Keller fehlt ein Wort - Patrick Tschan - E-Book

Keller fehlt ein Wort E-Book

Patrick Tschan

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Beschreibung

Ralph Keller, 46, Kommunikationsberater, humorvoll, sprachgewandt, mitten im Leben stehend, stellt eines Tages fest, dass er Wörter verliert. Ganz normale Wörter wie "Tasse", "Engländer" oder "Klemme" sind plötzlich nicht mehr da. Er weiß zwar um ihre Begrifflichkeit, aber dem aktiven Wortschatz sind sie entflohen. Wenig später verliert er die Gabe zu sprechen ganz. Die Diagnose: Aphasie, Sprachverlust; Krankheitsverlauf unklar, medikamentöse Behandlung wirkungslos, Therapieverlauf ohne feste Erfolgsaussichten. Verständigungsschwierigkeiten machen den Alltag für Keller zum Spießrutenlauf - Einsamkeit, Scham, Wut und Verzweiflung sind die Folge. Doch Keller wäre nicht Keller, würde er den Kampf nicht aufnehmen ... wenn nötig, auch mit ungewöhnlichen Mitteln. Patrick Tschans sympathischer Protagonist verliert mit einem Schlag die bislang selbstverständliche Herrschaft über sein verbales Handwerkszeug und damit seine Lebensgrundlage. Das Buch ist die teils tragische, teils surreale, teils absurd komische Chronik eines Zurückkämpfens, wie sie in dieser Form noch nie zu lesen war.

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Patrick Tschan

Keller fehlt ein Wort

Roman

Patrick Tschan

Keller fehlt ein Wort

Roman

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printed in Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

2. Auflage 2011© 2011 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wienwww.braumueller.at

Coverfoto: Stefan Bohrer, Bildbearbeitung: Jean WeberISBN der Printausgabe: 978-3-99200-020-3

E-Book-Ausgabe © 2012ISBN 978-3-99200-064-7

Für David.Für Bea.

Above all, I didn’t want to take any more shitNot from anybody

Iggy Pop

LICHT UND SCHATTEN.

Keller fühlte sich unfassbar wie sein Schatten. Schimmernd. Durchlässig. Flüchtig. Ohne scharfe Grenzen, bestenfalls umrissen, bar jeder festen Form.

Mal kurz, mal lang, meist abwesend. Parasitär. Ein Parasit des Lichtes. Des Scheins. Nicht lebensfähig abseits der Quelle.

Keller war schlagartig zum Schatten seiner Sprache geworden. Der Schattenriss eines unregelmäßigen Blinklichts. Irrlicht. Licht weg, Schatten weg, Sprache weg, Keller weg.

Seit zwei Stunden war er seiner Sprache ausgeliefert. Sie gehorchte ihm nicht mehr. Sie machte mit ihm, was sie wollte. Die Buchstaben ergossen sich nicht mehr in die dazugehörenden Töne. Der Klang der Worte ist ihm abhanden gekommen, irrt in seinem Hirn umher, hat sich verselbstständigt, trifft eigene Entscheidungen. Wie störrische Puzzleteile, die auf jemanden warten, der sie richtig zusammensetzt, um sich gleich wieder in einer selbstständig gewählten Konstellation neu zu formieren. Dieser Jemand war Keller. Und Keller fand sich nicht mehr.

Er saß auf seinem Sofa, versuchte seine Panik mit regelmäßigem Ein- und Ausatmen zu bändigen. Er konnte denken, sich Befehle geben: Atme aus, atme ein, bleib ganz ruhig, es kommt alles wieder gut. Aber jeder Versuch zu sprechen verstümmelte ihn zusätzlich und jedes Wort, das er in Laute zu fassen versuchte, hinterließ nichts als Phantomschmerz.

KELLER VERLIERT EIN WORT.

Keller nahm eine Tasse aus dem Schrank und wusste nicht mehr, dass die Tasse Tasse hieß.

Den Frühstückstisch hatte er bereits gedeckt, die Zeitung lag neben Teller und Messer, das Glas mit Orangensaft gefüllt, die Pille gegen Bluthochdruck daneben. Es fehlte nur noch die Tasse für Milch und Kaffee. Er stellte sie hinter den Orangensaft.

Der Anfang seines täglichen Rituals. Dazu ausgiebig Zeitung lesen.

Lesen gehörte zum Frühstück. Keller konnte nicht frühstücken, ohne zu lesen. Kam die Zeitung verspätet, durchstöberte er die Ausgabe vom Vortag nach Ungelesenem oder las die Texte auf Milch-, Konfitüren- oder Butterverpackungen. In allen drei Landessprachen. Heute aber war der Zeitungsverträger pünktlich gewesen und Keller arbeitete das Blatt in der gewohnten Reihenfolge durch: zuerst den Sportteil, dann International, Kultur, das Feuilleton, den Lokalteil und zum Schluss die Wirtschaft.

Nachdem er die Pille mit Orangensaft heruntergespült hatte, schenkte er sich Milch ein.

Milch in …?, amüsierte er sich, trank die Tasse Milch in einem Zug leer, füllte die Tasse halb voll mit Kaffee, goss einen kräftigen Schluck Milch nach und süßte das Ganze mit anderthalb Stückchen Zucker.

Das Wort war weg.

Keller zerlas die Zeitung, empfand Genugtuung darüber, dass der lokale Fußballklub den Erzrivalen geschlagen hatte, ärgerte sich über lügende Präsidenten und schaute nach, was die Stadtregierung sich als Nächstes vornahm zu verbieten. Als er sich nochmals Kaffee und Milch nachschenkte, blieb seine Aufmerksamkeit an der Tasse hängen.

Eine ganz gewöhnliche …? Ikea, wahrscheinlich, mit leicht geschwungenem Henkel und einem verdickten Trinkrand. Heilandsack, das ist doch eine … Keller hob die Tasse und las die Schrift auf dem Tassenboden: „Winterling, Cucina, German Bavaria.“

Damit konnte er nicht viel anfangen, zumal das Wort, nach dem er suchte, sicher nicht „German Bavaria“ und schon gar nicht „Cucina“ lautete.

Das Wort wird wohl wieder kommen, dachte er und malte sich den Augenblick aus, in dem es ihm wieder in den Sinn kommen, er sich an die Stirn schlagen und ausrufen würde: „Genau, wusst ich’s doch.“

Keller ging es gut. Und es ging ihm noch besser, wenn er daran dachte, dass er heute nur noch den Workshop mit seinen SekundarlehrerInnen und SchulleiterInnen vorbereiten musste – eine Sache von zwei Stunden – und nachher in eine badische Kneipe gehen, dort mit Freunden essen und mit ein wenig Bier, Wein und Schnaps absacken würde. Keller liebte solche Tage.

Er räumte das Geschirr in die Küche, stellte Milch und Butter in den Kühlschrank, versorgte Honig, Brot und Konfitüre im Kasten und trank den letzten Schluck Milchkaffee aus der, aus der, aus der … „German Bavaria“.

Keller musste lachen. Aber nicht für lange – das verlorene Wort ließ ihn nicht mehr los. Es spukte in seinem Hirn herum, spielte Verstecken mit ihm. Die „Tasse“ wanderte um das Sprachzentrum herum, zeigte sich mal kurz an dieser, dann an jener Ecke, verschwand gleich darauf wieder hinter der Hirnrinde.

Und Keller suchte die ganze Zeit nach ihr. Während der Fahrt ins Büro, vor dem Computer, am Telefon. „Tasse“ raubte ihm die Konzentration. Das Wort sprang ihm auf die Zunge, von da auf die Tastatur, worauf es wieder in den Hinterkopf kroch, sich in den Mund zurückarbeitete, um schließlich in irgendeinem Winkel hocken zu bleiben und Maultrommel zu spielen. Keller konnte das Wort einfach nicht fassen. Er kam stets einen Zungenschlag zu spät.

Schließlich gab er entnervt auf und ging zum Kaffeeautomaten. Ein Bürokollege, der gerade im Begriff war, sich einen Espresso herauszulassen, fragte ihn, ob er ihm auch gleich eine Tasse Kaffee drücken solle. Keller stutzte. „Tasse … Tasse, genau: Tasse! Ja, gerne, danke … danke, endlich“, antwortete er.

Noch Stunden später, während der Fahrt ins Badische, brummelte Keller „Tasse“, „Tasse“ vor sich hin. Froh darüber, das Wort wieder zu haben, ängstlich, es erneut einzubüßen.

Wie kann man nur ein so einfaches Wort verlieren?, fragte er sich. Ist das schon das Alter? Fängt das schon mit fünfundvierzig an? Für Keller fing das Alter an, wenn er keine Chance mehr sah, die doppelte Anzahl seiner bisherigen Lebensjahre zu erreichen. Neunzig liegen wohl noch drin, obwohl du rauchst, oft genug trinkst, Übergewicht schleppst und Bluthochdrucktabletten schluckst. Aber du spielst Fußball, hältst ein Spiel zum Veteranentarif von siebzig Minuten durch, auf dem Tennisplatz sind zwei Stunden auch keine große Herausforderung, im Bett stehst du deinen Mann und du wirst regelmäßig zur Ader gelassen. Neunzig sind mit ein wenig Optimismus noch möglich, also hat das Alter noch nicht angefangen.

Weniger optimistisch, in düsterem Lichte betrachtet, hat es bereits angefangen: Dein Vater wurde dreiundfünfzig, dein Großvater väterlicherseits einundneunzig, der Großvater mütterlicherseits achtundsiebzig, die Mutter lebt noch – gibt einen Bonus –, ihre Mutter wurde achtundachtzig und die andere Großmutter knapp fünfzig. Der Schnitt beliefe sich dann so um die siebzig. Keller verschnaufte kurz, dachte nach: Aber mit fünfunddreißig fing mein Altwerden noch nicht an.

Doch der Gedanke ließ ihn nicht los. Wanderte er nicht schon auf der anderen Seite des Berges? Das eigene Geschäft viel zu früh verkauft, die Frau verlassen, den Zugang zu seinem Sohn verloren, ein Burn-out eingefahren? Eine Midlife-Crisis aus dem Lehrbuch.

Aber Keller fühlte sich nicht so, nicht mehr so, Schtaernasiech, und hatte auch absolut keine Lust, sich so zu fühlen. Und was ist schon ein Wort, das für ein paar Stunden weg war, zumal eines wie „Tasse“?

Die Aussicht auf ein gutes Essen ist Freude: Cordon bleu, Rösti, dazu Gemüse, Bohnen oder Rosenkohl, richtig gekocht, mit Speck angemacht. Dazu von dem einheimischen Landwein, nichts Besonderes, aber ehrlich. Keller aß gerne im „Hirschen“ in Holzen. Eine Küche, die ihn an die verstorbene badische Haushälterin erinnerte, die in seiner Familie montags, mittwochs, freitags gekocht und den Haushalt gemacht hatte. Obi war Mutter und Großmutter-Ersatz gewesen, hatte ihn vor der erwerbstätigen Mutter, der katholischen Großmutter, aufgebrachten Nachbarn und klagenden Lehrern beschützt. Sie hatte für jede Gelegenheit passende Sprüche, kleine Verse oder bodenständige Lebensweisheiten auf Lager gehabt: „Ach Gottchen, sprach Lottchen, sieben Kinder und kein Mann“, „Kinder kauft Kämme, es kommen lausige Zeiten“ oder „Ja, ja, hat sie gesagt und wollte doch nicht. Und warum wollte sie nicht? Weil sie schon gehabt hatte!“ sowie „Essen und Trinken sind die drei schönsten Sachen“.

Sie war ein Kind der Weltkriege gewesen. Unter dem Kaiser aufgewachsen, in der Weimarer Republik erwachsen geworden, unter dem Hakenkreuz einen elsässischen Franzosen geheiratet, ins Elsass übergesiedelt, vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Schweiz geflohen, den Krieg mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Basel verbracht, wieder ins Elsass gezogen, um in der Schweiz zu arbeiten: eine typische Biografie der Basler Dreilandregion.

Keller hatte schon als Kleinkind fasziniert ihren Geschichten gelauscht. Lange Zeit hatte er gedacht, sie sei Elsässerin und damit Französin. Die Tatsache, dass sie eigentlich Deutsche war, ließ sie dann in einem anderen Licht erscheinen, gehörte sie doch nicht mehr zur richtigen Seite wie er und seine Eltern, überhaupt wie alle Schweizer, Franzosen, Engländer und Amerikaner.

Der Krieg war in Kellers Kinder- und Jugendjahren noch überall gegenwärtig und die Erinnerung an die Entbehrungen, Bedrohungen und Gräuel wurden von den Erwachsenen auch stets frisch gehalten. Man mied wie alle Basler das benachbarte Deutschland und fuhr ins Elsass: zum Sonntagsessen, um Wein bei den Winzern einzukaufen, zur Vesper, auf den Hartmannsweilerkopf und zu den Soldatengräbern, um Keller die Spuren der Zerstörungen und die Toten der beiden Weltkriege zu zeigen. So blieben die Sieger unter sich.

Heute gehen die Elsässer Keller auf den Sack. Die Küche ist lieblos und überteuert, der Wein schmeckt nicht mehr, ihre Autos verstopfen in Basel die Straßen und stehen toujours auf den letzten übrig gebliebenen Langzeitparkplätzen der Stadt. Dagegen haben die Badenser mächtig aufgeholt: Der Wein ist exzellent geworden, die Küche gut und preiswert und die letzten übrig gebliebenen Langzeitparkplätze werden auch ihnen von den Elsässern weggeschnappt. So was verbindet und darum fährt Keller immer öfter ins Badische und fast nie mehr ins Elsässische.

Keller musste innerlich schmunzeln, stiegen ihm doch beim Gedanken an Gemüse mit Speck immer wieder die gleichen Erinnerungen hoch. Obi, ihre Sprüche und die eigenartige historische Verpuppung der Menschen in dieser Dreilandregion.

Das Essen im „Hirschen“ war, wie Keller es sich vorgestellt hatte, die Tischrunde fröhlich vertraut und leere Gläser schon gar nicht geduldet. Keller pflegte solche Gesellschaften mit einem Kaffee und einem Mirabellenschnaps abzurunden.

Er rief die Bedienung: „Bitte noch einen Kaffee und einen Mirabellen.“

„Möchten Sie einen Espresso? Oder ein Kännchen?“

„Nein, einfach eine …, eine … Heilandsack, eine …“

KELLER VERLIERT WEITERE WORTE.

Keller wollte den Hasen sehen. Dafür war er frühmorgens aufgestanden und saß nun auf der schmalen Terrasse seines Hauses im Piemont. Es war nieselig, der Nebel hing auf halber Höhe im Belbotal, die Hügel schienen den geschlossenen Himmel zu sich herunterzuholen. Bescheidene Lichter hinter bescheidenen Fenstern verrieten, dass die Bauern sich aufmachten, ein weiteres Tagwerk zu vollbringen. Die Felder waren noch weitgehend kahl, ein paar Elstern verfolgten einander kreischend von Haselnussbaum zu Haselnussbaum.

Keller wollte den Hasen sehen. Als er das Haus vor sechzehn Jahren gekauft hatte, sah er am Morgen nach der ersten Nacht einen Hasen. Da setzte er sich zum Ziel, jedes Mal, wenn er hier war, einen Hasen zu sehen. Die ersten Jahre war er oft erfolgreich, dann waren die Hasen plötzlich weg. Weggeschossen von den Jägern. Hatte ihm nicht schon Don Toso, der hiesige Pfarrer und passionierter Jäger, gesagt, hier, bei Kellers Haus, gebe es die besten Hasen, und sich dabei scheinheilig bekreuzigt?

Ein geweihtes Schlitzohr, dieser Don Toso, der unter den Namen seiner Ministranten leidenschaftliche Leserbriefe über den Nutzen der Jagd veröffentlichte, wenn in Italien wieder einmal eine Abstimmung über ein umfassendes Jagdverbot anstand.

Das letzte Mal, als er hier gewesen war, hatte Keller den Hasen gesehen. Der Hase bringt Glück, bildete er sich ein, zumal der Hase – „la lepre“ – eines der ersten Wörter war, das seinen bis dahin kargen italienischen Wortschatz, der damals hauptsächlich aus Wörtern von Lebensmittelverpackungen bestand, erweitert hatte.

„La lepre“ hatte er von seinem Vater aufgeschnappt. „Hätte der Hund nicht geschissen, hätte er den Hasen erwischt“, pflegte sein Vater zu sagen, wenn Keller nach Ausreden suchte. Eigentlich ein rätoromanisches Sprichwort, das seinen Weg ins benachbarte Italien gefunden hatte. Oder umgekehrt. Und so zitierte er es je nach Laune auf Rätoromanisch oder auf Italienisch. Und der Hase blieb an Keller hängen.

Es war kein Hase zu sehen. Keller ging in die Küche zurück, um sich eine Tasse Kaffee nachzuschenken. Das Wort war hin und wieder da, aber genau genommen war es weg, nicht mehr jederzeit zugänglich.

Diesen Morgen war es wieder weg, was Keller aber nicht weiter beunruhigte, denn was ist schon ein Wort, noch dazu ein solch gewöhnliches wie …?, sagte er sich. Keller ging wieder auf die Terrasse, schaute nochmals nach dem Hasen – es würde freilich noch eine Weile dauern, bis er wieder einen Hasen sehen würde –, verfolgte die aufsteigenden Nebelschwaden und nahm sich vor, nach dem Gang auf den Markt endlich den tropfenden Wasserhahn beim Brunnen auszutauschen. Dazu brauchte er allerdings einen neuen Engländer.

Der Markt in Cortemilia – einem kleinen Städtchen im Herzen Südpiemonts mit großer Vergangenheit, von der, nebst einer verfallenen Burganlage, noch ein paar wenige Zentrumsfunktionen die Jahrhunderte überdauert haben – bot wie immer die üblichen Gesichter: einerseits die Einheimischen, die ihn zur Feier des Wiedersehens auf einen „Caffè“ einladen, andererseits die Schweizer, die ihn zur Feier des „Schweizer-Seins im Piemont“ einen „Spumante“ offerieren wollten. Die Schweizer, die hier in der Region rund 500 alte, umgebaute Bauernhäuser bewohnen, sind an Ostern Jahr für Jahr vollzählig anwesend: die etwa hundert Lehrer, die den Metallwarenladen bis auf den letzten Dübel leer kaufen, die Pensionierten, die bis Oktober bleiben werden, die Werber, die sich bereits nach einer kultigeren Gegend umschauen, die Privatiers, die Haziendas mit Pool, Driving-Range, Tennisplatz und Ferienwohnungen erstellt haben, die niemand mieten will, genauso wie die Sport-journalisten, die nachmittags die Bar bevölkern und irgendeinen Rad-Klassiker kommentieren.

Keller umschiffte mit unverbindlichem Geplauder alle Einladungen und steuerte direkt auf den Metallwarenhändler zu. Wie immer war das Geschäft gut besucht. Wahrscheinlich war an diesem Morgen schon die Hälfte aller Schweizer Werk- und Handarbeitslehrerinnen von der Besitzerfamilie Troia bedient worden. Der alte Troia begrüßte Keller mit einem knappen Kopfnicken, was konkret hieß, dass er sich ihm persönlich widmen würde. Keller hatte, seit er das Geschäft zum ersten Mal betreten hatte, das Gefühl, dass der Alte ihn mochte. Warum, wusste er nicht. Der Alte liebte es offensichtlich, den um Übersetzungen für Flansche, zylindrische Spiralbohrer, Handreibahle, Rohrentgrater, Weichlotspulen oder auch einfache Schraubenschlüssel, Dübel und Anker ringenden Keller damit zu überraschen, genau das Gewünschte aus den Regalschluchten zu holen. Lag es schließlich auf der Ladentheke, blickte er mit heiterem Triumph in Kellers staunende Augen.

Heute würde Keller nicht mit Händen und Füßen nach der korrekten Übersetzung suchen, was er eigentlich ein wenig bedauerte, nein, heute freute er sich darauf, vor versammelter schweizerischer Heimwerkerschaft mit gezielten Fachausdrücken glänzen zu können. Heute hatte er leichtes Spiel, denn Keller brauchte drei Briden und einen Engländer. Für die Briden hatten sich der Alte und Keller schon längst auf „la giuntura“ geeinigt. Ob sie wirklich so hießen, kümmerte weder Keller noch den Alten. Und der Engländer heißt doch ganz einfach „chiave …“, „chiave …“, „chiave …“?

Der alte Troia hob den Kopf Richtung Keller. Keller lächelte, sagte „salve“, ein paar Schweizer drehten ob der unerwarteten Vertrautheit zwischen den beiden kurz den Kopf, zeigte mit den Fingern drei und sagte „giunture“, gefolgt von der Nachfrage nach dem Befinden seines Gegenübers.

Troia antwortete mit einem „wir sind da“-Schulterzucken, verschwand in einer der dunklen Regalschluchten und kam mit drei Briden zurück. „Ecco, altra?“

So, jetzt, wie heißt das Ding, dachte Keller und stammelte: „Chiave.“

„Mit Hängeschloss?“, wollte der Alte wissen.

„No, … vite!“, suchte Keller immer noch nach der korrekten Bezeichnung.

„Was nun: Schlüssel oder Schraube?“, fragte der Alte unwirsch.

„Beides, aber noch was dazu“, antwortete Keller und bemerkte, wie er mittlerweile die Aufmerksamkeit der anderen Schweizer auf sich gezogen hatte.

„Lieber Kellleeerr“, wandte sich der alte Troia liebevoll an ihn, „du weißt, wir haben alles hier, Schrauben, Nägel, Schlüssel, Bohrer, Hundehütten, sogar den Ersatzschlüssel für das Himmelstor, aber der, das weißt du auch, ist unverkäuflich, und du kannst von mir außer meiner Frau und meiner Familie alles haben, das weißt du auch, aber ich muss einfach wissen, welche Schrauben oder welchen Schlüssel du willst.“ Keller suchte nach dem Wort. Eine Nation, ein Schlüssel einer Nation, verstellbar, zum Drehen, zum Schrauben …, ging es ihm durch den Kopf.

Er suchte verzweifelt nach dem „Engländer“. Mittlerweile war er sich wenigstens sicher, dass es kein „Italiener“ war. Gleichzeitig hoffte er, dass keiner und keine der anwesenden Schweizer und Schweizerinnen den Mut aufbrächte, ihm helfend zur Seite zu stehen.

Aber es war zu spät. Eine überaus handfeste Heimwerkerin mit Zopf, verwaschenen Jeans-Latzhosen und abgewetzten Stadtwanderschuhen wandte sich an ihn und fragte mit antrainiertem Einfühlungsvermögen, ob sie ihm helfen könne. Keller drehte sich um, versuchte sich gegen den typischen Gesichtsausdruck zu wehren, der Schweizer im Ausland sofort beschleicht, wenn sie von anderen Schweizern als Schweizer im Ausland ertappt werden, verlor trotz mannhafter Gegenwehr den Kampf mit seinen Gesichtsmuskeln und antwortete schließlich leicht angesäuert: „Ja, danke, ich brauche diesen verstellbaren Schlüssel, mit dem man Schrauben, eigentlich Muttern, öffnen kann.“

„Ah, Sie meinen einen Engländer?“, antwortete die Frau freudig.

„Genau, danke“, brummte Keller und fürchtete sich schon vor der obligaten Frage von Schweizern dieser Gegend an Schweizer dieser Gegend: „Haben Sie schon lange ein Haus hier?“ Wobei die Betonung immer auf „schon lange“ liegt, um zu erfahren, ob der andere möglicherweise schon vor ihnen da war. Die Frage kam nicht. Die kleine, bezopfte Frau drehte den Kopf zum alten Troia und sagte akzentfrei: „Un chiave inglese, per favore.“

Keller blieb für einen Moment der Mund offen stehen. „Signora Bricolage“ sprach ein wunderschönes Italienisch. Das war typisch. Die Schweizer Frauen sprachen ganz allgemein besser Italienisch als ihre Männer. Oft waren sie auch besser vorbereitet auf die Aufgabe „Haus im Süden“.

„Wissen Sie eigentlich, warum man dem ‚Engländer‘ ‚Engländer‘ sagt?“, fragte sie unvermittelt.

Der alte Troia zwinkerte Keller kurz spitzbübisch zu und schlurfte in sein aus Schrauben, Zangen, Muttern, Kanonenöfen und Hundeketten bestehendes Reich. Keller starrte ihm nach und die Frau hob an: „Der ‚Engländer‘ heißt ‚Engländer‘, weil er für zöllige, also englische Schrauben und Muttern mit Zollmaßen gebraucht wurde. Man sagt auch Rollgabelschlüssel. Wussten Sie, dass es auch noch einen ‚Franzosen‘ gibt? Der hat verstellbare Spannbacken, auf beiden Seiten. Wissen Sie, welchen ich meine? Er ist auf dem Verkehrszeichen für Pannenhilfe abgebildet. Übrigens, der Engländer wurde von einem Schweden erfunden, lustig, nicht?“

Keller hatte nicht richtig hingehört. „Engländer“, „Engländer“ – geschah mit dem Wort jetzt etwa dasselbe wie mit der „German Bavaria“? Würde es sich dem anderen anschließen und würden sie Keller gemeinsam zum Narren halten? Ihn auf stundenlange, erfolglose Suchexpeditionen schicken und sich dabei schadenfroh den Buckel krumm lachen?

„Lustig, nicht?“, wiederholte sie.

Keller antwortete knapp „ja, lustig, danke“ und war froh, dass der alte Troia aus dem Dunkel der Regalkluften auftauchte, ihm den „Engländer“ hinhielt und sichtlich amüsiert „altra?“ fragte.

„No, basta“, antwortete Keller. Er hatte, was er wollte, den „Engländer“ und das Wort dafür wieder, zahlte, verabschiedete sich freundlich – „danke für den chiave inglese“ – von der hilfreichen Frau, denn letztlich war er ihr dankbar, konnte er doch jetzt den Wasserhahn flicken, setzte sich in seinen Wagen und murmelte etwas von einem Schweden und meinte eigentlich einen Engländer.

KELLER GEHT ZUM ARZT.

Dr. Christoph Schwendi war ein kleiner, drahtiger Mann mit einem robusten Schnauz, den er seit seiner Geburt zu tragen schien, strotzend vor medizinischem Fachwissen sowie noch mehr vor gesundem Menschenverstand. Keller schätzte Schwendi, die gescheiten Gespräche, die er mit ihm über Gott, das Theater und die Welt zu pflegen führte, wenn er im Sechs-Wochen-Rhythmus mit einer Kanüle im Arm vor ihm auf dem Schragen lag.

Es war eine seltene Erbkrankheit, Hämachromatose, Eisenspeicherkrankheit, mit der Keller geschlagen war. Dass Kellers Chancen gut standen, seine anvisierten neunzig Lebensjahre zu erreichen, verdankte er regelmäßigem Aderlass und seinem Vater. Über Jahre hatte die Krankheit Vaters Blut mit Eisen angereichert, sodass die mehr als übersättigten roten Blutkörperchen das überschüssige Eisen in den Organen deponierten, die dadurch schwerer und schwerer wurden, bis sie der Last nicht mehr gewachsen waren und in folgender Reihenfolge kollabierten: Bauchspeicheldrüse, Leber, Lunge, Nieren und Herz. Das gleiche Schicksal wäre Keller beschieden gewesen, wenn er nicht regelmäßig zur Ader gelassen worden wäre.

Der Aderlass war die einzige wirkungsvolle Therapie. Und Keller deutete sie als Versicherung gegen Herzinfarkte und Schlaganfälle.

Christoph Schwendi sprach von Kellers Vater stets mit einer zarten Wehmut, wie man sie nur Seelenverwandten entgegenbringt, deren Lebenswege sich zu spät und erst unter bedauernswerten Umständen gekreuzt haben. Übermannten Schwendi in seinen Betrachtungen über Kellers Vater die Gefühle, begann er über einen seiner Berufskollegen zu wüten, dass Gott erbarm: ein „oberarrogantes Quadratarschloch“, wie Schwendi zu sagen pflegte, „aus Basels guter Gesellschaft“, der seine Arroganz aus einem über die Jahrhunderte gewachsenen und konservierten Klassenbewusstsein bezog, das zwar über Epochen eine akademische Laufbahn mit entsprechender Anstellung und dem baldigen Ruf als stadtbekanntem Spezialisten garantierte, heute aber so hoffnungslos veraltet war, dass es nur noch hinter verriegelten Sonntagstüren und in hermetisch abgeschlossenen Familienkränzchen gepflegt werden konnte. Nun, dieser Quacksalber hätte laut Schwendi das Leben von Kellers Vater retten können, hätte er damals die ausgebrochene Zuckerkrankheit nicht als Manager-Diabetes diagnostiziert, sondern wäre deren Ursache mit der angemessenen Sorgfalt auf den Grund gegangen. Schwendi musste sich immer, wenn er wütend über die Unfähigkeit der großen „Koryphäe“ geschimpft hatte, beherrschen, dass er nicht das Urteil „fahrlässige Tötung“ fällte, was es laut Schwendi aber letztlich war.

Keller schätzte Schwendis Art, wie er mit dem Tod von Kellers Vater umging, genauso wie ihm Schwendis professionelle Fürsorglichkeit behagte, mit der er ihn nachdrücklich zur Einhaltung der vereinbarten Abstände zwischen den Aderlassterminen anhielt. Dies alles vertiefte bei Keller den Eindruck, er würde den Weg mit Schwendi an der Stelle fortsetzen, wo sein Vater brüsk abgebogen war.

Keller erzählte Schwendi von seinen verlorenen Wörtern: „Tasse“ – er wies auf eine Kaffetasse auf Schwendis Pult hin –, „Engländer“ und „chiave inglese“ oder neuerdings auch „Türschloss“, das er ihm mit Zeigen begreiflich zu machen versuchte. Schwendi hörte aufmerksam zu, meinte lachend, dies passiere ihm auch öfters und hielt Keller dazu an, das Ganze zu beobachten, aber sich auch nicht allzu viele Gedanken zu machen, damit er ob all der Gedanken, Befürchtungen und Besorgnisse nicht noch mehr Wörter verliere. Worauf sich Keller beruhigt niederlegte, Schwendi dessen Vene glattstrich, mit Alkohol einrieb, zustach, die Klemme am Röhrchen zwischen Nadel und Vakuumpulle löste, worauf sich sogleich ein warmer, regelmäßiger Strahl Kellerschen Bluts, Gruppe 0, Rhesus positiv, in die Flasche ergoss – und mit diesem Blut ein weiteres Wort, was aber weder von Keller noch von Schwendi bemerkt wurde.

KELLER KÄMPFT UM W.

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