Stoffwechselpolitik - Simon Schaupp - E-Book

Stoffwechselpolitik E-Book

Simon Schaupp

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Beschreibung

Wenn wir die ökologische Krise verstehen wollen, müssen wir die Arbeitswelt verstehen. Denn es ist die Arbeit, durch die Gesellschaften laut Karl Marx ihren Stoffwechsel mit der Natur vollziehen. Arbeitspolitik ist daher für Simon Schaupp stets auch Umweltpolitik – oder »Stoffwechselpolitik«. Dabei spielt die Natur selbst eine aktive Rolle: Je weiter ihre Nutzbarmachung vorangetrieben wird, desto drastischer wirkt sie auf die Arbeitswelt zurück.

Wie produktiv diese Perspektive ist, zeigt der Soziologe an einer Vielzahl historischer Beispiele: Ohne Moskitos sind weder Aufstieg noch Niedergang der Plantagenwirtschaft zu verstehen. Die Durchsetzung der Gewerkschaften wurde unter anderem durch die neuen Machthebel möglich, welche die materiellen Eigenschaften der Steinkohle den Beschäftigten an die Hand gaben. Und auch das Fließband wurde nicht zuletzt deshalb eingeführt, weil sich in frühen Schlachtfabriken infolge von Streiks verwesende Tierkadaver stauten. Soll die Erderwärmung zumindest verlangsamt werden, setzt dies für Schaupp eine Transformation der Arbeitswelt voraus: Wir müssen die Logik der expansiven Nutzbarmachung überwinden und die Autonomie der Natur ernst nehmen.

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Cover

Titel

3Simon Schaupp

Stoffwechselpolitik

Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.

edition suhrkampSonderdruckOriginalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Umschlagabbildung: Charles Rascher, Die Great Union Stock Yards in Chicago, um 1878

eISBN 978-3-518-77934-7

www.suhrkamp.de

Widmung

7Für Ravi

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Einleitung

Stoffwechselpolitik

Das Paradox der Nutzbarmachung

Eine historisch-geografische Soziologie der Arbeit

Aufbau des Buches

1. Ökologische Arbeit

Was ist autonome Natur?

Nutzbarmachung

Re/produktivkräfte

Reaktive Expansion

Ökologischer Eigensinn

2. Differenzielle Nutzbarmachung und die Durchsetzung der Industriearbeit

Krankheitserreger und Arbeitsteilung

Lohnarbeit und Körperpolitik

Die Rolle der Moskitos beim Aufstieg und Niedergang der Sklaverei

Maschinenarbeit und Wasserkraft

Das fossile Imperium

3. Kohle und die Institutionalisierung der Stoffwechselpolitik

Dampfkraft

Bergarbeit

Kohlegewerkschaften

Eisenbahn

Das Kernland des Korporatismus

Textilindustrie

Grenzen der Kohle

Natur als Partei der Stoffwechselpolitik

4. Fleischfabriken und reaktive Expansion

Eisenbahn und Fließband

Differenzielle Nutzbarmachung in der Fabrik

Die Entstehung der Informationsarbeit

Fleisch und Reproduktionspolitik

Kapitalintensive Landwirtschaft

Globalisierte Landwirtschaft

Das Ende der Landarbeit

5. Autoarbeit und der fossile Klassenkompromiss

Umstellung auf Erdöl

Taylorismus und die Körperpolitik der Differenz

Bummelei und wilder Streik

Der fordistische Konsummodus

Der postfordistische Konsummodus

6. Die Nutzbarmachung der Körper

Deindustrialisierung

Reproduktionsarbeit als Nutzbarmachung

Schlanke Produktion

Reproduktionsarbeit und ökologischer Eigensinn

7. Steuerungskräfte: Wissenschaft als Teil des gesellschaftlichen Stoffwechsels

Die Steuerung der differenziellen Nutzbarmachung

Risikogesellschaft in der Fabrik

Systemdenken und globalisierte Natur

Die Resilienz der zweiten Natur

Der ökologische Eigensinn der Wissensarbeit

8. Steuerungsverhältnisse: Finanzialisierung und Beton

Infrastrukturen der Überakkumulation

China: Auslandsinvestitionen in die Klimakrise

Klimaprekarität

Ökologischer Eigensinn auf dem Bau

9. Politiken der Nutzlosigkeit

Expansion in die Nutzlosigkeit

Nutzlose Energie

Zonen der Nutzlosigkeit

Nutzlose Körper

Eine lustvolle Politik der Nutzlosigkeit

Anmerkungen

Einleitung

1. Ökologische Arbeit

2. Differenzielle Nutzbarmachung und die Durchsetzung der Industriearbeit

3. Kohle und die Institutionalisierung der Stoffwechselpolitik

4. Fleischfabriken und reaktive Expansion

5. Autoarbeit und der fossile Klassenkompromiss

6. Die Nutzbarmachung der Körper

7. Steuerungskräfte: Wissenschaft als Teil des gesellschaftlichen Stoffwechsels

8. Steuerungsverhältnisse: Finanzialisierung und Beton

9. Politiken der Nutzlosigkeit

Literatur

Dank

Informationen zum Buch

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Es ist noch dunkel, als am frühen Morgen des 1. November 2022 rund hundert Bauarbeiter mit Gewerkschaftsfahnen das Gelände stürmen, auf dem in Aarau das neue Kantonsspital errichtet wird. Sie durchbrechen die Absperrungen, ziehen durch alle Ecken des Areals und fordern die Beschäftigten auf, die Arbeit niederzulegen. Danach fahren sie nach Basel, wo sie auf über tausend weitere Kollegen treffen, von denen viele von ähnlichen Aktionen kommen. Gemeinsam protestieren sie gegen einen Vorstoß der Arbeitgeber, die auf Schweizer Baustellen den Zwölfstundentag und die 58-Stunden-Woche ermöglichen wollen. Die Unternehmen erklären, infolge des Klimawandels habe die Branche zunehmend mit Unsicherheiten zu kämpfen. Insbesondere würden die Projekte immer häufiger durch Extremwetter wie Hitzewellen oder Stürme unterbrochen. Das erfordere eine flexiblere Organisation und vor allem eine Ausweitung der Arbeitszeit an den Tagen, an denen die Baustellen normal betrieben werden können. Der Konflikt dreht sich also darum, wie das Gewerbe auf die Auswirkungen der Erderwärmung reagieren soll. Aus Sicht der Unternehmen sollen die Beschäftigten die Kosten für die Krise tragen, indem sie flexibler und länger arbeiten. Die Beschäftigten wiederum pochen darauf, dass ihnen an Tagen, an denen nicht gearbeitet werden kann, bezahlte Freistellungen zustehen. »Am Schluss geht es um die Frage, wer zahlt den Klimawandel bei uns auf dem Bau: wir oder die Meister«, stellt einer der Demonstrierenden trocken fest.

Solche Konflikte zeigen, dass die Erderwärmung und die breitere ökologische Krise1 immense Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben. Klimaschutzmaßnahmen spielen hier natürlich ebenfalls eine Rolle. Die Umstellung auf erneuerbare Energien beispielsweise bedeutet zunächst eine Deindustrialisierung: Arbeitsplätze in fossilen 10Branchen wie der Kohleförderung und der herkömmlichen Automobilindustrie sollen aufgegeben und durch neue Jobs in Bereichen wie Elektromobilität oder im Dienstleistungssektor ersetzt werden.

Andersherum ist die Arbeitswelt eine der wichtigsten Ursachen der ökologischen Krise. So sind etwa die sechs Schweizer Zementwerke für über fünf Prozent der nationalen CO2-Emissionen verantwortlich. Weltweit verursacht die Zementproduktion mehr CO2 als der Flugverkehr. In Deutschland entstehen zwei Drittel aller Emissionen in der Arbeitswelt. Aber auch die privat konsumierten Güter und Dienstleistungen, die das letzte Drittel ausmachen, müssen zuvor – durch Arbeit – hergestellt werden.

Über die weithin bekannten umweltschädlichen Auswirkungen der modernen Arbeitswelt hinaus ist das, was wir als »Natur« bezeichnen, wesentlich Produkt unserer Arbeit. Das gilt nicht nur für symmetrisch bepflanzte Parks, sondern auch für fast alle Wälder und Wiesen, die durch land- und forstwirtschaftliche Eingriffe gestaltet und erhalten werden. Es gilt für die Ozeane und ihre Ökosysteme, die wir durch Fischerei, Abfallentsorgung und viele andere Prozesse in ihrer Zusammensetzung radikal verändert haben. Es gilt für all die Pflanzen und Tiere, deren Evolution wir durch Zucht der Verwertbarkeit angepasst oder deren Existenzbedingungen wir durch unsere Arbeit zerstört haben.

In diesem Sinne können wir von ökologischer Arbeit sprechen. Damit ist freilich keine »nachhaltige« Form der Arbeit gemeint, sondern ihr inhärenter Naturbezug und damit ihre umweltpolitische Zentralität. Bei vielen Tätigkeiten geht es unmittelbar um eine Transformation von Natur – nicht nur in der Landwirtschaft, sondern überall da, wo natürliche Rohstoffe verbraucht oder umgewandelt werden. Auch die Arbeit mit Menschen, etwa im Gesundheits- oder Bildungssystem, kann als eine Transformation des menschlichen Körpers und Geistes und damit im weiteren Sinne als eine Transformation von Natur verstanden werden. Sogar die scheinbar »immateriellen« Formen der digitalisierten Büroarbeit sind auf Naturstoffe 11angewiesen, wie jüngst der Mangel an Halbleitern deutlich machte. Und schließlich können alle Menschen ihr Überleben nur mit natürlichen Ressourcen sichern. Beschäftigte greifen mit ihrem Einkommen auf diese Ressourcen zu, etwa beim Kauf von Lebensmitteln. Die Güter und Dienstleistungen, die in den Arbeitsprozess einfließen, verursachen ebenfalls Abfälle oder Emissionen, sowohl bei der Produktion als auch beim Verbrauch. Während ein Teil davon erneut in den Kreislauf von Produktion und Konsum eingespeist wird, wirkt der Rest als »Umweltverschmutzung« auf die Natur zurück. Das löst wiederum unintendierte Folgen aus, die dann Einfluss auf die Arbeitswelt haben. Besonders drastisch zeigt sich dies etwa, wenn die Coronapandemie die Weltwirtschaft lahmlegt oder wenn die Klimakrise kontinuierlich die biophysikalische Ebene der Produktion unterminiert. Arbeit kann dabei mit Karl Marx verstanden werden als der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur.2 Arbeit und Natur stehen in einem Verhältnis unauflöslicher Wechselwirkungen zueinander. Damit wird die Arbeit zu einem zentralen Ort für die Entstehung der ökologischen Krise – und möglicherweise auch für ihre Überwindung.

Das ist ein im doppelten Wortsinne unmoderner Zugang zur ökologischen Krise. Natur gilt im modernen Denken als das Gegenteil von Arbeit. Natur, das ist unberührte grüne Landschaft. Natur ist dort, wo nichts gebaut wurde. Natur ist, wo wir hingehen, um uns von unserer Arbeit zu erholen.3 Im zweiten Sinne unmodern ist der Zugang, weil er die Ursachen der ökologischen Krise nicht in der Sphäre des Konsums verortet, über die wir bei diesem Thema meist sprechen: Wir reden über die Abholzung von Regenwäldern infolge unserer Vorliebe für Fleisch oder für Süßigkeiten auf der Basis von Palmöl. Wir reden über die Umweltsiegel der Produkte in Bio- und Eine-Welt-Läden. Wir reden über die CO2-Emissionen unserer Autos und unserer Flüge. Auch die populären Metriken spiegeln die Gleichsetzung von Umweltzerstörung und Konsum wider: Der »ökologische Fußabdruck« rechnet jede Form der Umweltzerstö12rung in individuelle Konsumakte um. Für jede Flächenversiegelung, jeden gerodeten Baum und jede Tonne CO2 können mittels dieser Darstellung bestimmte Konsumentinnen verantwortlich gemacht werden.

Das hat entscheidende Vorteile, zeigen diese Metriken doch sehr anschaulich auf, wie ungleich die Verantwortung für die Umweltzerstörung ausfällt. Dem »ökologischen Fußabdruck« etwa liegt die Maßeinheit des »globalen Hektars« zugrunde. Ausgangspunkt ist die natürliche Biokapazität der Erde, also ihre Fähigkeit, biologisch nutzbringendes Material hervorzubringen und von Menschen produzierten Abfall aufzunehmen. Diese Kapazität umfasst Produktionsflächen wie Acker- und Weideland, Fischgründe, bebautes Terrain, aber auch Wälder oder Moore, die CO2-Emissionen binden. In Deutschland liegt der durchschnittliche Flächenverbrauch pro Kopf bei knapp fünf globalen Hektar, in Eritrea bei 0,4. Würden alle Menschen so leben wie die Deutschen, bräuchten wir drei Erden. Berechnungen auf Grundlage des CO2-Fußabdrucks zeigen, dass die zehn reichsten Prozent der Weltbevölkerung für die Hälfte der Emissionen verantwortlich sind. Solche Zahlen relativieren die Ansicht, dass »die Menschheit« die ökologische Krise verschuldet hat, und unterstreichen, dass sich die Verantwortung auf eine vergleichsweise kleine Gruppe konzentriert. Die Berechnungen machen außerdem sichtbar, dass ein kleiner ökologischer Fußabdruck nur wenig mit dem zu tun hat, was wir uns üblicherweise unter einem nachhaltigen Lebensstil vorstellen. So würde uns der Lebenswandel einer Person, die sich kein Auto leisten kann und sich mit anderen eine kleine Wohnung teilt, nicht unbedingt als besonders nachhaltig auffallen. Dabei sind es genau diese Faktoren – und nicht etwa der Kauf biozertifizierter Kleidung –, die den Abdruck klein halten.

Allerdings verstellt die enge Verknüpfung von Umweltzerstörung und Konsum auch den Blick auf einige überaus wichtige Aspekte. Tatsächlich stammt der Großteil des Treibhausgas-Ausstoßes nicht von Privathaushalten, sondern von Unternehmen – und zwar von 13überraschend wenigen: 100 Unternehmen sind für 71 Prozent der Emissionen seit 1988 verantwortlich.4 In Bezug auf Einzelpersonen hat der französische Ökonom Lucas Chancel herausgearbeitet, dass 70 Prozent der Emissionen des reichsten Prozents der Menschheit ihren Ursprung in den Investitionen und nicht im Konsum dieser Reichen haben.5 Bei seinen Berechnungen geht Chancel davon aus, dass Personen nicht nur für das CO2 verantwortlich gemacht werden können, das etwa dem Auspuff ihrer Autos entweicht, sondern auch für jenes, das aus den Schloten von Kohlekraftwerken strömt, die sie mit ihren Investitionen finanzieren.

Diese Überlegung zeigt, dass wir neben dem Konsum auch die Macht über ökonomische Entscheidungen mit einbeziehen sollten, wenn wir über ökologische Verantwortung nachdenken. Alle Waren sind, bevor wir sie kaufen können, bereits durch sehr viele Hände gegangen. An jeder dieser Stationen werden umweltrelevante Entscheidungen getroffen, von denen die zum Konsum nur die allerletzte ist. Bevor beispielsweise das Benzin in unseren Pkws landet, entscheiden Geologinnen über die Erschließung von Ölvorkommen, entscheiden Bohrinsel- und Pipeline-Firmen über den Auf- und Ausbau von Infrastrukturen, entscheiden Regierungen über Fördermengen, Unternehmensvorstände über Raffinerietechniken, Tankstellenbetreiberinnen über Preise und so weiter. Die Auswahl, die wir an der Zapfsäule oder im Supermarkt haben, wird also durch eine lange Kette von Vorentscheidungen beschränkt.6

Wenn wir diese Dimension der Macht im Produktionsprozess berücksichtigen, müssen wir sogar noch über den in Chancels Berechnungen implizierten eigentumsbasierten Verantwortungsbegriff hinausgehen. Umweltrelevante Entscheidungen werden in Unternehmen schließlich nicht nur – und vielleicht nicht einmal in erster Linie – von Kapitaleignerinnen gefällt, weshalb wir auch die Manager einbeziehen müssen, die für die strategischen Planungen zuständig sind. In Chancels Variante würden die Entscheidungen einer angestellten Führungskraft nicht in ihren ökologischen Fußabdruck einfließen. 14Der Manager eines globalen Ölkonzerns, der mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt und nicht in den Urlaub fliegt, würde also sehr gut wegkommen, selbst wenn er täglich den Ausbau der fossilen Infrastruktur vorantreibt.

Während Manager eine besonders exponierte Verantwortungsposition innehaben, sind jedoch stets die Arbeitenden die primären Akteure der Transformation von Energie und Materie. Es ist vor allem die Arbeit, die unsere Umwelt, zum Guten wie zum Schlechten, hervorbringt. Wenn wir die Ursachen der ökologischen Krise verstehen wollen, müssen wir deshalb die Arbeitswelt, die dem Konsum stets vorgelagert ist, ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken. Das ist der Grund, warum Arbeit in diesem Buch nicht nur als Prozess der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen auftaucht. Vielmehr wird sie als ein Feld mehr oder weniger konfliktreicher politischer Aushandlungen gefasst. Solche Aushandlungen finden nicht nur zwischen politischen Akteuren wie Ministern, Gewerkschafterinnen und Vertretern von Unternehmerverbänden statt, sondern auch im Arbeitsprozess selbst.

Stoffwechselpolitik

Eine solche politische Perspektive auf die Arbeit bietet etwa das von Soziologen wie Michael Burawoy entwickelte Konzept der Produktionspolitik.7 Diesem Ansatz verpflichtete Analysen verstehen die Arbeitswelt als das Resultat politischer Aushandlungen sowohl innerhalb der Unternehmen als auch auf der Ebene der institutionellen Regulation. Die ökologische Krise ist zu einem großen Teil das Ergebnis produktionspolitischer Entscheidungen. Dennoch wirkt sie sich auf alle Sphären des menschlichen Zusammenlebens aus – und trifft diejenigen am härtesten, die am wenigsten für sie verantwortlich sind. Umgekehrt haben die meisten Versuche, die ökologische Krise zu regulieren, ihren Ausgangspunkt nicht im Bereich der Pro15duktionspolitik, berühren aber dennoch deren Kernfragen wie die Kaufkraft der Beschäftigten oder die Verfügbarkeit von Industriearbeitsplätzen.

Allerdings spielt in Analysen der Produktionspolitik Natur bislang quasi keine Rolle. Stattdessen wird von einem klar abgegrenzten System der industriellen Beziehungen ausgegangen, in dem institutionalisierte Akteure wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Ministerien nach festgelegten Regeln über Löhne, Arbeitszeiten und Schutzvorschriften verhandeln. Natur kommt dabei maximal als »Kontext« vor. Spätestens in Zeiten der Klimakrise wird ein solches Verständnis problematisch. Die Krise entwickelt eine Dynamik, die, in den Worten von Naomi Klein, »alles verändert« und daher nicht angemessen als statischer Kontext behandelt werden kann.8

Wie wir im Laufe dieses Buches ausführlich sehen werden, nimmt die Natur diese prominente Rolle in der Produktionspolitik nicht erst seit der Coronapandemie oder der Zuspitzung des Klimawandels ein. Vielmehr ist sie von jeher auf allen Ebenen ein wichtiger Faktor, vom Arbeitsprozess über kollektive Verhandlungen bis hin zur Politik von Unternehmerverbänden und zu gesetzlichen Regelungen. Das Fehlen der Natur war also schon immer ein Fehler. Die sich verschärfende ökologischen Krise macht eine Revision dieses Fehlers nur besonders dringlich.

Das bedeutet, dass Umweltfragen in Analysen der Produktionspolitik nicht mehr ignoriert werden können, da sie nun selbst Gegenstand der Aushandlungen sind. Daher ist es nicht länger möglich, die Produktionspolitik von der Umweltpolitik zu trennen, weshalb es angemessener erscheint, von Stoffwechselpolitik zu sprechen. Dieser Begriff verweist auf den Umstand, dass die Regulation der Arbeit und der Natur stets untrennbar miteinander verbunden sind. Unter Stoffwechselpolitik fallen demnach etwa Klimaschutzmaßnahmen, die Umstellungen in der Arbeitswelt nach sich ziehen, aber auch Produktivitätssteigerungen durch den Einsatz fossiler Energien, welche sich ihrerseits auf die natürliche Umwelt auswirken.

16Die Stoffwechselpolitik vollzieht sich nicht nur in den Arenen der politischen Regulation, sondern vor allem im Arbeitsprozess selbst, bei dem es in erster Linie um eine Nutzbarmachung der Natur geht: Böden werden in Äcker verwandelt, Pflanzen und Tiere zu höheren Erträgen gezüchtet, Flüsse kanalisiert und die natürliche Energie von Wind, Wasser oder Kohle so eingefangen, dass unsere Arbeit erleichtert wird. Dieser Prozess der Nutzbarmachung ist heute so weit vorangeschritten, dass uns die Natur in ihrer Gesamtheit als eine Ansammlung von »Ökosystemdienstleistungen« erscheint. In vielen Fällen bedeutet diese Subsumption der Natur unter die Prämissen der Arbeit jedoch eine Vernutzung. Spätestens seit CO2-Emissionen inhärenter Bestandteil unserer Produktionsweise geworden sind, betrifft diese Vernutzung selbst die entlegensten Ökosysteme des Planeten. Der prominente Umweltaktivist Bill McKibben hat deshalb bereits 1989 das »Ende der Natur« verkündet.9

Damit setzt McKibben die Veränderung der Natur mit deren Eliminierung gleich. Tatsächlich ist die Natur jedoch nicht nur passives Objekt der Stoffwechselpolitik. Das zeigt sich in ökologischen Krisen besonders deutlich. Die Abholzung von Wäldern und die industrielle Tierhaltung sind beispielsweise zu wichtigen Faktoren in der Evolution von Bakterien und Viren geworden. Dadurch haben sie wohl zur Entstehung des Coronavirus beigetragen, das wiederum die Arbeitswelt maßgeblich verändert hat. Aber auch jenseits solcher Katastrophen haben alltägliche Naturprozesse, wie im Verlauf dieses Buchs ausführlich sichtbar werden wird, die Entwicklung der Arbeit wesentlich vorangetrieben. Wir können daher von einer relativen Autonomie der Natur in der Stoffwechselpolitik ausgehen.

17Das Paradox der Nutzbarmachung

Paradoxerweise ist es gerade die zunehmende Nutzbarmachung der Natur, die deren Autonomie im Zuge ökologischer Krisen in den Vordergrund rückt. Klimawandel, Pandemien, Biodiversitätsverlust, Bodendegradation usw. sind Resultate der verschiedenen Strategien zur Nutzbarmachung der Natur und schränken ihrerseits die Nutzbarkeit der Natur drastisch ein. Je stärker der Mensch die Natur im Laufe seiner Geschichte geprägt hat, desto intensiver wirkt die Natur auf sein Leben zurück. In der so entstehenden »Risikogesellschaft« kann laut dem Soziologen Ulrich Beck »Natur nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft nicht mehr ohne Natur begriffen werden«.10

In besonderem Maße gilt dies für die Arbeitswelt, da sie der Ort ist, an dem Natur nutzbar gemacht wird: Wie wir in den Kapiteln 3 und 5 ausführlich sehen werden, sind fossile Energieträger ein zentrales Mittel der Nutzbarmachung. Erst sie haben es ermöglicht, den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur so weit zu beschleunigen, dass heute ein großer Teil der Welt in materiellem Überfluss lebt. Gleichzeitig ist das Verbrennen von Kohle und Erdöl bekanntlich die zentrale Ursache des Klimawandels. Dieser wiederum wird von uns gerade deshalb als existenzielle Krise erfahren, weil er die Nutzbarkeit der Natur unterminiert: Ackerland erodiert, Städte werden überflutet, Spezies, die für unser Überleben zentral sind, sterben aus. Neben diesen täglich in den Nachrichten verkündeten Auswirkungen auf die äußere Natur beeinträchtigt die Erderwärmung aber auch die Nutzbarkeit unserer Körper. Eine aktuelle Berechnung geht davon aus, dass sich die globale Arbeitsproduktivität bei einem Temperaturanstieg um drei Grad in Sektoren mit geringer Exposition um 18 Prozent und in Sektoren mit hoher Exposition um ca. 25 Prozent reduzieren wird.11 Das heißt, es muss zwischen 18 und 25 Prozent mehr Arbeit geleistet werden, um dasselbe Ergebnis zu erzielen.

Das oben zitierte Beispiel der Bauarbeit veranschaulicht den Prozess auf einer konkreteren Ebene: Der für die Branche zentrale Werk18stoff ist der Beton. Beton ermöglicht es, Gebäude nicht mehr nur aus hochwertigen Steinen oder aufwendig hergestellten Ziegeln zu errichten, sondern aus den in schier endlosen Mengen verfügbaren Grundstoffen Sand und Kies. Gleichzeitig ist die Betonproduktion jedoch eine der wichtigsten Quellen von CO2-Emissionen und trägt damit wesentlich zum Klimawandel bei (siehe Kapitel 8). Dieser wiederum hat bereits jetzt massive Auswirkungen auf die Branche: Bauarbeiter gehören neben Landwirtinnen zu den Berufsgruppen, die bei ihrer Tätigkeit am stärksten von der Erderwärmung betroffen sind; infolge von Hitzestress sinkt ihre Produktivität deutlich. Zusätzlich erschweren häufige Extremwetterereignisse die Planbarkeit der Projekte. Darauf reagieren die Unternehmen, wie wir oben gesehen haben, mit einer Ausweitung der Arbeitszeit. Genau darin besteht das Paradox der Nutzbarmachung: Je weiter die Nutzbarmachung von Arbeit und Natur voranschreitet, desto mehr gesellschaftliche Arbeit muss in diese Nutzbarmachung investiert werden.

Die Autonomie der Natur hat also nicht unbedingt einen emanzipativen Charakter: Sie manifestiert sich vor allem in Naturkatastrophen, die immenses menschliches Leid verursachen und nur aus einer dezidiert misanthropen Haltung heraus als ökologische Hoffnung interpretiert werden können. Die transformative Handlungsfähigkeit verbleibt demnach beim Menschen. Im Kontext dieses Buches ist dabei freilich besonders relevant, unter welchen Bedingungen Menschen bei der Arbeit eine solche transformative Handlungsfähigkeit entwickeln können.

In ihrer Praxis eignen sich Arbeitende ein spezifisches Wissen über die Autonomie der Natur an. Dabei handelt es sich weniger um ein abstrakt-wissenschaftliches als vielmehr um ein verkörpertes Erfahrungswissen. Notwendig ist dieses Wissen erstens, um Naturrisiken, etwa gefährliches Terrain oder bedrohliches Wetter, frühzeitig zu erkennen. Zweitens ist Wissen über die Autonomie der Natur funktionale Voraussetzung dafür, den Arbeitsprozess effektiv ausführen zu können. Drittens kann dieses Umweltwissen aber auch 19ein wichtiger Bestandteil politischer Praktiken sein, die durch Naturprozesse verstärkt oder überhaupt erst ermöglicht werden. Im Laufe dieses Buches wird es etwa um afrikanische Sklavinnen und Sklaven in der Karibik gehen, die sich ihre Kenntnisse über von Moskitos übertragene Krankheiten bei Aufständen zunutze machten. Es wird um Arbeiter in den Schlachtfabriken von Chicago gehen, deren spontane Kurzstreiks nur deshalb Wirkung erzielten, weil sich geschlachtete Tierkadaver aufstauten, so dass das Fleisch innerhalb kurzer Zeit verfaulte – was wiederum massive ökonomische Schäden bedeutete. Vor diesem Hintergrund kann von einem ökologischen Eigensinn der Arbeitenden gesprochen werden. Die Autonomie der Natur und die Autonomie der Arbeit stehen in einem engen Zusammenhang.

Im Zuge der ökologischen Krise richtet sich dieser Eigensinn teilweise auch gegen die destruktive Organisation der Arbeit selbst. So werden wir in Kapitel 6 nachverfolgen, wie sich kanadische Pflegerinnen während der Coronapandemie für die Rekommunalisierung der Gesundheitsversorgung einsetzten. Nachdem die Einrichtungen privatisiert worden waren, hatten sich nicht nur die Arbeitsbedingungen verschlechtert, die einzelnen Beschäftigten wurden nun auch häufig in mehreren Heimen oder Krankenhäusern eingesetzt. Dadurch stieg nicht nur für sie selbst das Infektionsrisiko, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Virus zwischen den Einrichtungen verbreiteten. Der erfolgreiche Kampf für eine Rekommunalisierung trug zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Eindämmung der Pandemie bei. Den Möglichkeiten und Grenzen eines solchen transformativen ökologischen Eigensinns nachzugehen ist ein zentrales Anliegen dieses Buches.

20Eine historisch-geografische Soziologie der Arbeit

Die ökologische Krise lässt sich nur mit einer transdisziplinären Herangehensweise verstehen. Wie etwa Dipesh Chakrabarty dargelegt hat, verlangt sie nach einer Perspektive, die die Wirkmächtigkeit natürlicher Prozesse ernst nimmt. Deshalb wirbt der indische Historiker dafür, sich den Erdsystemwissenschaften und ihrem Begriff des »Anthropozäns« zuzuwenden. Dieser unterstreicht einerseits, dass der Mensch als Spezies zu einer geologischen Kraft geworden ist. Andererseits spielt der Mensch in diesen Disziplinen nur eine Nebenrolle – im Zentrum stehen erdgeschichtliche Vorgänge, die sich in Zeiträumen vollziehen, für die die Geschichte unserer Spezies kaum ein Wimpernschlag ist.12 In diesem Sinne spielt die Autonomie der Natur im Folgenden eine zentrale Rolle.

Alf Hornborg und Andreas Malm haben jedoch gezeigt, dass es für ein politisches Verständnis der Ursachen und möglichen Auswege aus der Krise nicht ausreicht, diese als »anthropogen«, also menschengemacht, auszuweisen. Gegen Theorien des »Anthropozäns« argumentieren sie, dass die Spezies Mensch weder als einheitliches Subjekt für den Zustand der Erde verantwortlich ist noch als einheitliches Objekt darunter leidet. Eine solche Sichtweise verhindere nicht nur die Einsicht in die differenzielle Betroffenheit der Menschen durch die Erderwärmung, sondern auch die Erkenntnis, welche konkreten sozialen Beziehungen und Institutionen in die Krise geführt haben.13

Für ein Verständnis der gesellschaftlichen Ursachen ist daher eine soziologische Perspektive notwendig. Besonders vielversprechend ist dabei ein arbeitssoziologischer Ansatz, da die Arbeit nun einmal der Ort des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur ist. Für die Soziologie wiederum stellt der wesentlich kumulative Charakter der ökologischen Krise eine Herausforderung dar, entfaltet die expansive Nutzbarmachung ihre Destruktivität doch erst über sehr lange Zeiträume, man denke an die kontinuierlich Zunahme der CO2-Konzen21tration in der Atmosphäre. Zudem muss gleichermaßen von einer Kette vergangener Ursachen wie von einer Kette zukünftiger Wirkungen ausgegangen werden. Die Soziologie hat sich aber im Laufe ihrer Institutionalisierung, wie etwa Norbert Elias kritisierte, fast vollständig auf die Gegenwart zurückgezogen.14 Doch nur eine sozialgeschichtliche Herangehensweise erlaubt es, jene Dynamiken zu rekonstruieren, die in die aktuelle unnachhaltige Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels geführt haben. Eine solche Rekonstruktion ist allerdings notwendig, um den Mythos zu überwinden, die ökologische Krise sei das Resultat der »Natur des Menschen«, eine Lesart, die nur zwei politische Schlussfolgerungen zulässt: entweder die melancholische Akzeptanz der Katastrophe oder misanthrope Visionen der Bevölkerungsreduktion. Demgegenüber gehe ich davon aus, dass sich konkrete politische Prozesse identifizieren lassen, welche die gegenwärtige destruktive Form des Stoffwechsels hervorgebracht haben – und dass wir nicht, wie Chakrabarty meint, durch »Koinzidenzen und historische Zufälle« in die Krise »hineingestolpert« sind.15 Nur eine solche politische Perspektive auf den gesellschaftlichen Stoffwechsel ermöglicht es, ihn anders zu gestalten.

Die Ursachen der ökologischen Krise sind jedoch nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich verteilt. Die globalen Ökosysteme stehen in komplexer Wechselwirkung zueinander, was etwa zu den gefürchteten Kaskadeneffekten führt, bei denen der Ausfall eines Systems viele weitere destabilisiert. Das wiederum bedeutet, dass Ursache und Wirkung geografisch sehr weit auseinanderliegen können. In diesem Sinne muss unsere Perspektive notwendig nicht nur einen großen Zeitraum, sondern auch verschiedene Regionen umfassen. Der Fokus des Buches liegt zunächst auf den frühindustrialisierten Staaten wie Großbritannien, Deutschland und den USA. Damit soll keineswegs der Eurozentrismus der Forschung zu den industriellen Beziehungen unkritisch fortgesetzt werden.16 Stattdessen sind diese Länder in Bezug auf die Ursprünge der Krise schlicht besonders relevant.17 Außerdem ist hier die Verdrängung der ökologischen Grund22lagen des Wirtschaftens besonders weit fortgeschritten: Während in Analysen der Arbeit im globalen Süden Natur stets eine recht prominente Rolle spielt, insbesondere im Zusammenhang mit verschiedenen Formen der Subsistenzlandwirtschaft,18 ist in den meisten Analysen im globalen Norden das Gegenteil der Fall. Um diese Leerstelle zu füllen, steht hier die Wechselwirkung zwischen Arbeit und Natur in den frühindustrialisierten Ländern im Fokus. Gleichzeitig wird aber die koloniale und postkoloniale Dimension dieser Wechselwirkung betont. Eine solche breite Herangehensweise bedeutet allerdings auch, dass die untersuchten Prozesse nicht im klassisch geschichtswissenschaftlichen Sinne rekonstruiert werden können. Ihre Nuancen und Widersprüchlichkeiten ausreichend zu vertiefen würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Stattdessen zielt die Darstellung auf ein gesellschaftstheoretisches Verständnis des Stoffwechsels und seiner Krisenhaftigkeit ab.19

Schließlich weicht dieses Buch auch deutlich von theoretischen Konventionen der Soziologie (einschließlich der »Umweltsoziologie«) ab. Während frühe Vertreter die ökologische Dimension von Gesellschaft durchaus berücksichtigten, schloss sich die Disziplin ab dem 20. Jahrhundert der Ideologie einer Emanzipation von der Natur an bzw. produzierte diese selbst mit. »Umwelt« erscheint dann nur noch als diskursives Konstrukt relevant.20 Im Falle der Arbeitssoziologie ist diese Verdrängung, die mit dem Bedeutungszuwachs der Dienstleistungs-, Wissens-, Emotions- oder Informationsarbeit sogar noch weiter vorangeschritten ist, besonders fatal. Teils wird sogar explizit behauptet, die Arbeit im globalen Norden sei nunmehr wesentlich »immateriell«.21

Im Zuge der ökologischen Krise werden Fragen der Nachhaltigkeit zwar durchaus wichtiger für das Fach. Dabei geht es jedoch erstaunlicherweise fast nie um die Auswirkungen von Naturprozessen, sondern in klassisch soziologischer Manier vor allem um »Transformationskonflikte«, etwa im Zuge des Verlusts umweltschädlicher Industriearbeitsplätze.22 Demgegenüber soll hier einerseits gezeigt wer23den, dass Natur an allen wichtigen Abzweigungen in der Geschichte der industrialisierten Arbeit eine entscheidende Rolle gespielt hat. Andererseits möchte ich die zentralen Mechanismen der Wechselwirkung zwischen Arbeit und Natur offenlegen, die für eine Bearbeitung der ökologischen Krise so wichtig sind, aber dennoch systematisch verdrängt werden. Dieses Buch beabsichtigt also, wenn man so will, eine historisch-geografische Soziologie der Arbeit.

Der Gegenstand ist dabei die »ökologische Arbeit«, also diejenigen Prozesse, die der Natur ihre Form geben. Zuallererst ist dies die industrielle Arbeit, da keine andere Aktivität die Natur weitreichender transformiert. Dabei gehe ich von einem weit gefassten Industriebegriff aus, der neben den klassischen Branchen Metall, Textil und Chemie auch den Bergbau und die industrialisierte Land- und Viehwirtschaft einschließt. Die Arbeit in diesen Bereichen soll aber gerade nicht – wie in der klassischen Arbeits- und Industriesoziologie – getrennt von ihren Reproduktionsbedingungen untersucht werden. Meine Ausführungen basieren im Gegenteil auf der Annahme, dass die Abspaltung der reproduktiven von den produktiven Tätigkeiten eine, wenn nicht die zentrale Ursache der ökologischen Krise ist.23 Darüber hinaus stellen reproduktive Tätigkeiten in Gesundheitswesen, Erziehung oder Bildung einen wichtigen Teil der Nutzbarmachung dar: die Nutzbarmachung der menschlichen Körper. Menschen werden schließlich nicht als Arbeitskräfte geboren und wären als solche ohne entsprechende Reproduktionsarbeit auch nicht dauerhaft einsetzbar. Die damit verbundene Transformation ihrer Körper ist ein für die Stoffwechselpolitik überaus relevanter Teil der Transformation von Natur. Deshalb bilden die im Zusammenhang mit der Industriearbeit stehenden reproduktiven Tätigkeiten und ihre Abspaltung von der Sphäre der Produktion einen zweiten Schwerpunkt des Buches.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Geschichte der industrialisierten Arbeit hier auf eine Weise neu erzählt werden soll, die es erlaubt, der Rolle der Natur gerecht zu werden. Da sich 24die Dynamiken der verschiedenen Stoffwechselpolitiken aus einer historisch aggregierenden Vogelperspektive kaum erschließen lassen, werden sie hier vor allem in Form von Schlaglichtern auf einzelne Beispiele wie etwa die Schlachtfabriken von Chicago oder den Ruhrbergbau rekonstruiert. Diese Schlaglichter werden dann an den historischen Kontext rückgekoppelt, aus dem sich ihre Bedeutung ergibt.

Aufbau des Buches

Das folgende Kapitel geht zunächst der keineswegs trivialen Frage nach, was überhaupt unter »Natur« verstanden werden kann. Ich argumentiere für einen negativen Begriff von Natur, der alles umfasst, was unabhängig von menschlicher Intention, Kontrolle, Manipulation oder Intervention existiert und fortbesteht. Auf dieser Basis entwickle ich meine zentralen Analyseheuristiken, nämlich die Begriffe Nutzbarmachung, Re/produktivkräfte und ökologischer Eigensinn.

Wer weniger an sozialwissenschaftlicher Theoriebildung als an der Geschichte der ökologischen Arbeit selbst interessiert ist, kann die Lektüre auch mit Kapitel 2 beginnen. Darin rekonstruiere ich die Naturprozesse, die zur Entstehung der industriellen Arbeit beigetragen haben. Ich gehe der Rolle von Krankheitserregern beim Aufstieg und Niedergang der Sklaverei nach, untersuche die körperlichen Voraussetzungen der Lohnarbeit und skizziere den Einfluss der Wasserkraft auf den Verlauf der frühen Industrialisierung. Im Mittelpunkt steht dabei das Handelsimperium der Hamburger Familie Schimmelmann, deren Reichtum durch eine einmalige Kombination von Leibeigenschaft, Sklaverei und Lohnarbeit erwirtschaftet wurde. Anhand dieses Falls wird deutlich, dass die Nutzbarmachung von Arbeit und Natur nie homogen verlief, sondern stets eine differenzielle Nutzbarmachung war.

25Das dritte Kapitel erklärt, wie sich die politischen Institutionen der modernen Arbeitswelt aus der spezifischen Konstellation der frühen kohlebasierten Ökonomie heraus entwickelten. Der Fokus liegt dabei auf dem Steinkohlebergbau an der Ruhr. Die materielle Konfiguration in den Gruben war ein wichtiger Faktor für die Entstehung dessen, was wir heute als proletarische Subkultur bezeichnen würden. Die kohlebetriebene Industrialisierung führte zu einer Intensivierung der Arbeit, teilweise bis hin zu einer Gefährdung der sozialen Reproduktion selbst. Die neue Abhängigkeit der Ökonomien von der Kohle bedeutete aber zugleich einen historisch vollkommen neuen Hebel für Gegenmacht von unten, den die frühen Gewerkschaften sich geschickt zunutze machten. Das Wissen um die fundamentale Rolle dieses Energieträgers war zugleich ein wesentlicher Grund, warum sich in diesem Sektor die ersten Arbeitgeberverbände und die ersten Formen des Korporatismus entwickelten.

In Kapitel 4 befasse ich mich mit der Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Mein zentrales Beispiel sind die Fleischfabriken von Chicago, wo erstmals das Fließband zur Rationalisierung der Arbeit genutzt wurde. Daraus entstanden Organisationen von einer bislang ungekannten Komplexität, was sie wiederum besonders anfällig für die Widerspenstigkeit von Natur und Arbeit machte, worauf die Arbeitgeber paradoxerweise reagierten, indem sie noch einmal expandierten. Ermöglicht wurde die neue Ausdifferenzierung durch einen explosionsartigen Anstieg der landwirtschaftlichen Produktivität, unter anderem infolge des Einsatzes von synthetischem Dünger.

Die radikale Transformation des landwirtschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur brachte eine neue soziale Gruppe hervor, die im fünften Kapitel eine Hauptrolle spielt: die industriellen Massenarbeiter, insbesondere der Automobilkonzerne. In kurzer Frist hatten deren militante Kämpfe das Potenzial, die europäischen Ökonomien aus den Angeln zu heben. Gleichzeitig produzierten sie jedoch mit dem Auto die Manifestation eines neuen Klassenkompromisses. 26Durch diesen Kompromiss, für den symbolisch der Volkswagenkonzern steht, gelang es, die sozialen Konflikte weitgehend zu entschärfen – vor allem dank der Verfügbarkeit billigen Erdöls.

Der plötzliche Wegfall der billigen fossilen Energie im Zuge der globalen »Ölkrise« stellte, wie wir in Kapitel 6 sehen werden, einen weiteren Wendepunkt dar. Nun begann der Niedergang der Gewerkschaften und der Aufstieg der »schlanken« Produktionsmethoden. Die daraus folgende intensivere Vernutzung der Arbeitskraft beförderte die Entstehung eines neuen Spektrums professioneller Reproduktionstätigkeiten. Doch auch diese Care-Arbeit selbst wurde den neuen Rationalisierungsmethoden der »schlanken« Arbeitswelt unterworfen, was die Resilienz der Gesellschaften gegenüber ökologischen Krisen – etwa in Form der Coronapandemie – deutlich beeinträchtigte. Zudem brachte diese Entwicklung neue Konflikte in der Reproduktionssphäre hervor, die ihrerseits eine wichtige ökologische Dimension haben.

Kapitel 7 geht der Entfaltung der Steuerungskräfte des gesellschaftlichen Stoffwechsels nach, also Formen der organisationalen und technischen Koordination, aber auch Impulsen aus den Naturwissenschaften. Da auf diesen Steuerungskräften derzeit große ökologische Hoffnungen ruhen, soll ihre Entwicklung hier in den Kontext der Nutzbarmachung gestellt werden, um ihre ambivalente Rolle deutlich zu machen.

Steuerungskräfte selbst verfügen nicht über Souveränität. Aus diesem Grund widme ich mich in Kapitel 8 den Steuerungsverhältnissen der internationalen Finanzwirtschaft. Gegen die Vorstellung einer immateriellen Finanzsphäre arbeite ich die zentrale Rolle dieser Branche für den gesellschaftlichen Stoffwechsel heraus. Insbesondere der – in Tonnen gemessen – »gewichtigste« Teil dieses Stoffwechsels, die Bauindustrie, wird vor allem von den Eigenlogiken der Finanzmärkte geprägt, da Investitionen in Infrastruktur zur Standardantwort auf eine Überakkumulation von Kapital geworden sind. Neben diesen Analysen präsentiert das Kapitel Interviews mit Bau27arbeitern, die anschaulich werden lassen, was mit dem Konzept des ökologischen Eigensinns gemeint ist.

Das Schlusskapitel befasst sich mit den Lehren, die wir aus dieser historisch-geografischen Soziologie der Arbeit für die Bearbeitung der ökologischen Krise ziehen können. Dabei geht es von der Überlegung aus, dass der Umgang mit der Krise zum Guten wie zum Schlechten aus Politiken der Nutzlosigkeit besteht. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie mit nutzlos gewordenen Natursegmenten und Menschen umgegangen werden soll. Dabei plädiere ich für eine lustvolle Politik der Nutzlosigkeit, die diese nicht auszumerzen versucht, sondern sie im Gegenteil zum positiven Bezugspunkt einer sozialökologischen Transformation jenseits der Austerität macht. Grundlage ist die Einsicht, dass Produktionspolitik und Umweltpolitik nie getrennt waren, sondern dass Produktionspolitik vielmehr immer auch Umweltpolitik ist. Damit möchte ich Versuchen entgegentreten, Arbeitswelt und Natur gegeneinander auszuspielen. Denn wenn wir voraussetzen, dass unsere Organisation von Arbeit der Ausgangspunkt der ökologischen Krise ist, dann muss auch ihre Überwindung vor allem an dieser Stelle ansetzen.

291. Ökologische Arbeit

Die Eingriffe des Menschen in seine Umwelt haben nicht zu dem unter anderem von Bill McKibben proklamierten »Ende der Natur« geführt.1 Die Folgen des Klimawandels oder der Coronapandemie führen uns vor Augen, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Autonomie der Natur wird umso deutlicher, je weiter diese Eingriffe reichen. Wenn wir uns der ökologischen Krise stellen wollen, müssen wir die Autonomie der Natur anerkennen. Nach Aristoteles kann diese Autonomie sogar ein Ausgangspunkt für die Definition von Natur sein. Der Philosoph verwendete den Begriff für all jene Dinge, die das Prinzip ihrer Bewegung in sich selbst tragen.2 In diesem Sinne kann ein Baum zwar von uns gepflanzt, beschnitten und gezüchtet werden. Insofern aber sein »Bewegungsprinzip«, also seine Entwicklung vom Samen bis zum ausgewachsenen Baum, nicht vom Menschen geschaffen ist, kann er als Teil der Natur gelten. Demgegenüber fasst Aristoteles all jene Dinge, deren »Bewegungsprinzip« vom Menschen ausgeht, unter den Begriff Technik.

Spätestens die Möglichkeiten der modernen Biotechnologie sind freilich eine Herausforderung für jede klare Trennung zwischen Natur und Technik. Ist ein genetisch manipulierter Organismus – wie zum Beispiel eine Ratte, deren Genom zu Versuchszwecken so programmiert wurde, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Krebserkrankung entwickelt – Natur oder Technik? Die Technologie greift hier deutlich in das »Bewegungsprinzip« des Organismus ein. Aber auch jenseits einzelner Organismen hat der Mensch seine natürliche Umwelt tief greifend umgewälzt. Man denke nicht nur an gezielte Eingriffe wie das Trockenlegen von Sümpfen oder das Abholzen von Wäldern, sondern vor allem an unintendierte Nebeneffekte menschlichen Handelns. Der Klimawandel beispielsweise löst in den verschiedensten Ökosystemen unüberschaubare Kaskadenef30fekte aus, die kaum einen Teil des Globus unberührt lassen und die Bedingungen für alle Lebewesen verändern.

Die Grenze zwischen Natur und Technik verläuft also nicht zwischen den Objekten, wie etwa dem natürlichen Baum auf der einen und dem technischen Auto auf der anderen Seite. Vielmehr verläuft diese Grenze durch die Gegenstände hindurch, denn fast alle Dinge – einschließlich des menschlichen Körpers – sind sowohl gegeben als auch gemacht. Aber es sind die gegebenen Aspekte, die wir als Natur bezeichnen. Diese Gegebenheit als zentrale Eigenschaft bedeutet notwendigerweise eine relative Autonomie der Natur von der Gesellschaft. Damit kann die Natur negativ definiert werden als das, was unabhängig von menschlicher Intention, Kontrolle oder Manipulation existiert und fortbesteht. Das gilt für die organische wie für die mineralische Natur und auch für globale Systeme wie das Klima.3

Natur in diesem Sinne über ihre Autonomie zu definieren bedeutet zugleich, dass sich der Begriff nicht auf bestimmte Objekte bezieht, sondern auf Eigenschaften und Bewegungsprozesse von Materie und Energie, die nicht vom Menschen kontrolliert werden. Dazu gehören die spezifischen materiellen Qualitäten von Ressourcen wie Kohle, aber auch Prozesse wie der Klimawandel. Nur durch die negative Definition wird es möglich, diese enorm unterschiedlichen Elemente unter einen Begriff zu subsumieren und überhaupt von »Natur« im Singular zu sprechen. So ist die Unabhängigkeit von menschlicher Intention und die Widerspenstigkeit gegenüber Kontrollversuchen vermutlich das Einzige, was etwa Viren, Insekten, geologische Gegebenheiten wie Kohle- und Erdölvorkommen, die Verwesung geschlachteter Tiere oder Wetter- und Klimasysteme gemeinsam haben – um nur ein paar der Manifestationen von Natur zu nennen, die in diesem Buch eine Rolle spielen werden.

Schon Marx betonte die Rolle dieser Autonomie der Natur für die Organisation der Arbeit: »Man bedenke z. ‌B. den bloßen Einfluß der Jahreszeiten, wovon die Menge des größten Teils aller Rohstoffe abhängt, Erschöpfung von Waldungen, Kohlen- und Eisenbergwerken 31etc.«4 Allerdings ist bei Marx der Naturbegriff nicht mit der romantischen Vorstellung der Unberührtheit verbunden. Solche Ideen kritisierte er vielmehr explizit:

Tiere und Pflanzen, die man als Naturprodukte zu betrachten pflegt, sind nicht nur Produkte vielleicht der Arbeit vom vorigen Jahr, sondern, in ihren jetzigen Formen, Produkte einer durch viele Generationen unter menschlicher Kontrolle, vermittelst menschlicher Arbeit, fortgesetzten Umwandlung.5

Anders als bei Aristoteles ist bei Marx die Arbeit damit nicht schlicht der Gegenbegriff zu Natur. Marx erklärt zwar, dass die Produktion auf die ihr äußerliche Natur einwirkt, sie tut dies jedoch durch den menschlichen Körper, der für den Menschen, »sosehr er ihn reproduziert und entwickelt, ursprünglich […] eine natürliche Voraussetzung« ist, »die er nicht gesetzt hat«.6 Diese Gegebenheit macht den Körper zu einem Teil der Natur.7 Und tatsächlich erfahren wir insbesondere in unseren leiblichen Unzulänglichkeiten und Gebrechen, dass sich die Autonomie der Natur nie vollständig unserem Willen unterordnet. Das spiegelt sich auch in naturwissenschaftlichen Erkenntnissen: Nicht nur setzt sich unser Körper stofflich aus Elementen unserer Umwelt zusammen, er besteht auch nur zur Hälfte aus menschlichen Zellen. Die andere Hälfte sind Bakterien.8 Der Mensch ist damit sowohl Manifestation der Gesellschaft als auch der Natur. Im Arbeitsprozess wirkt die Natur somit gewissermaßen auf sich selbst zurück – doch gerade in dieser Rückwirkung vollzieht sich die Trennung zwischen Gesellschaft und Natur.

Marx spricht in diesem Zusammenhang von einem »Stoffwechsel« zwischen Gesellschaft und Natur. Sein Begriff ist deshalb besonders nützlich, weil er zeigt, dass Natur und Gesellschaft aus denselben Stoffen bestehen und dennoch getrennte Einheiten sind. Diese Trennung verschärft sich nach Marx in der kapitalistischen Produktionsweise immer weiter. Das liege daran, dass sie im Zuge der Kapitalak32kumulation ökologische Kreisläufe durch Akkumulationsprozesse ersetze. Marx veranschaulicht dies am Beispiel der kapitalistischen Landwirtschaft, die Agrarprodukte kontinuierlich vom Land in die Städte transferiert. In der Folge stehen die Abfälle nicht mehr vor Ort als Dünger zur Verfügung, sondern sie belasten in den Städten in Form von Müll die Umwelt. Auf diese Weise entsteht ein immer breiter werdender »Riss« im Stoffwechsel mit der Natur9 – ein Theorem, das sich auf verschiedene Dimensionen der ökologischen Krise übertragen lässt. Der Klimawandel beispielsweise kann als Folge eines »Risses« im Kohlenstoffkreislauf begriffen werden: Fossile Energieträger wie Kohle und Öl, die über Jahrmillionen entstanden sind, werden der Erde entnommen und verbrannt. Damit akkumulieren sich die Kohlenstoffe in der Atmosphäre, wo sie in Form des Klimawandels zum ökologischen Problem werden.10

Was ist autonome Natur?

Die Betonung der Autonomie der Natur steht im teilweisen Widerspruch zu vielen theoretischen Ansätzen, die argumentieren, dass überhaupt nicht mehr zwischen Gesellschaft und Natur unterschieden werden sollte. Prominent ist dieser Gedanke etwa in den Theorien von Bruno Latour, Neil Smith, Jason Moore oder Dipesh Chakrabarty, die betonen, dass überhaupt nicht mehr zwischen Natur und Gesellschaft unterschieden werden sollte.11 Gemeinsam ist diesen sehr unterschiedlichen Herangehensweisen, dass sie die Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft für einen »cartesianischen Dualismus« und die eigentliche Ursache unseres instrumentellen Verhältnisses zur Natur halten. Moore beispielsweise insistiert darauf, dass der Kapitalismus keine spezifische Ökologie habe, sondern eine Ökologie sei. Die Krise des »Kapitalismus im Lebensnetz« ist bei ihm dementsprechend weniger eine ökologische als eine ökonomische.12

33Chakrabarty hingegen möchte gar nicht mehr von Kapitalismus sprechen, würden wir dadurch doch »blind für den Ablauf – oder die Handlungsmacht, wenn man so will – der Erdsystemprozesse und ihrer unmenschlichen Zeiträume«.13 Jene Handlungsmacht werde nur aus der Perspektive der Erdsystemwissenschaften deutlich, die den Menschen radikal dezentriere: »Denn selbst wenn die derzeitige Erwärmungsphase tatsächlich anthropogen ist, handelt es sich um einen Zufall; für die Erforschung der planetarischen Erwärmung als solcher spielen Menschen keine eigentliche Rolle.«14 Ausgehend von dieser Dezentrierung sieht er von innergesellschaftlichen Konflikten ab und schreibt die Verantwortung stattdessen der gesamten Spezies zu. Entsprechend ist die Krise für ihn zu großen Teilen eine Krise der Überbevölkerung.

Neil Smith argumentiert in die entgegengesetzte Richtung: So etwas wie Natur gebe es überhaupt nicht, da unsere Umwelt in Gänze vom Kapitalismus produziert werde. Bezeichnenderweise überschneidet sich diese konträre Perspektive jedoch an entscheidenden Stellen mit der von Chakrabarty. Zwar konzediert Smith, dass ein anthropogener Klimawandel stattfindet, das »genaue Ausmaß des globalen gesellschaftlichen Beitrags zum Klimawandel« sei »jedoch keineswegs klar und könnte durchaus unberechenbar sein«. Deshalb sei »der Versuch, zwischen sozialen und natürlichen Beiträgen zum Klimawandel zu unterscheiden, nicht nur eine törichte Debatte, sondern auch eine törichte Philosophie«, da sie die Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft aufrechterhalte.15 Für die Frage, wie die Erderwärmung gestoppt werden kann, ist die Debatte um ihre Verursachung jedoch keineswegs »töricht«, sondern der sprichwörtlich springende Punkt. Eine Theorie, die dazu schweigt, büßt einen großen Teil ihres Gebrauchswerts ein.16

Die Dekonstruktion des Gegensatzes von Natur und Gesellschaft hat ihre Stärke darin, dass sie den politischen Gehalt des Begriffs der Natur aufzeigen kann. Etwas zu »Natur« zu erklären ist seit der Aufklärung zur zentralen Rechtfertigung von Ausbeutung geworden. Mit 34dem »Naturzustand« der Amerikas wurde etwa deren koloniale Aneignung legitimiert und mit den »natürlichen Eigenschaften der Frau« deren Überbelastung mit Haushalts- und Pflegearbeit. Allerdings haben schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno betont, dass das instrumentelle Weltverhältnis durchaus nicht auf ein »natürliches« Außen angewiesen ist. Vielmehr scheint der Mensch kein Problem damit zu haben, auch zu seinesgleichen – einschließlich seiner selbst – ein instrumentelles Verhältnis zu entwickeln.17 Vor allem aber wirft die monistische Forderung, überhaupt nicht mehr zwischen Gesellschaft und Natur zu unterscheiden, schwerwiegende Probleme für das Verständnis der ökologischen Krise auf, und die entsprechenden Autoren können ihren Anspruch auf eine Überwindung des Anthropozentrismus – also eines Denkens, in dem der Mensch das Maß aller Dinge ist – nicht einlösen. Die Beanspruchung eines wissenschaftlichen Blicks »von außen« auf den Planeten, als »Sprachrohr« der Natur bei Chakrabarty, oder die Idee einer kapitalistischen Produktion der Natur bei Smith oder Moore verschärfen die Hybris der anthropozentrischen Denkweise möglicherweise zusätzlich, indem sie die Natur unter die Logik der Wissenschaft oder der Ökonomie subsumieren und damit ihre Autonomie negieren.

Für Horkheimer und Adorno ist diese Leugnung sogar der Ausgangspunkt aller Ideologie. Vom mythischen Animismus bis zum mechanistischen Weltbild der Aufklärung und darüber hinaus erfüllen Ideologien wesentlich die Funktion einer Verdrängung der Autonomie der Natur, indem sie diese durch Rituale oder wissenschaftliche Praktiken für kontrollierbar erklären.18 Die Autonomie der Natur ist fast ausschließlich auf negative Weise erfahrbar, insbesondere in Form von »Naturkatastrophen«. Deshalb löst sie seit Menschengedenken vor allem Angst aus, führt sie uns doch nicht nur unsere Vulnerabilität vor Augen, sondern auch die Tatsache, dass die Menschheit von der Natur abhängig ist, die Natur aber nicht von der Menschheit. Die Wissenschaftshistorikerin Carolyn Merchant hat das Motiv systematisch von der Antike bis zur wissenschaftli35chen Revolution nachverfolgt.19 Der Umstand, dass die Negation der autonomem Natur in der aktuellen Theoriebildung zu einer solchen Prominenz gelangt ist, kann mit Merchant als Spiegelbild der zunehmenden Nutzbarmachung der Natur verstanden werden.

Durch die Aufgabe einer Trennung zwischen Natur und Gesellschaft wird allerdings nicht nur die Autonomie der Natur, sondern die Idee der menschenverursachten Umweltzerstörung insgesamt zur logischen Unmöglichkeit. Das zeigt sich etwa, wenn Moore anstelle des Begriffs des Risses im Stoffwechsel mit der Natur (metabolic rift) neutral von einer »Verschiebung« (metabolic shift) spricht;20 oder wenn sowohl Smith als auch Chakrabarty argumentieren, die Frage nach dem Anteil sozialer Faktoren bei der Verursachung der ökologischen Krise sei irrelevant. Demgegenüber soll das Verhältnis von Gesellschaft und Natur hier als Ko-Konstitution gedacht werden: Beide bestehen aus denselben Stoffen und werden gerade in ihrer Wechselwirkung zu getrennten Einheiten. In diesem Sinne insistiert auch Marx stets darauf, dass die beiden Seiten des Stoffwechsels sich nicht ineinander auflösen lassen.21 Das bedeutet jedoch nicht, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ein symmetrisches wäre. Vielmehr wird es von der Nutzbarmachung der Natur durch den Menschen geprägt.

Nutzbarmachung

Der Mainstream der Umweltökonomie und kritisch-theoretische Debattenbeiträge sind sich weitgehend einig darüber, dass eine wesentliche Ursache der Umweltzerstörung darin liegt, dass Natur von Unternehmen unbezahlt »angeeignet« wird. Diese Einsicht leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der ökologischen Krise, indem sie aufzeigt, dass die zerstörerische Übernutzung von Natur nicht nur Resultat einzelner rücksichtsloser Entscheidungen, sondern strukturell angelegt ist: Die Möglichkeit der kostenlosen Aneignung von 36Natur verführt dazu, die übrigen Produktionskosten (Arbeit und Kapital) zulasten der Natur zu drücken: Materialien werden durch Raubbau verbilligt, die Arbeitsproduktivität wird durch den Einsatz fossiler Brennstoffe erhöht usw. In der neoklassischen Ökonomie ist hier von »Externalitäten« die Rede, ohne die Waren nicht produziert werden könnten, die aber nicht in ihrem Preis abgebildet werden. Der analytische Nachteil des Begriffs der Naturaneignung liegt darin, dass er die Natur als ein großes Rohstofflager erscheinen lässt, dessen Güter einfach eingesammelt werden können oder dessen »Ökosystemdienstleistungen« von selbst in die Produktion einfließen. Das ist freilich nicht der Fall. Natur liegt überaus selten einfach so vor. Wir müssen Arbeit investieren, um von ihr Gebrauch, um die jeweiligen Natursegmente nutzbar zu machen. Der Begriff der Aneignung beschreibt nur den Prozess, in dem Natur zu Privateigentum wird. Dieser Prozess selbst setzt jedoch nichts in Bewegung, er ist rein imaginärer Natur. Was die Natur zu einem Teil der Produktionsprozesse werden lässt, ist dagegen stets menschliche Arbeit. Erstaunlicherweise steht deren konkrete Ausgestaltung jedoch auch bei den verschiedenen Theoretikern, die den marxschen Begriff des Stoffwechsels für ihre Analysen kapitalistischer Naturverhältnisse fruchtbar gemacht haben, nicht im Fokus.22 Stattdessen geht es unmittelbar um den Riss, den das Kapital diesem Stoffwechsel zufüge. Seine Rolle ist selbstverständlich zentral, aber allein kann das Kapital nichts bewerkstelligen. Dafür muss es sich stets mit lebendiger Arbeit verbinden. Diese Verbindung wird historisch immer wieder neu ausgehandelt – mit weitreichenden Folgen für die nichtmenschliche Natur. Gerade diese Aushandlungen – und nicht nur die abstrakten Strukturen der Akkumulation – müssen also im Zentrum einer Analyse des kapitalistischen Stoffwechsels stehen.

Mineralische Rohstoffe wie Erze oder Kohle müssen lokalisiert, abgebaut, vom Gestein getrennt und transportiert werden. Pflanzen müssen gezüchtet, angebaut, geerntet und gereinigt werden, bevor sie zu Nahrungsmitteln, Baustoffen oder Textilfasern werden. In diesem 37Sinne kann man alle Tätigkeiten, bei denen Materialien verarbeitet werden, als eine Transformation von Natur beschreiben. Um diese Verarbeitung überhaupt zu ermöglichen, müssen jedoch weitere Schritte erfolgen. James O'Connor spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer »Produktion der Produktionsbedingungen«.23 So stellt etwa ein Fluss nicht nur eine Quelle von Wasser, Energie und Nahrung dar, sondern stets auch ein Risiko. Er kann Äcker und Siedlungen überfluten oder durch seinen Verlauf Verkehrswege blockieren. Deshalb erfordert die Nutzbarmachung von Natur stets ein Moment der Kontrolle: Der Fluss muss kanalisiert, Tiere domestiziert, Unkraut gejätet werden. Nutzbarmachung bedeutet demnach zu wesentlichen Teilen eine Auseinandersetzung mit der Autonomie der Natur. Allerdings löscht die Kontrollarbeit diese keineswegs dauerhaft aus. Stattdessen wird der Fluss den Kanal mit der Zeit erodieren, die Tiere werden krank, und das Unkraut kehrt immer wieder zurück. Die Kontrollarbeit hört niemals auf. Neben der Kontrolle beinhaltet die Nutzbarmachung dabei immer auch ein Element der Rationalisierung: Es werden ertragreichere Pflanzen- und Tierarten gezüchtet, fossile Energieträger eingesetzt, um den Stoffwechsel mit der Natur zu beschleunigen, oder gar Organismen genetisch verändert, um sie der ökonomischen Verwertung anzupassen.24

Die spezifisch kapitalistische Form der Nutzbarmachung ist einerseits inhärent expansiv, da sie der Akkumulation dient. Andererseits ist sie auch inhärent exklusiv, da sie Natur als Privateigentum nutzbar macht. Ihr Ziel ist also nicht notwendigerweise die Ausweitung des Zugriffs auf bestimmte Ressourcen, es kann ebenso gut in deren Verknappung liegen. Das lässt sich am Beispiel der Muskatnuss veranschaulichen: Muskat war das wichtigste Handelsgut der Niederländischen Ostindien-Kompanie (NOK), eines der ersten transnationalen kapitalistischen Unternehmen. Die Nuss stammt aus Indonesien. 1621 besetzte die NOK die Banda-Inseln, nachdem es ihr zuvor nicht gelungen war, ihren Bewohnern ein Handelsmonopol auf Muskat abzuringen. 15 ‌000 Menschen wurden getötet, der Rest 38der Bevölkerung wurde deportiert und versklavt, um die Inseln in große Plantagen zu verwandeln. Nachdem man im Handel mit Muskat zunächst Renditen von bis zu 400 Prozent erzielt hatte, kam das Gewürz wenig später aus der Mode, und der Preis fiel rapide. Die NOK reagierte mit einer Politik der Verknappung, indem sie anordnete, dass nur noch auf den Banda-Inseln Muskatbäume wachsen durften. Auf allen anderen der über tausend Molukken-Inseln sollten sie gefällt werden. Die Kampagne wurde ohne Rücksicht auf Verluste umgesetzt: Über hundert Jahre lang mussten Soldaten und Arbeiter durch dorniges Urwaldgestrüpp kriechen, um die Bäume aufzuspüren.25 Die Nutzbarmachung der Natur verfolgt also wesentlich das Ziel der Verwertung und nicht der Verallgemeinerung des Zugriffs.

Wie wir oben gesehen haben, kann der menschliche Körper aufgrund seiner Gegebenheit ebenfalls als Teil der Natur verstanden werden. Diese Gegebenheit bedeutet nicht zuletzt, dass der Mensch nicht als Arbeitskraft geboren wird, sondern kontinuierlich dazu gemacht werden muss. Auch hier kann zwischen Kontrolle und Rationalisierung unterschieden werden, und die Nutzbarmachung der Arbeitskraft nimmt unter kapitalistischen Bedingungen spezifische Formen an. So rückt die konkrete Seite der Arbeit als Mittel der Bedürfnisbefriedigung in den Hintergrund, während die Erwirtschaftung von Profiten zum Hauptzweck wird. In diesem Sinne erklärte etwa der Geschäftsführer des amerikanischen Konzerns US-Steel, als er 1982 im Zuge der Deindustrialisierung Tausende Stahlarbeiter entließ und auf das Ölgeschäft umschwenkte: »Das Unternehmen ist nicht auf die Herstellung von Stahl spezialisiert, sondern auf die Erzielung von Gewinnen.«26 Entsprechend zielt auch die Arbeit selbst nicht primär auf die Herstellung von Stahl, sondern auf den Erwerb von Lohn ab, mit dem die Beschäftigten ihre Bedürfnisse erfüllen können. Marx wies darauf hin, dass diese Konstellation strukturell zu einer Entfremdung der Menschen sowohl vom Produkt ihrer Arbeit als auch vom Arbeitsprozess selbst führt. Arbeit ist dann keine 39konkrete Tätigkeit der Bedürfnisbefriedigung mehr, sondern in erster Linie eine Ware: Arbeitskraft.27

Aus dieser Konstellation resultiert ein Interessengegensatz zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden: Die Bedürfnisse der einen (Lohn, Gesundheit, Pausen etc.) sind die Kosten der anderen. Das macht eine Kontrolle der Arbeit in Form betrieblicher Herrschaft erforderlich. Ausgeübt wird diese meist durch Managerinnen und Manager sowie eine unternehmenseigene Bürokratie, oft aber auch durch technische Einrichtungen wie das Fließband, Stoppuhren oder digitale Überwachung. Die Rationalisierung überschneidet sich teilweise mit der Kontrolle, geht über diese allerdings insofern hinaus, als sie auf eine Steigerung der Produktivität abzielt, also des Verhältnisses von produzierten Waren zu Arbeitszeit. Erfolgen kann Rationalisierung dabei organisatorisch, etwa durch die Optimierung von Arbeitsabläufen, oder aber technisch, beispielsweise durch Automatisierung.

Das Verhältnis der beiden Formen der Nutzbarmachung zueinander beschränkt sich jedoch keineswegs auf ihre analoge Funktionsweise. Stattdessen sind die beiden Formen notwendig aufeinander angewiesen: Die Nutzbarmachung der Natur ermöglicht die intensivierte Nutzbarmachung der menschlichen Arbeit, die wiederum eine intensivere Nutzbarmachung der Natur ermöglicht. So waren etwa Sklaverei und Plantagenwirtschaft konstitutiv miteinander verbunden. Der durch diese Kombination produzierte Überschuss an Baumwolle wurde wiederum zusammen mit der intensivierten Nutzung fossiler Energieträger zur materiellen Grundlage des Fabrikregimes. Dieses zog seinerseits ganze Kaskaden der Nutzbarmachung weiterer Natursegmente nach sich, auf welche die neuen Arbeitspotenziale angewandt werden konnten.

Eine solche Verschränkung der beiden Formen können wir freilich nicht nur in der Produktionssphäre beobachten. Unternehmen allein wären gar nicht in der Lage, die Nutzbarmachung der Körper zu gewährleisten. Bevor Menschen zur Arbeit fähig sind, müssen sie 40zunächst jahrelang erzogen, das heißt, dazu gebracht werden, sich an die gesellschaftlichen Konventionen zu halten, die ihrerseits die Grundbedingungen der Arbeitsteilung sind. Darüber hinaus benötigen sie für jede Form von Arbeit ein gewisses Maß an allgemeiner Bildung sowie fachlicher Schulung. Wenn sie erschöpft sind, brauchen Menschen Pflege und Zuneigung, und wenn sie krank werden, muss ihre Arbeitskraft durch medizinische Versorgung wiederhergestellt werden. In diesem Sinne spricht O'Connor analog zur Produktion der natürlichen Produktionsbedingungen von der Notwendigkeit der Produktion der »persönlichen Produktionsbedingungen«,28 die ihrerseits enorm arbeitsaufwendig ist. In Deutschland beispielsweise entfallen 64 Prozent der gesamten gesellschaftlichen Arbeitszeit auf sogenannte »Care-Tätigkeiten« wie Erziehung und Pflege. Davon wiederum werden allerdings nur 12 Prozent in Form von Erwerbsarbeit und die restlichen 88 Prozent unentgeltlich in den Haushalten geleistet.29

Selbstredend besteht diese Care-Arbeit nicht nur aus Liebe, Fürsorge oder der Reproduktion des Lebens selbst. Stattdessen geht es dabei, wie wir in Kapitel 6 noch ausführlich sehen werden, insbesondere darum, die innere Natur der Menschen nutzbar zu machen. Die frühe Kritische Theorie hat an dieser Stelle immer wieder auf Parallelen hingewiesen. So schreibt etwa Horkheimer: »Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen.«30 Diese Nutzbarmachung findet zuallererst in der innerfamiliären Kindererziehung statt – indem der Nachwuchs endlos ermahnt wird, sich Konventionen anzupassen und diese zu verinnerlichen. Michel Foucault hat darüber hinaus ihre institutionelle Dimension beschrieben, etwa in Form von Schulen, Gefängnissen, Krankenhäusern, Psychiatrien usw. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer »politischen Ökonomie der Körper«.31

41Damit überwindet der Begriff der Nutzbarmachung die Trennung zwischen Produktion und Reproduktion. Stattdessen soll er unterstreichen, dass sowohl die »produktiven«, also der Herstellung von Gütern dienenden, als auch die »reproduktiven«, auf die (Wieder-)Herstellung der persönlichen und natürlichen Produktionsbedingungen zielenden Tätigkeiten wesentlich in einer Nutzbarmachung der Natur bestehen: im ersten Fall der nichtmenschlichen Natur und im zweiten Fall der menschlichen Körper. Das hat weitreichende theoretische Konsequenzen.

Re/produktivkräfte

Die Trennung zwischen Produktion und Reproduktion ist eine der zentralen Konfliktlinien in der Debatte um die ökologische Krise, bei der wiederum häufig die Rolle der Produktivkräfte im Mittelpunkt steht, ein marxistischer Begriff, der aktuell eine Renaissance erlebt. Das liegt vor allem daran, dass er die politischen Implikationen von Technik und Arbeitsorganisation betont, die zunehmend an Bedeutung gewinnen. Bei Marx verweist der Ausdruck auf die Gesamtheit des menschlichen Arbeitspotenzials. Neben der Technik fasst Marx darunter auch das gesellschaftliche Wissen sowie Formen der Kooperation.32 Die in diesem Kontext wohl am häufigsten zitierte Passage stammt aus der 1847 zunächst auf Französisch erschienenen Schrift Das Elend der Philosophie. Dort schreibt Marx:

Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.33

42An diese Stelle knüpfen viele technikdeterministische Interpretationen an. Diese gehen davon aus, dass die Produktivkräfte die Produktionsverhältnisse prägen, gesellschaftlicher Fortschritt basiert demnach in erster Linie auf technischem Fortschritt.34 Auf dieser Grundlage argumentieren einige marxistische Theoretikerinnen und Theoretiker weiter, dass die Produktivkraftentwicklung zugleich der Schlüssel zur Bearbeitung der ökologischen Krise sei, etwa im Sinne neuer Energiesysteme oder Möglichkeiten der Wirtschaftsplanung.35 Diese »ökomodernistische« Hoffnung ist jedoch keineswegs dem Marxismus vorbehalten, sie stellt vielmehr die Mainstream-Position der Umweltökonomie dar, die sich durch einen geradezu messianischen Glauben an die Entwicklung bislang inexistenter Technologien auszeichnet, die eine Versöhnung von Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit erlauben sollen.36 Die starke Orientierung der Klimabewegung an den Naturwissenschaften kann ebenfalls als Ausdruck des Vertrauens in die transformativen Potenziale der Produktivkraftentwicklung verstanden werden.