Der kurze Frühling der Räterepublik - Simon Schaupp - E-Book

Der kurze Frühling der Räterepublik E-Book

Simon Schaupp

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Beschreibung

Vor hundert Jahren gelang einem behäbigen Völkchen am Rande der Alpen eine der wenigen erfolgreichen Revolutionen Deutschlands. Das Tagebuch der Bayerischen Räterepublik rekonstruiert das Geschehen anhand der Erlebnisse dreier revolutionärer Persönlichkeiten: Dem Anarchisten Erich Mühsam (Revolutionärer Arbeiterrat), der Kommunistin Hilde Kramer (KPD) und dem radikalen Sozialisten Ernst Toller (USPD). Das Buch hebt sich in mehrerlei Hinsicht von der bisher zur Bayerischen Räterepublik erschienenen Literatur ab. Konzipiert als politische Dreierbiographie liefert es einen persönlichen Einblick in die Hoffnungen, Strategien und Fehlschläge der bayerischen Revolution. So gelingt es, den aktuellen Stand der Forschung mit einer packenden Erzählung zu vereinen. Systematisch räumt das Buch mit dem weit verbreiteten Mythos auf, es habe sich bei der Räterepublik hauptsächlich um die Phantasie einer Handvoll Literaten gehandelt. Dagegen wird das massenhafte Engagement der bayerischen Bevölkerung ins Zentrum gerückt. Gleichzeitig wird der bereits in der gängigen Bezeichnung »Münchner Räterepublik« implizierten Behauptung, die Revolution sei nur auf die Landeshauptstadt beschränkt gewesen, eine Darstellung der Räterepublik im bayerischen ›Hinterland‹ entgegengestellt.

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Seitenzahl: 463

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»Vom ersten Satz an ist man gefesselt, Leser und Leserinnen werden förmlich hineingezogen in die Geschichte der Revolution in Bayern vor 100 Jahren.«

Christopher Wimmer, neues deutschland

»So wird Geschichte packend dargestellt … Ein Buch, das in dieser Form nur zu empfehlen ist.«

Falko Krause, ekz.bibliotheksservice

»Alle Landes- und Bundeszentralen für politische Bildung sollten es schleunigst ins Programm nehmen und für seine Verbreitung sorgen.«

Götz Eisenberg, NachDenkSeiten

»Er macht die Geschichte lebendig und holt sie aus den verstaubten Allgemeinplätzen archivierter anarchistischer Sternstunden hervor.«

Mathias Schmidt, graswurzelrevolution

Simon Schaupp ist Soziologe. Er forscht zu aktuellen und historischen Fragen von Macht und Widerstand. Er ist Mitherausgeber und Co-Autor von »Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen« (Unrast 2017)

Simon Schaupp

Der kurze Frühlingder Räterepublik

Ein Tagebuch der bayerischen Revolution

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Simon Schaupp:

Der kurze Frühling der Räterepublik

2. Auflage, Dezember 2018

eBook UNRAST Verlag, Juni 2022

ISBN 978-3-95405-120-5

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Prolog: Die Fäden laufen zusammen

Einleitung

Teil I Friedensstreik

Teil IIMonarchendämmerung

Teil IIIRäterepublik, libertär-sozialistisch

Teil IVRäterepublik, kommunistisch

Teil V Niederschlagung

Epilog: Die Fäden laufen auseinander

Nachbemerkung

Anmerkungen

Erster Akt

Das Volk: Brot und Freiheit!

Väterchen: Es bleibt alles beim Alten!

Zweiter Akt

Eine Bombe: Bum!

Dritter Akt

Ein Kosakenleutnant: Gebt Feuer!

Vierter Akt

Eine Militärkapelle: Deutschland, Deutschland über alles – !

Fünfter Akt

Die Geister der Gefallenen:

Gerächt wird alles, Was an uns verbrochen

Und neues Leben sprießt aus unsern Knochen.

Väterchens Stimme aus dem Hintergrund: Es bleibt alles beim Alten!

Das Stück wiederholt sich – aber nicht ad infinitum.

Erich Mühsam[1]

Prolog Die Fäden laufen zusammen

München stinkt. Es ist heiß an diesem Tag und in den Straßen liegen Abfälle. Der Krieg hat den Wohlstand der Stadt verschlungen. Nur noch die Reichen können sich die horrenden Schwarzmarktpreise für Lebensmittel leisten. Alle anderen gehen abends hungrig zu Bett. Erich Mühsam hält diesen Tag, an dem er Hilde Kramer und Ernst Toller zum ersten Mal begegnet, für den »Auftakt der Revolution.«[2] Eine Gruppe von ausgezehrten Frauen und arbeitslosen Jugendlichen zieht durch die Straßen. Sie werden vom Hunger getrieben und von ihrer Wut auf den Obrigkeitsstaat und seinen Krieg, der für ihre Lage verantwortlich ist. Unter ihnen befindet sich auch die sechzehnjährige Schülerin Hilde Kramer. Mit ihren abgerissenen Kleidern und ihrer Kurzhaarfrisur ist sie eine wilde Erscheinung. Als sie später wegen Beihilfe zum Hochverrat vor dem Standgericht steht, wird sie von dem Schriftsteller Oskar Maria Graf nur als »ein hünenhaftes Mädchen mit Tituskopf« beschrieben.[3] Hilde ist aufgeregt, denn es ist die erste Demonstration ihres Lebens. Sie sieht sich nach ihren Freundinnen Fite, Stasy und Wise um, den Kindern der Leiterin des Jugendheims, in dem Hilde lebt.

Hilde ist als Waise bei ihrer 18 Jahre älteren Schwester Frida aufgewachsen, die mit ihrem stramm völkisch-national eingestellten Mann Max ein bürgerliches Leben im Münchner Stadtteil Nymphenburg führt. Die beiden waren mit der kleinen Rabaukin völlig überfordert und beschlossen sogleich, sie in ein Internat zu geben. Sie entschieden sich für ein Jugendheim in Riederau am Ammersee, da dessen Leiterin Gabriele Kaetzler aus einer angesehenen ostelbischen Adelsfamilie stammte. Was Max und Frida jedoch nicht wussten war, dass Gabriele Kaetzler sich mit dieser Familie gewaltig zerstritten hat und glühende Sozialistin ist. Als solche ist sie Teil eines konspirativen Netzwerks revolutionärer Kriegsgegner und steht mit dem Spartakusbund und anderen Linksradikalen in regem Kontakt. Das Kinderheim in Riederau dient der Bewegung als Deckadresse und teilweise sogar als Geheimarchiv, in dem wichtiges Schriftmaterial vor polizeilichem Zugriff verborgen wird. Es dauerte nicht lange, bis Hilde unter dem Einfluss der Kaetzlers ebenfalls zur Sozialistin geworden war. Sie entwickelte eine enge Freundschaft zu Gabriele, die sie nur »Mutt« nennt, sowie deren Kindern.

Nun haben Fite, Stasy und Wise Hilde zu der Demonstration mitgenommen. Frida und Max wissen nicht einmal, dass sie in München ist. Die wütende Menge ist mittlerweile auf beinahe zehntausend Personen angeschwollen, die sich unaufhaltsam auf das Münchner Rathaus am Marienplatz zubewegen. Mitten unter ihnen fällt Hilde ein Mann auf, der energisch mit einer roten Fahne wedelt und mit drei oder vier Freunden laut Sprechchöre gegen den Krieg ruft. Bei dem bärtigen Mann mit den zerzausten Haaren und dem Zwicker vor den kleinen, verschmitzten Augen handelt es sich um Erich Mühsam, bekannt aus der bürgerlichen Presse als »Salonanarchist«, »Hetzapostel« oder »Kreuzung zwischen einem Bantuneger und einem Pavian«.[4] Er versucht, die Wut der Menschen über die Hungersnot auf ihre Ursache, den Krieg zu lenken. »Wir wollen Frieden!«, rufen er und seine Freunde immer wieder. Und die Menge übernimmt nach und nach diese Rufe, sodass sie bald aus Tausenden Kehlen dem Rathaus entgegenschallen.

Von diesem Geschrei wird auch der dreiundzwanzigjährige Student Ernst Toller aufgeschreckt, der mit seiner Mutter im Café Rathaus sitzt. Ernst ist ein schöner, zierlich gebauter junger Mann mit großen, braunen Augen und sinnlichen Lippen. Er ist nur 1,65 Meter groß, wirkt aber auf die Meisten größer. Jemand wird einmal über ihn schreiben, dass seine Gesichtszüge an einige der wilden Physiognomien erinnern, die sich auf Raphaels Gemälden vom jungen Johannes dem Täufer finden: Das echte Bild eines Dichters, sinnlich, aber kultiviert, eine Mischung aus purer Triebhaftigkeit und Geist. Erst vor wenigen Tagen ist Ernst von der Front zurückgekehrt. Als der Krieg vom Zaun gebrochen worden war, konnte auch er der nationalistischen Euphorie nicht widerstehen und hatte sich freiwillig als Soldat gemeldet. Er wurde zum 1. Bayerischen Fuß-Artillerie-Regiment eingeteilt, blieb jedoch in der Etappe. Die Untätigkeit wurde ihm unerträglich und so meldete er sich freiwillig zum Fronteinsatz in Frankreich. Der allgegenwärtige Antisemitismus hatte ihm als Juden über seine gesamte Kindheit hinweg das Gefühl gegeben, nicht dazu zu gehören. Als Soldat fühlte er sich schließlich zu erstem Mal als Teil eines größeren Ganzen. Vierzehn Monate lang war er an der Front, mehrfach wurde er für seine Tapferkeit ausgezeichnet. Aber während dieser Monate wurde ihm auch das Ausmaß des Schreckens klar. Er wird die Bilder der zerfetzten Leichen nie vergessen. Wegen eines totalen psychischen und physischen Zusammenbruchs wurde er ins Lazarett eingewiesen. Bald darauf wurde er für kriegsuntauglich erklärt. In München hat er sich nun an der Ludwig-Maximilians-Universität immatrikuliert. Er stürzt sich in die Literatur, um den Krieg und die Politik überhaupt zu verdrängen. Aber nun dringt sie in Form der Schreie der Hungernden auf dem Marienplatz doch wieder zu ihm durch. Er tritt ans Fenster des Cafés und mustert voll Mitleid die ausgezehrten Frauen und Kinder. Neben ihm öffnet ein anderer Gast kurz entschlossen das Fenster, zerreißt ein Brot in kleine Stücke und wirft diese einer Gruppe von Kindern zu. Die Menge interpretiert dies jedoch keineswegs als Geste der Hilfsbereitschaft, sondern als Arroganz eines Bourgeois. Wutentbrannt brüllen sie ihn an. Ein Pflasterstein fliegt zu den Fenstern hinauf. Ernst duckt sich und kurz darauf gehen mehrere Fensterscheiben des Cafés zu Bruch.

Ein Dutzend Polizisten auf Pferden reitet in die Menge hinein und versucht, sie zu zerstreuen. Mehrere Jungen sind auf die Mariensäule geklettert und werfen nun mit Blumenstöcken nach den Polizisten. Die Schutzleute bekommen es mit der Angst zu tun und fordern militärische Unterstützung an. Eine Truppe Soldaten zieht mit aufgepflanzten Bajonetten an der Ostseite des Rathauses auf und beginnt über den Platz zu marschieren und Leute festzunehmen. Dieses martialische Vorgehen löst eine maßlose Wut aus. »Schamts euch! Auf die eignen Frauen und Kinder loszugehen«, schallt es den Soldaten entgegen. »Franzosen täten dös net!«[5] Die Kompanie zieht sich zum alten Rathaus zurück. Neben Hilde reißen einige Demonstrierende Steine aus dem Pflaster. Manche davon fliegen in Richtung der Soldaten, die meisten aber in Richtung des Rathauses. An einer anderen Ecke des Platzes wird die Bäckerei Seidel geplündert. Nun ziehen die Soldaten und Polizisten blank und reiten wild um sich schlagend durch die Menge. Nach allen Seiten fliehen die Demonstrierenden in die Seitengassen. Erich rennt mit seinem Grüppchen in Richtung Frauenkirche. Sie werden von den Berittenen verfolgt, eine Frau aus der Gruppe wird von einem Säbelhieb auf den Rücken niedergestreckt. Überall schreien Verwundete. Auch Hilde bekommt es mit der Angst zu tun und greift nach den Händen von Fite und Wise. Zusammen retten sie sich in die Weinstraße. »Auf Wiedersehen morgen!«, schreien die Demonstrierenden den Bütteln entgegen, bevor sie in verschiedene Richtungen verschwinden.

Hilde, Erich und Ernst gehen nach Hause, ohne dass sie miteinander gesprochen hätten. Erich ist begeistert vom Verlauf des Tages. Es scheint, als ob sein Traum endlich wahr werden und sich die Menschen gegen die Obrigkeit auflehnen würden. Hilde ist zutiefst empört von der brutalen Staatsgewalt. An diesem Tag hat dieser Staat für sie jegliche Legitimität verloren. Noch bis tief in die Nacht diskutiert sie aufgeregt mit Fite, Wise und Stasy. Ernst dagegen ist vor allem schockiert von den Ereignissen. Er versucht, sich wieder in die Lyrik zurückzuziehen, aber langsam dämmert ihm, dass auch er Partei ergreifen muss gegen das Elend, das dieser Krieg hervorbringt.

Einleitung

Vor hundert Jahren erhebt sich ein behäbiges Völkchen am Fuße der Alpen und ringt um eine der wenigen erfolgreichen Revolutionen in der bisherigen Geschichte Deutschlands. Für kurze Zeit wird Bayern zum Ort der Hoffnung auf einen radikalen Neubeginn nach dem Versinken der Imperien in der Barbarei des Ersten Weltkriegs. Das Deutsche Reich schaut, je nach Anschauung, hoffnungs- oder angstvoll auf Bayern, das bislang eher als Sinnbild eines dumpfen Konservatismus belächelt worden ist. Revolutionäre aus halb Europa pilgern nach München, das nun als Mekka eines freiheitlichen Sozialismus gilt. Die russische Immigrantin Rosa Leviné schreibt in ihren Memoiren: »Vor allem schien München damals die Festung der Revolution zu sein. In München herrschte eine ganz andere Atmosphäre [als in Berlin]: Zwar lebten die meisten Flüchtlinge unter falschem Namen, aber jeder in der verhältnismäßig kleinen Stadt wusste, dass sie Kommunisten waren und sogar zu den Führern gehörten. Trotzdem durften sie sich auf den Straßen zeigen, im Wirtshaus, wo die Kellnerin einen nach ein paar Tagen kannte, essen, in der Straßenbahn die Rote Fahne lesen ohne Furcht, misshandelt, oder zum mindesten angepöbelt zu werden. Nach dem Leben in Berlin kam man sich wie in einem Märchenland vor.«[6]

Dass ihre Stadt einmal in dieser Weise charakterisiert werden würde, hätten sich die Münchner Linken bis vor wenigen Monaten wohl nicht träumen lassen. So schreibt der Wahlmünchner Erich Mühsam noch 1911: »Von allen deutschen Städten ist München die der rückständigsten Polizeiwirtschaft. Nirgends ist der Wille des Einzelnen so jammervoll in die Klammern behördlicher Vormundschaft gepresst wie hier. Die Jagow-Stadt Berlin ist ein Eldorado der Freiheit im Vergleich mit München. Filehne und Krotoschin, Crimmitschau und Gräfen-Hainichen, Oppeln, Pirna und Ratzeburg sind, an Münchener Verhältnissen gemessen, Hochburgen freiheitlicher Kultur.«[7] Sofort nach der Niederschlagung der Räterepublik kehrte München wieder in diesen alten Zustand zurück, der sich bekanntermaßen sogar noch verschärfte: In einer unheilvollen Vermengung von monarchistisch-katholischem Konservatismus und bürgerlichem Ordnungsfanatismus wird es zum Geburtsort der Nazi-Bewegung. Wie kommt es also, dass ausgerechnet München, ausgerechnet Bayern, das vor, ebenso wie nach der Räterepublik als Hort finsterster Reaktion gilt, die einzige zumindest temporär erfolgreiche sozialistische Revolution hervorbringt? Um diese Frage soll es hier gehen.

Dieses Buch ist unterteilt in fünf Abschnitte, die sich chronologisch an den verschiedenen Phasen der Revolution in Bayern orientieren. Es beginnt mit dem sogenannten »Januarstreik«, bei dem im gesamten Deutschen Reich Arbeiterinnen und Arbeiter unter sozialistischer Losung für ein Ende des Weltkrieges und die Einführung der Demokratie streiken. Dieses Ereignis, an dem sich in Bayern und besonders in München Zehntausende beteiligen, führt zusammen mit der darauffolgenden staatlichen Repressionswelle zu einer massiven Politisierung der bayerischen Bevölkerung. So wird die Voraussetzung für den massenhaften Willen zur Revolution geschaffen. Die Möglichkeit einer solchen Revolution wurde dem gesamten Deutschen Reich durch den Aufstand der Kieler Matrosen am 4. November 1918 demonstriert.

Wenige Tage später beginnt auch in Bayern die zweite Phase der Revolution: Unter Beteiligung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) stürmen in München Arbeiterinnen und Soldaten die Regierungsgebäude und stürzen so, völlig unblutig, die 738 Jahre herrschende Wittelsbacher Monarchen-Dynastie. Die Frage, welches politische System an die Stelle der Monarchie treten soll, bleibt jedoch von Anfang an umstritten. Die Sozialdemokraten – ein Begriff, den ich im Folgenden für die Anhänger der SPD oder »Mehrheitssozialdemokratie« reserviere, da er für die Großteils revolutionär gesinnte USPD jener Tage irreführend scheint – wollen den Parlamentarismus einführen. Die Träger der revolutionären Erhebung sind jedoch die in Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten organisierten Massen, die eine Rätedemokratie fordern. Kurt Eisner (USPD), der erste Ministerpräsident des Freistaates Bayern, versucht einen Kompromiss zu erreichen, in dem Landtag und Räte gemeinsam regieren. Am 21. Februar 1919 wird Eisner jedoch durch den rechtsextremen Studenten Arco Valley ermordet.

Dadurch ist das politische Gleichgewicht endgültig zerstört und die dritte Phase der Revolution wird eingeleitet. Die Landtagsabgeordneten fliehen nach Nordbayern und der Rätekongress versteht sich nunmehr als faktische Regierungsinstanz. Es kommt zu hitzigen Diskussionen zwischen Räten und Parteiführern über eine Wiedereinberufung des Landtags. Als diese Verhandlungen keine Ergebnisse zeigen, wird am 7. April 1919 auf Druck der Industriearbeiter offiziell die Räterepublik ausgerufen. Die KPD stellt sich jedoch gegen die Räteherrschaft, weil die Räte nicht rein kommunistisch aufgestellt sind. So wird diese Phase der Revolution vor allem von der USPD und den Anarchisten bestimmt. Die SPD und die bürgerlichen Parteien sind mit dieser Entwicklung jedoch keineswegs einverstanden und bilden in Bamberg eine Gegenregierung, die fortan auf den Sturz der Räterepublik hinarbeitet. Am 13. April startet die SPD-nahe Republikanische Schutztruppe in München einen Putschversuch. Da die Truppen, die zeitgleich von außen auf die Stadt vorstoßen sollen, jedoch nicht eintreffen, kann der Putsch durch sich rasch bewaffnende Arbeiter niedergeschlagen werden.

Nach dem gescheiterten Palmsonntagsputsch beginnt die vierte Phase der Revolution, in der die KPD die bisherige Räteregierung absetzt und durch eine kommunistische ersetzt, die vor allem daran arbeitet, die Verteidigung der Räterepublik gegen ihre inneren und äußeren Feinde systematisch zu organisieren. So wird innerhalb weniger Tage das Bürgertum entwaffnet und eine freiwillige Rote Armee aufgestellt. Währenddessen hat die Bamberger Gegenregierung jedoch von der SPD-Reichsregierung und den rechten Freikorps militärische Unterstützung erhalten, sodass München, Augsburg und Kolbermoor bald von einer riesigen Übermacht umzingelt sind.

Zunächst gelingt es den Räteanhängern, die anrückenden gegenrevolutionären Militärverbände zurückzuschlagen. Dann jedoch beginnt die fünfte Phase, die Niederschlagung der Räterepublik und der »Weiße Terror«. Diese dauert von Anfang Mai bis Ende August 1919. Sie ist gekennzeichnet durch die militärische Eroberung Münchens durch die gegenrevolutionären Truppen und ein brutales Terrorregime, das durch willkürliche Festnahmen, Standgerichte, Razzien, Hinrichtungen und regelrechte Massaker geprägt ist. Dabei fallen der weißen Soldateska[8] nicht nur Revolutionäre, sondern auch Unbeteiligte zum Opfer.

Diese turbulenten Geschehnisse sollen hier hauptsächlich durch die Augen dreier historischer Persönlichkeiten geschildert werden. Die erste von ihnen, Hilde Kramer, hat 1918 gerade die Schule hinter sich gebracht und genießt ihre neugewonnene Freiheit in vollen Zügen. Im Internat politisiert, schließt sie sich sofort den Revolutionären an und arbeitet als Sekretärin des Landessoldatenrats. Sie wird Mitbegründerin der strömungsübergreifenden »Vereinigung Revolutionärer Internationalisten« und der bayerischen KPD. Vor wenigen Jahren wurde ein von ihr verfasstes autobiografisches Fragment[9] entdeckt und zum ersten Mal veröffentlicht. Dieses Zeitdokument dient als Grundlage für die meisten ihrer hier geschilderten Erlebnisse. Leider ist es jedoch lückenhaft, sodass ausgerechnet für die Zeit der kommunistischen Regierung in München wenig über Hildes Erleben bekannt ist. Zweiter Protagonist ist der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam, der bereits zu Lebzeiten für seine revolutionäre Lyrik einigermaßen bekannt war. Zum Zeitpunkt der hier geschilderten Ereignisse ist er vierzig Jahre alt und hat einen Großteil davon bereits als anarchistischer Agitator verbracht. Die Bayerische Räterepublik fordert von ihm im Zuge der praktischen Zusammenarbeit mit der marxistischen Arbeiterbewegung einige Kompromisse ab, gibt ihm aber auch unverhofft die Chance, einen Teil seiner Visionen tatsächlich in einem größeren Maße zu verwirklichen. Im Gegensatz zu ihm hat sich der Student und spätere Schriftsteller Ernst Toller, der dritte Protagonist, erst kurz vor der bayerischen Revolution politisiert. Dann jedoch entwickelt er sich aufgrund seines glühenden Engagements schnell zu einer der zentralen Figuren der bayerischen USPD, deren Vorsitzender er im Verlauf der Ereignisse werden wird. Der Kongress der Arbeiter-, Bauern und Soldatenräte bestimmt ihn zum Zentralratsvorsitzenden und später zum Abschnittskommandanten der Roten Armee bei Dachau. Sein Leben lang hat Toller mit dem Konflikt zwischen seinem radikalen Pazifismus und den Sachzwängen der bewaffneten Verteidigung zu kämpfen, mit denen er sich in seinen Ämtern konfrontiert sieht.

Trotz ihrer unbestreitbaren revolutionären Gesinnung entstammen alle drei Hauptpersonen dem Kleinbürgertum. Ernst Tollers Eltern sind Eigentümer eines Kolonialwarenladens. Erich Mühsams Vater führt eine Apotheke und die Familie von Hilde Kramer gehört zum Preußischen Bürgertum. Damit kommen – wieder einmal – nicht die Arbeiterinnen und Arbeiter zu Wort, von denen die Revolution größtenteils ausging, sondern die Intellektuellen sprechen an ihrer Stelle. Der Hauptgrund dafür liegt in eben jenen Umständen, welche die Revolution zu beseitigen suchte: Der immensen materiellen und kulturellen Ungleichheit. Während am Anfang des 20. Jahrhunderts die Abkömmlinge des Bürgertums unvergessliche Kulturwerke schaffen, können die Arbeiterinnen und Arbeiter oft noch nicht einmal lesen und schreiben. Und selbst wenn sie es könnten, bleibt nach einem zehnstündigen Arbeitstag kaum mehr die Zeit, um Memoiren zu verfassen. Die Tatsache, dass also fast alle Augenzeugenberichte aus der Zeit der Räterepublik aus bürgerlichen Quellen stammen, führt, zusammen mit dem Versäumnis einer systematischen Befragung proletarischer Zeitzeugen, zu ernsthaften Problemen in der Geschichtsschreibung. Denn der Großteil des Bürgertums bringt, wie es zum Beispiel in den immer wieder neuaufgelegten Tagebüchern von Viktor Klemperer heißt, der Revolution »nicht die geringste Sympathie« entgegen.[10] Diese verzerrte Quellenlage hat zu äußerst langlebigen Legenden über die Räterepublik geführt. Allen voran ist dabei die Behauptung zu nennen, es habe sich bei der Revolution ausschließlich um eine Phantasie von Münchner Kaffeehaus-Intellektuellen gehandelt. Beide Teile dieser Behauptung sind erwiesenermaßen falsch. Die Bayerische Revolution hat keineswegs nur in München stattgefunden, wie es schon die verbreitete Bezeichnung der ›Münchner Räterepublik‹ impliziert. Stattdessen gab es Rätestrukturen bis in die kleinsten Provinzdörfer. Orte wie Bad Aibling, Kolbermoor oder Urfeld waren revolutionäre Hochburgen. Auch im Hinblick auf die Basis der Revolution ist die Phrase von den Kaffeehausintellektuellen falsch. Richtig ist, dass unter den führenden Köpfen der Räterepublik eine erstaunlich hohe Anzahl von Literaten vertreten war. Da man in diesen Positionen sonst eher an Großindustrielle und Militärs gewöhnt ist, war diese Tatsache damals – und scheint es heute noch – irritierend. Diese Literaten, zu denen auch Ernst Toller und Erich Mühsam zählen, hätten die Revolution aber kaum herbeischreiben können. Stattdessen stützten sie sich auf eine Basis von kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeitern, die diesen Intellektuellen genau deshalb vertrauten, weil sie sich in deren Schriften besser verstanden fühlten als in den Erlassen des besiegten Obrigkeitsstaates.

Dieses Buch wird wohl nur wenige neue historischen Fakten zutage fördern. Diese Ehre kommt anderen Texten, wie z.B. der herausragenden Studie Aufstand der Räte von Michael Seligmann, oder dem Quellenband Literaten an der Wand von Hansjörg Viesel, zu. Mir geht es stattdessen darum, persönliche Lebenswege und historische Ereignisse auf eine Weise zu verweben, die politische Zusammenhänge deutlich macht und gleichzeitig dem Problem des Verhältnisses von individuellem (revolutionärem) Handeln und politischen Bedingungen nachspürt. Denn die drei Hauptpersonen stehen nicht nur für herausragende revolutionäre Biografien, im Kontext der Räterepublik stehen sie auch für die drei zentralen Strömungen der bayerischen Linken: den Anarchismus, den Parteikommunismus und den Sozialismus. Durch die Handlungen und Begegnungen der drei Hauptpersonen werden diese drei Strömungen in Beziehung zueinander gesetzt. Tatsächlich haben sich die drei gekannt und geschätzt. Erich und Ernst arbeiten im Rätekongress zusammen und werden später gemeinsam in Niederschönfeld eingesperrt. Hilde wohnt sogar eine Zeit lang bei Erich. Auch politisch stehen sich die drei trotz ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Strömungen relativ nahe. So spitzten sich auch die Grabenkämpfe zwischen den verschiedenen Strömungen links der SPD erst im Laufe bzw. nach der Zeit der Räterepublik zu. Erich Mühsam schreibt dazu beispielsweise im Gefängnis: »Die Bezeichnung ›kommunistisch‹ hatte damals noch gar keine parteimäßige Bedeutung und ich denke, ein kommunistischer Anarchist hört auch jetzt noch deswegen nicht auf, Kommunist zu sein, weil eine marxistische Partei den Namen für sich beschlagnahmt hat.«[11]

Alle drei Akteure haben also die Gemeinsamkeit, dass sie klar für die Sache der Räterepublik eintreten. So kann auch dieses Buch, das die Geschichte der Bayerischen Räterepublik aus ihrer Perspektive erzählen will, keine ›neutrale‹ Position einnehmen. Stattdessen macht es die Strategien, die Hoffnungen und die Dilemmata der Revolutionäre nachvollziehbar und trägt so dazu bei, die Möglichkeit des radikal Anderen, für die die Bayerische Räterepublik zweifellos steht, nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Um es mit den Worten Erich Mühsams zu sagen: »Nie hat es eine Gegenwart gegeben, die der Vergangenheit in dem Maße angehört hätte wie die, welche wir zurzeit in Deutschland erleben, nie hat ein Volk mehr Ursache gehabt, sich beschämt einzugestehen: Wir haben eine große Zukunft hinter uns.«[12]

Teil I Friedensstreik

26. Januar 1918

Ernst Toller sitzt in der überlaufenen Gastwirtschaft Kolosseum und diskutiert über Politik. Die hat ihn nach der Hungerdemonstration auf dem Marienplatz vor eineinhalb Jahren nicht mehr losgelassen. »Ich atme den Frieden und die Sonne, ich will den Krieg vergessen«, erinnert er sich später. »Aber ich kann ihn nicht vergessen. Vier Wochen, sechs Wochen geht es, plötzlich hat er mich wieder überfallen, ich begegne ihm überall, vor dem Altar des Mathias Grünewald sehe ich durch das Bild den Hexenkessel im Priesterwald, die zerschossenen, zerfetzten Kameraden, Krüppel begegnen mir auf meinen Wegen, schwarzverschleierte, vergrämte Frauen. Ach, die Flucht war vergeblich.«[13] Er schreibt am Theaterstück Die Wandlung, einem größtenteils autobiografischen Drama, in dem er die Entwicklung eines patriotischen Kriegsfreiwilligen zum Pazifisten schildert.

Auf Burg Lauenstein in Thüringen besuchte er außerdem einen großen Friedenskongress. Dort lernte er den Heidelberger Soziologieprofessor Max Weber kennen, der den Militarismus und den Preußischen Obrigkeitsstaat scharf kritisiert. Davon war Ernst so angetan, dass er an der Universität Heidelberg eine Promotion begonnen hat, um bei Weber studieren zu können. Dort unternahm er auch seine ersten praktischen politischen Schritte. Zusammen mit anderen Studierenden gründete er den Kulturpolitischen Bund der Jugend in Deutschland, der sich für einen Verständigungsfrieden engagiert. Der Bund ist von Berühmtheiten wie Friedrich Wilhelm Foerster, Carl Hauptmann und Heinrich Mann unterstützt worden. Auch der Berliner Anarchist Gustav Landauer, dessen Aufruf zum Sozialismus Ernst begeistert gelesen hat, schrieb ihm einen anerkennenden Brief. Diesen hat Ernst dankbar beantwortet und ist bald darauf zu Landauers gelehrigem Schüler geworden.

Unter dem Einfluss von Landauers sozialistischem Anarchismus radikalisierte sich der Kulturpolitische Bund, sodass er auch ins Visier des Obrigkeitsstaates geriet. Die Oberste Heeresleitung verbot die Gruppe und Ernst drohte erneut die Einberufung zum Militärdienst, der er sich jedoch durch eine spontane Reise nach Berlin entziehen konnte. Dort suchte er Kontakte zu verschiedenen Linken, vor allem um sich gegen das Verbot des Kulturpolitischen Bundes einzusetzen. Dabei hatte er auch Kontakt zu dem sozialistischen Kriegsgegner Kurt Eisner, der die heutige Runde hier im Gasthaus Kolosseum zusammengerufen hat.

Eisner ist eine beinahe lustige Erscheinung. Er hat nur noch am Hinterkopf Haare, diese hat er dafür so lang wachsen lassen, dass sie im Luftzug wehen, als er das Podium betritt. Sein langer, wirrer Bart und seine Brille geben ihm dennoch eine gewisse intellektuelle Würde. »Die kurzsichtigen Augen«, schreibt Ernst Toller später über Eisner, »sahen fremd über den tief unter der Nasenwurzel lose sitzenden Kneifer, die kleinen gepflegten Hände, von fraulicher Zärtlichkeit, erwiderten weder den Druck von Freunden noch von Feinden, diese Geste zeigte seine Scheu vor menschlicher Beziehung.«[14] Noch 1914 hatte Eisner als SPD-Mitglied die Bewilligung der Kriegskredite durch seine Partei befürwortet und den Krieg zur einzig möglichen Antwort auf das aggressive Gebaren des russischen Zarenreichs erklärt. Als er später dann Einblick in diplomatische Akten bekommen hat, ist ihm klargeworden, dass es tatsächlich wesentlich das Deutsche Reich gewesen ist, das den Weltkrieg vom Zaun gebrochen hat. Seitdem stellte er sich vehement gegen diesen Krieg – und verzweifelte schlussendlich an der ebenso vehementen Kriegsbefürwortung seiner Partei. Gemeinsam mit Clara Zetkin, Albert Einstein, Ludwig Quidde und vielen anderen gründete er den Bund Neues Vaterland, in dem sich Pazifistinnen und Pazifisten mit unterschiedlichen politischen Weltanschauungen sammelten. Im Dezember 1917 schrieb Eisner schließlich einen Brief an den bayerischen Kronprinzen und preußischen Generalfeldmarschall Rupprecht von Wittelsbach, in dem er ihn dazu aufforderte, sich für einen separaten Friedenschluss Bayerns mit den Alliierten einzusetzen. Rupprecht erkundigte sich bei der SPD-Führung nach der Stellung Eisners. Diese behauptete einfach, Eisner habe keinerlei Rückhalt in der Arbeiterschaft. Daraufhin ignorierte der Kronprinz den Brief. Eisner wiederum hatte seinerseits längst den Entschluss gefasst, die SPD zu verlassen. Zusammen mit anderen Dissidenten gründete er die Unabhängige SPD, der sich auch der Spartakusbund um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg anschloss.

Ernst ist äußerst angetan von der Persönlichkeit Eisners und von der USPD als Partei, in der er eine wirkmächtige Kraft für radikale Antikriegspolitik ausmacht. So ist er der Partei beigetreten und hat sich der sozialistischen Politik zugewandt, in der er vor allem ein Mittel sieht, den Krieg endgültig zu besiegen. Schon in Berlin hatte Eisner durchblicken lassen, dass er eine große Aktion in München plant. Ohne genau zu wissen, um was es sich handelt, ist Ernst ihm zurück nach Bayern gefolgt. Als Eisner nun seine Pläne offenbart, ist Ernst umso erregter. Ohne Angst vor den Polizeispitzeln, die sich ohne Zweifel unter die ungefähr 250 Gäste im Kolosseum gemischt haben, verkündet er, dass die USPD den größten Streik in der Geschichte des Deutschen Reichs plant. Dessen Ziel sei es, »die Monarchie zu stürzen und nicht nur den preußischen, sondern den gesamten Militarismus niederzuzwingen. Dazu gebe es nur ein Mittel. Die heißersehnte, unausbleibliche und bald zu erwartende Revolution«[15]. Die Versammelten sind begeistert und Ernst ist wie beflügelt von der revolutionären Stimmung.

28. Januar 1918

An diesem Montagabend findet eine vom Betriebsversammlung der Bayerischen Geschützwerke von Krupp und der Maffei-Werke im Schwabingerbräu in der Leopoldstraße 82 statt. Die Versammlung wurde von der Gewerkschaft Deutscher Metallarbeiterverband (DMV), dem Vorläufer der IG Metall, organisiert, aber Kurt Eisner will sie nutzen, um die Rüstungsarbeiter für den Streik zu gewinnen. München hat sich in den Kriegsjahren zu einem Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie entwickelt. König Ludwig III. bewirkte durch persönliche Vorsprache beim Kaiser den Ausbau der Kriegsindustrie in Bayern. So hat Krupp 1916 mit dem Bau eines Werks in München Freimann begonnen. Auch die Bayerischen Flugzeugwerke und die Rapp-Motorenwerke sind erheblich vergrößert worden. Aber auch andere Firmen in der Umgebung von München haben große Rüstungsaufträge erhalten. Arbeitskräfte aus Sachsen und dem Ruhrgebiet sind nach München geströmt, um in der Kriegsindustrie Arbeit zu finden. Unter anderem diese Arbeiterinnen und Arbeiter versucht die Gruppe um Kurt Eisner nun vom Streik gegen den Krieg zu überzeugen – und sie haben mit ihrer unermüdlichen Agitation Erfolg. Nun haben sich die Streikenden zu einer Versammlung zusammengefunden, auf der sie ihre Forderungen an die Obrigkeit zusammentragen wollen.

Der Streik, für den Kurt Eisner die Arbeiterinnen und Arbeiter gewinnen will, stellt eine konzertierte Aktion im gesamten Kaiserreich dar. Koordiniert wird er von einem Komitee aus Obleuten[16] des Spartakusbundes und der USPD. Die SPD und die offiziellen Gewerkschaften dagegen unterstützen die Streiks zunächst ausdrücklich nicht. Auf Druck der Arbeiterschaft treten dann jedoch Friedrich Ebert und Phillipp Scheidemann für die SPD in die Streikleitung ein, bemühen sich jedoch hauptsächlich um die Abschwächung der Aktionen. In einem späteren Gerichtsprozess erklärt Ebert dann ausdrücklich, er sei der Streikleitung nur beigetreten, um die Bewegung zu mäßigen und möglichst bald einzustellen. Tatsächlich sieht es die SPD während der Kriegsjahre als ihre patriotische Pflicht an, Streiks so weit wie möglich zu unterbinden. Das erkennt auch das Kriegsministerium in einem internen Bericht an:

»Der Haltung der führenden sozialdemokratischen Kreise ist es mit zu verdanken, dass auch im Juli keinerlei organisierte Arbeiterausschreitungen oder Arbeitseinstellungen stattgefunden haben. Einzelne Lohndifferenzen konnten im gegenseitigen Benehmen sofort beigelegt werden; auch sonst kamen keine nennenswerten Ausschreitungen vor. Es zeigt sich, dass die seelischen und materiellen Prüfungen des Krieges verhältnismäßig am besten von der organisierten Arbeiterschaft ertragen werden; ihre hohen Löhne, die straffe Organisation und der starke Einfluss der Führer der sozialdemokratischen Mehrheitspartei sowie der freien, christlichen und Hirsch-Dunkerschen Gewerkschaften stützen und stärken ihren Willen zum Durchhalten so nachhaltig, dass – wenigstens in Bayern – von dieser Seite her ein Nachlassen der seelischen Widerstandskraft voraussichtlich nicht zu befürchten ist. Ganz anders steht es aber mit den Millionen von nicht organisierten Personen.«[17]

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Agitation für einen Streik, noch dazu für einen politischen, ja revolutionären, als äußerst schwierig dar. Die russische Immigrantin Sarah Sonja Lerch, Mitbegründerin der Münchner USPD und eine der Hauptagitatorinnen für den Streik, schreibt in einem Brief an eine Freundin pessimistisch: »Wenn nicht Hunger die Deutschen zur Revolution zwingt, gibt es keine. Sie sind geborene Sklaven und fühlen sich dabei wohl. Nur vor Hunger haben sie Angst. Unter diesen Maschinen zu leben ist mir schwer. Dem dümmsten russischen Bauern kann man eher klarmachen, dass er sich befreien muss, als hier einem Gewerkschaftsbeamten. Der ist zufrieden, dass er seinen Posten hat. Soll man nur andere verhaften etc.«[18] Aber sie wollen es dennoch versuchen.

Es sind ungefähr 2.000 Personen im Schwabingerbräu anwesend – zu einem großen Teil Frauen, da viele Männer noch an der Front sind. Die offiziellen Gewerkschaften sind der Streikbewegung ebenso wenig zugeneigt wie die SPD. Deshalb will Josef Kurth, der Geschäftsführer der DMV-Ortsverwaltung, Kurt Eisner und Sarah Sonja Lerch gar nicht sprechen lassen. »Da ich unter allen Umständen verhindern wollte, dass die Betriebsversammlung zu einer politischen werde oder auch nur politische Erörterungen dort gepflogen würden, übernahm ich den Vorsitz«, erklärt der Funktionär später im Polizeiverhör.[19] Es wird aber sofort deutlich, dass Kurth mit seiner Verbannung der Politik keinen Erfolg haben wird. Gleich zu Beginn der Versammlung fordern mehrere Arbeiter, die politische Lage zu diskutieren und Eisner sprechen zu lassen. Es kommt zu einer Abstimmung mit dem klaren Ergebnis einer Redeerlaubnis für Eisner. Dieser spricht – seiner Erinnerung nach – »eine Stunde über die gegenwärtige Krisis und ihre Lösung durch den Massenstreik. Sooft ich von Streik sprach, jubelte alles; die Versammlung war von Anfang an so gestimmt, dass sie mehr mich als ich sie aufreizte; ich lieh ihrem dunklen Fühlen nur das Wort.«[20]

Nach Eisner ergreift der christliche Gewerkschafter Bonsbach das Wort und erklärt, der politische Streik sei ein unparlamentarisches und gewaltsames Mittel der Politik und daher abzulehnen. Am Ende verständigt sich die Versammlung jedoch auf eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich mit der Streikbewegung in Berlin solidarisiert. Kurth verunmöglicht jedoch die Abstimmung über den Text, indem er sein Schlusswort bis über die Sperrstunde hinaus ausdehnt.

30. Januar 1918

Ernst Toller nimmt an verschiedenen Streikversammlungen in München Teil. »Ich möchte helfen, irgendetwas tun«, schreibt er.[21] Mit diesem Tatendrang ist er unter seinen Schriftstellerkollegen relativ allein. Der konservative Münchner Thomas Mann notiert in diesen Tagen die ratlosen Sätze: »Auf den Frieden zu warten, muss man sich abgewöhnen. Das ist überhaupt kein Krieg, sondern irgendeine vorläufig ganz unabsehbare Umwälzung, für die man noch keinen Namen hat.«[22]

Zuerst haben die Streikenden für Ernst keine Verwendung. So verteilt er Flugblätter mit Kriegsgedichten und den Lazarett- und Krüppelszenen aus seinem Drama Die Wandlung unter den Streikenden. Irgendwann bekommt er dann doch eine Aufgabe: Er soll die Arbeiterinnen der Austria Tabakwerke in der Schleißheimerstraße 267 zum Streik auffordern. Erstaunt bemerkt er, dass er tatsächlich Talent zum Agitator hat. Wenn er spricht, entfaltet seine dunkle, melodiöse Stimme eine fast zauberhafte Wirkung auf die meisten seiner Zuhörer und insbesondere seiner Zuhörerinnen aus. Seine Kritik am Obrigkeitsstaat ist aber so scharf, dass sogar einige seiner linken Zuhörerinnen zunächst erschrecken – in den letzten Jahren haben sie nur die preußische Propaganda und zensierte Nachrichten zu lesen bekommen. Das meiste von dem, was Ernst nun sagt, stellt einen Straftatbestand im Sinne der monarchistischen Gesetzgebung dar – und einiges davon wird ihm auch später vor dem Standgericht vorgehalten werden. In diesem Moment aber spricht er den kriegsmüden Arbeiterinnen aus dem Herzen. Er erinnert sie an die Schrecken des Krieges. Er schildert detailliert, wie er in den Schützengräben des Priesterwalds[23] einen Kameraden drei Tage und Nächte lang schwer verwundet und schreiend zwischen den Frontlinien liegen sah, ohne dass er gerettet werden konnte. Oder wie er an einem anderen Tag den Schützengraben erweitern sollte und beim Graben mit der Schaufel ein langes Stück menschlichen Gedärms aus dem Boden gezogen hat. Zunehmend redet er sich in Rage, der Speichel schäumt vor seinem Mund, er zittert vor Erregung. Einige der Anwesenden brechen in Tränen aus, andere springen auf, aber die ganze Versammlung ist begeistert. Tatsächlich gelingt es ihm, die Frauen geschlossen zu einer Versammlung zu mobilisieren, auf der Eisner sprechen soll.

In Berlin beginnt an diesem Montag bereits der große Ausstand, an dem sich bereits am ersten Tag 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligen. Die SPD-Führung rät der Reichsleitung im Geheimen, den Streikforderungen unter keinen Umständen nachzugeben. So hat in München inzwischen auch die Gegenseite ihre Stellungen bezogen. Innenministerium, Kriegsministerium, Stellvertretendes Generalkommando und die Polizeidirektion haben gemeinsam beschlossen, dass bei Zusammenstößen mit streikenden Arbeitern nach dreimaliger Aufforderung, auseinanderzugehen, scharf geschossen werden solle.[24]

31. Januar 1918

Die Streikbewegung hat sich ausgeweitet. Mittlerweile gibt es Streiks und Demonstrationen in Bielefeld, Braunschweig, Breslau, Chemnitz, Dortmund, Halle, Hamburg, Kiel, Köln, Leipzig, Magdeburg, Mannheim, Nürnberg und Solingen. In München kommt es zu mehreren Betriebsversammlungen. So kommen ungefähr 1.700 Arbeiterinnen und Arbeiter der Bayerischen Geschützwerke im Schwabingerbräu zusammen, auch Ernst Toller ist unter ihnen. Wieder spielt sich derselbe Machtkampf ab zwischen den Unabhängigen um Eisner und Lerch, die für den Streik werben und der SPD sowie den offiziellen Gewerkschaften, die gegen denselben agitieren. Auch dieses Mal fordert Eisner die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, für das Leben ihrer Kameraden im Feld zu streiken. Obwohl er der Erscheinung nach das Gegenteil eines Proletariers ist, lieben ihn die Arbeiter und jubeln ihm zu. »Es herrschte eine befreite, fast frohe, entschlossene Stimmung«, erinnert sich Eisner später.[25]

Ernst entdeckt auch Rainer Maria Rilke in der Menge. Er hat davon gehört, dass sich der Dichter immer öfter möglichst unerkannt in die Versammlungen der Revolutionäre schleicht. Von einer dieser Versammlungen berichtet Rilke später: »Obwohl man um die Biertische und zwischen den Tischen so saß, dass die Kellnerinnen nur wie Holzwürmer durch die dicke Menschenstruktur sich durchfraßen – war’s gar nicht beklemmend, nicht einmal für den Atem; der Dunst aus Bier und Rauch und Volk ging einem nicht unbequem ein, man gewahrte ihn kaum, so wichtig war’s und so über alles gegenwärtige klar, dass die Dinge gesagt werden konnten, die endlich an der Reihe sind, und dass die einfachsten und gültigsten von diesen Dingen, soweit sie einigermaßen aufnehmlich gegeben waren, von der ungeheuren Menge mit einem schweren massiven Beifall begriffen wurden. Plötzlich stieg ein blasser junger Arbeiter hinauf, sprach ganz einfach: ›Haben Sie oder Sie, habt Ihr‹, sagte er, ›das Waffenstillstandsangebot gemacht? Und doch müssten wir das tun, nicht diese Herren da oben, bemächtigen wir uns einer Funkstation und sprechen wir, die gewöhnlichen Leute, zu den gewöhnlichen Leuten drüben, gleich wird Friede sein.‹ Ich wiederhole das lange nicht so gut, wie er es ausdrückte. Plötzlich, als er das gesagt hatte, stieg ihm eine Schwierigkeit auf und mit rührender Gebärde nach den Professoren, die neben ihm auf dem Podium standen, fuhr er fort: ›Hier, die Herren Professoren können Französisch, die werden uns helfen, dass wir’s richtig sagen, wie wir’s meinen.«[26]

Dieses Mal lässt sich der Entschluss zum Streik nicht durch die Sozialdemokraten abwürgen. Es wird sogar dafür gestimmt, ein klares Zeichen der Verbrüderung an die Arbeiterinnen und Arbeiter aller kriegsführenden Staaten geschickt werden. Darin müsse unmissverständlich klarwerden, dass der Krieg eine Sache der Obrigkeit und nicht des Proletariats sei. Schlussendlich wird folgende Botschaft verfasst:

»Die streikenden Arbeiter Münchens, voran die Kruppwerke, entbieten ihren brüderlichen Gruß den belgischen, französischen, englischen, russischen, italienischen, amerikanischen, serbischen Arbeitern. Wir fühlen uns mit Euch eins in dem feierlichen Entschlusse, dem Kriege des Wahnsinns und der Wahnsinnigen sofort ein Ende zu bereiten. Wir wollen uns nicht mehr morden. Vereint Euch mit uns, den Völkerfrieden zu erzwingen, der im Aufbau einer neuen Welt aller Menschen Freiheit und Glück sichert. Wir deutschen Arbeiter werden unsere Herrschenden, die Verantwortlichen des Weltkrieges, zur Rechenschaft ziehen. Der Kampf um den Frieden hat begonnen. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!«[27]

Diese Botschaft soll in Rücksprache mit der Reichsstreikleitung auf allen verfügbaren Wegen in die entsprechenden Länder geschickt werden. In Ernst steigt das Gefühl auf, dass mit dieser Streikbewegung die internationale Verständigung nun tatsächlich erreicht werden könnte, die der »Kulturpolitische Bund« vergeblich angestrebt hatte.

Im Anschluss brechen die Streikenden zu einem Demonstrationszug von Fabrik zu Fabrik auf, um weitere Arbeiterinnen und Arbeiter für die Aktion zu gewinnen. Neben den Belegschaften von Krupp und Maffei schließen sich die Belegschaft einer Lederfabrik und 1.100 Personen aus der Maschinen- und Flugzeugfabrik Otto-Werke an. Später kommen auch 290 Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik Austria hinzu, die Ernst mobilisiert hat. Als der Zug bei den alten BMW-Werken in der Schleißheimerstraße 267 angekommen ist, ist dort bereits ein bewaffneter Werkschutz in Stellung gegangen, der Gewehre auf die Demonstrierenden richtet. Aber ein Großteil der Belegschaft von BMW hat die Arbeit bereits niedergelegt, sodass die Demonstration ruhig an der Fabrik vorbeizieht und nach Norden schwenkt, wo sich nochmals über 3.000 Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Flugzeugwerken anschließen. Innerhalb kurzer Zeit schwillt der Zug so auf über 6.000 Personen an.

Die Demonstration soll nahe dem Hauptbahnhof im Mathäserbräu in der Bayerstraße 5, einem der größten Säle der Stadt, enden. Kurz bevor der Zug dort angelangt, muss Eisner jedoch feststellen, dass sein politischer Gegenspieler Erhard Auer von der SPD den Saal bereits für eine Versammlung der Arbeiter von Rapp und den Bayerischen Flugzeugwerken reserviert hat. Auer ist seit 1907 Mitglied der bayerischen Abgeordnetenkammer und wird von seinem Parteigenossen Ernst Niekisch als »tüchtiger Parteibeamter« beschrieben.[28] Sein Plan ist es, die Arbeiter durch die Parallelveranstaltung von der Teilnahme am Streik und an der Demonstration abzuhalten. »Wir hatten es in München ganz besonders schwer«, resümiert Eisner später angesichts dieser Situation. Wir hatten nicht nur die Militärdiktatur gegen uns, sondern auch die Regierungssozialisten, die die gesamte politische und gewerkschaftliche Organisation fest in Händen hielten, eine Kamorra, die vor keinem Mittel zurückschreckte, um sich selbst in ihrer Stellung zu behaupten.«[29]

Die Demonstration wird nun für ihre Abschlussversammlung zum Saal des Hotels Wagner umgeleitet. Auch Erich Mühsam hat an der Demonstration teilgenommen und will nun zu den Streikenden sprechen. Von der Galerie aus ruft er der Versammlung revolutionäre Parolen zu. Denn er will auf die sozialistische Arbeiterbewegung zugehen, die er hier im Erstarken begriffen sieht. Mit dieser Bündnispolitik hat Erich seine politische Strategie deutlich verändert. Vor neun Jahren, als er die Gruppe Tat als Münchner Sektion des von Gustav Landauer begründeten Sozialistischen Bundes ins Leben gerufen hat, stand für ihn die reine anarchistische Lehre im Vordergrund. Der Sozialistische Bund war eine Föderation anarchistischer Gruppen und Kommunen ohne organisatorische Zentralinstanz. Er sollte Landauers Idee des Aufbaus einer neuen Gesellschaft in der alten verwirklichen, die als Ausweg für die Konflikte zwischen Revolution und Reform gesehen wurde. Während Landauer hauptsächlich Intellektuelle und Lebensreformer organisierte, hat Erich in der Gruppe Tat das Ziel verfolgt, das Münchner ›Lumpenproletariat‹ für den Anarchismus zu gewinnen. Der abschätzige Begriff des ›Lumpenproletariats‹ hat sich in der Arbeiterbewegung für all jene Proletarier eingebürgert, die aufgrund ihrer ökonomischen Lage als nicht organisierbar gelten. Darunter fallen so unterschiedliche Gruppen wie Bettlerinnen, Langzeitarbeitslose, Sainsonarbeiterinnen, Kleinkriminelle und Prostituierte. Erich ist davon ausgegangen, dass diese Vagabunden als gesellschaftliche Gruppe ein weit größeres revolutionäres Potential aufweisen als die regulär angestellt Arbeitenden, weil sie von der kapitalistischen Gesellschaft an den äußersten Rand gedrängt werden. Er hat in den Kaschemmen, den Herbergen und auf den Straßen agitiert, bis er in der Spelunke Gambrinus eine Gruppe von über hundert Vagabunden versammeln konnte. Bald stellte sich jedoch heraus, dass die Vagabunden vor allem am Freibier interessiert waren. Dass der Anarchismus nicht nur eine Legitimation der Rebellion war, sondern vor allem auch eine hohe Moral einforderte, behagte den meisten gar nicht. So blieben am Ende doch wieder nur die Intellektuellen und Bohemiens übrig, mit denen Erich ohnehin seine Zeit verbrachte. Unter ihnen waren die Schriftsteller Oskar Maria Graf, Heinrich Mann und Kurt Martens sowie der Maler Georg Schrimpf. Aus der bakunistischen Konspirationszelle war inzwischen ein Debattierklub geworden, den Erich immer seltener besucht.

Jetzt verfolgt er eine neue Strategie. Er will Bündnisse schmieden, die über anarchistische Kreise hinausgehen. Er geht auf die marxistische Arbeiterbewegung zu, korrespondiert mit Karl Liebknecht und versucht eine internationale Konferenz der Kriegsgegner zu organisieren, aber immer, wenn er einen Termin vorschlägt, sind die Pazifisten und Sozialdemokraten wie Hugo Haase und Eduard Bernstein »zufällig verhindert«. Nun aber scheint sich die Lage zu ändern. Die Marxisten sind, von den revoltierenden Massen vor sich hergetrieben, endlich bereit, von der Theorie zur revolutionären Praxis überzugehen.

Noch nehmen die streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter den anarchistischen Bohemien, der von der Galerie herab eine Rede an sie halten will, nicht so recht ernst. Und auch die USPD will sich ihre führende Rolle im Streik nicht von den Linksradikalen aus der Hand nehmen lassen. Sie erklären, dass sie mit Anarchie nichts am Hut haben und erteilen Erich Redeverbot. Stattdessen spricht nun Sarah Sonja Lerch, die bei den Streikenden hohes Ansehen genießt, weil sie bereits an dem gescheiterten Revolutionsversuch von 1905 in Russland teilgenommen hat. Sie erklärt, dass der Ausstand rein politischen Charakter haben müsse, also nur der Friede und nicht Lohnerhöhungen oder ähnliches gefordert werden dürften. Der Vorschlag wird bereitwillig angenommen und für die gesamte Streikbewegung umgesetzt. Anschließend fügt Lerch noch hinzu, dass sie als Frau besonders gegen den Krieg kämpfe. »Für uns Frauen heißt es, unseren Männern die Treue halten, wenn wir dafür kämpfen, dass der Krieg ein rasches Ende nimmt.«[30] Für ihren eigenen Mann ist es mit der Treue jedoch vorbei, seit Lerch sich in der Antikriegsbewegung engagiert. Er hat Scheidungsklage eingereicht, was Lerch schwer belastet.

Eisner ist derweil zusammen mit Ernst und seinem Assistenten Felix Fechenbach zum Mathäserbräu aufgebrochen, wo die Sozialdemokraten zusammen mit offiziellen Gewerkschaftsfunktionären ihre Versammlung abhalten. Ohne Umschweife betritt er dort das Podium. Als der Arbeiterausschuss der Rapp-Werke Eisner erkennt, versucht er sofort, ihn hinauszuwerfen, wogegen jedoch die streikenden Vertrauensleute des Betriebs vehement protestieren. Schließlich bekommt er das Wort und es wird augenblicklich ruhig im Saal.

Als Eisner seine Werberede für den Friedensstreik beendet hat, treten die SPD-Führer Auer und Timm ans Podium und versuchen Eisner durch persönliche Verunglimpfungen zu delegitimieren. Wieder einmal behaupten sie, Eisner habe sich während seiner Zeit bei der SPD aus Propagandamitteln persönlich bereichert. Die Menge wird jedoch unruhig. Schließlich schwillt der Lärm so stark an, dass Auer seine Rede abbrechen muss. Die Versammlungsleitung wird abgesetzt und die Streikwilligen übernehmen stattdessen die Führung. Die SPDler verlassen entnervt den Saal und die Versammlung beschließt unter stürmischem Applaus die Beteiligung am Streik.

Im Anschluss findet im selben Saal eine Belegschaftsversammlung der Bayerischen Flugzeugwerke statt. Um zu verhindern, dass diese Zusammenkunft dasselbe Schicksal ereilt wie diejenige der Rapp-Werke, wird sie zur geschlossenen Betriebsversammlung erklärt. Eisner wird die Teilnahme verwehrt, wohingegen der bekanntlich ebenfalls betriebsfremde Auer sprechen soll. Doch im ganzen Saal toben die Rufe »Eisner soll reden, Eisner soll reden!« Andere rufen aber auch das Gegenteil. Auf dem Podium stehen die Funktionäre mit wutverzerrten Mienen und geballten Fäusten. Sie schreien sich heiser, dass dies eine Betriebsversammlung sei. Dagegen ertönen wiederum Rufe, warum dann Auer reden dürfe. Irgendjemand schwingt sich spontan auf das Podium um zu reden, wird aber wieder hinuntergestoßen. Als er immer noch nicht geht, wird er von einem Mann des offiziellen Ausschusses aus dem Saal hinausgejagt. Ernst befürchtet, dass die aggressiv auftretenden Funktionäre Eisner jeden Augenblick die Schädeldecke zertrümmern werden. Aber zum Glück geschieht ihm nichts.

Als die Versammlung schließlich für beendet erklärt wird, beruft Felix Fechenbach eine weitere Versammlung direkt im Anschluss ein, die diesmal öffentlich sein soll. Fast alle Arbeiter der Flugzeugwerke bleiben im Saal. Eisner hält auch hier wieder engagiert seine Rede für Streik und Frieden. Erneut hat er Erfolg: Die meisten Anwesenden schließen sich dem Streik an.

1. Februar 1918

Mittlerweile stehen in München über 8.000 Arbeiter im Streik. An diesem Tag versammeln sie sich im Löwenbräukeller in der Nymphenburgerstraße 2, um Eisner sprechen zu hören. Aber der USPD-Vorsitzende kommt nicht. Stattdessen sprechen die Sozialdemokraten Timm und Auer zu den Streikenden. Die Bewegung sei ziel- und planlos, erklärt er – ein Zustand, dem nur dadurch beizukommen sei, dass der sozialdemokratische Verein München die Leitung übernehme. Die Versammlung stimmt diesem Vorschlag nach einigem Hin und Her zu. Daraufhin schlägt Auer vor, den Streik am 4. Februar zu beenden und eine Delegation mit den Forderungen der Bewegung zur Regierung zu schicken. Wenn er selbst diese Delegation anführe, verbürge er sich dafür, dass keinem der Streikenden etwas geschehen werde. Auch Erich Mühsam nimmt wieder an der Versammlung teil und attackiert die beiden Sozialdemokraten wild. Sie hätten ihre fetten Bäuche wohl auch nicht allein von den Lebensmittelkarten. Statt auf die beiden zu hören sollten die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Macht zeigen, damit man »dem gegenwärtigen Staat die Gurgel abschneiden« könne.[31] Die Versammlung hört jedoch nicht auf ihn und stimmt dem Vorschlag der Sozialdemokraten mehrheitlich zu.

Nachdem das Publikum eine Stunde vergeblich gewartet hat, dringt die Nachricht in den Löwenbräukeller vor, dass Eisner nach seiner gestrigen Rede in seinem Hotelzimmer verhaftet worden ist. Später stellt sich heraus, dass es die SPD-Führung war, die die Polizei auf die Gefährlichkeit Eisners hingewiesen hatte. Kronprinz Rupprecht hält in seinem Kriegstagebuch fest: »In München waren es sozialdemokratische Führer, welche anlässlich des letzten Demonstrationsstreiks die Aufwiegler, meist halbwüchsige Burschen, der Obrigkeit angaben, indem sie deren Verhaftung beantragten, da so am ehesten Ruhe geschaffen werden könne.«[32] Ähnlich ist es Sarah Sonja Lerch ergangen, über die es in einem Aktenvermerk heißt, sie sei »neben dem Schriftsteller Eisner die Haupthetzerin in der Streikbewegung«.[33] In den frühen Morgenstunden haben Polizeibeamte ihre Wohnung durchsucht, alle Schriftstücke beschlagnahmt, die sie finden konnten, und sie selbst verhaftet.

Die Streikenden beantworten die Nachricht von der Gefangennahme der beiden führenden Köpfe mit der Wahl einer Delegation, die beim Polizeipräsidenten deren Freilassung fordern soll. Auch Ernst meldet sich dafür. Einige Arbeiterinnen fordern ihn daraufhin dazu auf, eine Rede zu halten. »Eine Massenbewegung, die an ihre Ziele glaubt«, ruft er der Versammlung zu, »ist durch die Verhaftung der Führer nicht einzudämmen. Der Glaube ist ein entscheidendes Element, erst, wenn er angekränkelt, geschwächt, zersetzt ist, können gegnerische Mächte die Einheit der Bewegung sprengen und sie auflösen in ohnmächtige, willensunfähige Haufen.«[34] In der Tat glauben die Streikenden an ihre Sache. »An den Galgen mit Ludendorff!«, rufen sie, aufgestachelt von Ernsts Ansprache, und: »Nieder mit dem Krieg!«

Ein Demonstrationszug begleitet die Delegation zum Polizeipräsidium in der Ettstraße. Dort werden sie schon von einem Großaufgebot Soldaten erwartet. Die Rekruten sind so jung, dass sie noch nicht an der Front gewesen sind. Daher gehorchen sie den Befehlen der Offiziere und richten ihre Gewehre auf die Protestmenge. Nach einer kurzen Beratung beugen sich die Demonstrierenden der Gewalt und lösen die Versammlung auf.

2. Februar 1918

Um elf Uhr versammeln sich mehr als 6.000 Streikende auf der Theresienwiese, dem größten Platz der Stadt. Es wird über die Verhaftung Eisners gesprochen. Einigen dämmert bereits, dass die Sozialdemokraten dabei ihre Finger im Spiel hatten. Auch Ernst Toller hält eine Ansprache. Er erklärt, dass die vielen Anwesenden Teil einer mächtigen Bewegung seien. Allein in Berlin streiken mehrere hunderttausend Personen, das öffentliche Leben wird fast gänzlich lahmgelegt. Reichsweit streiken über eine Million Arbeiterinnen und Arbeiter. Trotz Versammlungsverboten kommt es täglich zu Demonstrationen. Nach mehreren Reden zieht die Menschenmenge in einer letzten Demonstration in die Innenstadt, um sich am Karlsplatz aufzulösen. Kurz darauf wird Polizei zur Zerschlagung der restlichen Streikposten eingesetzt.

Ernst sitzt am Mittag in seiner Pension beim Essen, als das Stubenmädchen ihm zuruft, draußen stünden zwei Herren, die ihn sprechen wollten. Als er auf den Korridor tritt, stehen die beiden Herren bereits vor seiner Zimmertür. »Hände hoch!«, schallt es ihm entgegen und Ernst sieht einen Revolver vor seiner Nase. Er ist verhaftet, die Büttel legen ihm Handschellen an. Zuerst wird er aufs Revier geführt, dann in die Artilleriekaserne. Dort findet er sich in einem Holzverschlag in der Wachstube wieder. Auch alle anderen »Rädelsführer« des Streiks werden eingesperrt. Inzwischen ist auch klar, was ihnen vorgeworfen wird: Landesverrat nach § 89 des Reichsstrafgesetzbuches – ein Verbrechen, das mit der Todesstrafe geahndet werden kann. Auer hat ganz offensichtlich sein Versprechen gebrochen.

Die Frankfurter Zeitung meldet: »Die Einigungsverhandlungen, die zwischen den von der unabhängigen sozialdemokratischen Partei geführten Ausständigen und der sozialdemokratischen Partei angebahnt wurden, waren von Erfolg begleitet. Damit ist die Wiederaufnahme der Arbeit in allen Münchner Betrieben am Montag früh gesichert. Die Streikbewegung in München ist also nach viertägiger Dauer abgeschlossen. Störungen der öffentlichen Ruhe waren im Verlauf der Bewegung nicht zu verzeichnen.«[35]

Im gesamten Reich wird der Streik, ähnlich wie in München, unter Einsatz von Polizei und Militär niedergeschlagen. Viele der für die Beendigung des Krieges streikenden Arbeiter werden zur Strafe zum Militär eingezogen. Auch Erich Mühsam wird zum ›Vaterländischen Hilfsdienst‹ eingezogen. Mit einem entsprechenden Gesetz versucht die Reichsregierung die totale Mobilisierung der männlichen Bevölkerung voranzutreiben: Männer zwischen siebzehn und sechzig Jahren, die nicht in die Armee eingezogen worden sind, können damit verpflichtet werden, in der Rüstungsindustrie oder einem kriegswichtigen Betrieb zu arbeiten. Erich weigert sich, dem Einberufungsbefehl nachzukommen. »Ich rechne mit 4 – 6 Wochen Gefängnis«, notiert er in sein Tagebuch.[36]

Am Ende kann keine der Streikforderungen durchgesetzt werden. Aber die Bewegung hat enorme Ausmaße angenommen und während der Streikwelle werden zum ersten Mal in großem Umfang Arbeiterräte gewählt – diejenige politische Organisationsform, von der in den kommenden Monaten die bayerische Revolution ausgehen wird.

5. Februar 1918

Obwohl Ernst Toller als Kriegsgeschädigter aus der Armee entlassen worden ist, soll er jetzt in der Artilleriekaserne erneut eine Uniform anziehen. Als er sich weigert, streifen ihm die Soldaten die Kleider gewaltsam über. Dann übergibt man ihm einen Einberufungsbefehl, um ihn an die Militärgerichtsbarkeit überstellen zu können. Es wird Anklage wegen Hochverrats erhoben und er wird in das Militärgefängnis in der Leonrodstraße überführt.

Die Behörden beharren darauf, dass Toller und seine Genossinnen und Genossen wegen des Streiks verhaftet worden seien. Die sozialdemokratische Münchener Post gibt vor, er sei als Deserteur eingesperrt. Er verbringt die Zeit in Gefangenschaft so gut es geht mit Lesen. Während die Korridore und Wachstuben mit elektrischem Licht erleuchtet sind, bleiben die Zellen der Gefangenen ohne Beleuchtung. Durch die schmalen Fenster fällt nur von elf Uhr vormittags bis drei Uhr nachmittags etwas Licht, den Rest des Tages verbringen die Gefangenen im Dunkeln. Diese Zeit des Lichts aber nutzt Ernst für das Studium der sozialistischen Klassiker. Er liest Karl Marx und Michail Bakunin, Franz Mehring und Rosa Luxemburg. »Eher aus Zufall denn aus Notwendigkeit war ich in die Reihen der streikenden Arbeiter geraten«, erinnert er sich später. »Was mich anzog, war ihr Kampf gegen den Krieg, jetzt erst werde ich Sozialist, der Blick schärft sich für die soziale Struktur der Gesellschaft, für die Bedingtheit des Krieges, für die fürchterliche Lüge des Gesetzes, das allen erlaubt zu verhungern und wenigen gestattet, sich zu bereichern, für die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Unvernunft und Blindheit beherrschen die Völker und die Völker dulden ihre Herrschaft, weil sie dem Geist der Vernunft misstrauen, die das chaotisch Planlose dämmen und ordnen und schöpferisch formen könnten. Weil der Mensch organisch wächst, nennt er seine Golems, Wirtschaft und Staat, organische Gebilde, so beschwichtigt er sein schlechtes Gewissen – denn ist er nicht hilflos vor der unfassbaren und undämmbaren Allmacht einer Welt, die den Tod als unentrinnbares Schicksal birgt? Tief in ihm bohrt und nagt die Lebensangst, er liebt die Freiheit, aber er fürchtet sich vor ihr und eher erniedert er sich und schmiedet sich selbst die Knechtfesseln, als dass er wagt, frei und verantwortlich zu schaffen und zu atmen.«[37]

Zum ersten Mal bekommt Ernst die Brutalität des Obrigkeitsstaats am eigenen Leib zu spüren. Die Zellen sind dreckig und voller Ungeziefer. Dutzende von Gefangenen, meist Deserteure, wechseln einander ab, ohne dass die Bezüge der Pritschen erneuert würden. Ernst und die anderen ›Rädelsführer‹ des Streiks werden in Isolationshaft gehalten, sodass sie sich nicht miteinander verständigen können. Auch Besuch dürfen sie keinen empfangen, nicht einmal Anwälte werden zu ihnen durchgelassen. Fast täglich wird er verhört, teilweise unter Folter. Fest entschlossen, die unmenschlichen Haftbedingungen nicht hinzunehmen, tritt Ernst bald darauf in den Hungerstreik.

20. März 1918

Eigentlich hat Erich Mühsam im Gasthaus Zum Goldenen Anker Hausverbot. Aber nun, da die Wortführer der USPD im Gefängnis sitzen, scheint sich darum niemand mehr zu scheren und man hat ihn zu der regelmäßigen Diskussionsrunde eingeladen. Die Runde diskutiert seit Jahren unter der Leitung von Kurt Eisner über den Krieg und eine mögliche Revolution. Es kommen unabhängige Sozialdemokraten, Intellektuelle und kriegsmüde Arbeiterinnen. Die Frauen aus den Rüstungsbetrieben sind verdreckt und übermüdet, sie stinken, ihre Hände und Gesichter sind von der Pikrin-Säure giftig zitronengelb verfärbt und ihre hellgrün gebeizten Haare glänzen vom Aluminiumstaub.[38] Viele von ihnen haben noch Männer oder Söhne im Krieg. »Sie waren eigentlich die Nüchternsten, die Mutigsten«, schreibt der Schriftsteller Oskar Maria Graf, der die Diskussionsrunde ebenfalls regelmäßig besucht. »Sie arbeiteten in den Granatfabriken, waren Straßenbahnschaffnerinnen, schufteten sonst wo und erzählten von ihren Nöten, von den Schwierigkeiten der Agitation unter ihren Kolleginnen, und sie machten Vorschläge.«[39] Bei konservativeren Teilen der USPD wird diese rege Beteiligung der Frauen eher skeptisch beäugt. Ebenfalls wird die Disziplin bei den Diskussionen bemängelt. So gibt es, anders als es sonst bei Parteisitzungen üblich ist, keine Glocke, keine Wortmeldungen und keinen Vorsitzenden.

Alle im Goldenen Anker kennen den anarchistischen Dichter Erich Mühsam und sind gespannt, was der Mann, dem Kurt Eisner Hausverbot erteilt hat, ihnen zu sagen hat. Auch Erich war an der Agitation für den Januarstreik beteiligt gewesen. Nachdem er viele Jahre lang seine politische Tätigkeit auf kleine anarchistische Gruppen beschränkt hat, sucht er nun den Schulterschluss mit der organisierten Arbeiterbewegung. Er steht in Kontakt mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring, Julian Borchardt und Johann Knief von den Bremer Linksradikalen. Auch mit Kurt Eisner hat er versucht zusammenzuarbeiten. Aber der zentristische Sozialist[40] verfolgt eine ganz andere Strategie als der Anarchist. Eisners Hauptstrategie ist der Nachweis der deutschen Schuld am Krieg, durch den er den Kaiser zugunsten einer demokratischen Reichsregierung zum Abdanken zwingen will. Für Erich Mühsam dagegen ist die Schuldfrage sekundär. Er will den Krieg vielmehr durch die revolutionäre Aktion des internationalen Proletariats beenden. Zum offenen Bruch zwischen Mühsam und Eisner kam es jedoch durch ihre gegensätzliche Stellung zur russischen Revolution. Eisner nimmt Partei für Kerenski und die Menschewiki, die zunächst eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie in Russland einführen und den Krieg an der Seite der Alliierten fortsetzen wollten. Mühsam tritt für die Bolschewiki und Lenin ein, die den Krieg möglichst bald beenden und zumindest programmatisch eine sozialistische Revolution in Russland umsetzen wollen. Der Begriff des Bolschewismus steht zu dieser Zeit für Erich allerdings vor allem für die radikale Rätebewegung. Von deren bereits begonnener Unterdrückung durch eine bolschewistische Parteidiktatur ahnt er noch nichts. »Das Wort«, erklärt er später »bezeichnete für uns einfach das Bekenntnis zu der Forderung ›Alle Macht den Räten!‹, die seit der Oktoberrevolution 1917 als die bolschewistische Grundforderung galt und zu der wir Anarchisten alle uns bekannten und noch bekennen.«[41]

Infolge dieses Dissenses ist Eisner mit Mühsam während des Januarstreiks ganz ähnlich verfahren wie Auer mit ihm selbst: Er hat die Direktive ausgegeben, dass dem Anarchisten auf keiner Streikversammlung das Wort erteilt werden dürfe. Nun, da alle wichtigen Protagonisten des Streiks inhaftiert sind, will Erich den Zorn der verbliebenen Aktiven ausnutzen und versuchen, die Bewegung zu radikalisieren. Voll zynischem Pathos trägt er ein von ihm so betiteltes »Kriegslied« vor:

»Sengen, brennen, schießen, stechen,

Schädel spalten, Rippen brechen,

spionieren, requirieren,

patrouillieren, exerzieren,

fluchen, bluten, hungern, frieren …

So lebt der edle Kriegerstand,

die Flinte in der linken Hand,

das Messer in der rechten Hand -

mit Gott, mit Gott, mit Gott,

mit Gott für König und Vaterland.«

Der Lärm in der Spelunke legt sich allmählich. Die meisten Zuhörer hängen bereits gebannt an Erichs Lippen. So auch Hilde Kramer, die sich ebenfalls unter den Zuhörerinnen befindet.