein Herr mit Trommler wollen?», lallte Noldi dagegen.

Der Anwerber reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen. «Deinen Todesmut.»

Terrrräng!

«Das ist alles?» Noldi versuchte, die helfende Hand abzuschütteln, und fiel dabei fast wieder um.

«Ja.»

Terrrräng!

«Und was, was … also was, was gibt den, den Schnaps?», brabbelte Noldi.

«Dein Kreuz. Hier. Für zehn Jahre.» Der Werber hielt ihm ein Blatt mit grossem Wappen und mächtig geschwungener Schrift unter die Nase, zog eine Feder aus der Umhängetasche und zeigte Noldi die Stelle fürs Kreuz.

Terrrräng!

«Zeig den Schnaps, du, du, du Seelenkrämer …»

«Voilà.» Der Anwerber zeigte auf den Trommler und dieser zog ein kleines Fässchen Schnaps aus seinem Beutel.

Noldi nahm das Fässchen, zog den Zapfen, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und ächzte: «Wuaah!»

«Veltliner.»

Terrräng!

«Gib … du, du Buhler, du.»

«Trommler!»

Der Tambour hob die Trommel hoch, der Anwerber legte das Blatt darauf und fragte Noldi scharf: «Name?»

«Noldi, du, du Leichenfledderer, du.»

«Wie noch?»

«Abderhalden, natürlich, du, du, Schnitter, du …»

Der Werber schrieb den Namen und Vornamen auf das Blatt, drückte die Feder in Noldis Hand, führte sie zur Stelle, wo dieser zu unterschreiben hatte, und machte dort drei Kreuze. Daraufhin nahm Noldi einen zu grossen Schluck Schnaps, prustete die Hälfte wieder hinaus und besudelte das Blatt. Der Trommler schrie «He!», der Werber nahm das Papier und wischte den Schnaps ab, und Noldi, ohne Stütze, fiel hin, krümmte sich, umschlang das Schnapsfässchen und entschied sich, nie mehr aufzustehen und für immer und ewig einzuschlafen.

Terrrräng! Terrrräng!

Er blieb liegen.

Terrrräng! Terrrräng! Terrrräng!

Er tat einen tiefen Seufzer.

«Wache!», befahl der Anwerber. Zwei mit Hellebarden bewaffnete Soldaten traten aus dem Dunkel der Nacht, hoben den Noldi hoch und schleppten ihn in einen Stall, wo sie ihn neben eine Kuh warfen.

Babettli, die das alles von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, stürmte, kaum waren die Soldaten wieder im Dunkel und Anwerber wie Trommler im Wirtshaus verschwunden, die Treppe hinunter, auf die Dorfstrasse und in den Kuhstall, in den sie den Noldi verfrachtet hatten.

Es war ein jämmerliches Bild, das sich ihr bot: ein verdreckter, blutverkrusteter Noldi, der sich an sein Schnapsfässchen klammerte und wirres Zeug stammelte. Die danebenliegende Kuh war so leibarm, dass sie trotz grosser Kälte nicht einmal dampfte.

Erfasst von Mitleid und ihr gänzlich unbekannten anderen Gefühlen legte sie sich eng an Noldis Rücken, begann sein Haar zu streicheln, sein Gesicht, seinen Hals, und irgend­wie rutschte ihre Hand unter sein Hemd und von da – sie hatte wirklich keine Ahnung, welcher Teufel sie da ritt – in seine Hose, und da war das Ding, von dem alle sprachen, das sie aber noch nie gesehen, geschweige angefasst hatte.

Noldi stöhnte, spürte im Halbtraum etwas in seiner Hose, das sich wie ein Murmeltier anfühlte, weich, pelzig, warm, fettig, und von dem er hoffte, dass es ja nicht zubeissen würde. Irgendwann begann das Murmeli mit ihm zu sprechen, fragte ihn, wie er das finde, er antwortete, es solle weitermachen, aber einfach nicht beissen, es fragte, was er da mit den bewaffneten Männern gemacht habe, Zeugs verkauft, eben, antwortete er, was für Zeugs, er habe seine Todesverachtung verkauft, warum er dies getan habe, er sei halt so todesverachtend unglücklich, warum er denn so unglücklich sei, weil er die Heidi verloren habe.

Da biss das Murmeli dermassen zu, dass der Noldi sofort wieder nüchtern war, wie am Spiess vor Schmerz schrie, die Kuh darob verstört aufschreckte, ihm einen Huf an die Backe donnerte, derweil er noch einen Rockzipfel von dem weinend aus dem Stall stiebenden Babettli im Augenwinkel erhaschte.

Er krümmte sich noch mehr vor Schmerz, Liebeskummer und Suff, trank noch ein paar Schluck und schlief schliesslich ein, träumte von Murmelis und Heidis und Kühen und wurde am anderen Morgen durch einen kräftigen Fusstritt geweckt, in den eisig kalten Dorfbrunnen geschmissen und in die Uniform eines Söldnerregiments der katholischen Truppen der von Planta gesteckt.

Fünf Burschen und nur er aus Alt-St. Johann versammelten sich vor dem Benediktinerkloster, der glatzköpfige Pater in schwarzer, zerschlissener Kutte segnete sie und schärfte ihnen ein, keine Gnade gegenüber diesen verdammten Protestanten walten zu lassen, alles Blut, das sie vergössen, werde ihnen am jüngsten Tag doppelt und dreifach angerechnet, und jeder um einen Kopf kürzere Protestant gebe das Doppelte und Dreifache vom Doppelten und Dreifachen noch obendrauf. So sei ihnen und allen aus ihren Familien und sogar noch einigen drum herum der Himmel gewiss, denn der Herrgott wisse schon, auf welcher Seite einer stehe, darauf könnten sie sich verlassen. Sie mögen nun dahinziehen und das Saupack ausmerzen und gleich noch das Nachbarsdorf Wildhaus anzünden, schliesslich komme diese scheussliche Plage der Reformation aus diesem gottverdammten Nest mit der elendigen Teufelsbrut von einem Sohn namens Huld­rych Zwingli. Der Pater spuckte dreimal Richtung Wildhaus, bespritzte die Burschen mit Weihwasser und gab dem Anwerber noch ein Säcklein Hostien «für alle Fälle» mit.

So schlurfte dieses erbarmungswürdige Häuflein junger Burschen, der jüngste knapp fünfzehn, der älteste gerade achtzehn geworden, der Thur entlang, vorbei an Sumpfgebieten, dem Oberchostobel, Luckentobel und Grindacker nach Wildhaus, wo sie von aufgestachelten Bauernkindern mit Pferdeäpfeln beschmissen wurden, über Tüftobel, Landscheid und das Zollhaus aus diesem abseitigen Schlauch von einem Tal nach Werdenberg, wo die protestantischen Glarner Schlosswachen sich einen Spass daraus machten, sie mit Bleikugeln aus Musketen und alten Arkebusen zu beschiessen.

Hei, da mussten sie aber flugs das Schlurfen ablegen, die Hinteren nach vorne nehmen, gaben doch die Kugeln, obwohl aus grosser Distanz abgefeuert, schmerzhafte blaue Flecken. So jagten sie im Laufschritt bis nach Buchs am Rhein hinunter und von da an weiter nach Sargans in einigermassen sichere katholische Gefilde.

Es war ein hueren Puff zu dieser Zeit in dieser Ecke der Welt. Hundert Jahre zuvor hatte der dazumal noch magere Mönch Luther ein paar Sätze an eine Kirchentür in Sachsen geschlagen, welche die fettleibige Kirche als eine Frechheit empfand, die aber der Fürst, auf dessen Gebiet die Kirche stand, für äusserst bedenkenswert erachtete, da ihm einerseits die römische Kirche mit ihrer Geldeintreiberei für ihren riesigen Bau in Rom schon lange auf den Sack ging und andererseits Kaiserwahlen anstanden. Und so ein kleines zusätzliches Traktandum, zum Beispiel die ‹Causa Lutheri› unter Varia, könnte durchaus dazu dienen, dem jungen Kaiser mit dem fliehenden Kinn zu zeigen, wo der Barthli den Most holt, falls er, der Kurfürst Friedrich III. von Sachsen, diesen holen will. Und seine Privatschatulle, so war sich Friedrich der Weise sicher, würde durchaus keinen Schaden davontragen. Im Gegenteil.

Der junge Habsburger mit dem fliehenden Kinn war, geblendet von seinem soeben mit viel Geld erworbenen Titel ‹Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation›, trottelig genug, dem jungen Mönch trotz Exkommunikation freies Geleit zuzusichern.

Ein Entscheid, den er später bitter bereute und daher halb Europa in Schutt und Asche zu legen begann, so lange, bis sich kein Mann mehr fand, der eine Hellebarde tragen konnte. Aber der Friede hielt nicht lange, waren doch Religionsfreiheitsverträge nicht mal das Papier wert, auf dem sie geschrieben wurden, und bald ging es auch schon wieder los. Die Franzosen veranstalteten ein Blutbad unter den Protestanten, in Flandern und Holland droschen sich die Spanier und die einheimische Bevölkerung die Köpfe blutig, und auch die Eidgenossen und die Dreibündner schlugen die Dörfer der jeweils Andersgläubigen immer mal wieder kurz und klein. Und was vorgestern katholisch gewesen war, wurde gestern protestantisch und war heute schon wieder katholisch. Da soll mal einer drauskommen, wer gegen wen gerade wieder zu den Schwertern griff.

In Alt-St. Johann hatte sich der Noldi immer aus allem rausgehalten. Das war eine der Lebensweisheiten, die ihm sein Vater eingeschärft hatte: «Wenn sich jeder bei jedem Andersgläubigen raushält, dann kann man auch neben- und miteinander leben.» Nur so könne das gehen in einem engen Tal, das nahe vor einem Krieg stehe wegen diesem Gott, den sich jede Seite so zurechtstutze, wie er ihr gerade am besten diene. Weil auch ein paar andere Toggenburger so dachten, schlugen sie sich nicht gleich die Köpfe ein, sondern glaubten nebeneinander statt gegeneinander. Man kam überein, dass jedes Dorf den Gott nehmen solle, der ihm besser zusage. So kamen die Toggenburger davon.

Zwar hatten die St. Galler Äbte Mühe, dass da und dort die Kreuze auf den Kirchtürmen gegen Wetterhähne ausgetauscht wurden. Aber als man zweimal über die Sache geschlafen hatte, baute man in diesen Gemeinden halt neue Kirchen, holte ein paar Reliquien des alten Gallus aus der Krypta und weihte damit deren Altäre. So hatte nach kurzer Zeit wieder jede und jeder im Toggenburg die ganze Auswahl an christlicher Erbauung direkt vor der Haustür. Und, oh Wunder, sie hielten sich alle mehr oder weniger raus, obwohl sie sich oft gegenseitig die Pest an den Hals wünschten.

Was hingegen die protestantischen Eidgenossen nicht taten, nein, die mussten wieder mal zündeln, verbündeten sich mit den Franzosen zum Ärger der Habsburger und Spanier, denn so hatten diese ein Problem, hatten sie doch keine direkten Nord-Süd-Verbindungen mehr. Es blieben ihnen nur noch die Pässe über das Veltlin und Südtirol, die zu ihren Besitzungen in Süddeutschland führten.

Was die Eidgenossen können, können wir schon lange, dachten sich die reformierten Bündner, knüpften ein paar einflussreiche Katholiken an den nächsten Bäumen auf und kappten im Veltlin die letzte Verbindung zwischen den habsburgisch-spanischen Ländereien in Norditalien und den österreichischen Stammlanden nördlich der Alpen. Jetzt war da natürlich der Teufel los. Weder die spanisch- noch die österreichisch-katholischen Habsburger liessen sich das bieten, die katholischen von Planta liessen sich das auch nicht bieten und der Abt von Disentis, Vertreter Roms in Dreibünden, liess sich das schon gar nicht bieten. Also trieb man in den katholischen Orten der Eidgenossenschaft junge Männer zusammen, zum Teil fast noch Kinder, mit der Absicht, sie dort, wo der Valpolicella herkommt, gegen gutes Geld für die Spanier und Habsburger in die Schlacht zu werfen, damit die Welt wieder die Ordnung bekäme, welche die Spanier, Habsburger und der Abt von Disentis wollten.

Und die Auswirkungen von diesem huere Puff spürte nun auch der Noldi Abderhalden, nachdem er im ersten Vollsuff seines Lebens wegen dieser vermaledeiten Heidi, die jetzt den Obderhalden küsst und noch viel schlimmer, ihm wohl ein Murmeli in der Hose macht, einen Wisch unterschrieben hatte, der ihn mitten ins Weltgeschehen hineinriss und dessentwegen jetzt Burgwachen auf seinen Hintern zielten, obwohl er sich doch raushalten wollte und obwohl es ihm Hans was Heiri war, ob einer Protestant oder Römer sei.

Nach diesem Vorfall wurde es auch dem Anwerber mulmig, und er wies die Burschen an, sich im nächsten Waldstück zu verstecken. Er würde unterdessen andere Kleidung auftreiben, seien die Protestanten, wie man gerade gesehen habe, doch eine richtige Landplage geworden, und gerade hier, am Rande von Dreibünden, sei man gar nicht mehr sicher.

In einem Wald warteten sie die Dunkelheit ab und setzten mitten in der Nacht über den Rhein nach Triesen über, wo sie zwar gerne Hexen verbrannten, aber das Grüppchen sich doch auf gefahrlosem, katholischem Boden befand.

Der Anwerber und sein Trommler kauften bei den ­Bauern Sackkleidung, schnitzten sich Pilgerstäbe zurecht, verbrannten die gelbroten Uniformen der von Planta, strichen sich am anderen Tag noch ein wenig Erde und Russ ins Gesicht, setzten wieder über den Rhein und pilgerten so als kleines Grüppchen Richtung Rom, Santiago de Compostela oder zur Schwarzen Madonna von Guadalupe.

So kamen sie ungeschoren durch das Rheintal, nach Chur, nach Thusis. Ein kundiger Führer wies ihnen zu einem weit überhöhten Preis den Weg durch die Via Mala.

Da bekam es der Noldi Abderhalden aber mit der Angst zu tun, ging es doch in dieser Schlucht so gäch, so weit hinab, dass man direkt in die Eingeweide der Erde schauen konnte. Die Dämonen des Hinterrheins lockten mit Droh- und Schmeichelgesängen die Reisenden an den Abgrund, damit die verbündeten Luftteufel sie in den Schlund hinunterstossen konnten, worauf die Beute unter Gezeter und Mordio unter ihnen aufgeteilt wurde.

Der Noldi, der in Sachen Berge und Schluchten doch ­einiges gewohnt war, schlich den Felswänden entlang, hielt sich an den befestigten Planken und Seilen fest und stopfte sich Gras in die Ohren, damit er das verdammte Gebrüll und Wehklagen des Flusses nicht hören musste. Als sie endlich die Schlucht hinter sich hatten, Noldis Ohren wieder befreit waren, begann es zu stürmen und zu schneien. Es ging ratzfatz, und die jungen Burschen hatten Eisklumpen in Bärten und Haaren, der Locher Josef weinte vor Angst und Schmerz, und der Bollhalder Karri rannte plötzlich wie von der Tarantel gestochen los. Er hatte durch den Schneevorhang die Umrisse einer Kirche gesehen. Alle rannten ihm nach; der Säumer versuchte, sie aufzuhalten, und schrie: «Da könnt ihr Saukatholiken nicht rein, das ist unsere Kirche!», worauf ihm der Anwerber eins aufs Maul gab und der Trommler ihm einen Schlegel über den Kopf zog. Der Abderhalden Noldi ergriff den Locher Josef und schleifte ihn zur Kirche, deren Tür der Bollhalder bereits aufgestemmt hatte.

Sie traten ein und sahen nichts. Es war nicht nur dunkel, es war auch saukalt, kälter als draussen im Schneetreiben, derart kalt, wie es nur in einem kahlen, protestantischen Kirchenschiff sein konnte. Da wohnt ein kalter, ein dunkler Gott, dachte Noldi und suchte, kaum hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewohnt, nach Kerzen.

Er solle nicht so herumtappen, schrie der Locher, das mache ihn ganz verrückt, er solle sich hinsetzen, er drehe sonst noch durch. Das mache er sicher nicht, antwortete der Noldi, da gefriere einem gerade der Arsch, so kalt seien die Bänke, sei der Boden, das sei ja schlimmer als Eis. Und ausserdem solle er jetzt endlich aufhören zu flennen, froh sein, dass die Via Mala hinter ihnen liege, dass ihnen noch keine Räuberbande und vor allem keine Sarazenen begegnet seien, die einem ohne viel Federlesen den Hals aufschnitten. Die Sarazenen gebe es schon lange nicht mehr, raunzte da der Bollhalder, Noldi solle aufhören, dem Locher ständig solchen Seich zu erzählen, kein Wunder, dass dieser ständig die Hosen voll habe.

Noldi liess sich nicht auf Bollhalder ein, fand eine Kerze, nahm Feuerstahl und Zunder aus seinem Beutel, wollte bereits die Funken schlagen, als Fackellicht durch die winzigen Kirchenfenster drang, die Tür aufgerissen wurde und eine Handvoll Bauern mit Mistgabeln und Dreschflegeln die Kirche stürmten.

«Ho, ho, ho», rief der Anwerber, der sich geistesgegenwärtig mit ausgebreiteten Armen vor den Altar gestellt hatte, den herandrängenden Bauern zu, «wer will sich denn an erbarmungswürdigen Pilgern vergreifen, die Schutz vor Eis und Schnee im Hause Gottes suchen?» Dann kramte er eine Hostie hervor, streckte sie mit beiden Händen haltend gegen den Himmel, zerbrach sie, breitete die Arme aus und sprach:

«Gott, du hast deinen Knecht Abraham auf allen Wegen unversehrt behütet. Du hast die Söhne Israels auf trockenem Pfad mitten durch das Meer geführt. Durch den Stern hast du den Weisen aus dem Morgenland den Weg zu Christus gezeigt. Geleite auch diese hier versammelten Gläubigen auf ihrer Pilgerfahrt zum Grab Petri. Lass sie deine Gegenwart erfahren, mehre ihren Glauben, stärke ihre Hoffnung und erneuere ihre Liebe. Schütze sie vor allen Gefahren und bewahre sie vor jedem Unfall. Führe sie glücklich ans Ziel ihrer Fahrt und lass sie wieder unversehrt nach Hause zurückkehren. Gewähre ihnen schliesslich, dass sie sicher das Ziel ihrer irdischen Pilgerfahrt erreichen und das ewige Heil erlangen. Darum bitten wir dich durch Christus, unseren Herrn.»

Die Burschen antworteten artig mit «Amen», die Bauern starrten ehrfürchtig auf den Anwerber, der im flackernden Licht der Fackeln aussah wie ein alttestamentarischer Heiliger vom Berg.

Noldi versteckte die Kerze unter dem Gewand, und der Locher schluchzte und flehte herzerschütternd: Heilige Mutter Maria, er wolle jetzt nicht sterben, nicht jetzt. Und schon gar nicht in einer so verreckten protestantischen Kirche, dachte der Bollhalder.

Dann war eine Weile Stille.

«Ihr seid keine Pilger», hob ein zahnloser Kuhhirt zaghaft seine Stimme mitsamt seiner Mistgabel.

«Ja, was sollten wir sonst sein?», fragte der Anwerber.

«Söldner für die verdammten von Planta, für die Spanier, für die Katholen, die uns wieder die Hölle heissmachen, uns wieder das Veltlin wegnehmen wollen.»

«Dann kämen wir sicher nicht hier durch. Dann wären wir über Disentis weitergegangen.»

«Das ist nur eine List, ihr verdammten Katholenkrieger.»

«Chabis, wir sind Pilger, wir halten uns aus allem raus. Wir pilgern nur unsere Sünden ab und wollen uns sicher nicht mit neuen beladen», meldete sich der Noldi aus dem Dunkel.

«Natürlich sind sie Pilger, wie sollte der andere da den Pilgersegen sonst so gut können», beschwichtigte ein kleiner, knorriger Schreiner und steckte seinen Hobel wieder ein.

«Den Pilgersegen können wir auch», warf der hinkende Knecht des Kuhhirten ein.

«So, dann sprich mal!», meinte der Schreiner.

«Gott, du hast deinen Knecht … hmm, du hast deinen Knecht … Herrgottnochmal, wie hiess der schon wieder …»

«Feusi», warf Noldi mit einem Grinsen ein.

«Gott, du hast deinen Knecht Feusi auf allen … Himmelherrgott, so ein Seich, das war sicher nicht der Feusi …»

Die ganze Runde lachte schallend, ja, sie bekam sich eine gute Weile nicht mehr ein, bis ein Engel durch das Kirchenschiff zog und Stille einkehrte.

«Und jetzt?», fragte der Kuhhirt.

«Wir haben Hunger», antwortete der Anwerber.

Die Bauern schauten sich an, schickten den Jüngsten ins Dorf, und nach kurzer Zeit kamen ein paar Frauen mit hartem Brot, noch härterem Käse, trockener Wurst und ein paar Krügen mit dünnem Wein.

Und so wurde es dann, nachdem man sich versichert hatte, dass sich eigentlich alle hier aus allem raushalten wollten, nachdem man ein paar Geschichten aus dem Unterland sowie die neusten Witze über den Papst erzählt hatte, lustiger und lustiger; der Wein wirkte und je mehr Schnaps dazu kam, desto mehr Juchzer, Zäuerlis und Ratzliedlein wurden geschmettert:

«Zum Zipfel, zum Zapfel, zum Henneloch, hütt Obe mues gär alles versoffe sii.»

«Droobe uf de Rungolsalp mached d Schriiner öppe s ;Chalb. Si essid Chuepflätter und schissed Brätter – mei, das git es Donnerwätter.»

«Schätzeli, wo söll ich min Buuch hiilege? Sag Schätzeli mir allei. Leg di Buuch an mi Buuch und dänk deby, es sig so Bruuch.»

Und irgendwann hörte der Schneefall auf, und irgendwann, aber nicht zu spät, gaben die Frauen den Pilgern noch ein paar Decken, machten sich auf den Heimweg in ihre Betten, und irgendwann schliefen auch die Söldner vor Erschöpfung nach dem langen Marsch durch die Via Mala ein, der Noldi als Erster, der von einem pelzig weichen Murmeli träumte.

Am Morgen, als das Licht so weiss glitzernd, wie es nur die Wintersonne auf frisch gefallenem Schnee hervorzaubern kann, durch die Butzenscheiben der knapp schiessschartengrossen Fenster fiel, fing der Locher an zu schreien wie am Spiess, sprang auf, stürmte zur Kirche hinaus und kreischte, schnaubte und fauchte, dass sich die Fensterläden der Dörfler öffneten, die herauslugenden Menschen sich zuerst mit einem Stossgebet bekreuzigten und sodann nach dem Exorzisten oder gleich nach dem Henker riefen.

Dann ging ein grösseres Fenster auf, und eine knorrige Tanne von einem Mann mit Schlafmütze schmetterte mit tiefer Stimme, sie sollten nicht so dumm tun, der arme Kerl habe ja nur die Teufel, Monster und Ungeheuer an der Decke der St.-Martin-Kirche gesehen. Man brauche den nicht gleich zu vierteilen, man könne nochmals schlafen gehen, der viele Schnee liesse eh keine Arbeit zu.

Und jetzt sah auch der Noldi Abderhalden, dass da an der Decke keine Murmelis herumhüpften, sondern Meeresnixen mit Elefanten- und Wolfsköpfen, eine mit einem Einhornkopf, die einen Menschen durch den Hintern aufspiesste, Herodes Schergen köpften Kind um Kind, Judas küsste Jesus, und der Satan versuchte Gottes Sohn gleich dreimal. Hei, jagten diese Dämonen einem einen Schrecken ein, vor allem, wenn man noch so einen Ballaari von dünnem Wein und schlechtem Fusel im Kopf hatte, ja, dann konnten einen solche Viecher schon verrückt machen, erst recht, wenn man so einer wie der Locher war, der bei jedem noch so kleinen Anlass zu flennen begann, einer, der am liebsten gleich und für immer wieder unter die Röcke seiner Mutter schlüpfen würde und dem es egal wäre, wenn sie ihm dafür ein Leben lang über den Grind seichen würde.

Gebannt starrte der Noldi auf die bemalten Quadrate an der Decke, die wild durcheinander die bekannten Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament erzählten, so lebensnah gemalt, dass er dachte, der Herr Jesu würde jetzt gleich zu ihm heruntersteigen und ihm links und rechts eine dafür runterhauen, dass er Nacht für Nacht von Murmelis träumte.

Abderhalden weckte den trotz aller Aufregung um ihn herum tief schlafenden Kommandanten. Seit den Vorfällen von gestern Nacht war der Anwerber in Noldis Kopf ein Kommandant geworden, ohne dass Noldi gewusst hätte, woher er dieses Wort hatte. Egal, er weckte den Kommandanten, zeigte auf die Holzdecke der Kirche, worauf dieser so erschrak, unter seiner Kutte nach dem Schwert griff und damit wild herumfuchtelte, sodass auch die letzten Schläfer aufwachten, sich fragten, was los sei, und der Trommler ein dumpfes ‹Terrräng!› reinschepperte.

«Es ist Jesus», beruhigte Noldi den Kommandanten. Dieser stand auf, schrie: «Ruhe, es ist Jesus!», und beschwichtigte die verängstigten Burschen.

«Bollhalder, hol den Locher, stopf ihm Schnee ins Maul und dann bring ihn rein. Und dann Abmarsch, die Sonne wird uns wärmen!»

Und so stapften sie durch den Schnee, der aber der doch schon kräftigen Märzsonne nicht lange standhielt, sahen erste zaghafte Krokusse und Schneeglöcklein, kamen schnell voran, erreichten rasch die Bärenburg, passierten die Roffla-Schlucht – schon wieder so ein verdammter Schlund, der die Erde teilt, dachte Noldi –, gingen weiter nach Sufers und von dort nach Splügen.

In Splügen übernachteten sie, bei einem Puurli, das ihnen einen verlausten Heuschober zuwies, ihnen Käse und Hafer gab, aber keinen Wein und keinen Schnaps, das mache den Kopf blöd, und hier oben leidet’s bei Gott keinen blöden Kopf, und sie bat, dort unten bei Petrus in Rom für ihn zu beten und für seine Enkelin auch, die lasse er aber nicht zu ihnen, da man sonst jedem von ihnen eine Kuhglocke ans Gemächt hängen könne.

Am anderen Morgen ging es mit leichtem, nicht alkoholbeschwertem Schritt weiter, die schöne Enkelin winkte noch aus dem Fenster, die Burschen juchzten zurück, und der Trommler rundete den Abschied mit einem rassigen ‹Terrräng› ab.

Noldi war sich nicht bei jedem dieser Burschen dieses Trüppchens so ganz sicher, ob die alle wussten, was sie da unterschrieben hatten. Ihm selber hatte es ja auch erst in Werdenberg gedämmert, als ihn eine Kugel am Hosen­boden pfitzte. Da hatte er gedacht, ein bisschen weiter links, ein bisschen weiter oben und ihm wäre doch glatt das Steissbein weggeschossen worden. Und Hauen, Stechen, Bein- und Kopf-Abhacken, das hat man ja nicht beim Kühe- und Geissen-Hüten gelernt. Das muss man dann schon noch draufhaben, denn die Gegner können das, und darum ist man dann dort unten, im Veltlin bei den Spaniern, wenn man es nicht besser als der andere kann, tot, bevor man überhaupt einen Pieps hat von sich geben können.

Natürlich hatten sie als Buben mit Holzschwertern ­einander blaue Mösen verabreicht, aber das war wirklich Kinderzeugs im Gegensatz zu dem, was jetzt kommen würde: Kettenhemd, Brustpanzer, Hellebarde, Schwert, Dolch, Kanonen und Gewehrkugeln – Eiter, Blut und Tod.

Dachte er an den Locher, zum Beispiel, da fragte er sich schon, ob sie den überhaupt in die Schlacht oder gleich in die Küche schickten. Auch möglich, dass der sich mit einem gewaltigen Schiss in den Hosen noch vor Beginn der Schlacht hinter die eigenen Reihen verziehen oder gar gleich vor Angst sterben würde.

Dem Bollhalder hingegen traute er zu, dass er den einen oder anderen Bündner Protestanten in die Hölle befördern würde. Was er auch sich selbst zutraute: Sie hatten ja noch ein wenig Zeit, um zu üben, da es noch zu früh im Jahr war, um zu kriegen.

Mit solchen Gedanken stapfte er den Splügenpass hoch. Zweimal mussten sie in einem Weghaus vor Regen und Schneetreiben Zuflucht suchen, beim zweiten Mal hörten sie sogar eine Lawine ins Tal donnern, die zum Glück den Weg nicht zuschüttete. Weiter geschah nichts Ungewöhnliches, abgesehen von ein paar Felsbrocken, die vom schmelzenden Schnee gelöst wurden und den Hang hinabrollten. Sie kamen bis nach Stuetta, waren auf sicherem katho­lischem Boden, der Wirt war söldnerfreundlich, und die Wirtin lockerte zur Ankurbelung des Geschäfts die Bändel ihrer weissen Bluse ein wenig.