Der leere Platz - Marion Karausche - E-Book

Der leere Platz E-Book

Marion Karausche

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Beschreibung

Marlen hat ein schönes Leben, unverschämt schön, denkt sie manchmal. Aber wie schnell das Glück zerrinnen kann, auch wenn man ein privilegiertes Leben führt, erfährt sie, als ihr Sohn eines Tages verschwindet. Angstvolles Warten und später die traurige Gewissheit seiner psychischen Krankheit rauben ihr Schritt für Schritt die Leichtigkeit des Lebens. Ein Roman über den Kampf einer Mutter um den Zusammenhalt ihrer Familie und ihre Konfrontation mit einer Krankheit, die in der Gesellschaft wenig Verständnis findet.

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INHALT

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ÜBER DIE AUTORIN

Marion Karausche, geboren in Deutschland, ist mit ihren drei Geschwistern in Madagaskar aufgewachsen. Sie hat an der Sorbonne, Paris studiert und anschließend als Dolmetscherin (Französisch, Englisch, Deutsch) gearbeitet. Bis Anfang 2021 lebte sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Nahen Osten, wo sie als Übersetzerin u. a. für das Goethe Institut in Beirut und als Sprachlehrerin an einer amerikanischen Schule tätig war. Der leere Platz ist ihr erstes Buch.

ÜBER DAS BUCH

Marlen hat ein schönes Leben, unverschämt schön, denkt sie manchmal. Aber wie schnell das Glück zerrinnen kann, auch wenn man ein privilegiertes Leben führt, erfährt sie, als ihr Sohn eines Tages verschwindet. Angstvolles Warten und später die traurige Gewissheit seiner psychischen Krankheit rauben ihr Schritt für Schritt die Leichtigkeit des Lebens. Ein Roman über den Kampf einer Mutter um den Zusammenhalt ihrer Familie und ihre Konfrontation mit einer Krankheit, die in der Gesellschaft wenig Verständnis findet.

 

Für T.

 

»Eine Mutter kann nur so glücklich sein wie ihr unglücklichstes Kind.«

SARAH BLAFFER HRDY

 

Es ist natürlich lächerlich zu behaupten, dass die Art, wie ein Telefon klingelt, die Stimmung des Anrufers widerspiegeln kann. Und doch: Das Telefon klingelte anders. Dunkler. Als müsse es, um die schlechte Botschaft zu überbringen, alles Fröhliche, alles Lebendige unterdrücken. Und sie, eben noch im Tiefschlaf, es war sechs Uhr morgens, war sofort hellwach. Sie spürte, wie ihr Körper erstarrte, während ihr Herz plötzlich so stark klopfte, dass sie es deutlich fühlen, ja, sogar hören konnte, seine hin- und herrollende Bewegung im Brustkorb, rhythmisch und schwer. Verzweifelt suchte sie in ihrem Kopf nach einer anderen, einer erfreulicheren Erklärung für diesen Anruf. Eine Geburt? In ihrem Bekanntenkreis war keine Schwangerschaft bekannt. Oder einfach eine falsche Nummer? Das konnte es sein. Doch es gelang ihr nicht, sich selbst zu täuschen. Sie wusste genau, dass dieser Anruf ihr galt, und dass es keine Möglichkeit gab, der Nachricht zu entkommen. Und sie wusste auch, dass, sobald sie das Gespräch annehmen würde, nichts mehr so sein würde wie früher. Trotzdem konnte sie sich nicht rühren. Sie lag ganz still in ihrem Bett. Ihr war eiskalt.

Das Klingeln verstummte. Jetzt ergriff sie Panik. Was, wenn sie den Anruf nun verpasst hatte? Bitte nicht! Nicht noch länger in Ungewissheit leben. Lieber die Nachricht, jetzt, sofort, egal wie schlecht. Die letzten Jahre hatten nur aus Ungewissheit, aus Angst, aus Warten bestanden. Nun war jede zusätzliche Sekunde eine Folter. Sie sprang, fiel beinahe aus dem Bett, stolperte und rannte zum Telefon, das auch schon wieder zu klingeln anfing. Diesmal war sie fast dankbar dafür und riss den Apparat an sich, um ihn unnötig fest an ihr Ohr zu pressen.

Eine Krankenschwester meldete sich. Ihren Namen bekam sie in der Aufregung nicht mit, auch nicht den Namen der Klinik. Nur, dass es sich um eine psychiatrische Klinik in Deutschland handelte, in der sich ihr Sohn befinden sollte. Warum zum Teufel eine psychiatrische Klinik? Und dann wurde ihr klar, was das auch bedeutete: er lebt! Gott sei Dank. Er lebt.

Seit über einem Jahr – wie lange eigentlich genau? –, sie hätte es in diesem Moment nicht sagen können, obwohl sie so oft die Tage gezählt hatte, war dieser Anruf das erste Lebenszeichen von ihrem Kind, von ihrem so sehr vermissten Sohn.

Fröstelnd stand sie im Wohnzimmer. Die ersten fahlen Lichtstrahlen, die sich durch die Rillen der Jalousien pressten, strichen wie sanfte Hände über die Möbel, als wäre es ihre allmorgendliche Aufgabe, sie für den bevorstehenden Tag zu arrangieren. Schon konnte man draußen die frühen Schreie der exotischen Vögel hören, ein Kreischen, so menschlich, dass Marlen jedes Mal zusammenfuhr, und kurz darauf die ersten Rufe der Menschen, die die Schreie der Vögel schlagartig verstummen ließen. Dann kurzzeitig wieder vollkommene Stille. Ihre Hand hielt noch immer den Apparat fest umklammert, obwohl am anderen Ende das Gespräch längst beendet worden war.

Jetzt erst bemerkte sie ihren Mann. Martins Haar war in den letzten Jahren vollkommen ergraut und stand jetzt nachtzerzaust und wild von seinem Kopf ab. In seinem weiten Pyjama wirkte er schlaksig und etwas verloren. »Kai?«, fragte er. Und in seiner Frage, die nur aus diesen drei Buchstaben bestand, lag so viel Resignation, so viel Erschöpfung, dass sie eigentlich gar keine Frage mehr war, sondern eine fatalistische Feststellung. Kai. »Ja« flüsterte sie. »Kai. Er ist in einer Klinik. In Deutschland. Er hatte wohl einen Zusammenbruch. Sein Auto … er hat sein Auto angezündet. Sagen sie. Mitten in der Stadt. Wir sollen kommen.«

Sie war im Urlaub schwanger geworden, damals auf Hawaii, und hatte darum auf diesen Vornamen bestanden: Kai, was auf Hawaiianisch »das Meer« bedeutet. Ob es daran gelegen hatte, dass sie im Palaau State Park auf der kleinen Insel Molokai kichernd den majestätisch zum Himmel ragenden Phallic Rock berührt hatte, einen steinernen Penis, dem man magische Kräfte zuschrieb, oder ob es einfach den lauen tropischen Nächten zu verdanken gewesen war? So oder so war dort vor sechsundzwanzig Jahren ihr erstes Kind entstanden.

Mechanisch und nun wieder so ruhig, als ginge es darum, für eine Dienstreise zu packen, zog sie ihren Koffer aus dem Schrank, legte etwas Wäsche hinein, überlegte kurz, ob warme Sachen in Europa zu dieser Jahreszeit noch nötig wären –, hier in Marokko war es schon herrlich warm – dachte sogar darüber nach, ob sie Schminksachen einpacken sollte, und schämte sich sofort für diese unangebrachte Eitelkeit. Sie wog ab, ob sie jemanden benachrichtigen sollte, entschied sich dagegen, denn ihr war klar, dass sie auf keine einzige Frage zu diesem plötzlichen Aufbruch eine Antwort hätte.

Ein paar Stunden später standen sie schon am Rabat-Salé Airport und warteten auf den Flug, der sie zu ihrem Kind bringen würde. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass sie, sollte dieser Moment je eintreffen, vor Erleichterung und Glück geradezu überwältigt sein würde. Doch jetzt, so sehr sie auch aufmerksam forschend in sich hinein hörte, war da nur Stille, die sie immer fester einhüllte. Und während sie ihrem Sohn entgegenflogen, der in diesem Moment zweitausend Kilometer weit weg in irgendeiner Klinik lag, wanderten ihre Gedanken die letzten Jahre zurück. Und wie jedes Mal, wenn sie an Kai dachte, versuchte sie, aus den vielen tausend vergangenen Tagen den einen Tag aufzudecken, wo ES passiert war. Versuchte, den Moment zu begreifen, der dazu geführt hatte, dass jeder Plan, den sie, die stolzen Eltern, für ihren einst so begabten Sohn geschmiedet hatten, mit bitterer Enttäuschung begraben werden musste.

Vielleicht hatte die Metamorphose schon vor knapp zehn Jahren begonnen, als sie während eines Geschäftsdinners in Rabat, zu dem sie ihren Mann begleitet hatte – er arbeitete dort für eine große deutsche Firma –, eine Nachricht von ihrem damals sechzehnjährigen Sohn bekam, die sie erst amüsierte, später aber beunruhigte.

»Mama, hast du mich auch noch lieb, wenn ich ganz, ganz kurze Haare habe?«, stand da auf ihrem Display. Ein kleiner Schreck hatte sie durchzuckt, ein leichtes, wehes Ziehen in der Herzgegend. Kai hatte damals schulterlange, dunkle Locken, die herrlich zu seinem etwas wilden Wesen passten und ihm den Spitznamen Mowgli eingebracht hatten. Aber natürlich hatte sie ihn noch lieb! Sie beeilte sich, ihm das sofort, wenn auch verstohlen, man saß ja bei Tisch, zu bestätigen. Als er jedoch am nächsten Morgen mit kahl rasiertem Schädel auftauchte, war es nicht so sehr sein radikal verändertes Aussehen, das sie bestürzte. Da war etwas Fremdes in seinen Augen, in seinem Gesichtsausdruck, etwas Abwesendes und auch Hartes. Warum hatte sie das nicht alarmiert? Warum hatte sie die Beklemmung, die ihr in diesem Moment den Hals zugeschnürt hatte, einfach weggeschoben, wie man es mit einem unangenehmen Traumfetzen tut, der morgens noch hängen geblieben ist, wenn sich der restliche Traum schon längst wie Frühnebel aufgelöst hat? Weil sie es nicht sehen wollte, weil sie sich eine kleine, heile Welt aufgebaut hatte, in der alles perfekt, vollkommen sein sollte. In ihrer Kindheit war nichts heil und nichts perfekt gewesen, und sie hatte sich geschworen, ihr eigenes Leben, soweit sie es beeinflussen konnte, harmonischer zu gestalten. Also war nicht, was nicht sein durfte. Auch als Kai plötzlich beim Abendbrot mit weit aufgerissenen Augen und dramatischen Gesten von Verschwörungen, von Schattenwesen und von bösen, fremden Mächten, die uns manipulierten, zu erzählen begann und ihr spätestens dann hätte klar werden sollen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte, verdrängte sie diese unangenehme Vorahnung schnell. Und so war nichts geschehen, was die friedliche Stimmung in der Familie hätte gefährden können.

Zwei Jahre nach Kai war damals noch ein zweites Kind zur Welt gekommen, diesmal ein Mädchen, das sie in Gedenken an Martins liebe alte Patentante Amelia kurz Amy tauften. Amy war im selben Maße blond wie Kai dunkel, im selben Maße laut und munter wie ihr Bruder still, und im selben Maße gesellig wie er schüchtern und ruhig. Und doch waren die beiden unzertrennlich. Kai liebte sein Schwesterchen, sein Baby, wie er es stolz nannte, auf den ersten Blick. Er legte ihm all seine Spielsachen in die Wiege und rannte schneller als seine Mutter zu ihm, wenn es weinte, weil es seinen Schnuller verloren hatte oder von Koliken gequält wurde. Ihm galt Amys erstes Lächeln, und als sie laufen lernte, trappelte sie ihrem Bruder überall hinterher. Als die Kinder heranwuchsen, blieb diese Verbundenheit zwischen ihnen bestehen. Marlen war bewusst, dass sie großes Glück hatte. Ihre Familie war ein Vorbild für viele ihrer Bekannten, in deren Familien es häufig krachte, Kinder ständig zankten und Eltern sich trennten oder Konflikte mit ihren Kindern austrugen, sich stritten, schimpften und straften. So etwas gab es in ihrer Welt nicht. In ihrem Leben, dachte sie oft zufrieden, stimmte alles: sie hatte einen liebenswerten Mann, mit dem sie sich bestens verstand, und zwei bezaubernde Kinder. Seitdem sie ausgewandert waren, kamen dazu noch eine große, helle Wohnung am Meer und sogar eine Haushaltshilfe. Manchmal schämte sie sich für diese Üppigkeit. Ganz besonders, wenn sie in den Ferien zurück in die Heimat reisten, wurde ihr klar, wie verschwenderisch sie in Marokko lebten und wie selbstverständlich dieser Luxus für sie war. Morgens war der Frühstückstisch schon gedeckt, wenn sie aufstanden. Und ganz ohne ihr Zutun war er, kaum dass alle aufgegessen hatten, wieder abgedeckt, und anstelle der leeren Tassen und der mit Frühstücksflocken verklebten Schüsseln der Kinder, der offenen Marmeladengläser und der Obstreste stand ein schöner Blumenstrauß auf einer frisch aufgelegten Decke. Das Geschirr und die Wäsche schienen sich von selbst zu erledigen. Marlen fuhr einkaufen (Tüten und Taschen wurden ihr für ein paar Dirham ans Auto gebracht) und gab dann Anweisungen für das Essen. Während sie das erste Jahr noch viel selbst in der Küche stand, übernahm ihre Haushaltshilfe nach und nach auch diese Aufgabe. Bald reichte es, dass sie ihrer Angestellten meldete: »Heute wünschen wir uns ein Hühner-Curry mit Kokosreis« oder »Ach, mach uns doch bitte Lasagne, die Kinder bringen heute Freunde aus der Schule mit«, und schon entstanden die Speisen wie von Zauberhand. Marlen wurde still und verlegen, wenn ihre Freundinnen in Deutschland von ihrem täglichen Kampf mit der Hausarbeit, der Bügelwäsche und dem Küchenstress erzählten. Solcherlei Sorgen waren ihr mittlerweile völlig fremd.

Kais Haare wuchsen langsam wieder nach, und das ungute Gefühl verschwand. Und wenn es doch manchmal wieder zaghaft aufkeimen wollte – etwas war doch anders an dem Jungen? Sah er nicht irgendwie müde aus? Was waren das für dunkle Ringe unter den Augen? –, dann wurden solche Gedanken schnell weggewischt, bagatellisiert, auf die Pubertät geschoben, und alles war gut. Vielleicht hatte auch das Land, in dem sie nun seit bald zwanzig Jahren lebten, auf sie abgefärbt? In Marokko war man Meister im Verdrängen von Problemen, egal ob sie politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Natur waren. In den Gesellschaftskreisen, in denen sie verkehrten, war es unschicklich, Sorgen zu haben oder Sorgen als solche anzusehen. Das Leben schien eine endlose Abfolge verschwenderischer Feiern. Man wurde eingeladen und lud wiederum ein, in einem unausgesprochenen Konkurrenzkampf von Prasserei und Superlativen. Die Gäste zu beeindrucken war das Ziel des Abends. Alles gab es im Überfluss, Speisen und Getränke in unvorstellbaren Mengen, Lichter, Musik und Tänze, teure Kleider und schweren Schmuck. Diese Üppigkeit täuschte über die bittere Armut hinweg, die direkt vor den Türen der Luxusvillen begann und viele Millionen Menschen betraf. »Marokko: Land der Kontraste«, hieß es recht zutreffend in Reiseführern. Dass es sich um die blumige Umschreibung von brutaler sozialer Ungerechtigkeit handelte, wollten manche nicht wahrhaben. So kniff auch Marlen lieber die Augen zu, sah weg und genoss die Leichtigkeit ihres Lebens, fand sogar, dass sie ihr zustand, als Ausgleich für ihre Kindheit, in der es Leichtigkeit nie gegeben hatte.

Nicht, dass es ihr je am Wesentlichen gefehlt hätte. Sie hatte immer ein Dach über dem Kopf gehabt, und Hunger kannte sie auch nicht. Aber reicht das, um glücklich zu sein? Gelacht wurde selten in ihrer Familie. Wenn sie an ihre Kindheit dachte, spürte sie sofort jene Stimmung, eine gedämpfte, bedrückende Stille, die etwas Beunruhigendes hatte, ganz ohne ersichtlichen Grund, denn sie wurden als Kinder weder geschlagen noch in anderer Weise bedroht. Es lag immer eine Beklommenheit in der Luft, eine bleierne Schwere, die dazu führte, dass niemand entspannt plauderte oder gar lachte, wenn die Familie zusammenkam. Am Tisch herrschte meist befangenes Schweigen, was zur Folge hatte, dass einzig die Kaugeräusche der sechs Familienmitglieder zu hören waren. Marlen erschienen diese Geräusche unerträglich laut, geradezu raumerfüllend, sosehr sich jeder bemühte, möglichst leise zu essen. Das krachende Geräusch von sechs Kiefern, die schweigend malmten, verfolgte sie bis in ihre Träume. Um das Salzfass zu bitten war eine wahre Mutprobe, unterbrach man doch mit diesen einfachen Worten das allgemeine Schweigen und zog für einen Augenblick die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Lieber verzichtete sie auf das Salz oder auf die Butterdose oder auf die Flasche Wasser, wenn sie zu weit entfernt von ihrem Platz standen. Als Kind verstand sie die Ursache dieses Unbehagens nicht. Sie wurde von ihm eingefangen und gelähmt, ganz als schwelte, sobald sich die Eltern zusammen in einem Raum befanden, ein toxisches Gas in der Luft. Frei atmen konnte Marlen immer erst dann wieder, wenn sie den Raum verlassen hatte und sich erleichtert in ihr Zimmer zurückziehen durfte.

Ihr Vater war ein erfolgreicher Arzt, streng und voller Prinzipien, dem seine Karriere wichtiger als seine Familie war. Zumindest glaubte Marlen das als Kind, denn so beschrieb ihn ihre Mutter und sie musste es ja wissen. In der Tat arbeitete er oft bis zur Erschöpfung und hatte zu Hause wenig Energie für Spiele oder Gespräche mit seinen Kindern. Später dachte sie, dass ihm seine Arbeit vielleicht das gegeben hatte, was er in seiner Ehe vermisste, Freude und Anerkennung. Außerhalb des Hauses wurde er sehr geschätzt, sowohl für sein erstaunliches Wissen, das er in zahlreichen Anekdoten zu teilen wusste, wie auch für seinen unbestreitbaren Sinn für Humor. Zu jedem Thema fiel ihm ein passender Witz ein, mit dem er unweigerlich für Heiterkeit sorgte und die Stimmung jeder Runde auflockerte. Doch gerade das Talent, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf sich zu lenken, sie für sich zu gewinnen und sich so zum Mittelpunkt von privaten und beruflichen Einladungen zu machen, wurde ihm zum Verhängnis. Ungewollt drängte er seine schüchterne Frau noch mehr in den Schatten, machte sie zu einem stillen Anhängsel und bemerkte nicht, wie sie, eine auffallend schöne Frau, langsam verkümmerte. Er ahnte auch nicht, dass sich sein Mädchen, wie er sie liebevoll, wenn auch mit einer Spur Herablassung nannte, eines Tages, als sie spürte, dass ihre Schönheit zu welken anfing, aufbäumen und losreißen würde, um woanders noch einmal leidenschaftlich aufzublühen. Für Marlen blieb er ihre gesamte Kindheit hindurch ein Fremder, vor dem sie zwar große Achtung hatte und nach dessen Nähe sie sich oft sehnte, der sie aber zutiefst einschüchterte. Erst im Alter wurde er weich und liebenswert, und sie fand endlich Zugang zu ihm. Mit seinen Enkelkindern schien er alles nachzuholen, was er mit seinen Kindern verpasst hatte. Er erzählte ihnen spannende Geschichten aus seinem Ärzte-Alltag, las ihnen stundenlang aus ihren Lieblingsbüchern vor und zeltete mit ihnen im Garten. Er zeigte ihnen, wie man einen Fahrradreifen flickt und wie man sich die Schuhe bindet. Er hatte großen Spaß am Kochen und brachte ihnen Rezepte bei, die sie mit seiner Hilfe nachkochten und stolz ihren Eltern präsentierten. Er kannte sogar Zaubertricks, mit denen er sein kleines Publikum erstaunte. Alle Kinder, auch die der Nachbarschaft, liebten ihn innig. Marlen beobachtete ihn verwundert und erfreut, aber auch mit etwas Trauer. So sehr hätte sie sich damals so einen Vater gewünscht. Nun war sie selbst Ehefrau und Mutter und brauchte keinen solchen Vater mehr, mochte er auch noch so weich und liebenswert sein.

Ihre Mutter kannte sie nur als tief unglückliche Frau. Schon am Hochzeitstag unglücklich darüber, dass sie nicht den Mann geheiratet hatte, den sie eigentlich liebte, so erzählte sie es ihren Kindern, weil ihr im entscheidenden Moment das Selbstbewusstsein gefehlt hatte, zuzugeben, dass sie einen anderen wollte. Unglücklich darüber, dass sie drei Mädchen bekam, obwohl sie sich Jungs gewünscht hatte, denn Mädchen empfand sie als Strafe Gottes, und darüber, dass sie später immer im Schatten ihres erfolgreichen Ehemannes stand und sich dabei danach sehnte, auch einmal im Rampenlicht zu stehen. Darüber, dass sie groß und dünn war (Storch im Salat!, hatten die Kinder im Schulhof ihr zugerufen), obwohl sie, wenn sie schon bedauerlicherweise als Frau auf die Welt gekommen war, lieber zarter und weiblicher gewesen wäre. Dass sich alle Männer nach ihr umdrehten, erkannte sie nie, und schämte sich stattdessen wegen ihrer langen Beine, um die sie jede Frau beneidete. Unglücklich auch und vor allem darüber, dass sie älter wurde, ein für sie ganz und gar unerträglicher Gedanke.

In jener Zeit, als Marlens Mutter in Schwermut und ihr Vater in Arbeit versanken, hörte sie auf zu essen.

Sie hatte gerade mit Ballett-Unterricht begonnen. Nach monatelangem Betteln hatte ihre Mutter endlich eingewilligt. Nicht, dass sie ausdrücklich dagegen gewesen wäre, aber sie sah einfach keinen Sinn darin, dass ihre Tochter einen Kurs belegte, um sich sportlich zu betätigen. Sie hatten einen großen Garten, und jedes Kind besaß ein Fahrrad. »Geh raus, dort hast du Sport genug«, hieß es. Aber eines Tages hatte ihre Mutter nachgegeben, eher um ihre Ruhe zu haben als aus Überzeugung. So stand Marlen nun dreimal die Woche vor dem riesengroßen Spiegel der Tanzschule, zusammen mit all den schönen, graziösen Ballettschülerinnen und musterte sich mit zunehmendem Unbehagen. Zu Hause gab es keinen solchen Spiegel und sie war sich nie bewusst gewesen, wie sie eigentlich aussah. Wie ihr Körper aussah. Mit fünfzehn Jahren hatte sie immer noch keinen Busen, sondern nur eine kleine Wölbung, die ihre Geschwister als »Linse auf dem Brett« bezeichneten. Dafür trat ihr Bauch auf unnatürliche Weise hervor, wie auf den Bildern der Biafra-Kinder, an die ihr Vater sie mit erhobenem Zeigefinger erinnerte, wenn sie nicht aufessen wollte. Als ob sich der Bauch eines anderen Kindes füllen würde, wenn sie ihren Teller leerte, dachte sie dann, aber sie hätte nie gewagt, ihrem Vater zu widersprechen. Dieser hässliche Bauch muss weg, beschloss sie. Also aß sie immer weniger, zerkleinerte ihre Häppchen in winzige Stückchen, auf denen sie endlos herumkaute, damit niemandem auffiel, dass sie ihr Essen kaum anrührte. Mit Brot war es einfacher als mit warmen Speisen, das konnte man zerkrümeln und auf den Schoß gleiten lassen. Beim Aufstehen fiel es dann auf den Boden und einer der Hunde oder der Staubsauger erledigte den Rest. Sie fing an, nur noch trockenes Brot oder gekochten Reis zu essen, schob Bauchweh vor oder Kopfweh. Kopfweh kannte sie von ihrer Mutter, die sich regelmäßig mit Migräne zurückzog, wenn die Stimmung zwischen ihr und ihrem Mann angespannt war oder ihr etwas missfiel. Marlen selbst hatte in Wirklichkeit noch nie Kopfschmerzen gehabt. Da ihr Darm arbeitslos war, bekam sie Verstopfung und durfte Abführmittel nehmen, eine neue und einfache Art, um noch schneller an Gewicht zu verlieren. Sie entwickelte einen regelrechten Ekel vor Fett und betrachtete Menschen, die Essen in sich hineinschaufelten, mit Abscheu. Ohne es genauer erklären zu können, fühlte sie sich in solchen Momenten überlegen, geradezu erhaben, und je dünner sie wurde (sie hatte sich angewöhnt, die Wölbung ihres Bauches ständig mit einer schnellen Handbewegung zu kontrollieren), desto stärker war das Gefühl des Sieges. Dieser Triumph versetzte sie in einen geradezu euphorischen Zustand, in einen Rausch, der umso intensiver war, als sie ihn geheim halten musste. Sie fand Gefallen daran, zu beobachten, wie ihre Hüftknochen spitzer heraustraten, wie ihre kindlichen Pausbacken dahinschmolzen und wie in ihrem immer schmaleren Gesicht ihre Augen größer erschienen. Zu Hause fiel es seltsamerweise niemandem auf, dass sie bald nicht mehr schlank war wie früher, sondern erschreckend dürr, doch das spielte keine Rolle. Denn sie war nicht allein. Es war ihr, vor allem als sie schon extrem untergewichtig war, immer häufiger, als säße da ein kleiner Kobold auf ihrer Schulter, der ihr beim Essen zusah und mit ihr sprach. Der ihr zuflüsterte, nur Wasser zu trinken, keinen Saft, wegen des Zuckers, und keine Milch, denn Milch enthielt Fett. Fett, das sich als wabbeliges Polster auf den Bauch legen würde. Der sie ermutigte, nur ein kleines Löffelchen Kartoffelbrei zu essen, ohne Soße, und Brot nur trocken zu sich zu nehmen. »Wenig«, flüsterte er ihr immer wieder zu. »Wenig«. Oder er hauchte: »Es reicht. Es reicht.« Und er deutete von dort, wo er verborgen in ihrer Halsbeuge saß, auf die vollen Teller ihrer Geschwister und die ihrer Eltern, und sie konnte sein verächtliches Schnauben hören. Er war ihr Komplize, und das gab ihr Kraft. Als sie immer häufiger Zahnfleischbluten bekam, und ihre Haare auszufallen begannen, bekam sie Angst. Angst, sie würde nun sterben. Und sie nahm sich fest vor, ab nun zu essen. Aber trotz aller guten Vorsätze konnte sie es nicht. Jeder Bissen wurde ihr zur Qual, und die Strafe unmittelbar danach ein unerträgliches, widerliches Völlegefühl im Bauch. Nur ihre Ballettlehrerin bemerkte eines Tages, dass etwas nicht stimmte, und sprach sie darauf an. Sie ging mittlerweile täglich zur Ballettschule, trainierte eisern, stundenlang, auch an den Tagen, an denen es keinen Unterricht gab. An einem solchen Tag kam ihre Lehrerin in den Ballettsaal und beobachtete sie eine Weile. »Isst du denn auch genug?«, fragte sie. Da rollten Marlen plötzlich Tränen über das Gesicht, die sie weder erklären noch zurückhalten konnte. War es die Befriedigung, dass ihre Hungerkur offensichtlich Erfolg zeigte und der verhasste Körper sich geändert hatte? War es Selbstmitleid oder einfach Erleichterung darüber, dass jemand sie ansah und sich um sie sorgte? Sie weinte und weinte, unfähig, ihrer Ballettlehrerin eine Erklärung zu liefern, und während sie in der Dunkelheit nach Hause radelte, trat sie energischer als sonst in die Pedale ihres alten Rades und nahm sich fest vor, in Zukunft noch etwas weniger zu essen. Vielleicht so lange, bis sie leicht wurde wie eine Feder, sich ganz auflöste und einfach davonschwebte.

Ob Kai auch irgendwann unter dem Gefühl gelitten hatte, nicht genügend geliebt oder beachtet zu werden? Hatte auch er auf irgendeine Art und aus irgendeinem Grund um Hilfe gerufen, ohne gehört zu werden? War er aus Verzweiflung dermaßen abgestürzt, dass er heute in einer psychiatrischen Klinik lag? Besonders dick war er nie gewesen. Ob in der Schule oder beim Kinderarzt, lag er bei der Gewichtskontrolle immer eher an der unteren Grenze der Skala. Wenn sie darüber nachdachte, hatte er früher einen gewissen Hang zum Perfektionismus gehabt, und diesen extremen Ehrgeiz. Alles, was er tat, tat er gewissenhaft und akkurat. Kurz nachdem er seine ersten Schritte gemacht hatte, stellte er schon allein seine kleinen Schuhe in der Garderobe ab, und nach dem Abendbrot räumte er freiwillig und ganz ohne Widerrede seine Spielsachen in die große Spielkiste. Im Kindergarten war er dadurch aufgefallen, dass er immer bemüht war, es allen recht zu machen, und durch seine Bereitwilligkeit, Spielsachen mit den anderen Kindern zu teilen. Genauso war es später in der Schule, wo er bei Lehrern und Schülern gleichermaßen beliebt war. Sie hatte das schön gefunden und war immer stolz auf ihr Kind gewesen. Nun war sie plötzlich unsicher. Hatte sie ihm nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt? Viele ihrer Freundinnen stöhnten über die undankbare Aufgabe, Mutter zu sein und konnten es kaum erwarten, dass ihre Vögelchen das Nest verließen, damit sie ihre Freiheit zurückbekämen. In Marokko war es ohnehin üblich, die Betreuung der Kinder einer Nanny oder der Haushaltshilfe zu überlassen, um sich stattdessen ganz mit der eigenen Person zu befassen und sich für den nächsten mondänen Abend herauszuputzen. Da gab es das Hammam für die porentiefe Reinigung des gesamten Körpers, und an jeder Straßenecke Massage- und Epilier-Studios sowie Haar- und Nagelstudios. Die Auswahl der Garderobe beanspruchte ebenfalls viel Zeit, die Accessoires mussten perfekt aufeinander abgestimmt sein. Keine Dame von Welt, die etwas auf sich hielt, würde zweimal in demselben Kleid erscheinen, aus Angst, man könnte meinen, ihr fehle das Geld, sich für jeden Anlass etwas Neues zu leisten. Für die Erziehung der Kinder blieb wenig Zeit. Sogar für Kindergeburtstage war es üblich, ein Entertainment-Team kommen zu lassen, bestehend aus DJ, Clowns, Animateuren für die Spiele und einem Cateringservice für das Büffet. Eigenhändig einen Kuchen zu backen oder mit den Kindern Topfschlagen und »Reise nach Jerusalem« zu spielen war in diesen Kreisen undenkbar. Marlen konnte sich nicht daran gewöhnen. Sie liebte ihre Mutterrolle, ging ganz darin auf, hätte am liebsten nicht nur zwei, sondern vier oder sechs Kinder gehabt, weinte am ersten Kindergartentag, weil sie sich einen Vormittag lang von Kai trennen musste, und irrte am ersten Schultag rastlos umher, bis es endlich Zeit war, ihn wieder abzuholen. Auch Reisen ohne Kai und Amy waren stets mit Sehnsucht nach ihnen erfüllt, egal, wie traumhaft das Reiseziel war. Aber wer kann in ein Kind hineinschauen? Wer hatte damals, als sie noch ein Kind war, etwas von ihrer Verzweiflung geahnt, bis sie in einer Klinik gelandet war, in der sie mühsam wieder lernen musste, Nahrung zu akzeptieren? In einer Klinik. Wie Kai heute.

Auch bei Kai war es ja eine Lehrerin, die als erste die Veränderung bemerkte, und sie an einem Elternabend darauf hinwies. Er sei nicht mehr so aufmerksam wie sonst, würde müde und gelangweilt wirken, zuweilen sogar aufmüpfig reagieren, wenn man ihn aus seiner Tagträumerei weckte, ein Verhalten, das ganz und gar nicht zu dem früher vorbildlichen Schüler passte. Ihr Mann und sie reagierten gelassen, eher belustigt auf diesen Hinweis. Kai? Aufmüpfig? Das konnte nicht besorgniserregend sein. Vielleicht waren sie sogar erleichtert, denn Kai war bislang allzu brav gewesen. Hätte Marlen nicht ein zweites Kind bekommen, das sich in kindlichen Wutanfällen ohne ersichtlichen Grund laut brüllend auf den Boden warf und erst aus Erschöpfung wieder so weit zu sich kam, dass man es ansprechen konnte, wäre sie davon überzeugt geblieben, dass nichts einfacher war, als ein Kind zu erziehen, und dass all diese verzweifelten Eltern mit ihren ungezogenen Kindern etwas gründlich falsch machen mussten. Nun war Kai also angeblich etwas weniger pflegeleicht. Das war doch in seinem Alter normal, fanden sie, immerhin war er nun siebzehn, und sie beschlossen, Kai nicht zu ermahnen, nicht in seiner Freiheit, die er erst seit Kurzem zu genießen schien, einzuschränken, obwohl seine Noten immer tiefer sanken.

War das der Moment gewesen, nach dem sie suchte, der Moment, wo sie ihn verloren hatten, wo sie durch ihre Sorglosigkeit zugelassen hatten, dass die Weichen für immer umgestellt wurden?

Der Sommer, in dem ihre Welt zusammenbrach, fing ganz harmlos an. Wie jedes Jahr hatte die Familie eine schöne Fernreise geplant. Diesmal war das Reiseziel besonders exotisch: Zusammen mit Freunden und deren drei Kindern wollten sie mit einem Segelboot die Seychellen entdecken. Gibt es etwas Aufregenderes als drei Wochen auf einem Katamaran mitten im Indischen Ozean? Sie hatten schon einmal eine ähnliche Reise gemacht, wenn auch im kälteren Atlantik, und jahrelang danach bettelten Kai und Amy, sie mögen doch bitte, bitte diese Erfahrung wiederholen. Man konnte in türkisfarbenen Buchten vom Boot aus ins Wasser springen und die bunte Unterwasserwelt bestaunen, an Land schwimmen und im weißen Sand handgroße Muscheln sammeln und Süßigkeiten aus Kokosmilch kaufen, die von den Einheimischen am Strand auf großen Bastmatten angeboten wurden, oder köstliche Teigtaschen, die mit herrlichen, fremden Gewürzen gefüllt waren. Man konnte selbst geangelten Fisch verspeisen, den man auf Holzstöckchen aufspießte und über dem Lagerfeuer grillte, und nachts das Kreuz des Südens und andere Sternzeichen am Himmel bewundern. Umso größer die Überraschung, der Schock, als Kai ankündigte, dass er mit bald achtzehn Jahren alt genug sei, eigene Pläne zu schmieden, und dass er mit Freunden eine Europareise plane, um ihr High-School-Diplom zu feiern. Eine Europareise. Marlen und ihr Mann waren sprachlos. Amy, die sich Ferien ohne ihren großen Bruder nicht vorstellen konnte, war bitter enttäuscht.

Es folgten endlose Debatten, in denen sie versuchten, den bevorstehenden Urlaub in den schillerndsten Farben zu preisen, in der Hoffnung, Kai noch rechtzeitig umstimmen zu können. Nach Europa würden sie doch oft fliegen. Und Weihnachten und Ostern sowieso! Und mit seinen Freunden wäre Kai das ganze Jahr zusammen. Außerdem wäre es viel leichter, eine Europareise nachzuholen als diese einzigartige Segeltour. Martin, der selbst in seiner Kindheit kaum verreist war, weil seine Eltern weder das Geld noch die Zeit dazu hatten, konnte sich vielleicht am schwersten mit der Entscheidung seines Sohnes abfinden. Mit dieser Reise wollte er seinen Kindern einen Traum erfüllen, den er als Kind hatte, übertrug sein Fernweh auf seine Kinder, die Fernweh nicht kannten, und war fassungslos. Er versuchte, Kai zu erklären, welch großes Glück und welcher Luxus es war, an einen fernen Ort reisen zu können. Beschrieb ihm seine eigenen großen Ferien, damals, die nie über die Grenzen Deutschlands gereicht hatten. Urlaub mit den Fahrrädern in einem Umkreis von nur ein paar Kilometern, der Besuch einer Tante, die Kinder in seinem Alter mitbrachte, mit denen er sich dann für die Dauer der Ferien ein Zimmer teilen musste, oder Zelten im Garten. Er hatte das Meer zum ersten Mal gesehen, als er schon erwachsen war, und den Indischen Ozean noch nie. Nichts half: Kai blieb bei seinem Entschluss und zog, wenn auch im letzten Moment unsicher und kleinlaut, zum ersten Mal allein los, während der Rest der kleinen Familie, kraftlos und wackelig wie ein Wagen, der plötzlich nur noch auf drei Rädern fährt, mit gedämpftem Enthusiasmus in die entgegengesetzte Himmelsrichtung flog. Wie schwer wären ihre Herzen erst gewesen, wenn sie geahnt hätten, dass diese Trennung nicht ein paar Wochen, sondern mehrere Monate dauern sollte, und dass Kai in diesem Sommer endgültig von seiner Kindheit Abschied nehmen würde, um als fremdes Wesen zurückzukommen.

Sie dachten während der Reise viel an ihn. Ohne es zu wissen, lebten sie gerade die letzten Tage der Unbekümmertheit, deren Zerfall bereits begonnen hatte. Je schöner das Erlebte, desto schwerer war oft Marlens Herz, denn sie konnte den wunderbaren Augenblick, in dem Wissen, dass Kai ihn verpasste, nicht voll genießen. Amy schien es nicht anders zu gehen. Sie sammelte eifrig Muscheln, Haifischzähne und andere Souvenirs, die sie auf den kleinen Märkten ergatterte, wenn sie Proviant kauften. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Bruder wiederzusehen und lebte die meiste Zeit in Gedanken in der Zukunft, in dem Moment, wo sie endlich Kai ihre Geschenke überreichen könnte und ihm alles, alles erzählen würde. Marlen und Martin beobachteten gerührt die Sehnsucht ihrer Tochter, während sie versuchten zu verstehen, wann und warum sich Kai so von der Familie entfernt hatte, und ob sein Verhalten Teil des normalen Abnablungsprozesses war oder ihre innere Unruhe begründet. Was tat er gerade? Ging es ihm gut? War er glücklich oder bereute er seine Wahl inzwischen bitter? Leider war die Kommunikation sehr schwierig und begrenzte sich während dieser Wochen auf ein paar mickrige Textnachrichten und zwei kurze Telefonate, in denen ihnen Kai gehetzt und abwesend schien.

Dann passierte es: Kai kam nach dem Urlaub nicht zurück. Erst wurden seine Meldungen kürzer und inhaltsloser, schließlich immer seltener, bis sie ganz ausblieben. Ratlos riefen sie die Eltern seiner Freunde an. Die anderen Jungs waren schon längst wieder heimgekehrt und bereiteten sich auf ihr erstes Jahr an der Universität vor. Von Kai keine Spur. Wieder und wieder gingen Marlen und ihr Mann mit wachsender Sorge die belanglosen Kurzmeldungen der vergangenen Wochen durch, suchten auf der Landkarte nach den Orten, die Kai erwähnt hatte, um entmutigt festzustellen, dass sie keinerlei Möglichkeit hatten, herauszufinden, wo sich der Junge aufhielt. Aus Tagen wurden Wochen. Kai schwieg. Immer wieder verhörten sie seine Freunde, in der Hoffnung, dass diese sich an ein Detail erinnern würden, an irgendetwas, das sein Verhalten erklären könnte. Er habe sich einer etwas alternativen Surfer-Gruppe angeschlossen, erklärten sie. Er habe Spanien erwähnt. Und Portugal. Er habe mehrfach betont, dass er weder den Verstand verloren hätte, noch unter irgendeinem Druck, geschweige denn unter Drogen, stünde, sondern einfach gespürt habe, dass er diesen Weg gehen müsse. Er würde später nachkommen, hätte er ihnen versichert, er bräuchte noch etwas Zeit. Das stimmte in der Tat mit seinen letzten Meldungen überein. Aber was hieß »etwas Zeit«? Was war mit der Universität? Die Kurse hatten begonnen, und es würde so gut wie unmöglich werden, den verpassten Stoff wieder aufzuholen. Um sich zu beruhigen, mahnte sich Marlen, ihrem Sohn zu vertrauen. Er war klug. Er war vernünftig. Er würde sich keiner seltsamen Sekte anschließen und abtauchen. Nicht er. Nicht Kai. Nicht ihr charakterfester Sohn. Wahrscheinlich brauchte er einfach eine Auszeit. Aber »etwas Zeit« war keine Formulierung, an der man sich festhalten konnte, sondern dehnbar und abstrakt wie ein leeres Versprechen, leer wie das Bett in Kais verlassenem Zimmer. Leer wie sein Platz bei Tisch.

In schlaflosen Nächten, in denen ein unkontrollierbares Angstgefühl sich ihrer bemächtigte und Panikanfälle ihr den Hals zuschnürten, malte sie sich aus, wie Kais Foto an Flughäfen und Bahnhöfen hängen würde, darunter in großen Buchstaben das Wort: »Vermisst«. Ein Wort, das so viel Schmerz enthielt, so viel Verzweiflung, so viel … Sie verbot sich, es zu denken, und dachte es doch: Endgültigkeit. Sie hatte nie verstanden, wie Menschen sich freuen oder zumindest aufatmen konnten, wenn die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen nach Naturkatastrophen oder Flugzeugunglücken gefunden wurden. Hatte geglaubt, nichts könnte schlimmer sein als zu wissen, dass eine geliebte Person nie mehr lebendig zurückkehren würde. Denn danach fiel für immer ein schwarzer Vorhang. Nun aber ahnte sie, dass die Qual der Ungewissheit vielleicht noch schmerzhafter, noch unerträglicher war. Sie ahnte, warum allein die Gewissheit – und mochte es auch die härteste, erbarmungsloseste sein – es ermöglichte, irgendwann wieder Frieden zu finden und weiterzuleben. Sie fürchtete, sie hasste die Nächte, weil sie mit ihrer Dunkelheit, mit ihrer bedrohlichen Stille die perfekte Leinwand für die Projizierung ihrer Albträume boten. Jede Nacht ein finsterer Film. Und jeder Morgen ein erschöpftes Sortieren von Traum und Wirklichkeit, von Befürchtetem und wirklich Geschehenem, in einem Zustand von Angst und Erleichterung zugleich. An welche Polizei sollten sie sich wenden? War Interpol nicht für solche Fälle zuständig? Aber wo sollte man die Suche ansetzen? Und ab wann? Immerhin war er kein Kind mehr, war sogar mittlerweile volljährig, und hatte zudem angekündigt, dass er etwas Abstand nehmen müsse und »über Einiges nachdenken« wolle. Eine Entführung kam wohl kaum infrage. Es gab, von außen betrachtet, keinen Grund zu übermäßiger Sorge. Würde die Polizei den Fall überhaupt aufnehmen?

Und dann stand Kai eines Tages vor der Tür. Aus den drei Wochen waren drei Monate geworden und aus dem Kind ein Fremder. Verschlossen, wortkarg, ablehnend. Auch Amy hatte Mühe, an ihren Bruder ranzukommen. Die innige Vertrautheit, die die Geschwister ihre ganze Kindheit lang geteilt hatten, war verschwunden. Amy litt sichtlich darunter. Bekümmert beobachtete Marlen, wie Amy ihren Bruder verstohlen ansah, seine Nähe suchte, aber dann nicht weiterwusste, nicht mehr die Worte fand, die seine Aufmerksamkeit, sein Interesse weckten, überhaupt zum ersten Mal Worte brauchte, um sich mit ihm zu verständigen. Zwischen ihm und dem Rest der Welt schien ein unüberwindbarer Graben zu liegen, zu breit für jede Verständigung. Er war zurück, aber er war nicht da. Er stand vor ihnen und war doch ferner denn je.

Was Kai in diesen Monaten erlebt hatte, was ihn dazu veranlasst hatte, nicht mit seinen Freunden zurückzukommen, wozu er die Zeit gebraucht hatte und warum er sich nicht gemeldet hatte, konnte oder wollte er nicht verraten. Wenn man ihn darauf ansprach, stammelte er Entschuldigungen, die aufrichtig klangen: es täte ihm leid, er wolle niemanden verletzten, aber er hätte nicht die Wahl gehabt, er musste einfach fortbleiben. Er sprach von einem Rückzugsort, den er nicht genauer definierte, und von der Reinigung seiner Seele. Es umgab ihn eine Aura, kalt wie eine Glasglocke, die jeden Annäherungsversuch unmöglich machte. Eine kaum spürbare Feindlichkeit. Vielleicht war es sogar weniger als Feindlichkeit, nur eine Ablehnung in seiner Haltung, in seinen Augen, genau wusste Marlen es nicht zu sagen, obwohl dieses Etwas so deutlich zu spüren war wie ein striktes, laut formuliertes »Nein«. Er war wie ein Fremder in Kais Körper, der auch nicht mehr derselbe Körper war, sondern eine neue Version davon. Auch hier konnte sie nie genau herausfinden, was es war, das sie irritierte und dazu führte, dass auch noch Wochen später eine Kluft blieb, die sich nicht schließen ließ, und sich auch nie wieder schließen würde. Sie war ihm böse dafür, dass er ihre heile Welt zerstörte, und gleichzeitig entsetzt über ihren Zorn.

Dank seiner guten Zeugnisse wurde Kai trotz der erheblichen Verspätung an der Universität angenommen, mit der Auflage, den verpassten Stoff innerhalb des ersten Semesters aufzuholen. Aber anstatt nun intensiv für sein schwieriges Studium zu arbeiten – immerhin wollte er Arzt werden –, wurde Kai immer nachlässiger, verschlief wichtige Vorlesungen, verpatzte Zwischenprüfungen, obwohl er eben noch durch seine klugen und gut recherchierten Beiträge vielen Dozenten positiv aufgefallen war. Er zeigte keinerlei Interesse an den Gruppenarbeiten und erreichte in kaum einem Fach die notwendige Punktzahl. Seinen Eltern erklärte er, er habe sich getäuscht. Arzt sei »nicht sein Ding« und ohne Überzeugung könne er nicht lernen.

Das perfekte, unbeschwerte Leben der letzten Jahre, an dem Marlen festhalten wollte, war dabei zu zerbröckeln. Einer Sandburg gleich, die mit viel Sorgfalt errichtet und nun gnadenlos von jeder anrollenden Welle ein Stückchen mehr verschlungen wurde, zerrann es Turm für Turm, bis nur noch ein Häufchen Sand zu sehen war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als diese Zerstörung schweigend und machtlos zu verfolgen.

Völlig unerwartet bat Kai eines Tages darum, die Universität zu wechseln. Auch wenn diese Bitte wenig Sinn ergab und die neue Universität keineswegs das Niveau der ersten hatte, gaben sie seinem Wunsch nach, in der vagen Hoffnung, er würde dort vielleicht seine Lust am Lernen wiederentdecken. Also fing er an einer neuen Universität an … und versagte wieder. Genau genommen versagte er nicht. Er begann, kaum dass er angefangen hatte, schon wieder an der Richtigkeit seiner Entscheidung zu zweifeln. Trotz hervorragender Noten. Trotz der Mühelosigkeit, mit der er lernte. Marlen fiel damals zum ersten Mal auf, dass es ein Muster in seinem neuen Verhalten zu sein schien, die absolute Unfähigkeit, zu einer Entscheidung zu stehen. Und es verhielt sich bei den großen Entscheidungen, der seines Studienfaches, genauso wie bei nichtigen, etwa der Auswahl eines Kleidungsstückes oder einer Speise. So geriet er manchmal in schiere Verzweiflung, wenn es um die belanglosesten Dinge ging: Sie rief zum Abendessen. Amy kam angerannt, Kai meldete, er habe keinen Hunger und wolle nichts. Kurz danach saß er schweigend bei ihnen am Tisch. Kaum hatte er einen Happen gegessen, konnte er doch nicht bleiben, erklärte knapp, er sei fertig, nahm seinen Teller und trug ihn in die Küche. Dann verschwand er wieder in seinem Zimmer. Hin und wieder fand sie ihn gedankenverloren vor dem Kühlschrank stehend, und wenn sie fragte, was er suchte, antwortete er mit einem verlegenen Lächeln: »Ich weiß nicht. Ich hatte Hunger. Aber eigentlich doch nicht. Oder vielleicht schon?« Sie sah ihm seine Qual an, und seine Scham. Sie tat so, als wäre sein Verhalten ganz normal, ließ ihn am offenen Kühlschrank stehen und gab ihm noch ein paar Tipps. Erst wenn sie außer Sichtweite war, erlaubte sie sich ein fassungsloses Kopfschütteln oder eine Geste der Ungeduld.

Einmal wollten sie alle zusammen ein Stück wandern gehen. Er zog seine Sportschuhe an, schien nachzudenken, zog sie wieder aus. Stellte sie weg und hob sie sofort wieder aus dem Regal, noch ehe er sie richtig abgestellt hatte, schlüpfte hastig wieder hinein, als wolle er durch seine Eile verhindern, dass der Kopf ihm schon wieder eine Programmänderung diktierte. Doch schon hielt er inne und sagte dann erschöpft: »Ach, geht ohne mich.« Marlen beobachtete diese chronische Unentschlossenheit mit wachsendem Unbehagen, führte sie dann aber auf die chaotischen letzten Zeiten zurück und verbot sich, weiter darüber nachzudenken. Bald machte sich Kai nicht einmal mehr die Mühe, an den Vorlesungen teilzunehmen und berichtete beiläufig von katastrophalen Noten. So verstrich ein weiteres, erfolgloses Semester.

Wenn Marlen sich immer noch überzeugen wollte, dass es sich hier um eine banale pubertäre Krise handelte, verwandelte sich bei Martin die anfängliche Nachsicht in Unverständnis und schließlich in Zorn. Es fiel ihm schwer, mit Kais Passivität umzugehen, und er hielt in seiner Entrüstung lange Reden, wurde laut, warf Kai Faulheit und Verantwortungslosigkeit vor. Kai schwieg, zeigte sich weder aufmüpfig noch verletzt, nur hilflos und niedergeschlagen. Und Martin, der seine Kinder schon lange zu Selbstständigkeit und Eigeninitiative ermutigt hatte, sah sich nun gezwungen, einzugreifen. Er beugte sich über die Angebote verschiedener Universitäten, verglich dort Fächer und Unterrichtsqualität, studierte Arbeitsmarkt und Berufschancen und teilte das Ergebnis seiner ausführlichen Recherchen mit seinem Sohn. Auch wenn Kai um diese Art der Hilfe nicht gebeten hatte, schien er erleichtert und dankbar für die Unterstützung seines Vaters. Seine eigene Ratlosigkeit quälte ihn, und die schlaflosen Nächte, die er im Internet mit der fruchtlosen Suche nach seiner Berufung verbrachte, zeichneten sein junges Gesicht. Alles schien ihn zu interessieren, nichts konnte ihn überzeugen. Je mehr er suchte, desto mehr Möglichkeiten eröffneten sich ihm, und genau das wurde sein Dilemma. Früher wurde man Arzt oder Landwirt oder vielleicht Lehrer. Aber heute gab es so unendlich viele mögliche Orientierungen, und jede Wahl brachte sofort Dutzende von neuen Verzweigungen mit sich, und durch das Internet vervielfachten sich diese Möglichkeiten bis ins Unendliche. Kais Ratlosigkeit wuchs im gleichen Maß wie das Angebot. Marlen hatte einmal von einem Experiment gelesen, bei dem Verbraucher beim Kauf von Marmelade von versteckten Kameras beobachtet wurden. Gab es drei Sorten zur Auswahl, hatte jeder Verbraucher in weniger als fünf Sekunden seine Präferenz ausgemacht und stellte zufrieden ein Glas in seinen Einkaufswagen. Stellte man zu diesen Sorten drei weitere Sorten, standen die Verbraucher wesentlich länger vor den Gläsern, was verständlich ist, aber nur noch zwei von drei Personen entschieden sich, eine Sorte zu kaufen. Die anderen ließen es bleiben. Bei einem Angebot von über zehn Sorten stellte nach langem Studieren kaum mehr ein Verbraucher ein Marmeladenglas in seinen Warenkorb. Die allermeisten waren einfach überfordert und zogen weiter. Vor Kai standen nicht zehn, sondern Hunderte von Marmeladengläsern.