Der letzte Aufguss - Carsten Sebastian Henn - E-Book
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Der letzte Aufguss E-Book

Carsten Sebastian Henn

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Beschreibung

Der Lehrstuhl für Kulinaristik in Cambridge steht unter einem schlechten Stern: Schon zwei Professoren wurden tot in einem Kahn auf dem Fluss Cam gefunden – eingelegt in teuersten weißen Darjeelingtee. Adalbert Bietigheim lässt sich nicht abschrecken und übernimmt die Professur, um herauszufi nden, wer die beiden Kollegen auf dem Gewissen hat. Etwa sein alter Widersacher Professor Rutz vom konkurrierenden Trinity College? Oder hat Teemeister Muso Kokushi etwas damit zu tun, eine Koryphäe des Matcha-Tees, über den beide Mordopfer forschten? Die Ermittlungen führen Bietigheim zur einzigen Teeplantage Englands, zu einem legendären Teekuchen, zum Rätsel um die »Sechste Schale« und in den Glockenturm der Kirche Great St. Mary – wo jemandem sein sprichwörtlich letztes Stündchen schlägt …

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Für die Insel

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95833-0

© 2012 Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Umschlagillustration: Oliver Wetter Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Zwinge das Glück nicht herbei,

bei einer Schale Tee kommt es meist von allein.

KAPITEL 1

White Darjeeling

Professor Adalbert Bietigheim stand vor der Tür eines viktorianischen Reihenhauses im Osten Cambridges. Ohne das hübsche Äußere auch nur eines Blickes zu würdigen, steckte er ungeduldig seinen Schlüssel ins Schloss, denn die britische Geistesmetropole hatte ihn mit fiesem Nieselregen begrüßt, der bereits von der Krempe seines Borsalino-Hutes tropfte. Kein Wunder, dass die Briten schon immer eine Seefahrernation waren. Dieses Wetter trieb einen förmlich in andere Gefilde.

Die Koffer des Professors hatte der Taxifahrer einfach auf den Bürgersteig gestellt und war davongebraust. Unverschämtheit! Dabei hatte Bietigheim ihm auf der Fahrt einen vollkommen kostenlosen Kurzvortrag über angemessenes Tempo und die Nachteile des Linksverkehrs gehalten.

Undank ist der Welten Lohn!

Ohne auch nur das geringste Knarren öffnete sich die Tür und gab den Blick frei auf einen kleinen Flur mit einer steilen Treppe. Beinahe wäre der Professor auf einen DIN-A5-Umschlag getreten, der mit »Bietigheim« beschriftet war und den jemand durch den Briefschlitz eingeworfen haben musste. Der Ordnung halber hob er ihn auf, beschloss jedoch, ihn erst später zu öffnen.

Zur Linken führte eine Tür ins Wohnzimmer, das einem Sherlock-Holmes-Film entsprungen schien. Im Kamin knisterte ein Feuer, das bestimmt die Haushälterin entzündet hatte. Ein dunkelgrünes Chesterfield-Sofa beherrschte den Raum, die Tapete war in rotem Schottenmuster gehalten, dazu viel dunkles Holz und Regale mit ledergebundenen Büchern. Der Rauch von unzähligen Pfeifen, die die Professoren über Jahrhunderte hier geschmaucht hatten, hing in den Wänden. Vermutlich hatten sie ihren Tee in dem mächtigen Ohrensessel genommen, direkt neben dem Fenster, durch das man in den sprießenden Garten blicken konnte.

Bietigheim fühlte sich auf Anhieb wohl.

Seinen letzten beiden Vorgängern war es sicher nicht anders ergangen.

Allerdings waren sie nun tot.

Ermordet.

Gnu, dachte Adalbert Bietigheim prompt. Und: Phenolphthalein. Seit Kurzem wanderten seine Gedanken, wenn er unruhig war, zu ungewöhnlichen oder komplizierten Wörtern. Natürlich gestand er sich diese kleine Verdrängungstechnik nicht ein, sondern betrachtete sie als unregelmäßig auftretende, aber ungemein liebenswerte Marotte.

Auf dem Tisch lagen die »Cambridge Evening News«. Bietigheim stellte sich daneben, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und blickte auf die Titelseite. Dort prangte ein Farbfoto seines Vorgängers, Professor Jonathan Cleesewood. Ein Mann, der immer so aussah, als hätte er einen Arm und ein Bein zu viel, mit denen er nicht wüsste, wohin. Er war die personifizierte britische Ungelenkigkeit. Sein Gesicht war blasser als Ziegenfrischkäse, weshalb seine Kollegen in der Kulinaristik mutmaßten, dass er den ganzen Tag – und die ganze Nacht – nichts anderes machte, als in seinem Büro zu arbeiten. Ihm war unter anderem eine revolutionäre Arbeit über die Krümeligkeit von Teegebäck zu verdanken. Auch über Pudding und Pies hatte er Grundlegendes zu Papier gebracht. Und in Sachen grüner Tee gehörte er zu den europäischen Koryphäen.

Auf dem Foto allerdings lag er in einem der typischen Stechkähne Cambridges, Punting-Boot genannt. Genauer gesagt lag er in einer Flüssigkeit, mit der das Boot gefüllt war. Es war Tee, teuerster White Darjeeling, in dessen Genuss er nun allerdings nicht mehr kommen würde. Auch von der gesundheitsfördernden Wirkung aufgrund des hohen Polyphenolgehalts würde er nicht mehr profitieren können. Blutdrucksenkend sollte weißer Tee auch sein. Das zumindest stimmte in diesem Fall, denn tiefer als bei einem Toten konnte der Blutdruck kaum sinken.

Bietigheim fühlte sich ein wenig an die Bestattungsriten der Wikinger erinnert, die ihre toten Krieger in voller Rüstung in ein Boot legten, dieses zu Wasser ließen und dann in Brand steckten, bevor es sich auf seine Reise ins Reich Walhalla begab.

Cleesewoods Vorgänger Tim Shropsborough hatte man auf dieselbe skurrile Art hergerichtet. Timothy Martin James Charles Eugene, 17. Earl von Shropsborough, war ein Exzentriker gewesen. Seine grauen Haare hatte er zu einem geflochtenen Pferdeschwanz gebunden, sein Bart glich dem Salvador Dalís, und seine Kleidung stammte nahezu ausschließlich von seiner guten Freundin Vivienne Westwood. Keine Party, die er ausgelassen hätte, kein gesellschaftliches Event, auf dem er sich nicht sehen ließ. Publiziert hatte er nicht viel, und selbst bei seinen wenigen Schriften fragte man sich, wann er je die Zeit dafür gefunden hatte. Doch er hatte die Kulinaristik in die Medien gebracht, denn über einen Paradiesvogel wie ihn wollten alle berichten. Auch Forschungsgelder und andere Mittel hatte er akquiriert und Cambridge damit zum wichtigsten Zentrum der Teeforschung außerhalb Asiens werden lassen.

Nun, nach dem Tod von Cleesewood, spekulierte die Zeitung darüber, wer die Nachfolge antreten würde. Der Redakteur war der Meinung, es könne nur ein ausgesprochen mutiger Mann sein.

Oder schlicht ein Vollidiot.

Bietigheim hatte die Stelle in einem plötzlichen Anflug von Abenteuerlust angenommen. Nun kam ihm der Entschluss ein wenig wahnsinnig vor. Seine beiden Vorgänger waren innerhalb eines halben Jahres auf dieselbe Art und Weise umgebracht worden. Der Serienkiller hatte ganz offenbar etwas gegen die Inhaber dieses Lehrstuhls. Nur warum? Das Fach Kulinaristik schadete niemandem, es war größtenteils unpolitisch, die Forscher äußerten sich selten zu Fragen der Religion (und wenn, dann höchstens zum Thema Essensgebote), und von Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Drogenhandel, Prostitution oder Erpressung hatte auch nichts in der Stellenbeschreibung gestanden. Warum also diese einfallsreichen, aber nichtsdestotrotz abscheulichen Morde?

Am Ende des Artikels wurde darauf hingewiesen, dass im Innenteil Ausführlicheres über die Taten zu finden war. Bietigheim umkreiste den Wohnzimmertisch mit der Zeitung eine Weile, dann atmete er tief durch, griff sie sich und ließ sich in den Ohrensessel fallen. Wäre wenigstens Benno von Saber bei ihm, sein treuer Foxterrier. Dann hätte er sich wohler gefühlt. Ein Haus ohne Hund war wie ein Huhn ohne Federn. Doch die Quarantänevorschriften Großbritanniens waren streng und eindeutig. Selbst so knuffige Exemplare wie Benno mussten draußen bleiben. Bietigheim erinnerte sich noch gut, wie er ihn damals beim Züchter in Eimsbüttel abgeholt hatte. Den Fahrradkorb hatte er für die Rückfahrt mit einer Zeitung ausgelegt – auf der sich der kleine Racker dann erleichtert hatte. Und zwar genau auf dem Artikel über die rivalisierende Universität Bremen.

Da hatte er gewusst, dass sie dicke Freunde werden würden.

Der Professor überflog den Artikel in den »Cambridge Evening News«. Der Mörder war noch immer nicht gefasst, und zwischen den Zeilen war zu lesen, dass die Polizei nicht einmal eine brauchbare Spur hatte. Bietigheim hielt die Zeitung so, dass die wenigen Lichtstrahlen dieses trüben Tages auf das große Farbfoto im Innenteil fielen. Hatte er es sich doch gleich gedacht! Das mochte ja weißer Darjeeling sein, aber er war miserabel aufgebrüht. Stümperhaft geradezu. Aber so etwas fiel Polizisten natürlich nicht auf, was wussten die schon von den Feinheiten der Teekultur? So viel wie eine Kuh von Astrophysik.

Neben dem Artikel befand sich eine Anzeige von Auntieʼs Tea House, wo eine neue Bedienung gesucht wurde. Ihr Werbe-Slogan (»Tee – weckt die Lebensgeister!«) mutete neben dem Artikel über die toten Professoren ein wenig geschmacklos an. Und das war bei Tee immer schlecht.

Bietigheim legte die Zeitung auf den Beistelltisch und drehte sie um, damit er die Titelseite nicht mehr sehen musste. Dann öffnete er den Briefumschlag.

Doch das machte alles nur noch schlimmer.

Der Umschlag enthielt Fotos der Ermordeten. Detaillierte Nahaufnahmen der aufgequollenen Gesichter. Aus allen Blickwinkeln.

Wer schickte ihm so etwas zur Begrüßung? Die Fotos waren tagsüber geschossen worden, also konnten es keine Erinnerungsaufnahmen des Mörders sein, denn dieser hatte nachts zugeschlagen. Doch wer war dann so zynisch, ihm mit diesen Fotos so deutlich vor Augen zu führen, welches Damoklesschwert über ihm schwebte? Ein Schwert, das im Übrigen jederzeit fallen konnte, noch bevor er auch nur eine einzige Tasse Tee getrunken hatte?

Apropos Tee, dachte Bietigheim, eine Tasse mit heißem Earl Grey wäre jetzt wunderbar für Leib und Seele – herrlich erfrischender chinesischer Schwarztee mit Schalen der Bergamotte, Citrus bergamia. So ein Neuanfang ging mit Tee gleich viel besser, und ein wenig Teegebäck von Ackenthorpe durfte auch nicht fehlen.

Auf dem Weg zur Küche bemerkte Bietigheim vor dem Fenster zur Pretoria Road einen Blitz. Er zählte innerlich die Sekunden bis zum Donner, um abzuschätzen, wie weit das Gewitter entfernt war. Doch es kam kein Donner.

Dafür noch ein Blitz.

Und ein weiterer.

Bietigheim trat zum Fenster und bereute es sofort. Draußen stand ein Fotograf, der nun ein wunderbares Bild von ihm schoss, wie er wütend hinausblickte. Dann rannte der junge Mann fort, denn vermutlich ahnte er, dass Bietigheim ansonsten die Kamera und seine Nase nicht im Originalzustand gelassen hätte.

Was für ein Tag.

Schlimmer konnte es kaum werden.

Adalbert Bietigheim war ein wenig enttäuscht, dass er seinen extra angeschafften Schirm mit aufgedrucktem Hamburger Landeswappen nicht brauchte, als er aus der Tür trat. Aber es schien tatsächlich die Sonne. Dabei hätte ihn das nicht wundern müssen, denn wenn er sich an seine Zeit als Juniorprofessor in Cambridge erinnerte, schien immer die Sonne. Es stimmte zwar, dass es oft regnete, aber es hörte eben auch oft wieder auf. Das Wetter wechselte schneller als Ebbe und Flut.

Gerne wäre der Professor mit seinem alten Hollandrad gefahren, doch dessen Transport hatte sich als sehr kompliziert herausgestellt. Nun war er also nicht nur hunde-, sondern auch fahrradlos. Doch er hatte immer noch seine Füße! Und die trugen ihn nun über die Fußbrücke am Ende der Pretoria Road und am Cam entlang bis zum Zentrum des Städtchens. Allerdings nannte Bietigheim den träge dahinfließenden Fluss Granta. Denn erst nachdem die angelsächsische Siedlung Grantebrycge zu Cambridge geworden war, hatte auch der Fluss seinen ursprünglichen Namen verloren. Doch alle, die ihn gut kannten, durften ihn weiterhin bei seinem Geburtsnamen nennen.

Der Weg zu seinem neuen Arbeitsplatz war nicht weit, denn Professoren durften einer alten Vorschrift zufolge nicht weiter als zwanzig Meilen von der Universität oder genauer gesagt von der Kirche Great St Maryʼs im Herzen Cambridges wohnen, Studenten gar nur drei Meilen. Bietigheim passierte das beste Restaurant der Stadt, das mit zwei Sternen dekorierte Midsummer House. Einige köstliche Düfte stahlen sich bis in seine Nase – geröstetes Rosmarin-Salzlamm, Seezunge an Lakritz-Limettensauce, Tarte Tatin mit Champagnersorbet –, doch jetzt hatte er keine Zeit für ein ausschweifendes Mahl – er musste zum Institut für Kulinaristik.

Linkerhand des Flusses erstreckten sich das weitläufige Grün des Parks Jesus Green und der nach ihm benannte Jesus Green Swimming Pool, rechts die Bootshäuser der einunddreißig Colleges. Stetig zogen Ruderer ihre Bahnen auf dem Fluss, vorbei an den fest vertäuten Narrowboats, die, schmal wie Zigarren, Heimstatt für Alternativwohnende geworden waren. Damit die Boote auf alle Binnenwasserstraßen passten, waren sie zwar bis zu einundzwanzig Meter lang, aber nie mehr als gut zwei Meter breit.

Eines der Narrowboats, angemalt wie die Flagge des Vereinigten Königreichs, war sogar zu vermieten. Inklusive Grill, wie auf dem handgemalten Pappplakat stand. Für Bietigheim wäre das allerdings nichts. Fester Boden musste schon sein, fand er. Sowie ein Kamin. Und idealerweise eine Küche, die größer als das Wohnzimmer war.

Der Professor passte so perfekt in die Innenstadt Cambridges wie in einen maßgefertigten Handschuh. Überall befanden sich Gebäude der Colleges und der Universität, die man mit keiner anderen Englands vergleichen konnte. Sie war eine kleine Welt für sich, als Cambridge Bubble bekannt. Eine achthundert Jahre alte Seifenblase.

Das Institut für Kulinaristik lag im dritten Stock eines roten Backsteingebäudes in der Mill Lane, nur wenige Meter vom Flussufer entfernt. Einen Aufzug gab es nicht, doch das war Adalbert Bietigheim nur recht. So kamen auch die gehfaulen Studenten zu etwas Bewegung. Studien hatten längst bewiesen, dass der Sinnspruch »Mens sana in corpore sano« tatsächlich galt – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper war gerade im Alter sehr wichtig. Doch man konnte nicht früh genug damit beginnen.

Die Tür zum Institut war mit einem Milchglasfenster versehen. Zu seiner Zufriedenheit war auf dem Schild bereits sein Name eingraviert – jedoch war einer seiner Doktortitel vergessen worden. Na, das würde ein Donnerwetter geben!

Dennoch trat Bietigheim mit einer gewissen Vorfreude ein. Denn die Kunde von der Sekretärin des Instituts hatte sich bis in die Hansestadt Hamburg verbreitet. Asha Ghalib sollte eine Inderin mit Augen wie Kaffeebohnen und Haut wie Milchschokolade sein, eine kleine, kräftige Frau mit rotem Punkt auf der Stirn, stets in traditionelle, ausgesprochen farbenfrohe Saris gekleidet. Ihr wurden magische Hände bei der Zubereitung von Tee nachgesagt, und angeblich behandelte sie in ihrer herzlichen und generösen Art das Lehrpersonal wie auch die Studenten allesamt wie ihre Kinder.

Als Adalbert eintrat, saß sie hinter ihrem schmalen Schreibtisch und tippte auf der Computertastatur.

»Hummel, Hummel!«, rief er ihr fröhlich zu und erklärte sogleich, dass dies der traditionelle Hamburger Gruß sei, auf den sie mit »Mors, Mors« antworten müsse.

Asha Ghalib blickte nicht auf, sagte nichts, und reichte ihm auch nicht die Hand, als der Professor die seine ausstreckte.

Ob es sich um eine andere Frau handelte?

Sein Büro befand sich, wie er nach kurzem Suchen herausfand, am Ende des Flurs. Von den anderen Institutsangehörigen war nichts zu sehen. Komisch, alles sehr komisch. Es war doch bekannt, dass er heute seine Stelle antreten würde, ja, sogar die Uhrzeit war festgelegt. Hieß man heutzutage neue Professoren nicht mehr herzlich willkommen? Was war nur aus der englischen Gastfreundschaft geworden?

Im Büro fand er die Antwort auf seine Fragen – in Form des »Daily Telegraph«. Wie sich herausstellte, bildete er selbst das Titelthema der heutigen Ausgabe. Und nachdem Bietigheim den Artikel überflogen hatte, wunderte ihn das Verhalten der Sekretärin auch kein bisschen mehr. Laut einer gut informierten, aber ungenannten Universitätsquelle sollte er behauptet haben, dass seine Vorgänger, die beiden ermordeten Professoren, einfach nicht gut genug auf sich aufgepasst hätten. »Ich bin da von ganz anderem Kaliber«, hatte er der Zeitung zufolge großspurig behauptet. »Und ich weiß, welche Straßen ich wann meiden muss. Deshalb trete ich die Stelle ohne Furcht an.«

Es klang wie eine Herausforderung an den Mörder. Und es war eine unglaubliche Frechheit gegenüber den Verstorbenen. Wer verbreitete so etwas über ihn? Und warum? Etwa um ganz Cambridge gegen ihn aufzubringen? Wer immer es getan hatte, er war gerissen. Bietigheim war noch keinen Tag hier und hatte schon einen Haufen Feinde. Manchmal drehte die Erde sich einfach zu schnell.

Ohne anzuklopfen trat Asha Ghalib ein und stellte ihm wortlos eine Tasse auf den Schreibtisch. Der Teebeutel schwamm noch darin.

Das war dann wohl die Höchststrafe.

Die Behauptung, Adalberts Laune wäre schlecht gewesen, war eine maßlose Untertreibung. So als würde man sagen, im Inneren der Sonne sei es warm. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so schlecht gelaunt gewesen zu sein. Ohne Fahrrad und Hund fehlte ihm außerdem alles, was seine Laune von kochend auf siedend gesenkt hätte. Kurzerhand rief er in der Zeitungsredaktion an und bestellte den Redakteur zu sich. Dieser bestand jedoch darauf, sich am Cam zu treffen, und gab den genauen Uferabschnitt durch.

Bietigheim stapfte hin. Es war erstaunlich, dass seine schweren Schritte keine Abdrücke im Asphalt hinterließen.

Ein idyllischerer Ort als das Flussufer war kaum denkbar, das träge Wasser, in dem sich die wärmende Sonne spiegelte, einige Stechkähne, die langsam vorbeigestakt wurden, Spatzen auf der Suche nach Krümeln, ja sogar ein laues, fast mediterranes Lüftchen. Es war, als würde sich das Wetter über seine Stimmung lustig machen.

Der Bursche von der Zeitung trug eine Jacke und eine Hose in Tweed. Die Kombination von Oberlippenbart und Koteletten erinnerte an einen Jahrmarktsboxer vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Allerdings in einer schmächtigen Version. Ein Schlag, und er würde in der Ringecke zusammensacken. Leicht gebückt, mit ausgestreckter Hand, kam er auf Bietigheim zu.

»Michael Broadbent, danke, dass Sie sich die Zeit nehmen.«

Obwohl der Professor schlecht gelaunt war, schüttelte er ihm die Hand. Ein Bietigheim vergaß nie seine Manieren. Und ein Bietigheim sprach Englisch stets mit perfektem Upperclass-Akzent. Absolut fehlerfrei, verstand sich. Wenn einer den Engländern zeigen konnte, wie man richtig Englisch sprach, dann er. Broadbent dagegen wies einen leichten irischen Einschlag auf.

»Sie werden einen Widerruf drucken. Wenn Sie möchten, können wir das auch über meine Anwälte laufen lassen.« Bietigheim hatte keine Anwälte, aber es klang einfach besser.

»Wir machen etwas viel Besseres«, antwortete Broadbent. »Einen neuen Artikel, in dem Sie alles geraderücken. Und zwar mit Foto, das wird die Aufmacherstory!«

»Ich möchte den Artikel aber vor Veröffentlichung gegenlesen.«

»Das ist unübl…«

»Ich werde ihn vor Veröffentlichung gegenlesen.«

»Gerne.«

Bietigheim trat nahe ans Ufer. »Schreiben Sie mit! Ich habe nichts dergleichen gesagt und denke auch nichts dergleichen. Wissenschaftlich und menschlich gesehen sind die Morde eine Tragödie, ja, schreiben Sie das, das ist gut. Eine menschliche Tragödie, lassen Sie wissenschaftlich weg. Schreiben Sie stattdessen, ich empfände Hochachtung für die beiden. Sämtliche zuvor von Ihnen abgedruckten Zitate seien falsch. So, und damit auf Wiedersehen.« Er wandte sich zum Gehen, es gab noch viel zu tun. Dieser Broadbent wollte zwar noch ein Foto von ihm haben, aber das musste nun wirklich nicht sein.

»Hier ist es passiert«, sagte der Redakteur. »Von hier stammen die Boote, in denen die beiden Toten gefunden wurden, und hier müssen sie auch losgemacht worden sein, sonst hätten sich die Boote nicht an der fraglichen Stelle am Ufer des Cam verhakt.«

Bietigheim hielt inne. »Weiß man, um wieviel Uhr sie gestorben sind?«

Broadbent schüttelte den Kopf. »Durch das Einlegen der Leichen in Wasser war es den Gerichtsmedizinern leider nicht möglich, den Todeszeitpunkt genauer einzugrenzen.«

»Das war sehr schlau vom Täter. Oder den Tätern.« Bietigheim ging auf einen der am Ufer vertäuten Kähne zu. »Es muss lange gedauert haben, so ein Boot mit Tee zu füllen. Warum ist das Ganze niemandem aufgefallen?«

»Dies ist keine Wohngegend, hier gibt es fast nur Büros. Und nachts verirren sich höchstens ein paar Verliebte hierher, die, nun ja, in den Stechkähnen ist ausreichend Platz …«

»Was waren es für Wochentage?«

»Was für Wochentage? Das hat noch nie einer gefragt.«

»Nun antworten Sie schon. Der Wochentag kann entscheidend sein. Beeilung!«

Broadbent blätterte in seinem Notizbuch. »Beim ersten Mord wurde die Leiche an einem Sonntag gefunden, beim zweiten war es ein Mittwoch. Sind alle Deutschen so unhöflich?«

Adalbert sah den Schwänen nach, die arrogant wie Hollywood-Diven alter Schule über den Fluss trieben, ohne jemanden auch nur eines Blickes zu würdigen. Es sei denn, er hatte Brot für sie. Ein Exemplar schien besonders bösartig und jagte seine Artgenossen quer über den Fluss. Er hatte nur noch ein Auge, das andere wohl im Kampf verloren. Aber das Verbliebene reichte, um seine Opfer schnell genug auszumachen.

Der Professor konnte Schwäne nicht ausstehen. – Er drehte sich wieder zu dem dreisten Schreiberling. Kaum war er hier, steckte er schon mitten in Ermittlungen, nicht einmal Zeit für High Tea mit alten Freunden blieb ihm. Was fragten Polizisten bei einem Mord? Er musste nicht lange nachdenken.

»Fehlte irgendetwas? Geldbörsen? Schlüssel?«

»Nein, nichts.«

»Wurde Alkohol in ihrem Blut gefunden? Na los. Sagen Sie schon.«

Wieder blätterte der Reporter. »Beim Earl ja, und zwar ein Komma zwei Promille, bei Cleesewood nicht.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Warum lesen Sie nicht die Zeitungsartikel?«

»Sind Sie zu faul, um nachzusehen? Oder sind Ihre Notizen ungeordnet? In jedem Falle wäre es eine Schande für einen Cambridge-Studenten.«

Die Röte stieg in Broadbents Gesicht empor wie kochende Lava. »Sie sind ein schrecklicher Mensch!«, rief er.

»Was für ein Unsinn. Ich pflege nur meine Zeit effektiv zu nutzen. Wenn ich es richtig sehe, ist die sicherste Methode für mich, nicht umgebracht zu werden, den Täter schnell zu finden. Also werde ich das tun. Und Sie reißen sich zusammen, sonst werde ich die Universität über Ihr Verhalten informieren. Sie sind doch Student, oder? So wie Sie läuft zumindest kein ernsthafter Journalist herum. Diese Koteletten, ich bitte Sie! Also halten wir fest: Sie sind freier Mitarbeiter, aber eigentlich Student. Wo nehmen Sie bloß die Zeit für solch ein Hobby her? Anscheinend sind die Anforderungen an die Studenten laxer geworden.«

»Andere rudern in ihrer Freizeit.«

»Das sollten Sie auch, statt für ein solches Schmierblatt zu schreiben. Oder fasziniert Sie etwa dieser Fall? Obwohl Sie von Tee nicht den Schimmer einer Ahnung haben?«

Broadbent richtete sich zu voller Größe auf. Was allerdings nicht viel bedeutete. »Ich kenne mich sehr wohl mit Tee aus! Während meiner Schulzeit habe ich in den Ferien immer wieder in Kew Gardens gearbeitet, freiwillig und unentgeltlich. Im Temperate House, wo es auch eine Teepflanze gibt, eine Camellia sinensis. Ich habe meine Arbeit dort geliebt, der botanische Garten war wie eine eigene Welt. Eine echte Oase der Ruhe und Friedlichkeit.«

Bietigheim kannte Kew Gardens und das Temperate House gut. Und schätzte sie ebenfalls. Vielleicht war an diesem Studenten doch nicht alles verkehrt. »Also gut, schießen Sie Ihr Foto von mir.« Bietigheim stellte sich ans Ufer des Cam, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, das Gesicht in Denkermanier.

Zwei Fragen hatte er dem jungen Broadbent noch nicht gestellt, obwohl sie seit seiner Ankunft in Cambridge in seinem Kopf herumspukten wie ruhelose Poltergeister.

»Woran ist der Earl gestorben?«

»Man fand Tee in seiner Speiseröhre. Zuerst dachte man, er sei daran erstickt. Doch die Todesursache war ein Schädelbruch, verursacht durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand.«

Würde wohl doch nichts werden mit der Ruhe. »Haushaltsvakuumierer«, murmelte Bietigheim.

»Was?«

»Und woran ist Cleesewood gestorben?«

»Was Sie eben sagten, klang aber eher wie Haushaltsvakuumierer.«

»Nein, das habe ich nicht gesagt.«

»Doch.«

»Nein. Und wenn ich jetzt keine Antwort auf meine vor sicher drei Minuten an Sie gestellte Frage von Ihnen bekomme, drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe, rufe aus meinem Büro Ihre Redaktion an und sage, dass Sie Ihre Quelle erfunden haben und ich einen Rechtsanwalt einschalte.«

»Das würden Sie nicht wagen!«

»Woran ist er gestorben? Das Universum ist endlich, und um meine Geduld steht es nicht besser.«

»Man weiß es nicht.«

»Wie bitte?«

»Die Todesursache konnte nicht ermittelt werden. Offiziell heißt es, er sei an dem Tee gestorben, der auch in seiner Speiseröhre gefunden wurde, aber das stimmt wohl nicht. Es ist ein Rätsel.« Broadbent blickte auf seine Schuhe. Das hatte er zuvor noch nicht getan.

»Da ist noch etwas. Spucken Sie die Information aus. Und nehmen Sie endlich Haltung an. Sie stehen da wie ein nasser Sack in der Kurve.«

»Ich fange an, Sie ins Herz zu schließen.«

»Werden Sie ja nicht frech! Wissen Sie was? Ich gehe nun, Ihre Zeit ist um, die Information werde ich auch andernorts erhalten.«

Broadbent baute sich vor dem Professor auf, doch der umschiffte ihn einfach. Da der junge Kotelettenträger sich nicht traute, Bietigheim aufzuhalten, musste er zügigen Schritts neben ihm hergehen.

»Okay, ich gebe Ihnen die Info ja schon. Sie sind ein ganz schön harter Hund, obwohl Sie gar nicht so aussehen. Das ist ein Kompliment! Was ich Ihnen noch sagen wollte, weil ich ein guter Student bin, den man nirgendwo anzuschwärzen braucht: Der Tee, den man in den Speiseröhren der beiden Ermordeten fand, war der Gleiche, welcher auch zum Füllen der Punting-Boote genutzt wurde.«

»White Darjeeling?«

Broadbent nickte. »White Darjeeling. Ich hoffe, das trifft Ihren Geschmack.«

»Und wo bekommt man diesen Tee in Cambridge?«

»Diese spezielle Sorte nur in Auntieʼs Tea House. Dort behauptet man jedoch, nicht zu wissen, wer ihn gekauft hat. Ich glaube denen kein Wort. Ist ohnehin ein komischer Laden. Ständig suchen die Personal, da hält es wohl keiner lange aus. Die Chefin muss eine fürchterliche Schreckschraube sein.«

Bietigheim verließ den Studenten mit einem kurzen Nicken des Dankes, denn wie ihm seine Uhr verriet, erwartete man ihn bereits im St Johnʼs College, seiner neuen Heimat. Zwar lebte er nicht dort, doch war er diesem zugeordnet, zudem existierte ein Büro, in dem Studenten ihm – zu vorher festgelegten Sprechzeiten – Fragen stellen durften. Das St Johnʼs war das drittgrößte College der Stadt und bereits 1511 gegründet worden. Zehn Nobelpreise hatten die Fellows dieses konservativ-traditionellen Hauses errungen, nicht nur deshalb war es auch eines der Reichsten. Einen berühmten Chor gab es natürlich auch, der jeden Tag den Evensong in der College-Kapelle sang. Und immer noch fand jeden Abend ein förmliches Dinner statt, bei dem die Studenten in ihren Gowns, den akademischen Talaren, erscheinen mussten. Drei Gänge, silbernes Besteck, Kerzen auf dem Tisch.

Und dann gab es da noch diese besondere Beziehung zu Schwänen, auf die sich der Professor ganz besonders gefreut hatte.

Einige Sekunden verweilte der Professor vor dem Front Gate. Von links und rechts sahen ihn mythische Bestien aus Stein neugierig an, die Yales genannt wurden. Sie hatten die Schwänze von Elefanten, den Körper von Antilopen und die Köpfe von Ziegen. Über dem Eingang thronte St John, zu seinen Füßen ein Adler, das traditionelle Symbol des Evangelisten.

Das würde den Studenten beim Eintritt tüchtig Ehrfurcht einflößen. Gut so.

Ein Schild teilte mit, dass ein Besuch des Colleges heute nicht möglich war. Der livrierte Pförtner beäugte Bietigheim ausgiebig. Na, der würde sich wundern, dass der neue Gastprofessor vor ihm stand! Bietigheim näherte sich, bereit, sich tadelnd zu räuspern, doch der Pförtner trat bereits zur Seite.

»Herzlich willkommen, Professor Dr. Dr. Bietigheim.«

Adalbert konnte nicht anders, als huldvoll nicken. Woher wusste dieser Mann bloß …? Dann sah er die Antwort im Pförtnerhäuschen. Dort hingen Fotos aller Studenten und Fellows, die Neuesten zuoberst – und ganz oben Professor Dr. Dr. Adalbert Bietigheim, der Name daneben in Lautschrift niedergeschrieben. Respekt!

Weiter ging es durch den First Court, den ersten Hof des Colleges, der von Gebäuden in rötlichem Backstein umrahmt war. Er war quadratisch, mit perfekt gepflegtem englischen Rasen. Am nördlichen Ende thronte die College-Kapelle. Es folgten der zweite sowie der dritte Court. Die ganze Zeit wurde Bietigheim das Gefühl nicht los, aus unzähligen Fenstern beäugt zu werden.

Vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht.

Wenige Meter vom Büro des Masters, Professor W. W. Stuart, entfernt, drückte ihm ein dunkelhaariger, in Tweed gekleideter Student im Vorbeigehen etwas in die Hand und verschwand wortlos wieder in den Gängen. Als Bietigheim nachschaute, war es ein Umschlag mit dem Siegel der Port Wine Society. Merkwürdig. Er wollte ihn gerade öffnen, als die Tür vor ihm aufging und der Master höchstselbst herauskam, seinen Arm um ihn legte und ihn jovial hineingeleitete. Bestimmt würden sie ihm zu Ehren nun Scones, Sandwiches mit Gurken, Ei und Kresse und natürlich einen herrlichen Tee auftischen. Genau das brauchte er jetzt!

Doch im Inneren erwartete ihn ein Kuchen mit seinem Namen in Puderzucker und brennenden Wunderkerzen.

»Ein deutscher Marmorkuchen, extra für Sie. Herzlich willkommen im St Johnʼs College!«

Sie hatten auch Bier aus Deutschland besorgt, doch kein Hamburger Holsten sondern Kölsch. Es stand neben dem Kuchen. Wie nett. Sie nötigten ihn dazu, es zu trinken.

Anwesend waren noch andere Fellows des Colleges, einige davon kannte Bietigheim noch aus seiner Zeit als Student und Junior-Professor. Auch der Master war damals schon hier tätig gewesen, er sah aus wie Siegfried aus »Der Doktor und das liebe Vieh« und trug sogar Lederflicken an den Ellbogen seines Sakkos. W. W. Stuart war geradezu überschäumend fröhlich und energiegeladen.

Bietigheim fand, dass sich ein solches Benehmen für einen Professor einfach nicht gehörte.

Der Master klopfte ihm auf die Schulter wie einem prächtigen Gaul. »Darf ich sagen, wie überglücklich wir sind, dass Sie die Gastprofessur angenommen haben? Ein solch hochrenommierter Mann wie Sie ist ein Glücksfall für unsere Studentenschaft! Wie heißt es doch so schön: Excellence breeds excellence. Sie haben uns damit aus einer Bredouille gerettet – und St Johnʼs vergisst so etwas nicht.«

»Sehr gern. Ich möchte gleich zu Protokoll geben, dass ich das, was heute in der Zeitung stand, nie geäußert habe. So etwas würde ich nie …«

»Weiß ich doch, habe ich auch nicht einen Augenblick angenommen! Die Redaktion hat schon angerufen und es klargestellt. Alles wun-der-bar!«

Bietigheim wusste nicht, ob das Lächeln des Masters so unbekümmert war, wie es aussah. Er vermutete, dass sein Telefon den ganzen Tag nicht stillgestanden hatte. Auch jetzt klingelte es, die Sekretärin hob ab und sprach auffallend leise in den Hörer.

Was folgte, war Small Talk der höflich-britischen Art. Man redete allerhand, nur nicht über Themen, die das Gegenüber in eine unangenehme Situation bringen könnten – weil es dazu nichts beitragen oder anderer Meinung sein konnte. Die Zeiten mochten sich ändern, Computer und Internet Einzug halten, doch die Gesprächsregeln der Insulaner änderten sich nicht.

Am besten, das wusste Bietigheim noch aus seiner eigenen Zeit in Cambridge, sprach man tatsächlich über das Wetter. Irgendwann schaffte er es, den Master beiseitezunehmen, doch erst nachdem er die Eigenarten des englischen Regens durchdekliniert hatte, kam er zu seinem eigentlichen Anliegen.

»Worüber haben meine beiden Vorgänger zuletzt geforscht? Hatten sie ein gemeinsames Projekt?«

Ein strenger Blick traf ihn. »Sie denken doch nicht etwa, dass dies etwas mit den schrecklichen Morden zu tun haben könnte?«

»Das liegt meines Erachtens durchaus im Bereich des Möglichen.«

»Befassen Sie sich nicht damit, das liegt hinter uns, ein für alle Mal.«

»Aber …«

»Mein lieber Kollege!« Der Master legte wieder seinen Arm von der Größe einer Anakonda um ihn. »Leider sind Sie nur für ein Semester bei uns, weil Sie zu unserem größten Bedauern in Hamburg verbleiben möchten. Deshalb zermartern Sie sich bitte nicht den Kopf, solange Sie hier sind. Lassen Sie die Toten ruhen. Sie müssen in Ihrer Zeit auch überhaupt nicht forschen, das erwartet niemand von Ihnen. Überlassen Sie das Ihrem Nachfolger, den es allerdings noch zu finden gilt.«

»Für was bin ich denn dann hier?«

»Den Stoff durchzunehmen – auf Ihre besonders eindringliche Art. Ich weiß, dass es schwerfällt, sich darauf zu konzentrieren, aber denken Sie einfach nicht an die Morde. Soll ich Sie zu Ihrem Sprechzimmer bringen? Wir müssen jetzt alle wieder an die Arbeit. Den restlichen Kuchen lasse ich Ihnen gerne bringen und das Bier natürlich auch. Es passt nicht wirklich dazu, aber was weiß ich schon von deutschem Geschmack? Dafür sind Sie ja der Experte!« Er lachte herzhaft. »Und wir sehen uns heute Abend zum Dinner in unserer Hall, dann stelle ich Sie den Studenten vor. Eine kleine Rede wird drin sein, da bin ich sicher. Und danach, so habe ich es läuten hören, haben die Kollegen zu Ihren Ehren noch ein Pub-Quiz organisiert.«

Ein Pub-Quiz? Das wurde ja immer besser.

Wenig später standen sie vor dem Sprechzimmer des Professors. Der Master machte auf dem Absatz kehrt. Dann drehte er sich noch einmal um. »Erschrecken Sie nicht. Ich mag übrigens den deutschen Humor!«

Erschrecken? Wieso erschrecken? Und als besonders humoristisch hatte der Professor ihr Gespräch gar nicht empfunden.

Bietigheim öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer, sah hinein – und war dreifach überrascht, um nicht zu sagen: geschockt. Erstens, weil der Raum die Größe einer Besenkammer hatte, zweitens, weil nichts darin stand bis auf einen Tisch, einen Stuhl, ein leeres Regal und einen Papierkorb. Nichts, nicht einmal eine Haarschuppe, schien von seinem Vorgänger übrig geblieben zu sein.

Und drittens, und das war die größte Überraschung, saß bereits jemand auf seinem Stuhl. Und zwar so, als gehörte ihm nicht nur dieser, sondern auch der Raum dazu, und wo man schon mal dabei war, das College und eigentlich auch Cambridge, wenn nicht das ganze Königreich. Der Besetzer des Stuhls schaffte es, wie eine Katze jegliches Gebiet durch seine bloße Anwesenheit zum Herrschaftsbereich zu erklären. Sein Name: Pit Kossitzke. Wenn er in einem Raum saß, wirkte dieser eng, und sei es ein Fußballstadion. Pit hatte seine Haarpracht konzentriert – und zwar auf das Kinn. Lang und weiß spross sie dort. Den Kopf trug er blank und poliert. Seinen Körper hüllte er mit Vorliebe in schwarzes Leder, und bei seinem Speiseplan konzentrierte er sich auf das Wesentliche: Fleisch. Wer mit ihm aß, fühlte sich in die Steinzeit zurückversetzt: Mammut muss sterben, denn Mann hat Hunger! Den Professor und ihn verband eine lange Freundschaft, die man diesen so ungleichen Persönlichkeiten gar nicht zugetraut hätte. Doch das Schicksal hatte sich nicht um derlei Vorurteile geschert und sie zusammengebracht: den Rocker und den Wissenschaftler.

Pit schwang seine Beine samt Stiefeln vom Tisch, als Bietigheim eintrat, sprang auf und rief: »Überraschung!« Dann umarmte er den Professor herzlich, bis diesem die Luft wegblieb. Bietigheim dachte: Higgs-Boson, brachte aber gerade noch ein »Pit!« hervor.

»Genau der. In leibhaftig! Sie sehen schlecht aus, Professore. Sollten mal eine gute Tasse Tee trinken.«

Adalbert freute sich, den vierschrötigen Taxifahrer aus seiner Heimatstadt zu sehen – auch wenn er dies ihm gegenüber nie zugegeben hätte. Eigentlich war Pit sogar Taxiunternehmer, denn er fuhr auf eigene Rechnung und nur dann, wenn er Lust hatte. Aus einem von ihm niemals enthüllten Grund besaß er genug Geld, um sich das erlauben zu können. Er war sein eigener Herr.

»Wollte Sie mal besuchen kommen. Glück wünschen und so.«

Bietigheim kannte Pit gut genug, um zu wissen, dass dies kein Antrittsbesuch war. »Es ist wegen der Morde, oder? Sie wollen sehen, wie es mir ans Leder geht.«

»Käme mir nicht in den Sinn. Sie sind doch mein Lieblingsunimensch. Ist echt nur ein Wochenendausflug.«

»Bis zu welchem Wochenende denn?«

Pit lachte schnarrend. »Na, Ihren Mutterwitz haben Sie noch nicht verloren! Wollen wir irgendwo was trinken gehen? Mein Gaumen wird nämlich langsam saharig.«

»Ja, nun, wir könnten …«, Bietigheim überlegte kurz, »… in Auntieʼs Tea House gehen.«

Pit zog die Mundwinkel Richtung Fußboden. »Britisches Bier ist nährstoffreicher, und ich hatte eine lange Fahrt. Ich geb Ihnen im Pub auch einen aus.«

»Genau genommen ist Bier keineswegs gesünder als eine Tasse Tee, vor allem wenn man bedenkt …«

Doch da war Pit bereits aus der Tür und winkte ihn zu sich. »Ich hab da schon einen netten Laden entdeckt, wo es auch was zu futtern gibt. Typisch Englisches. Richtig lecker! Die haben wohl auch eine Schlachterei.«

»Die britische Küche hat mehr zu bieten als …«

Doch wieder kam er nicht zu Wort, denn Pit ging vor und erzählte dabei von seiner Reise über den Kanal. Er hatte das Schiff gewählt und nicht den Eurostar – das Flugzeug kam sowieso nicht infrage, weil er sein Taxi natürlich mitnehmen wollte. Und Pit hatte tatsächlich einen Parkplatz in der Innenstadt gefunden, vor dem sie nach kurzer Zeit standen. Wie er das geschafft hatte, war dem Professor ein Rätsel. Pit behauptete, er hätte sich nach der Taxifahrerprüfung gleich einen Radar für die Parkplatzsuche einbauen lassen. Zweifellos eine sinnvolle Investition.

Mit der Pranke tätschelte er seinen fahrbaren Untersatz. »Da ist er, mein Alfons der Viertelvorzwölfte. Ein ganz besonderer Wagen mit vielen Überraschungen.«

»So, so«, sagte Bietigheim, dem der Sinn weniger nach Überraschungen als nach ein paar Stunden Zeit stand, in denen er seine Gedanken sammeln und katalogisieren konnte. »Wo liegt denn nun der Pub? Ich habe heute nämlich leider nur wenig Zeit. Morgen zeige ich Ihnen gerne die Stadt – wobei ich mich dann selbst auf den neuesten Stand bringen kann. Es ist ja nun doch schon einige Jahre her, seit ich hier Spuren hinterlassen habe.«

»Dieses Auto, lieber Professor, also ich kann Ihnen sagen. Dagegen ist James Bonds Fuhrpark ein Dreck.«

»Ja, glaube ich Ihnen gern. Können wir nun weitergehen?«

»Die untersuchen einen bei der Verfrachtung ja richtig, von wegen Schmuggel und so. Und bei mir haben sie ganz genau geschaut, weil ich so gefährlich aussehe.« Er riss die Augen auf und bleckte die Zähne – bevor er wieder schnarrend lachte.

»Sehr schön, ja, würden Sie sich angemessen kleiden, wäre Ihnen das nicht passiert. Da dürfen Sie sich nicht wundern. Ich habe Ihnen schon mehrfach gesagt, dass Sie ein wahrer Kinderschreck sind.«

Pit ging zum Kofferraum. »Bei den Bratzen heutzutage ist das manchmal ganz praktisch. Also, mein Alfons, der …«

Der Geduldsfaden des Professors riss mit einem deutlich hörbaren Knall. »Jetzt hören Sie doch endlich auf mit Ihrem Auto. Erzählen Sie das Ihren Freunden vom Taxistand, die interessiert so was vermutlich.«

Pit öffnete den Kofferraum, in dem sich Tüten, Kartons und Koffer drängten. Seine bratpfannengroßen Hände sanken hinein, schoben allerhand zur Seite und legten eine mit Luftschlitzen versehene Transportbox frei, deren Klappe sie öffneten.

Und plötzlich blickte Bietigheim ein frecher Hund an, kreuzfidel, mit hängender Zunge und wedelndem Schwanz. Benno von Saber! Als der Foxterrier seinen Herrn erkannte, sprang er ihm aus dem Kofferraum in die Arme. Erst nach ausgiebigem Kopfkraulen und Drücken setzte Bietigheim den kleinen Burschen auf den Boden, denn dort wollte dieser dringend eine erste Markierung auf englischem Boden hinterlassen – um den Hunden Cambridges klarzumachen, was ein Hamburger Vierbeiner so draufhatte.

Nun war es Bietigheim, der Pit umarmte und herzte, obwohl das sonst so gar nicht seine Art war. Aber dieser Teufelskerl hatte ihm seinen treuesten Freund gebracht! Bietigheim merkte, wie sehr ihm der kleine Strubbelkopf gefehlt hatte, wie unvollständig er ohne seinen treuen Begleiter war, um wie viel lebenswerter ihm alles erschien mit Benno an seiner Seite.

»Fragen Sie mich nicht, wie ich das angestellt habe. Zauberkünstler verraten ihre Tricks nämlich nie.«

»Ich schätze mal, dass auch ein wenig Geld im Spiel war.«

»Geld allein macht aber nicht glücklich«, erwiderte Pit. »Bekomme ich jetzt endlich was zu futtern?«

»Ist es denn noch weit bis zum Pub, in den ich Sie zum Essen einladen kann?«

»Ein paar Schritte schon – und ich lass den Wagen lieber hier stehen, denn selbst mit meinem Radar ist es in Cambridge nicht einfach, einen schönen Platz für Alfons zu finden.«

»Gut, gut, dann kommt Benno auch zu einem kleinen Spaziergang.«

Und so gingen sie zu dritt in einen der über hundert Pubs der Stadt. Er trug den Namen Baron of Beef, lag in der Bridge Street, und wenn man bestellte, erhielt man einen Holzlöffel mit der Nummer der Bestellung darauf. Bietigheim trank aus kulinarischem Interesse sogar ein Bier zum Essen, und zum Schluss zahlte er tatsächlich alles. Dann lud er Pit auf einen Tee in sein Haus ein – wobei er sich vollends bewusst war, dass sein Hamburger Freund dort Quartier beziehen würde.

Benno von Saber, vollgefressen von den zufällig unter den Pubtisch gefallenen Leckereien, wählte prompt den schönen Ohrensessel als Schlafplatz, schloss die Augen und überließ Adalbert und Pit die Küche. Doch die Ruhe währte nur kurz. Denn ein wütendes »Verdammt noch eins, jetzt habe ich aber die Faxen dicke!« schallte durch das viktorianische Reihenhaus in der Pretoria Road. Bietigheim hatte auf der Küchentheke etwas entdeckt, das bei seinem Einzug noch nicht dort gewesen war.

Eine Packung Tee.

Eine eigentlich völlig harmlose Packung Tee.

Aber es war teuerster White Darjeeling.

Das Haltbarkeitsdatum war nur noch zwei Wochen entfernt.

Es erschien dem Professor wie eine Drohung.

KAPITEL 2

Flugtee FTGPOP

Am nächsten Morgen begrüßte der Professor, wie stets Fliege sowie karierte Weste tragend, seinen noch etwas übernächtigten Gast mit den Worten: »Was wissen Sie über Tee?«

»Vor allem, dass ich Kaffee lieber mag. «

»Antworten Sie ordentlich, und setzen Sie sich.« Bietigheim war im Gegensatz zu Pit hellwach – obwohl er am Vorabend ein formelles Essen im St Johnʼs sowie ein Pub-Quiz mit lächerlich einfachen Fragen über sich hatte ergehen lassen müssen. »Ich wiederhole: Was wissen Sie über Tee?«

»Ich bin noch gar nicht wach!« Pit ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. Auf dem Tisch vor ihm standen ordentlich nebeneinander aufgereiht sechs kleine, weiße Tea Taster, das traditionelle Teeprobiergeschirr.

»Tee? Was wissen Sie …«

»Ist ja gut. Kann man trinken. Wird aus Blättern gemacht. Kommen aus Asien, glaub ich. Soll gesund sein. Schmeckt mir nicht.«

Bietigheim nickte und schrieb etwas in sein Notizbuch.

»Benoten Sie mich etwa?«, fragte Pit.

Der Professor deutete auf die Taster. »Der Legende nach trank der chinesische Kaiser Shennong die erste Tasse Tee, als er 2737 vor Christi Geburt neben einer Teepflanze saß und der Wind deren Blätter in sein heißes Wasser wehte. Hergestellt wird Tee aus der Teepflanze – weswegen Früchte- oder Kräutertees auch nur als teeähnliche Aufgussgetränke zu bezeichnen sind. Übrigens gehört auch der südafrikanische Rooibostee dazu, wird er doch aus Hülsenfrüchten gewonnen. Das müssen Sie sich unbedingt merken! Ursprünglich wurde Tee zubereitet, indem die Blätter der Teepflanze frisch gezupft und in heißes Wasser geworfen wurden. In der frischen Form hält sich Tee aber nicht lange, deswegen trocknet oder fermentiert man ihn. Das eigentliche Heimatland des Tees ist China.«

»Soll ich mir das wirklich alles merken?«

»Ja. Die erste grobe Unterscheidung bei Tees ist die zwischen fermentierten und unfermentierten Tees. Es gibt vier Hauptarten: den grünen Tee, den weißen Tee, Oolong und den schwarzen Tee sowie die Sonderformen des gelben Tees und des nachvergorenen Tees.«

Pit stand auf und hätte dabei fast den Tisch umgeworfen. »Was soll das denn? Ich will mein Frühstück! Und Kaffee! Ich bin nicht nach Cambridge gekommen, um mir irgendeinen Scheiß über Tee anzuhören.«

»Nein, Sie sind nach Cambridge gekommen, weil Sie blutlüstern sind. Jawohl, da brauchen Sie gar nicht zu widersprechen. Aber es ist gut, dass Sie da sind. Sie können mir helfen, mein Leben zu retten.«

»Indem ich ein exklusives Teeseminar beim Professore besuche?«

»Exakt. Sie werden sich nämlich bei Auntieʼs Tea House gegenüber der Kirche Great St Maryʼs bewerben. Von dort stammt der Tee, mit dem die Leichen aufgebrüht wurden, und auch der, den wir gestern in meiner Küche entdeckt haben. Sie werden herausfinden, wer ihn gekauft hat.«

»Mal im Klartext: Ich soll also undercover arbeiten? Für Sie? In einem Tea House? Ich?«

Der Professor hatte das Gefühl, dass das Gespräch in die falsche Richtung lief. Aber Ehrlichkeit gegenüber einem Freund musste sein. »Wenn Sie so wollen.«

»Mach ich sofort!«, rief Pit zu Bietigheims Überraschung. »Ein Tea House infiltrieren! Abgefahren! Obwohl ich natürlich besser zu einem Filterkaffeeladen passen würde.« Er grinste breit. »Schießen Sie los mit den Tee-Infos! Oder besser: Gießen Sie los!«

»Dann fahre ich fort. Grüner Tee wird nicht fermentiert, sondern erhitzt. Entweder im Wasserdampf, dann spricht man von gedämpftem Grüntee, oder, was viel häufiger geschieht, mittels Öfen. Dadurch wird jegliche enzymatische Aktivität in den Blättern unterbunden. Danach werden sie getrocknet.« Er drehte sich um, kochte schnell etwas Wasser auf, ließ es abkühlen und goss es in einen Tea Taster, der bereits grüne Teeblätter enthielt.

»Die meisten Menschen mögen deshalb keinen Grüntee, weil sie ihn wie schwarzen zubereiten, dann wird er bitter und adstringierend, man verzieht das Gesicht, und der Geschmack bleibt lange haften. Probieren!«

Pit folgte seinem Befehl. »Eklig. Wie dünne Gemüsesuppe mit totem Friseur. Kann ich Milch und Zucker haben?«

»Nein. Gibt man niemals hinein.«

»Ist das wenigstens gesund?«

Bietigheim nickte. »Vor allem in pulverisierter Form, dann nennt man es Matcha-Tee. Aber nun weiter im Text: Weißer Tee ist sehr schwach anfermentiert – wobei die Fermentation Teil des natürlichen Welkprozesses ist. Für die Herstellung eines Kilogramms dieser Sorte werden rund dreißigtausend handgepflückte Knospen benötigt.«

»Und warum heißt der weißer Tee? Hat der keine Farbe?«

Der Professor schüttelte den Kopf. Er musste offenbar bei null anfangen. »Die Härchen an den Blattunterseiten und an den Knospen weisen eine silberne Farbe auf.«

Bietigheim goss den Tee auf. Das Wasser füllte er erst in den Tea Taster, als die Temperatur zwischen siebzig und achtzig Grad lag. Er brauchte dafür kein Thermometer, das hatte er im Gefühl.

Pit probierte. »Schmeckt mir auch nicht. Außerdem ist er hellgelb und nicht weiß.«

»Darin waren die Leichen eingelegt.«

»Schmeckt dadurch nicht besser.« Pit blickte tief in die Tasse. »Eigentlich sogar ein bißchen eklig. Sie haben aber nicht den Tee aus den Münd …«

»Nein! Wo denken Sie hin? Würden Sie mir so etwas zutrauen?«

»Den nächsten Tee bitte.«

Bietigheim brummte grimmig. Wenigstens Benno begriff den Ernst der Lage und blickte ihn treu an.

Er konnte aber auch einfach nur Hunger haben.

»Der nächste Tee ist ein Oolong.«

»Wie, keine Farbe? Einfach nur Oolong? Oder ist Oolong eine Farbe? So wie Terrakotta? Oder Beige? Wobei Beige ja eigentlich keine Farbe ist, sondern eine Sehschwäche.«

»Nein, Herrgott noch mal, Oolong ist keine Farbe, sondern bedeutet Schwarzer Drache oder Schwarze Schlange.«

»Also doch Schwarztee!«

»Nein, Oolong! Soll ich es Ihnen auf die Augenlider tätowieren?«

Pit schüttelte belustigt den Kopf. »An Ihnen ist ja ein Horrorregisseur verloren gegangen.«

Bietigheim brühte den Oolong fachmännisch auf. »Wie Sie vielleicht bemerken – oder eher nicht –, ist Oolong ein Zwitter zwischen grünem und schwarzem Tee. Er ist halbfermentiert.« Er warf seinem Schüler einen strengen Blick zu. »Sie sollten sich wirklich Notizen machen. Wenn Sie das alles nicht wissen, schaffen Sie es niemals in die Belegschaft des Tea House.«

Pit tippte auf seine Schläfe. »Ist alles schon in meinem portablen Supercomputer gespeichert.«

»Ich höre Sie morgen vor Ihrem Vorstellungstermin ab. Und für jeden Fehler gibt es …« Der Professor geriet ins Stocken.

»Gibt es was? Einen Eintrag ins Klassenbuch? Stockhiebe? Vegetarische Wochen?«

»Unsinn, aber ich werde mir etwas ausdenken.«

»Na, da bin ich aber gespannt.«

»Nun zum letzten Tee. Dem schwarzen. In Ostasien ist er allerdings als roter Tee bekannt. Beim schwarzen Tee kommt es zur kompletten Fermentation. Dabei werden die Polyphenole zu gelben Theaflavinen und roten Thearubiginen umgesetzt – dies führt zu dem süßlicheren Geschmackseindruck. Das Chlorophyll verliert durch die Fermentation das Magnesium-Ion im Molekül und damit auch die grüne Farbe. Das müssen Sie aber nicht wissen.«

»Ist also nicht prüfungsrelevant, was bin ich beruhigt.«

Nach der Zubereitung – diesmal mit kochendem Wasser – probierte Pit auch diesen Tee. »Den mag ich, noch lieber wäre er mir allerdings mit Zucker und Milch. Das ist für mich richtiger Tee.«

»Heute Abend werde ich Ihnen noch zwei Sonderarten vorstellen. Zum einen den Pu-Erh-Tee, der eine dunkle, rote Farbe hat. Er ist, wenn man so will, ein gereifter und speziell hergestellter Grüntee und neben einigen Oolong-Tees der einzige, welcher durch Reifung an Qualität und Geschmack gewinnt. Typischerweise schmeckt er nach Waldboden, manchmal aber auch nach Algen, Holz, Rauchspeck oder geräuchertem Fisch.«

»Mann, da freu ich mich aber schon drauf!«

»Der zweite Tee wird ein Gelbtee sein.«

»Dann hätte ich aber gerne auch Blau-, Lila- und Rosatee, um nix auszulassen.«

Bietigheim fuhr unbeirrt fort. »Gelber Tee ist sehr selten, er liegt zwischen grünem Tee und Oolong und ist unfermentiert. Ein berühmter gelber Tee ist der Göttertee. Sie werden damit aber sicher nicht konfrontiert werden. Schlussendlich …«

»… aber wirklich schlussendlich!«

»… gibt es aromatisierten Tee. Man denke an Rosentee, an Fruchtaromen wie Kirsch, Gewürze wie Vanille, natürliche wie naturidentische Beigaben. Es gibt sowohl aromatisierte Grün- als auch Schwarztees. Der berühmteste aromatisierte Tee ist der …«

»… Earl Grey, der mit dem Öl der Bergamotte, einer Zitrusfrucht, verfeinert wird. Benannt nach dem britischen Premierminister Charles Grey. Bei einer Schiffsfahrt soll Bergamottöl an Teeballen gekommen sein – und der gute Lord Grey beschloss, das Zeug nicht wegzuschmeißen, sondern selbst zu trinken. Und siehe da: es schmeckte super! Zack brachte er es in den Handel.«

Bietigheims Mund stand weit offen. Wäre eine Schwalbe vorbeigekommen, hätte sie ein Nest darin gebaut.

»Da staunen Sie, was?« Pit strich stolz über seine polierte Glatze. »Haben wohl gedacht, der alte Pit bereitet sich nicht auf seinen Urlaub vor! Ha!« Er stand auf und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, das er dort nach einem Einkauf am Vorabend deponiert hatte. »Na gut, ich gebʼs ja zu: Dass ich so viel über Earl Grey weiß, ist Zufall. Es ist nämlich der Lieblingstee von Captain Jean-Luc Picard aus ›Raumschiff Enterprise‹.«

»›Raumschiff Enterprise‹? Sie überraschen mich doch immer wieder. Auf unangenehme Art und Weise.« Bietigheim räumte die Tea Taster in die Spüle und holte Bennos Hundeleine, denn er wollte vor dem Mittagessen noch jemanden aufsuchen.

»Wo gehen Sie denn jetzt hin, Professore? Und kann ich mitkommen?«

Bietigheim schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Sie bleiben schön hier. Im Wohnzimmer finden Sie das Handout meines Proseminars ›Tee, Tea, Chai‹. Das wird durchgearbeitet. Ich muss ins Leichenschauhaus.«

Pit baute sich vor ihm auf. »So schlimm sehen Sie doch noch gar nicht aus!« Er boxte ihn gegen die Brust. »Nee, Spaß beiseite. Erst sollten Sie noch was essen. So blass wie Sie sind, behalten die Sie sonst gleich da!«

Ende der Leseprobe