Der letzte Befehl - Lee Child - E-Book

Der letzte Befehl E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Ein knallharter Soldat, ein illegaler Befehl, eine folgenschwere Entscheidung.

Der Einsatzbefehl für den Militärpolizisten Jack Reacher ist eindeutig: Er soll verdeckt und ohne offizielle Unterstützung den Mord an einer jungen Frau aufklären – und anschließend, falls nötig, seine Ergebnisse vertuschen! Denn der Hauptverdächtige ist ein hoch dekorierter Offizier, der gerade von einer geheimen Mission zurückgekehrt ist, und – schlimmer noch – der Sohn eines Senators. Reacher soll niemanden auf die Zehen treten und verhindern, dass die Presse den Fall aufbauscht. Doch was er entdeckt, lässt ihn an der Rechtmäßigkeit seines Auftrags zweifeln – und macht aus Reacher einen Mann, den man fürchten muss.

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Buch

Alles hat irgendwo einen Anfang. Für den Elite-Militärpolizisten Jack Reacher war dieses Irgendwo Carter Crossing, Mississippi, 1997.

Eine einsame Straße. Der Schauplatz eines Verbrechens. Eine Vertuschung. Eine junge Frau ist tot, und verlässliche Indizien deuten auf einen Soldaten von der nahegelegenen Militärbasis als Schuldigen. Doch dieser Soldat hat mächtige Freunde in Washington.

Reacher wird inoffziell beauftragt, alles herauszufinden, was er kann, und es dann zu verbergen. Aber als er Carter Crossing erreicht, trifft Reacher auf den örtlichen Sheriff Elizabeth Deveraux, die es nach Gerechtigkeit verlangt und die Geheimnisse gar nicht leiden kann. Die beiden sind sich nicht sicher, ob sie einander trauen können, tun sich aber dennoch zusammen. Als Reacher auf unerwartete Zusammenhänge stößt, setzt er alles daran, die Wahrheit aufzudecken, während andere alles tun, um die Wahrheit zu begraben. Die Verschwörung lässt Reacher an der Rechtmäßigkeit seines Auftrags zweifeln – und macht aus ihm einen Mann, den man fürchten muss.

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

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Lee Child

Der letzte Befehl

Ein Jack-Reacher-Roman

Deutsch von Wulf Bergner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »The Affair (16 Jack Reacher)« bei Bantam Press, London.
Copyright der Originalausgabe © by Lee Child Published by Agreement with Lee Child Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagabbildungen: Getty Images/MCCAIG; Arcangel Images/Stephen Mulcahey; www.buerosued.de HK · Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-20761-8 V003
www.blanvalet.de

Ich widme dieses Buch David Thompson, 1971–2010Ein toller Buchhändler und ein guter Freund

1

Mit hundertfünfunddreißigtausend Quadratmetern Grundfläche, dreihundertfünfundvierzigtausend Quadratmetern Bürofläche, achtundzwanzig Kilometern Korridoren und dreißigtausend Beschäftigten ist das Pentagon, der Sitz des amerikanischen Verteidigungsministeriums, das größte Bürogebäude der Welt. Aber es hat nur drei Eingänge, die jeweils in eine bewachte Eingangshalle führen. Ich wählte den Südosteingang, den eigentlichen Haupteingang, der Bus und Metro am nächsten liegt, weil er am belebtesten war und von Zivilangestellten bevorzugt wurde. Ich wollte möglichst viele Zivilisten um mich herum haben, am liebsten in einer endlos langen Schlange, um vor »Zufällen« sicher zu sein – vor allem davor, ohne Warnung erschossen zu werden. Verhaftungen gehen immer mal wieder schief, manchmal versehentlich, manchmal absichtlich, deshalb wollte ich Augenzeugen. Ich wollte zumindest anfangs unter unabhängiger Beobachtung stehen. Das Datum weiß ich natürlich noch. Es war Dienstag, der 11. März 1997, mein letzter Arbeitstag als Angestellter der Leute, die dieses Gebäude erbaut hatten.

Lang ist’s her.

Außerdem lag der 11. März 1997 zufällig genau viereinhalb Jahre vor jenem zukünftigen Dienstag, der die Welt verändern würde, deshalb waren die Kontrollen am Haupteingang wie so viele Dinge in der guten alten Zeit gründlich, ohne gleich hysterisch zu sein. Nicht dass ich Anlass zur Hysterie gegeben hätte. Nicht aus einiger Entfernung. Ich trug meinen Dienstanzug – frisch gereinigt, Oberhemd frisch gewaschen, Schuhe auf Hochglanz poliert – mit allen Orden, Ehrenzeichen und Aufnähern, die ich in dreizehn Dienstjahren angesammelt hatte. Ich war sechsunddreißig, hielt mich kerzengerade und marschierte mit festem Schritt: in jeder Beziehung ein vorbildlicher Major der U.S. Army Military Police, wenn man davon absah, dass mein Haar zu lang war und ich mich fünf Tage nicht mehr rasiert hatte.

Damals war für die Sicherheit des Pentagons der Defense Protective Service zuständig, und ich konnte schon aus vierzig Metern Entfernung zehn seiner Kerle in der Eingangshalle ausmachen, was erheblich zu viele zu sein schienen, sodass ich mich fragte, ob das wirklich alles DPS-Männer waren oder ob einige aus unseren Reihen kamen und in dieser Tarnung auf mich warteten. Unsere qualifizierte Arbeit wird hauptsächlich von Warrant Officers ausgeführt, die zur Tarnung häufig in andere Rollen schlüpfen. Sie verkörpern Colonels, Generale, Mannschaftsdienstgrade und alle möglichen anderen Leute und machen ihre Sache gut. Für sie wäre es nichts Besonderes gewesen, hier in DPS-Uniform auf die Zielperson zu warten. Aus dreißig Metern erkannte ich keinen von ihnen, aber andererseits ist die Army eine sehr große Einrichtung, und man hätte Leute genommen, die ich garantiert nicht kannte.

Ich ging weiter, war Teil einer vielköpfigen Menge, die durch die Eingangshalle zu den Türen strömte: Frauen und Männer in Uniform, im Dienstanzug wie ich oder in dem alten Flecktarnanzug, den wir damals noch hatten; Frauen und Männer, die militärisch wirkten, aber keine Uniform, sondern Anzüge oder Arbeitskleidung trugen, und offensichtliche Zivilisten aus beiden Kategorien, die Taschen, Aktenkoffer oder Pakete mit sich führten. Alle diese Menschen wurden langsamer, bewegten sich seitlich und gingen weiter, als der breite Strom sich vor den Einlasskontrollen zu einem Rinnsal aus Einzelgängern oder kollegialen Duos verengte. Ich reihte mich einzeln hinter einer Frau mit blassen, nicht abgearbeiteten Händen und vor einem Kerl in einem blauen Anzug ein, der an den Ellbogen glänzte. Beides Zivilisten, Bürohocker, vermutlich irgendwelche Analysten, also genau das, was ich brauchte. Unabhängige Beobachter. Es war kurz vor Mittag. Dieser Märztag war sonnig und schon ein bisschen warm. Frühling in Virginia. Jenseits des Flusses würden die Kirschbäume bald zu neuem Leben erwachen. Die berühmte Blüte stand unmittelbar bevor. Überall im ganzen Land lagen Flugtickets und Spiegelreflexkameras für Sightseeingtouren in die Hauptstadt bereit.

Ich wartete in der Schlange. Weit vor mir taten die DPS-Kerle, was Sicherheitsleute machen. Vier von ihnen hatten spezifische Aufgaben: zwei bemannten die Auskunftstheke, und zwei kontrollierten Dienstausweise und ließen ihre Inhaber das offene Drehkreuz passieren. Zwei weitere standen direkt hinter den Glastüren, suchten mit erhobenen Köpfen die Eingangshalle ab und beobachteten die Anstehenden. Die letzten vier blieben im Schatten hinter den Drehkreuzen, bildeten dort eine geschlossene kleine Gruppe und schwatzten miteinander. Alle zehn waren bewaffnet.

Es waren die vier hinter den Drehkreuzen, die mir Sorgen bereiteten. Auch wenn das Verteidigungsministerium damals im Jahr 1997 im Verhältnis zu den uns drohenden Gefahren zweifellos einen Personalüberhang hatte, war es höchst ungewöhnlich, vier Männer, die im Dienst waren, untätig herumstehen zu sehen. Die meisten Dienststellen sorgten wenigstens dafür, dass ihr überschüssiges Personal vorgab, beschäftigt zu sein. Aber diese vier hatten anscheinend nichts zu tun. Ich reckte mich hoch und bemühte mich, ihre Schuhe zu erspähen. Schuhe können viel verraten. Wer sich tarnt, denkt oft nicht an sie, vor allem nicht in einem uniformierten Umfeld. Weil der DPS-Dienst viel Ähnlichkeit mit dem eines Streifenpolizisten aufwies, trugen diese Leute am liebsten bequeme Copschuhe, mit denen man den ganzen Tag gut gehen und stehen konnte. Getarnte Warrant Officers der Militärpolizei würden vielleicht eigene Schuhe tragen, die meist etwas schmaler geschnitten waren.

Aber ich konnte ihre Schuhe nicht erkennen. Nicht im Halbdunkel und aus dieser Entfernung.

Die Schlange bewegte sich weiter, kam wie vor dem 11. September 2001 üblich zügig voran. Keine mürrische Ungeduld, keine Frustration, keine Angst. Nur eine Routine alter Art. Die Frau vor mir benutzte Parfüm. Ich konnte den zarten Duft riechen, der von ihrem Nacken aufstieg. Das gefiel mir. Die beiden Kerle hinter der Glaswand entdeckten mich aus zehn Metern Entfernung. Ihr Blick wandte sich von der Frau ab und erfasste mich. Er ruhte eine Sekunde länger auf mir als unbedingt nötig und wanderte dann zu dem Mann hinter mir weiter.

Danach kehrte er zurück. Die beiden Männer musterten mich ganz unverhohlen von oben bis unten, bestimmt vier bis fünf Sekunden lang, bevor ich den nächsten Schritt machte und sie nochmals den Mann hinter mir in Augenschein nahmen. Sie wechselten kein Wort miteinander. Sagten auch nichts zu ihren Kollegen. Keine Warnung, kein Alarm. Das konnte zwei mögliche Gründe haben. Erstens, der beste Fall: Ich war nur ein Typ, den sie noch nicht gesehen hatten. Vielleicht war ich auch aufgefallen, weil ich größer und schwerer war als alle anderen in hundert Metern Umkreis. Oder weil ich wie ein Fotomodell zu den goldenen Eichenblättern eines Majors eine Ordensspange mit hohen Auszeichnungen wie einem Silver Star trug, aber mit Fünftagebart und langem Haar wie ein richtiger Höhlenmensch aussah – eine Diskrepanz, also Grund genug für den langen zweiten Blick, hinter dem vielleicht nur flüchtiges Interesse steckte. Wache zu stehen kann langweilig sein, und ungewöhnliche Anblicke sind stets willkommen.

Oder zweitens, der schlimmste Fall: Für sie war lediglich irgendein erwartetes Ereignis eingetreten, weil alles nach Plan lief. Als hätten die beiden sich vorbereitet und Fotos studiert und sagten sich jetzt: Okay, da ist er, genau pünktlich. Also warten wir jetzt noch zwei Minuten, bis er drinnen ist, und erledigen ihn dann.

Denn ich wurde erwartet und kam genau pünktlich. Ich hatte einen Termin um zwölf Uhr, um mit einem bestimmten Colonel in seinem Dienstzimmer im zweiten Stock des Rings C bestimmte Dinge zu besprechen, und war mir ziemlich sicher, dass ich nie dort ankommen würde. Geradewegs in eine Verhaftung zu marschieren war eine ziemlich brachiale Taktik, aber wenn man sich vergewissern will, ob der Herd heiß ist, muss man ihn manchmal anfassen.

Der Kerl vor der Frau vor mir trat an die Tür und hielt einen Dienstausweis hoch, den er um den Hals gehängt trug. Er wurde durchgewinkt. Die Frau vor mir ging weiter und hielt dann inne, weil die beiden DPS-Beobachter in genau diesem Augenblick hinter dem Glas hervortraten. Die Frau machte ihnen Platz, damit sie sich gegen den Strom vor ihr herausquetschen konnten. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung, und die beiden Kerle standen plötzlich genau da, wo sie gestanden hatte: einen Meter vor mir, aber nicht mit dem Rücken zu mir, sondern mir zugekehrt.

Sie blockierten die Tür. Sie sahen nur mich an. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich echte DPS-Leute vor mir hatte. Sie trugen Copschuhe, und ihre etwas ausgebeulten Uniformen hatten sich ihren individuellen Körperformen über längere Zeit hinweg angepasst. Das waren keine Uniformen, die jemand an diesem Morgen zur Tarnung aus dem Schrank geholt und erstmals angezogen hatte. Ich blickte an den beiden Männern vorbei zu ihren vier Partnern, die weiter nichts taten, und versuchte, den Sitz ihrer Uniformen zu beurteilen, um einen Vergleich zu haben. Aber das war fast nicht möglich.

Der Kerl rechts vor mir fragte: »Sir, können wir Ihnen behilflich sein?«

Ich fragte: »Wobei?«

»Wohin wollen Sie heute?«

»Muss ich Ihnen das sagen?«

»Nein, Sir, absolut nicht«, entgegnete der Kerl. »Aber wir könnten dafür sorgen, dass Sie schneller hinkommen, wenn Sie möchten.«

Vermutlich durch eine unauffällige Tür in einen kleinen absperrbaren Raum, dachte ich. Sicher hatten auch sie wie ich die Zivilisten als Zeugen im Auge. Ich sagte: »Danke, ich warte gern, bis ich drankomme. Ich bin ohnehin der Nächste.«

Darauf wussten die beiden Kerle nichts zu sagen. Schachmatt. Die Stunde der Amateure. Dass sie versucht hatten, mich hier draußen zu verhaften, war dämlich gewesen. Ich konnte sie wegstoßen, mich herumwerfen und losspurten und binnen Sekunden in der Menge verschwinden. Und sie würden nicht schießen. Nicht hier draußen. In der Eingangshalle waren zu viele Menschen unterwegs. Zu hohe Kollateralschäden. Dies war 1997, vergessen Sie das nicht. Der 11. März. Viereinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der neuen Regeln. Aus ihrer Sicht war es weit besser abzuwarten, bis ich die Kontrollen passiert hatte. Die beiden Handlanger konnten die Tür hinter mir schließen und sich Schulter an Schulter davor aufbauen, während ich an der Auskunftstheke die schlechte Nachricht erhielt. Darauf konnte ich theoretisch kehrtmachen und mich an den beiden vorbei zum Ausgang durchkämpfen. Doch das würde ein paar Sekunden dauern, und in dieser Zeit konnten die vier Männer, die scheinbar nichts zu tun hatten, mich von hinten mit ungefähr tausend Kugeln durchlöchern.

Und wenn ich weiterstürmte, konnten sie mich von vorn erschießen. Und wohin hätte ich mich wenden sollen? Ins Pentagon zu flüchten war bestimmt keine gute Idee. Das größte Bürogebäude der Welt. Dreißigtausend Beschäftigte. Vier Stockwerke. Zwei Kellergeschosse. Achtundzwanzig Kilometer Korridore. Die Ringe sind untereinander durch zehn speichenförmige Gänge verbunden, sodass angeblich jeder Punkt des Gebäudes in maximal sieben Minuten erreichbar ist. Diese Angabe basierte vermutlich auf dem bei sechseinhalb Stundenkilometern liegenden beschleunigten Marschtempo der U.S. Army, was bedeutete, dass ich jeden Punkt in etwa drei Minuten erreichen konnte, wenn ich rannte. Aber wohin? Ich konnte eine Besenkammer finden, Leuten ihren mitgebrachten Lunch klauen und ein bis zwei Tage durchhalten, um dann doch geschnappt zu werden. Oder ich konnte Geiseln nehmen und versuchen, meine Argumente vorzubringen, aber ich hatte noch nie erlebt, dass das geklappt hatte.

Also wartete ich.

Der DPS-Kerl rechts vor mir sagte: »Sir, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Dann ging er an mir vorbei. Sein Partner ging auf der anderen Seite an mir vorbei. Beide schlenderten davon wie zwei Typen, die froh sind, nicht mehr eingeengt zu sein und Streife gehen zu können, um ihren Blickwinkel zu verändern. Vielleicht waren sie doch nicht so dämlich. Sie taten ihre Arbeit und hielten sich an ihren Plan. Sie hatten versucht, mich in einen kleinen abgesperrten Raum zu locken, aber das hatte nicht geklappt, was nicht weiter schlimm war, weil sie gleich zu Plan B übergegangen waren. Sie würden abwarten, bis ich drinnen war und die Tür sich hinter mir geschlossen hatte; dann würden sie alle Hereinkommenden für den Fall, dass drinnen geschossen werden musste, aus Sicherheitsgründen abweisen. Die Glastrennwand in der Eingangshalle sollte bestimmt aus schusssicherem Glas bestehen, aber kluge Köpfe würden nie darauf wetten, dass das Verteidigungsministerium genau das bekam, wofür es gezahlt hatte.

Die Tür war direkt vor mir. Sie stand offen. Ich holte tief Luft und betrat den Empfangsbereich.

Wenn man sich vergewissern will, ob der Herd heiß ist, muss man ihn manchmal anfassen.

2

Die Frau mit dem Parfüm und den blassen Händen befand sich schon weit auf dem Korridor hinter dem offenen Drehkreuz. Sie war durchgewinkt worden. Geradeaus vor mir lag die mit zwei Mann besetzte Auskunftstheke. Links voraus waren die zwei Kerle damit beschäftigt, Dienstausweise zu kontrollieren. Das offene Drehkreuz befand sich zwischen ihren Hüften. Die vier bereitstehenden Kerle taten weiterhin nichts. Sie bildeten eine stille, wachsame Gruppe, als wären sie ein unabhängiges Team. Ihre Schuhe konnte ich noch immer nicht sehen.

Ich atmete nochmals tief durch und trat an die Theke.

Wie ein Lamm an die Schlachtbank.

Der linke der beiden Männer schaute mich an und sagte: »Ja, Sir.« In seiner Stimme lagen Erschöpfung und Resignation. Das war keine Frage, sondern eine Antwort, als hätte ich schon etwas gesagt. Er sah jung und nicht unintelligent aus. Vermutlich ein echter DPS-Angehöriger. Warrant Officers der Militärpolizei lernen schnell, aber sie könnten trotzdem niemals an der Auskunft im Pentagon Dienst tun.

Der Mann hinter der Theke sah mich erwartungsvoll an, und ich sagte: »Ich habe einen Termin um zwölf Uhr.«

»Bei wem?«

»Colonel Frazer«, antwortete ich.

Der Kerl tat so, als würde er diesen Namen nicht erkennen. Das größte Bürogebäude der Welt. Dreißigtausend Beschäftigte. Er blätterte in einem Buch von der Größe eines Telefonbuchs und fragte dann: »Sie meinen Colonel John James Frazer, Sir? Verbindungsoffizier zum Senat?«

Ich sagte: »Ja.«

Oder: Schuldig im Sinne der Anklage.

Weit links von mir beobachteten mich die vier Kerle des Reserveteams. Aber sie rührten sich nicht von der Stelle. Noch nicht.

Der Kerl hinter der Theke fragte nicht nach meinem Namen. Das brauchte er nicht, weil er vermutlich eingewiesen worden war und ein Foto von mir gesehen hatte – und weil zu meinem Dienstanzug ein Namensschild auf der Patte der rechten Brusttasche gehörte: exakt mittig und einen Viertelzoll unter dem oberen Saum getragen.

Sieben Buchstaben: REACHER

Oder dreizehn Buchstaben: Verhaftet mich!

Der Kerl an der Auskunft sagte: »Colonel John James Frazer ist in 3C315. Sie wissen, wie Sie dort hinkommen?«

Ich sagte: »Ja.« Dritte Ebene, Ring C, in der Nähe von Radialkorridor drei, Sektion 15. Die Pentagonversion eines Koordinatensystems, das hier auch nötig war, wenn man an die dreihundertfünfundvierzigtausend Quadratmeter Bürofläche dachte.

Der Kerl sagte: »Sir, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag«, und sein unschuldiger Blick glitt an meiner Schulter vorbei zu dem nächsten Wartenden. Ich blieb noch einen Moment stehen. Diese Leute machten wirklich alles perfekt – mit einer Zierschleife obendrauf. Ein alter Rechtsgrundsatz lautet: Actus non facit reum nisi mens sit rea – Keine Schuld ohne Bewusstsein der Schuld, was grob gesagt bedeutet, dass man für sein Tun nicht unbedingt zur Verantwortung gezogen werden kann. Absichtliches Handeln gilt als Prüfstein. Die DPS-Männer warteten darauf, dass ich durch das Drehkreuz ging und das Labyrinth betrat.

Was die Erklärung dafür war, dass das Reserveteam auf ihrer Seite des Durchgangs, nicht auf meiner, bereitstand. Indem ich diese Linie überschritt, gab ich meine Absichten zu erkennen. Vielleicht hatte es Zuständigkeitsprobleme gegeben. Vielleicht waren Anwälte hinzugezogen worden. Frazer wollte mich liquidieren lassen, das stand fest, aber gleichzeitig dafür sorgen, dass kein Verdacht auf ihn fiel.

Ich atmete nochmals tief durch, überschritt die Linie und machte damit alles real. Ich ging zwischen den beiden Kontrolleuren hindurch und spürte die kalten Stahlflanken des Drehkreuzes. Der bewegliche Stab war eingeklappt, so konnte nichts meine Schenkel streifen. Ich kam auf der anderen Seite heraus und blieb stehen. Die vier Männer standen rechts von mir. Ich betrachtete ihre Schuhe. Die Bekleidungsvorschriften der Army sind überraschend vage, was Schuhe betrifft. Schwarze Halbschuhe, konservativ, ohne Verzierungen, mindestens drei Paar Ösen, vorn geschlossen, höchstens fünf Zentimeter Absatz. Daran hielten sich alle vier, aber keiner von ihnen hatte Copschuhe an. Nicht wie die beiden Kerle draußen in der Eingangshalle. Sie trugen vier Variationen desselben klassischen Themas: auf Hochglanz poliert, straff geschnürt, mit kleinen Furchen, aber nicht wirklich abgenutzt. Vielleicht gehörten sie tatsächlich zum DPS. Vielleicht auch nicht. Das ließ sich nicht feststellen. Jedenfalls nicht sofort.

Ich sah sie an, und sie erwiderten meinen Blick, aber keiner sagte etwas. Ich ging um die Gruppe herum und marschierte weiter ins Innere des Gebäudes. Ich benutzte den Ring E entgegen dem Uhrzeigersinn und bog am ersten Radialkorridor links ab.

Die vier Kerle folgten mir.

Sie blieben ungefähr zwanzig Meter hinter mir, dicht genug, um mich im Auge behalten zu können, und weit genug entfernt, um mich nicht zu bedrängen. Maximal sieben Minuten zwischen zwei beliebigen Punkten. Ich kam mir wie ein Stück Fleisch zwischen zwei Sandwichhälften vor. Bestimmt würde ein weiteres Team vor 3C315 warten – falls sie mich nicht schon vorher abfingen. Ich marschierte geradewegs auf sie zu. Nirgends eine Fluchtmöglichkeit, nirgends ein Versteck.

Auf dem Ring D benutzte ich die Treppe, um zwei Ebenen höher ins dritte Geschoss zu gelangen. Dort wechselte ich nur so aus Spaß die Richtung, ging entgegen dem Uhrzeigersinn weiter und passierte die Radialkorridore fünf und vier. Auf Ring D herrschte reger Betrieb. Leute mit Armen voller khakifarbener Akten hasteten von einem Ort zum anderen. Uniformierte Männer und Frauen liefen mit ausdruckslosen Mienen aneinander vorbei. Das Gedränge war wirklich sehr dicht. Ich umging Leute, wich ihnen aus und kam weiter gut voran. Unterwegs wurde ich immer wieder angestarrt. Wegen meiner Haare und des Fünftagebarts. Ich machte bei einem Wasserspender halt, beugte mich hinunter und nahm einen Schluck. Die vier zusätzlichen DPS-Männer waren nirgends zu sehen. Andererseits brauchten sie mich nicht wirklich zu beschatten. Sie wussten, wohin ich wollte und wann ich dort eintreffen sollte.

Ich richtete mich auf, ging weiter und bog rechts auf den Radialkorridor drei ab. Dort roch die Luft nach Uniformwolle, Linoleumpolitur und ganz schwach nach Zigarren. Die Ölfarbe an den Wänden schien aus Dutzenden von Schichten zu bestehen. Ich blickte nach links und rechts. Auf dem Flur befanden sich Leute, aber keine größere Ansammlung vor Sektion fünfzehn. Vielleicht warteten sie drinnen auf mich. Ich hatte schon fünf Minuten Verspätung.

Ich kehrte nicht um, sondern blieb auf Radialkorridor drei und ging über Ring B zum Ring A hinüber. Ins Herz des Gebäudes, in dem alle Korridore endeten. Oder begannen – je nach Dienstgrad und Perspektive. Jenseits des Rings A gab es nur noch einen gut zwei Hektar großen Innenhof, der dem Loch eines fünfeckigen Donuts glich. In der guten alten Zeit hatten die Leute ihn »Nullpunkt« genannt, weil sie sich ausrechneten, dass die Sowjets mit ihrer größten und besten ICBM ständig darauf zielten, als wäre er das Schwarze einer riesigen Zielscheibe. Ich glaube, dass sie unrecht hatten. Ich glaube, dass die Sowjets für den Fall, dass die ersten vier Raketen versagten, mit ihren fünf größten und besten ICBMs darauf zielten. Kluge Köpfe würden auch nie darauf wetten, dass die Sowjets genau das bekommen hatten, wofür sie gezahlt hatten.

Auf Ring A wartete ich, bis ich zehn Minuten Verspätung hatte. Die anderen sollten lieber im Ungewissen bleiben. Vielleicht suchten sie mich bereits. Vielleicht bekamen die vier unterbeschäftigten Kerle bereits einen Anschiss, weil sie mich aus den Augen verloren hatten. Ich holte nochmals tief Luft, stieß mich von der Wand ab und marschierte auf dem Radialkorridor drei über Ring B zu C zurück. Dort bog ich ab, ohne aus dem Tritt zu kommen, und hielt auf Sektion 15 zu.

3

Vor Sektion 15 wartete niemand. Kein Team aus DPS-Männern. Überhaupt niemand. So weit das Auge reichte, war auch der Korridor auf beiden Seiten völlig leer. Und auffällig still. Offenbar befand sich jeder schon dort, wo er hinwollte. Die Mittagsbesprechungen waren in vollem Gange.

Die Tür von Sektion 15 stand offen. Ich klopfte kurz an – aus Höflichkeit, als Ankündigung, als Warnung – und trat sofort ein. Die Dienstzimmer im Pentagon waren ursprünglich Großraumbüros mit nur angedeuteten Unterteilungen durch Karteischränke und andere Büromöbel gewesen, aber im Lauf der Jahre waren Wände eingezogen worden. Dafür war 3C315, Frazers Dienstzimmer, ein relativ typisches Beispiel: ein kleiner quadratischer Raum mit einem Fenster ohne bemerkenswerte Aussicht, einem Orientteppich auf dem Fußboden, gerahmten Fotos an den Wänden, einem stahlgrauen Dienstschreibtisch, drei Stühlen (einer davon mit Armlehnen) und einem extrabreiten Karteischrank.

Und es war ein kleiner quadratischer Raum, in dem sich außer Frazer, der am Schreibtisch saß, niemand aufhielt. Er sah zu mir auf und lächelte.

Er sagte: »Hallo, Reacher.«

Ich schaute nach links und rechts. Kein Mensch. Absolut niemand. Hier gab es keine private Toilette. Keinen großen Schrank. Keine weitere Tür. Und der Korridor hinter mir war leer. In dem riesigen Gebäude herrschte Stille.

Frazer sagte: »Schließen Sie die Tür.«

Ich schloss die Tür.

Frazer sagte: »Setzen Sie sich, wenn Sie wollen.«

Ich setzte mich.

Frazer sagte: »Sie kommen spät.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich bin aufgehalten worden.«

Frazer nickte. »Kurz vor zwölf ist hier die Hölle los. Mittagspausen, Schichtwechsel, weiß der Teufel, was noch alles. Der reinste Zoo! Ich nehme mir nie vor, um zwölf irgendwohin zu gehen und verkrieche mich einfach nur hier.« Er war einen Meter fünfundsiebzig groß, wog geschätzte neunzig Kilo, war stämmig und breitschultrig, rotgesichtig, schwarzhaarig und Mitte vierzig. In seinen Adern floss altes schottisches Blut, gefiltert durch die fruchtbare Erde Tennessees, von wo er stammte. Er hatte als Teenager in Vietnam gekämpft und sich später am Golf ausgezeichnet. Er war ein altmodischer Krieger, aber weil er zu seinem Pech so gut reden und lächeln konnte, wie er kämpfte, war er zum Verbindungsoffizier beim Senat ernannt worden; denn die Leute, die das Geld bewilligten, waren heute der eigentliche Feind.

Er fragte: »Also, was haben Sie heute für mich?«

Ich schwieg. Ich hatte nichts zu sagen. Ich hatte nicht erwartet, dass ich so weit kommen würde.

Er sagte: »Hoffentlich gute Nachrichten.«

»Keine Nachrichten«, sagte ich.

»Nichts.«

Ich nickte. »Nichts.«

»Sie haben mir mitgeteilt, Sie wüssten einen Namen. Das hat in Ihrer Mitteilung gestanden.«

»Ich weiß keinen Namen.«

»Warum haben Sie’s dann behauptet? Wieso wollten Sie mich sprechen?«

Ich machte eine kurze Pause.

»Das war eine Abkürzung«, sagte ich.

»In welcher Beziehung?«

»Ich habe verbreitet, ich wüsste einen Namen. Ich war neugierig, wer unter einem Stein hervorkriechen und versuchen würde, mich zum Schweigen zu bringen.«

»Und das hat niemand getan?«

»Bisher nicht. Aber vor zehn Minuten hat die Sache noch anders ausgesehen. In der Eingangshalle haben vier Männer in DPS-Uniform gestanden. Sie sind mir anfangs gefolgt. Ich dachte, sie sollten mich verhaften.«

»Wohin verfolgt?«

»Auf Ring B bis zu C. Dann habe ich sie auf der Treppe abgeschüttelt.«

Frazer lächelte wieder.

»Sie sind paranoid«, sagte er. »Sie haben sie nicht abgeschüttelt. Ich habe Ihnen gesagt, dass es um zwölf Uhr Schichtwechsel gibt. Diese Kerle kommen wie alle mit der Metro, sie schwatzen ein bisschen miteinander und machen sich dann auf den Weg in ihren Bereitschaftsraum. Der liegt im Ring B. Diese vier haben Sie nicht verfolgt.«

Ich schwieg.

Er sagte: »Es gibt immer wieder Gruppen, die einfach nur rumhängen. Sogar jede Menge. Wir sind personell gewaltig überbesetzt. Dagegen muss etwas unternommen werden. Das ist unvermeidlich. Diese Litanei höre ich im Kongress tagtäglich. Das lässt sich nicht vermeiden. Daran sollten wir alle denken. Vor allem Leute wie Sie.«

»Wie ich?«, fragte ich.

»In der heutigen Army gibt’s viele Majore. Vermutlich zu viele.«

»Auch viele Colonels«, sagte ich.

»Weniger als Majore.«

Ich schwieg.

Er fragte: »Hatten Sie auch mich auf Ihrer Liste von Wesen, die unter einem Stein hervorkriechen könnten?«

Du warst der einzige Name darauf, dachte ich.

Er fragte: »Hab ich draufgestanden?«

»Nein«, log ich.

Er lächelte wieder. »Gute Antwort. Hätte ich was gegen Sie gehabt, hätte ich Sie drunten am Mississippi umlegen lassen. Vielleicht wäre ich vorbeigekommen, um es selbst zu erledigen.«

Ich schwieg. Er sah mich einen Augenblick lang an, dann erschien auf seinem Gesicht ein Lächeln, das sich in ein Lachen verwandelte, das er angestrengt zu unterdrücken versuchte, was ihm aber nicht gelang. Es klang wie ein Blaffen, ein Niesen, und er musste sich zurücklehnen und zur Decke aufsehen.

Ich fragte: »Was?«

Sein Blick erfasste mich wieder. Er lächelte noch immer, als er sagte: »Entschuldigung, ich musste nur gerade an eine Redensart denken. Sie wissen, was man über einen Trottel sagt? Dass er sich nicht mal verhaften lassen konnte.«

Ich schwieg.

Er sagte: »Sie sehen schlimm aus. Hier gibt es Friseure. Sie sollten zu einem gehen.«

»Das kann ich nicht«, entgegnete ich. »Ich muss so aussehen.«

Fünf Tage zuvor war mein Haar noch fünf Tage kürzer, aber anscheinend lang genug gewesen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Leon Garber, der damals wieder mein Kommandeur war, hatte mich zu sich beordert; und weil in seiner Mail stand, ich solle mich nicht mit meiner äußeren Erscheinung aufhalten, rechnete ich mir aus, er wolle das Eisen schmieden, solange es heiß ist, und mir eine Zigarre verpassen, während das Beweismaterial noch auf meinem Kopf vorhanden war. Und genau so begann unsere Besprechung. Er fragte mich: »Welche Dienstvorschrift regelt die persönliche Erscheinung des Soldaten?«

Das empfand ich als reichlich unverschämte Frage, weil sie von ihm kam. Garber war bestimmt der ungepflegteste Offizier, den ich kannte. Holte er sich aus der Kleiderkammer ein neues Uniformjackett, sah es nach einer Stunde aus, als hätte er darin zwei Kriege geführt, darin geschlafen und drei Schlägereien in Bars überstanden.

Ich behauptete: »Ich kann mich nicht erinnern, welche Dienstvorschrift die persönliche Erscheinung von Soldaten regelt.«

Er sagte: »Ich auch nicht. Aber ich scheine mich daran zu erinnern, dass Details zu Haarschnitt, Fingernägeln und Frisur in Kapitel eins, Absatz acht geregelt sind. Das steht mir alles klar vor Augen, wie’s auf der Seite steht. Können Sie sich an den Wortlaut erinnern?«

Ich sagte: »Nein.«

»Dort heißt es, Normen für Frisuren seien notwendig, um innerhalb des Soldatenstands Einheitlichkeit herzustellen.«

»Verstanden.«

»Diese Normen sind vorgeschrieben. Wissen Sie, was sie besagen?«

»Ich hatte verdammt viel zu tun«, antwortete ich. »Bin gerade aus Korea zurückgekommen.«

»Japan, dachte ich.«

»Das war nur ein Zwischenstopp.«

»Wie lange?«

»Zwölf Stunden.«

»Gibt’s in Japan Friseure?«

»Oh, bestimmt.«

»Brauchen japanische Friseure für einen Herrenhaarschnitt länger als zwölf Stunden?«

»Sicher nicht.«

»In Kapitel eins, Absatz acht, Paragraf zwo steht, dass das Kopfhaar ordentlich frisiert, dass Länge und Fülle des Haars nicht exzessiv sein oder zottelig, ungekämmt oder extrem aussehen dürfen. Stattdessen heißt es dort, das Haar müsse einen zwanglos angepassten Eindruck machen.«

Ich sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was das heißt.«

»Darunter versteht man, dass die Umrisse der Frisur eines Soldaten seiner Kopfform folgen sollen, um ganz natürlich in einem spitz zulaufenden Nackenschnitt zu enden.«

Ich sagte: »Gut, ich kümmere mich darum.«

»Das sind Vorschriften, verstehen Sie? Keine Vorschläge.«

»Okay«, sagte ich.

»Paragraf zwo bestimmt, dass gekämmtes Haar nicht über Ohren oder Augenbrauen fallen und nicht den Kragen berühren darf.«

»Okay«, sagte ich wieder.

»Würden Sie Ihre gegenwärtige Frisur nicht als zottelig, ungekämmt oder extrem aussehend bezeichnen?«

»Im Vergleich wozu?«

»Und wie stehen Sie in Bezug auf die Sache mit dem Kamm und den Ohren, den Augenbrauen und dem Kragen da?«

»Ich kümmere mich darum«, wiederholte ich.

Dann lächelte Garber, und der Tonfall unserer Besprechung änderte sich vollständig.

Er fragte: »Wie schnell wächst Ihr Haar überhaupt?«

»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Normal schnell, nehme ich an. Vermutlich wie bei allen Leuten. Wieso?«

»Wir haben ein Problem«, erklärte er mir. »Drunten in Mississippi.«

4

Garber sagte, das Problem drunten in Mississippi betreffe eine siebenundzwanzigjährige Frau namens Janice May Chapman. Sie stellte ein Problem dar, weil sie tot war. Sie war in der Kleinstadt Carter Crossing einen Straßenblock hinter der Main Street ermordet worden.

»War sie eine von uns?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Garber. »Sie war eine Zivilistin.«

»Wieso ist sie dann ein Problem?«

»Dazu komme ich noch«, erklärte Garber. »Aber zuerst müssen Sie die Story kennen. Das Gebiet dort unten ist finsterste Provinz; die Nordostecke des Bundesstaats im Grenzgebiet zu Alabama und Tennessee. Es gibt eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende Eisenbahnlinie und eine früher unbefestigte Nebenstraße, die sie bei einem Ort mit einer Quelle in Ost-West-Richtung quert. Die Lokomotiven konnten dort Wasser aufnehmen, und die Fahrgäste konnten aussteigen, um etwas zu essen – deshalb ist die Kleinstadt gewachsen. Aber seit dem Zweiten Weltkrieg verkehren nur noch zwei Züge täglich, beides Güterzüge, keine Fahrgäste, daher war die Kleinstadt wieder auf dem Weg nach unten.«

»Bis?«

»Steuergelder. Sie wissen, wie so was läuft. Washington konnte nicht zulassen, dass weite Teile des Südens zu Dritte-Welt-Staaten wurden, deshalb haben wir etwas Geld reingesteckt. Sogar ziemlich viel Geld. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die Leute, die am lautesten nach einem schlanken Staat rufen, immer in den Bundesstaaten mit den höchsten Subventionen zu leben scheinen? In einem schlanken Staat wären sie erledigt.«

Ich fragte: »Was hat Carter Crossing bekommen?«

Garber sagte: »Carter Crossing hat einen Army-Standort namens Fort Kelham bekommen.«

»Okay«, sagte ich. »Von Kelham habe ich schon gehört. Aber ich habe nie gewusst, wo es genau liegt.«

»Früher war es riesig«, fuhr Garber fort. »Der Baubeginn war 1950, glaube ich. Es hätte so groß wie Ford Hood werden sollen, aber letztlich war es doch zu weit östlich der I-55 und zu weit westlich der I-65, um wirklich brauchbar zu sein. Man musste weit auf Nebenstraßen fahren, um es überhaupt zu erreichen. Oder vielleicht haben Politiker aus Texas lautere Stimmen als Politiker aus Mississippi. Jedenfalls wurde Hood weiter ausgebaut, und Kelham ist am Halm verdorrt. Es hat bis zum Ende des Vietnamkriegs durchgehalten und ist dann in eine Ranger-Schule umgewandelt worden – was es noch immer ist.«

»Ich dachte, Ranger würden in Benning ausgebildet.«

»Das 75th schickt seine besten Leute für einige Zeit nach Kelham. Das ist nicht weit. Hat irgendwas mit dem dortigen Gelände zu tun.«

»Das 75th ist ein Regiment für Special Operations.«

»Das habe ich auch schon gehört.«

»Gibt es genug Ranger, die dort eine Sonderausbildung bekommen, um eine ganze Kleinstadt am Leben zu erhalten?«

»Beinahe«, sagte Garber. »Carter Crossing ist nicht sehr groß.«

»Wovon gehen wir also aus? Dass Chapman von einem Ranger ermordet worden ist?«

»Das bezweifle ich«, sagte Garber. »Der Täter war eher ein einheimischer Hillbilly, denke ich.«

»Gibt’s in Mississippi Hillbillys? Gibt’s dort überhaupt Hügel?«

»Gut, dann Hinterwäldler. Bäume haben sie genug.«

»Wie auch immer, warum reden wir überhaupt darüber?«

An dieser Stelle stand Garber auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, durchquerte den Raum und schloss die Tür. Er war natürlich älter als ich und viel kleiner, aber fast ebenso breit. Und er war besorgt. Es kam selten vor, dass er die Tür seines Dienstzimmers schloss, und noch seltener schaffte er’s, fünf Minuten lang zu reden, ohne eine mühsam zurechtgebogene kleine Ermahnung, einen Aphorismus oder einen Merkspruch anzubringen, um den Punkt, auf den es ihm ankam, in eine Form zu bringen, die man nicht so leicht vergaß. Jetzt setzte er sich wieder, wobei die Luft aus seinem Sitzpolster seufzend entwich, und fragte: »Haben Sie schon mal vom Kosovo gehört?«

»Balkan«, antwortete ich. »Wie Serbien und Kroatien.«

»Dort drüben wird’s Krieg geben. Wir wollen anscheinend versuchen, ihn zu verhindern. Das dürfte misslingen, und wir werden uns damit begnügen müssen, eine der beiden Seiten in Schutt und Asche zu bomben.«

»Okay«, sagte ich. »Immer gut, einen Plan B zu haben.«

»Dieser serbisch-kroatische Krieg war eine Katastrophe. Wie der in Ruanda. Total peinlich. Wir leben schließlich im zwanzigsten Jahrhundert.«

»Mir ist’s vorgekommen, als passte er gut ins zwanzigste Jahrhundert.«

»Heutzutage sollte das anders sein.«

»Warten Sie das einundzwanzigste ab. Das ist mein Rat.«

»Wir werden auf nichts warten. Wir wollen versuchen, im Kosovo das Richtige zu tun.«

»Na, dann viel Erfolg. Aber bitte ohne meine Hilfe. Ich bin nur ein Polizist.«

»Wir haben schon Leute drüben. Jeweils für kurze Zeit, wissen Sie, rein und raus.«

Ich fragte: »Wer?«

Garber sagte: »Friedenswächter.«

»Was, von den Vereinten Nationen?«

»Nicht genau. Nur unsere Leute.«

»Das wusste ich nicht.«

»Weil es niemand erfahren soll.«

»Wie lange geht das schon?«

»Zwölf Monate.«

Ich fragte: »Wir setzen seit einem vollen Jahr heimlich Bodentruppen auf dem Balkan ein?«

»Das ist keine so große Sache«, erwiderte Garber. »Zum Teil geht’s dabei um Aufklärung. Für den Fall, dass später etwas passieren muss. Aber vor allem soll für Ruhe gesorgt werden. Dort drüben gibt es viele Gruppierungen. Fragt uns jemand, behaupten wir immer, die andere Seite habe uns eingeladen. So glauben alle, die anderen hätten unsere Unterstützung. Das ist ein nützliches Abschreckungsmittel.«

Ich fragte: »Wen haben wir hingeschickt?«

Garber sagte: »Ranger der Army.«

Garber erklärte mir, während Fort Kelham nach außen hin eine legitime Ausbildungsstätte für Ranger bleibe, seien dort jetzt auch zwei Kompanien – Kompanie Alpha und Kompanie Bravo – mit handverlesenen Soldaten aus dem 75th Ranger Regiment stationiert, die sich bei heimlichen einmonatigen Einsätzen im Kosovo abwechselten. Kelhams relative Abgeschiedenheit mache es zu einem idealen Stützpunkt für Geheimoperationen. Obwohl, sagte Garber, wir eigentlich gar keinen Anlass hätten, irgendwas geheim zu halten. Wir schickten nur sehr wenige Leute nach drüben, und das Ganze sei ein humanitärer Einsatz, der aus edelsten Motiven erfolge. Aber Washington sei nun mal Washington, und manche Dinge blieben besser ungesagt.

Ich fragte: »Hat Carter Crossing eine Polizei?«

Garber sagte: »Ja, es gibt eine.«

»Lassen Sie mich raten. Sie kommt mit ihren Ermittlungen wegen Mordes nicht weiter und möchte auf Schnüffeltour gehen. Sie möchte einige der in Kelham Stationierten in den Kreis der Verdächtigen einbeziehen.«

Garber sagte: »Ja, das will sie.«

»Auch Männer der Kompanien Alpha und Bravo?«

»Ja.«

»Sie will ihnen alle möglichen Fragen stellen.«

»Ja.«

»Aber wir dürfen nicht zulassen, dass sie unsere Leute ausfragt, weil wir ihr heimliches Kommen und Gehen tarnen müssen.«

»Korrekt.«

»Hat sie einen hinreichenden Verdacht?«

Ich hoffte, Garber werde Nein sagen, aber stattdessen sagte er: »Auf gewissen Indizien basierend.«

Ich fragte: »Indizien?«

Er sagte: »Der Zeitpunkt liegt sehr ungünstig. Janice May Chapman ist drei Tage nach der Rückkehr der Kompanie Bravo von ihrem jüngsten Kosovo-Einsatz ermordet worden. Die Abgelösten kommen im Direktflug aus Übersee zurück. Kelham hat einen eigenen Flugplatz, so groß ist die Anlage. Aus Geheimhaltungsgründen landen sie im Schutz der Dunkelheit. Die Heimkehrer bleiben erst mal zwei Tage interniert, um ausführlich befragt zu werden.«

»Und dann?«

»Am dritten Tag bekommt die heimgekehrte Kompanie eine Woche Urlaub.«

»Den alle in der Stadt verbringen.«

»Meistens.«

»Auch in der Main Street und den Straßen dahinter.«

»Dort sind die Bars.«

»Und in den Bars lernen sie Frauen kennen.«

»Wie immer.«

»Und Chapman war eine Einheimische.«

»Und als freundlich und umgänglich bekannt.«

Ich sagte: »Klasse.«

Garber sagte: »Sie ist vergewaltigt und verstümmelt worden.«

»Wie verstümmelt?«

»Danach habe ich nicht gefragt. Ich wollt’s nicht wissen. Sie war siebenundzwanzig. Jodie ist auch siebenundzwanzig.«

Seine einzige Tochter. Sein einziges Kind. Heiß geliebt.

Ich fragte: »Wie geht’s ihr?«

»Danke, gut.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie ist Anwältin«, sagte er, als wäre das kein Beruf, sondern ein Ort. Dann fragte er seinerseits: »Wie geht’s Ihrem Bruder?«

Ich sagte: »Dem geht es gut, soviel ich weiß.«

»Noch immer im Finanzministerium?«

»Soviel ich weiß.«

»Er war ein guter Mann«, sagte Garber, als sei das Ausscheiden aus der Army gleichbedeutend mit dem Tod.

Ich sagte nichts.

Garber fragte: »Also, was täten Sie dort drunten in Mississippi?«

Das war im Jahr 1997, deshalb sagte ich: »Die örtliche Polizei können wir nicht ausschließen. Nicht unter diesen Umständen. Aber wir können auch nicht voraussetzen, dass sie viel Fachkenntnis oder große Ermittlungsmöglichkeiten hat. Deshalb sollten wir ihr Hilfe anbieten und jemanden dort runterschicken. Alle Ermittlungen auf dem Stützpunkt könnten wir übernehmen. War der Täter jemand aus Kelham, servieren wir ihn auf einem Silbertablett. Damit wird der Gerechtigkeit Genüge getan, und wir können verbergen, was geheim bleiben muss.«

»So einfach ist die Sache nicht«, meinte Garber. »Sie wird noch schlimmer.«

»Wodurch?«

»Kompaniechef von Bravo ist ein Kerl namens Reed Riley. Kennen Sie den?«

»Der Name klingt bekannt.«

»Aus gutem Grund. Sein Vater ist Carlton Riley.«

Ich sagte: »Scheiße.«

Garber nickte. »Senator Riley. Der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses. Der unser bester Freund oder schlimmster Feind werden wird, je nachdem wie diese Sache ausgeht. Und Sie wissen, wie’s bei solchen Kerlen ist. Einen Captain der Infanterie als Sohn zu haben bringt ihm eine Million Wählerstimmen. Einen Helden als Sohn zu haben ist doppelt so viele wert. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passieren wird, wenn einer der Männer des jungen Reeds sich als Mörder erweist.«

Ich sagte: »Wir müssen sofort jemanden nach Kelham in Marsch setzen.«

Garber sagte: »Deshalb haben Sie und ich jetzt diese Besprechung.«

»Wann soll ich dort sein?«

»Ich will Sie nicht dort haben«, erklärte Garber.

5

Garber teilte mir mit, für den Job in Kelham habe er nicht mich ausgesucht. Seine Wahl war auf einen frisch beförderten MP-Major namens Duncan Munro gefallen. Soldatenfamilie, Silver Star, Purple Heart und so weiter und so fort. Er hatte sich vor Kurzem in Korea bewährt und bewährte sich gegenwärtig in Deutschland. Er war fünf Jahre jünger als ich, und nach allem, was ich gehört hatte, war er genau so wie ich vor fünf Jahren. Ich kannte ihn nicht persönlich.

Garber sagte: »Er fliegt heute Nacht dort runter.«

»Ihre Entscheidung«, sagte ich. »Vermutlich.«

»Die Situation ist knifflig«, meinte er.

»Offenbar«, sagte ich. »Zu knifflig für mich.«

»Machen Sie sich nicht gleich in die Hose. Sie brauche ich für etwas anderes. Für etwas, das Sie hoffentlich als ebenso wichtig erachten werden.«

»Zum Beispiel?«

»Verdeckte Ermittlungen«, antwortete er. »Deshalb bin ich froh über Ihr Haar. Zottelig und ungekämmt. Es gibt zwei Punkte, in denen wir schwach sind, wenn wir verdeckt ermitteln: Haar und Schuhe. Gebrauchte Schuhe kriegt man bei Goodwill. Aber unordentliches Haar kann man nicht sofort erwerben.«

»Um wo zu ermitteln?«

»Natürlich in Carter Crossing. Drunten in Mississippi. Außerhalb des Stützpunkts. Sie kommen in die Kleinstadt wie irgendein Exsoldat, der ziellos durchs Land stromert. Sie kennen den Typ. Sie spielen einen Kerl, der sich dort sofort wohlfühlt, weil er diese Atmosphäre gewohnt ist. Sie knüpfen Kontakte zur dortigen Polizei und nutzen sie, um heimlich dafür zu sorgen, dass Munro und sie diese Ermittlungen absolut richtig führen.«

»Ich soll einen Zivilisten spielen?«

»Das ist nicht allzu schwer. Schließlich gehören wir alle derselben Spezies an – mehr oder weniger. Sie kommen schon zurecht.«

»Ermittle ich dort aktiv?«

»Nein. Sie sollen nur beobachten und berichten. Wie in der Ausbildung. Das kennen Sie von früher. Meine Augen und Ohren. Diese Sache muss absolut richtig ablaufen.«

»Okay«, sagte ich.

»Noch Fragen?«

»Wann reise ich ab?«

»Morgen bei Tagesanbruch.«

»Und wie lautet Ihre Definition von ›diese Sache muss absolut richtig ablaufen‹?«

Garber wich meinem Blick aus, rutschte auf seinem Stuhl herum und drückte sich vor einer Antwort.

Ich ging in meine Unterkunft zurück und stellte mich unter die Dusche, ohne mich anschließend zu rasieren. Verdeckte Ermittlungen sind wie Method Acting, und Garber hatte recht: Ich kannte diesen Typ. Jeder Soldat kennt ihn. Kleinstädte in der Nähe von Stützpunkten sind voller Kerle, die aus irgendwelchen Gründen ausgeschieden sind und den Absprung nicht geschafft haben. Manche bleiben, andere werden zum Weiterwandern gezwungen und enden in irgendeiner anderen Kleinstadt in der Nähe eines anderen Stützpunkts. Gleich, aber anders. Diese Atmosphäre kennen sie, und in der fühlen sie sich wohl. Aus alter Gewohnheit, vielleicht aus Veranlagung, bewahren sie sich eine gewisse unbewusste militärische Disziplin, aber sie vernachlässigen ihre äußere Erscheinung. Kapitel eins, Abschnitt acht, Paragraf zwei, beherrscht nicht mehr ihr Leben. Also rasierte ich mich nicht, föhnte auch mein Haar nicht, sondern ließ es einfach nur trocknen.

Dann legte ich mein Zeug auf dem Bett bereit. Wegen der Schuhe brauchte ich nicht zum Goodwill. Ich verfügte über ein Paar, das sich gut eignete. Vor ungefähr zwölf Jahren hatte ich in England bei einem Trödler auf dem Land ein paar feste braune Herrenschuhe gekauft. Große, schwere, solide Dinger. Gut gepflegt, aber keineswegs mehr neu. Ein bisschen abgetreten.

Ich stellte sie vors Bett, vor dem sie zunächst allein standen. Sonstige Zivilkleidung besaß ich nicht. Überhaupt keine. Nicht mal Socken. In einer Schublade fand ich ein altes olivgrünes T-Shirt, dessen schwere Baumwolle durch häufiges Waschen dünn wie Seide geworden war. Ich rechnete mir aus, dass ein Typ, wie ich ihn spielen sollte, so was aufheben würde, und legte es neben die Schuhe. Dann ging ich in die PX und suchte auf Gängen herum, die ich sonst nie betrat. Ich fand eine schlammfarbene Gabardinehose und ein langärmeliges Hemd, das eigentlich kastanienbraun, aber schon vorgewaschen war, sodass seine Nähte einen blassen Rosaton angenommen hatten. Es rief nicht gerade Begeisterung in mir hervor, aber es war das einzige in meiner Größe. Es war herabgesetzt, aus verständlichen Gründen, und sah im Prinzip zivil aus. Ich hatte schon Leute in schlimmeren Klamotten gesehen. Außerdem konnte man es vielseitig verwenden. Ich wusste nicht, welche Temperaturen mich im März in der Nordostecke von Mississippi erwarteten. War das Wetter warm, konnte ich die Ärmel aufkrempeln, war es kalt, konnte ich sie herunterrollen.

Ich entschied mich für weiße Unterwäsche und khakifarbene Socken. Dann machte ich bei den Toilettenartikeln halt und fand eine zusammenklappbare Reisezahnbürste, die mir sofort gefiel. Der Borstenteil steckte in einer Klarsichthülle und konnte herausgezogen und umgedreht wieder hineingesteckt werden, sodass eine vollwertige Zahnbürste entstand. Sie passte in jede Tasche, und der Borstenteil blieb auf diese Weise immer sauber. Eine klasse Idee.

Meine Einkäufe gab ich gleich zum Waschen, damit sie etwas alterten. Nichts lässt Klamotten wirkungsvoller altern als die Wäscherei auf einem Stützpunkt. Dann suchte ich ein Schnellrestaurant auf, um ein verspätetes Mittagessen einzunehmen. Dort traf ich einen alten Freund und MP-Kollegen namens Stan Lowrey, mit dem ich schon oft zusammengearbeitet hatte. Er saß vor einem Tablett mit den Überresten eines halbpfündigen Hamburgers mit Pommes. Ich brachte meine Mahlzeit mit und setzte mich ihm gegenüber. Er sagte: »Wie ich höre, bist du nach Mississippi unterwegs.«

Ich fragte: »Wo hast du das gehört?«

»Mein Sergeant hat’s von einem Sergeant in Garbers Büro erfahren.«

»Wann?«

»Vor ungefähr zwei Stunden.«

»Klasse«, sagte ich. »Vor zwei Stunden hab ich’s selbst noch nicht gewusst. So viel zu Geheimhaltung.«

»Mein Sergeant sagt, dass du die zweite Geige spielen wirst.«

»Dein Sergeant hat recht.«

»Mein Sergeant sagt, dass der leitende Ermittler noch feucht hinter den Ohren ist.«

Ich nickte. »Ich bin der Babysitter.«

»Das ist Scheiße, Reacher. Das ist echt beschissen.«

»Aber nur, wenn der Junge alles richtig macht.«

»Was er tun könnte.«

Ich biss von meinem Hamburger ab, trank einen Schluck von meinem Kaffee. »Tatsächlich weiß ich nicht, ob irgendjemand was richtig machen könnte. Da geht’s um alle möglichen Empfindlichkeiten. Vielleicht gibt’s gar keine richtige Methode. Vielleicht schützt Garber mich, indem er den Jungen opfert.«

Lowrey sagte: »Träum nur weiter, mein Freund. Du bist ein altes Streitross, und Garber wechselt dich in der zweiten Hälfte des neunten Innings bei voll besetzten Bases noch mal ein. Ein neuer Star wird geboren. Du bist Geschichte.«

»Dann du aber auch«, entgegnete ich. »Wenn ich ein altes Streitross bin, wartest du bereits am Tor der Leimfabrik.«

»Stimmt«, sagte Lowrey. »Genau das macht mir Sorgen. Ich werd ab heute Abend mal die Stellenanzeigen studieren.«

Der Rest dieses Nachmittags verlief ruhig. Meine Wäsche kam von den riesigen Maschinen etwas gebleicht und mitgenommen zurück. Sie war gemangelt, aber das würde sich geben, wenn ich einen Tag darin reiste. Ich ließ das Wäschepaket auf meinen Schuhen liegen. Dann klingelte mein Telefon, und die Verbindung stellte einen Anruf aus dem Pentagon durch. Ich sprach mit einem Colonel namens John James Frazer. Er stellte sich als Verbindungsoffizier beim Senat vor – aber bevor er das sagte, erwähnte er seine Kampfeinsätze, damit ich ihn nicht als Vollidioten abschrieb. Dann sagte er: »Ich muss augenblicklich darüber informiert werden, wenn es auch nur die geringste Andeutung oder den Hauch eines Gerüchts über jemanden aus der Kompanie Bravo gibt. Sofort, okay? Tag und Nacht.«

Ich sagte: »Und ich muss wissen, ob die dortige Polizei überhaupt weiß, dass es in Kelham eine Kompanie Bravo gibt. Ich dachte, das sei geheim.«

»Die Soldaten werden mit C5 Galaxy transportiert. Laute, riesige Maschinen.«

»Die immer nur nachts starten und landen. Also könnten das Versorgungsflüge sein. Munition und Verpflegung.«

»Vor ein paar Monaten hat das Wetter nicht mitgespielt. Stürme über dem Atlantik. Sie waren spät dran. Sie sind nach Tagesanbruch gelandet und beobachtet worden. Und Kelham ist ohnehin eine Garnisonsstadt. Sie wissen, wie das läuft. Die Einheimischen erkennen bestimmte Muster. Bekannte Gesichter sind einen Monat lang da, im nächsten nicht mehr, aber im übernächsten wieder. Die Leute sind nicht dumm.«

»Andeutungen und Gerüchte gibt es bereits«, sagte ich. »Der Zeitpunkt regt zu Spekulationen an. Wie Sie selbst sagen, sind die Leute nicht dumm.«

»Der Zeitpunkt könnte bloßer Zufall sein.«

»Schon möglich«, sagte ich. »Hoffen wir das Beste.«

Frazer erklärte: »Ich muss sofort davon erfahren, wenn es irgendetwas gibt, das Captain Riley hätte tun können oder sollen oder hätte wissen müssen oder sollen. Absolut alles, okay? Und zwar sofort.«

»Ist das ein Befehl?«

»Es ist ein Wunsch eines ranghöheren Offiziers. Erkennen Sie einen Unterschied?«

»Sind Sie in meiner Befehlskette?«

»Tun Sie einfach so, als gehörte ich dazu.«

»Okay«, sagte ich.

»Absolut alles«, wiederholte er. »Sofort und direkt an mich. Nur an mich persönlich. Tag und Nacht.«

»Okay«, sagte ich noch mal.

»Hier steht viel auf dem Spiel. Haben Sie verstanden? Der Einsatz ist sehr hoch.«

»Okay«, sagte ich zum dritten Mal.

Dann sagte Frazer: »Aber ich möchte nicht, dass Sie etwas tun, wobei Ihnen nicht wohl ist.«

Ich ging mit strubbeligem Haar und kratzigem Bart früh ins Bett. Die Uhr in meinem Kopf weckte mich um fünf, zwei Stunden vor Tagesanbruch, am Freitag, dem 7. März 1997. Dem ersten Tag meines restlichen Lebens.

6

Ich duschte und zog mich an, ohne Licht zu machen: Socken, Boxershorts, Hose, mein altes T-Shirt, mein neues Hemd. Ich schnürte meine Schuhe und steckte meine Zahnbürste mit einem Päckchen Kaugummi und einen kleinen Packen Geldscheine ein. Alles andere ließ ich zurück: den Ausweis, die Geldbörse, die Uhr, ohne alles. Method acting nach Lee Strasberg. Ich stellte mir vor, was ich tun würde, wenn ich’s im Ernst tun müsste.

Dann marschierte ich los. Als ich das Tor erreichte, trat Garber aus dem Wachhäuschen, um im Freien mit mir zu reden. Er hatte auf mich gewartet. Um sechs Uhr morgens. Noch bei Dunkelheit. Garbers Arbeitsanzug, den er vermutlich vor weniger als einer Stunde frisch angezogen hatte, sah aus, als hätte er sich auf einer Farm im Dreck gewälzt. Wir standen im gelblichen Schein einer Natriumdampflampe. Es war sehr frisch.

Garber fragte: »Sie haben kein Gepäck?«

Ich antwortete: »Wozu sollte ich welches haben?«

»Leute haben Gepäck.«

»Wozu?«

»Für ihre Ersatzkleidung.«

»Ich habe keine Ersatzkleidung. Diese Klamotten musste ich eigens kaufen.«

»Sie haben dieses Hemd ausgesucht ?«

»Was gibt’s daran auszusetzen?«

»Es ist rosa.«

»Nur teilweise.«

»Sie sind nach Mississippi unterwegs. Man wird Sie für schwul halten. Man wird Sie totschlagen.«

»Das bezweifle ich«, entgegnete ich.

»Was machen Sie, wenn diese Sachen schmutzig sind?«

»Weiß ich nicht. Neue kaufen, vermutlich.«

»Wie wollen Sie nach Kelham kommen?«

»Ich gehe in die Stadt und nehme dort den Greyhound-Bus nach Memphis. Die restliche Strecke fahre ich per Anhalter. So würden es andere Leute machen, glaub ich.«

»Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Ich finde bestimmt ein Schnellrestaurant.«

Garber machte eine kurze Pause, dann fragte er: »Hat John James Frazer Sie gestern angerufen? Der Verbindungsoffizier beim Senat?«

Ich sagte: »Ja, das hat er.«

»Welchen Eindruck hatten Sie?«

»Dass wir in der Scheiße stecken, wenn Janice May Chapman nicht von einem Zivilisten ermordet worden ist.«

»Dann wollen wir hoffen, dass es so war.«

»Ist Frazer in meiner Befehlskette?«

»Vermutlich ist’s am sichersten, davon auszugehen.«

»Was für eine Art Mensch ist er?«

»Jemand, der im Augenblick verdammt viel Stress hat. Fünf Jahre harter Arbeit könnten vergeblich sein, wenn sie gerade wichtig zu werden beginnt.«

»Er hat mich aufgefordert, nichts zu tun, wobei mir nicht wohl ist.«

»Bockmist«, sagte Garber. »Sie sind nicht in der Army, um sich wohlzufühlen.«

Ich sagte: »Was irgendein Kerl im Urlaub tut, nachdem er sich in einer Bar betrunken hat, ist nicht die Schuld seines Kompaniechefs.«

»Nur im richtigen Leben«, erklärte Garber. »Aber hier reden wir von Politik.« Dann machte er wieder eine kurze Pause, als hätte er noch viele Argumente vorzubringen und überlegte, mit welchem er beginnen solle. Aber zuletzt sagte er doch nur: »Also, dann gute Reise, Reacher. Halten Sie mich auf dem Laufenden, okay?«

Der Weg zum Busbahnhof war weit, aber nicht schwierig. Man brauchte nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich wurde von ein paar Autos überholt. Kein Fahrer stoppte, um mich mitzunehmen. Wäre ich in Uniform gewesen, hätte bestimmt einer gehalten. Hier im Herzen Amerikas war die Bevölkerung den Soldaten in ihrer Mitte wohlgesinnt. Dass keiner hielt, nahm ich als Beweis dafür, dass ich als Zivilist überzeugend wirkte, und war froh, diesen Test bestanden zu haben. Ich hatte noch nie einen Zivilisten verkörpert, für mich stellte das Neuland dar. Ich selbst war nie Zivilist gewesen. Vielleicht theoretisch in den achtzehn Jahren zwischen meiner Geburt und West Point, aber diese Zeit hatte ich als Sohn eines Berufsoffiziers auf Stützpunkten des U.S. Marine Corps verbracht, und das Leben in einer Soldatenfamilie hatte nichts mit dem Zivilleben zu tun. Absolut nichts. Deshalb empfand ich diesen Morgenspaziergang als erfrischend und experimentell. Die Sonne ging hinter mir auf und erwärmte die feuchte Luft, während stratusförmiger Bodennebel mir bis zu den Knien reichte. Ich marschierte weiter und dachte an meinen alten Kumpel Stan Lowrey auf dem Stützpunkt. Ich fragte mich, ob er die Stellenanzeigen studiert hatte. Ich fragte mich, ob er das tun sollte. Ich fragte mich, ob ich das tun sollte.

Eine halbe Meile vor der Stadtmitte stand ein Diner, in dem ich frühstückte. Ich bestellte Kaffee, reichlich Kaffee, und Rührei mit Schinken. Nach Aussehen und Benehmen fühlte ich mich ziemlich gut integriert. In dem Diner saßen außer mir sechs weitere Gäste. Lauter Zivilisten, lauter Männer, die nach den fürs Militär geltenden Normen zottelig und ungekämmt aussahen. Alle trugen Baseballkappen mit Netzeinsätzen und Werbung von Firmen, die ich für Landmaschinenhersteller oder Saatgutlieferanten hielt. Ich fragte mich, ob ich mir auch so eine Mütze hätte zulegen sollen. Ich hatte nicht daran gedacht und in der PX keine ausgestellt gesehen.

Ich trank meinen Kaffee aus, zahlte bei der Bedienung und ging barhäuptig zu dem Busbahnhof weiter, von dem die Greyhounds abfuhren. Ich kaufte mir eine Fahrkarte, wartete auf einer Bank und saß eine halbe Stunde später hinten in einem Bus, der nach Südwesten fuhr.

7

Die Busfahrt war auf ihre Art wundervoll. Keine gewaltige Strecke, nicht mehr als ein kleiner Teil eines riesigen Kontinents, kaum ein Zoll auf einer Amerikakarte in einem Blatt, aber sie dauerte sechs Stunden. Der Blick aus dem Fenster veränderte sich so langsam, dass er sich kaum zu verändern schien, aber trotzdem sah die Landschaft am Ziel ganz anders aus als bei der Abfahrt. Memphis war eine moderne Stadt, von frisch gesprengten Straßen durchzogen, die von niedrigen Gebäuden in dezenten Pastellfarben gesäumt wurden, zwischen denen das Leben in unerklärlicher Geschäftigkeit wogte. Ich stieg am Busbahnhof aus und blieb einen Augenblick in der hellen Nachmittagssonne stehen, horchte auf die Geräusche von Menschen, die arbeiteten oder ihre Freizeit genossen. Dann schlug ich, die Sonne rechts neben mir, den Weg nach Südosten ein. Als Erstes wollte ich eine große Straße erreichen, die aus der Stadt hinausführte. An zweiter Stelle stand das Bedürfnis nach einer kräftigen Mahlzeit.

Wenig später fand ich mich in einem schäbigen Viertel mit Pfandhäusern, Pornoshops und professionellen Kautionsstellern wieder und rechnete mir aus, dass es fast unmöglich sein würde, hier per Anhalter weiterzukommen. Derselbe Fahrer, der auf der Landstraße vielleicht gehalten hätte, würde hier nicht im Traum daran denken, einen Fremden mitzunehmen. Deshalb änderte ich meine Prioritäten, schlug mir den Magen in einem billigen Schnellimbiss voll und fand mich damit ab, anschließend eine längere Strecke marschieren zu müssen. Ich wollte eine Straßenecke mit einem Wegweiser, einem großen grünen Rechteck, auf dem unter einem Pfeil die Orte Oxford, Tupelo und Columbus standen. Meiner Erfahrung nach ließ ein Kerl, der mit hochgerecktem Daumen unter einem solchen Schild stand, keinen Zweifel daran, was und wohin er wollte. Weitere Erklärungen waren überflüssig. Kein Fahrer brauchte erst zu halten und zu fragen, was die Sache erleichterte. Die meisten Leute mögen es nicht, von Angesicht zu Angesicht Nein sagen zu müssen. Oft fahren sie einfach vorbei, um dem zu entgehen. Da ist’s immer besser, vorher Klarheit zu schaffen.

Eine Ecke, die mit einem Wegweiser dieser Art meinen Vorstellungen entsprach, fand ich nach halbstündigem Marsch am Rand eines üppig begrünten Vororts, was bedeutete, dass neunzig Prozent der Vorbeifahrenden ehrbare Gattinnen auf dem Heimweg sein würden, die mich völlig links liegen lassen würden. Keine Frau aus Suburbia und kein Kurzstreckenfahrer würden bereit sein, einen Anhalter mitzunehmen. Trotzdem wäre Weitermarschieren kein Vorteil gewesen. Unwirtschaftlich. Lieber Zeit durch Stillstehen vergeuden, als sie in Bewegung zu verschwenden und so Energie zu verbrennen. Selbst wenn neun Zehntel aller Wagen vorbeirauschten, rechnete ich damit, binnen einer Stunde mobil zu sein.

Und das war ich. Keine zwanzig Minuten später hielt ein alter Pick-up neben mir. Der Fahrer sagte, er sei zu einem Sägewerk hinter Germantown unterwegs. Da anscheinend erkennbar war, dass ich von der hiesigen Geografie nicht viel Ahnung hatte, erklärte mir der Mann, wenn ich mitführe, würde ich den Stadtbrei hinter mir lassen und nur noch die Straße in den Nordosten Mississippis vor mir haben. Also stieg ich ein und stand weitere zwanzig Minuten später allein auf dem Bankett einer staubigen zweispurigen Straße, die eindeutig in die gewünschte Richtung führte. Ein Kerl in einem klapprigen Buick hielt an, und zusammen überquerten wir die Staatsgrenze und fuhren vierzig Meilen weit nach Osten. Dann nahm ein Typ in einem stattlichen alten Chevy mich auf einer Nebenstraße zwanzig Meilen weit nach Süden mit und ließ mich an einer Abzweigung aussteigen, die er als die für mich richtige bezeichnete. Inzwischen war es später Nachmittag, und die Sonne näherte sich ziemlich schnell dem westlichen Horizont. Die Straße vor mir verlief schnurgerade, war auf beiden Seiten von niedrigen Wäldern gesäumt und schien in der Ferne in nichts als Dunkelheit zu führen.

Ich rechnete mir aus, dass Carter Crossing auf beiden Seiten dieser Straße liegen würde, vielleicht dreißig oder vierzig Meilen östlich von hier. Was bedeutete, dass ich kurz davor war, den ersten Teil meines Auftrags abschließen zu können, indem ich einfach dort ankam. Der zweite Teil bestand daraus, Kontakt zu den einheimischen Cops aufzunehmen, was sich vielleicht als schwieriger erweisen würde. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, weshalb ein Herumtreiber auf der Durchreise sich bei Leuten in Polizeiuniform anbiedern sollte. Auch keinen vernünftigen Mechanismus dafür, wenn man sich nicht etwa verhaften lassen wollte, womit unsere ganze Beziehung auf denkbar ungünstige Weise begonnen hätte.

Wie sich dann herausstellte, konnte ich beide Teile meines Auftrags auf einmal abschließen, weil das erste Auto, das auf meiner Straße unterwegs war, sich als Streifenwagen auf der Heimfahrt herausstellte. Ich reckte den Daumen hoch, und der Mann hielt, um mich mitzunehmen. Er war geschwätzig, und da ich ein guter Zuhörer war, fand ich binnen Minuten heraus, dass einiges von dem, was Garber mir erzählt hatte, nicht stimmte.

8

Der Cop hieß Pellegrino wie das Mineralwasser, obwohl er das nicht sagte. Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen in diesem Teil von Mississippi eher Leitungswasser tranken. Im Nachhinein war es nicht überraschend, dass er angehalten hatte, um mich mitzunehmen. Kleinstadtcops interessieren sich immer für Fremde, die in ihre Stadt unterwegs sind. Und wer sie sind, bekommt man am schnellsten heraus, indem man einfach fragt, was er sofort tat. Ich nannte meinen Namen und erzählte mit wenigen Worten meine »Legende«. Ich sagte, ich sei vor Kurzen aus der Army entlassen worden und auf der Suche nach einem Freund, der vielleicht in Carter Crossing lebte. Ich behauptete, mein Freund sei zuletzt in Kelham stationiert gewesen und vielleicht dort hängen geblieben. Dazu hatte Pellegrino nicht viel zu sagen. Er sah nur kurz zu mir herüber, musterte mich von oben bis unten, nickte und schaute wieder nach vorn. Er war ziemlich klein und unförmig dick, bestimmt italienischer Abstammung, mit schwarzem Bürstenhaarschnitt, dunklem Teint und geplatzten Äderchen auf den Nasenflügeln. Er schien zwischen dreißig und vierzig zu sein, aber ich vermutete, dass er die Pensionierung kaum erleben würde, wenn er nicht aufhörte, unmäßig zu essen und zu trinken.

Nachdem ich meine Geschichte berichtet hatte, legte er los, und ich erfuhr als Erstes, dass er kein Kleinstadtcop war. Garber hatte sich geirrt: Carter Crossing verfügte über keine eigene Polizei. Carter Crossing lag im Carter County, in dem es ein County Sheriff’s Department gab, das in dem knapp dreizehnhundert Quadratkilometer großen County für Recht und Ordnung sorgte. Andererseits lag in diesem Gebiet nicht viel außer Fort Kelham und der Kleinstadt mit dem Sheriff’s Department – was Garber in gewisser Weise wieder recht gab. Aber Pellegrino war zweifellos ein Deputy Sheriff, kein Polizeibeamter, und schien auf diesen Unterschied sehr stolz zu sein.

Ich fragte ihn: »Wie groß ist Ihr Department?«

Pellegrino antwortete: »Nicht sehr. Wir haben den Sheriff, den wir den Chief nennen, dann einen Sheriff’s Detective, dann mich und einen weiteren Deputy in Uniform. Weiter gibt’s einen Zivilisten am Empfang, wir haben eine Frau an den Telefonen, aber der Kriminalbeamte ist wegen seiner Nieren für längere Zeit krankgeschrieben, deshalb sind wir eigentlich nur zu dritt.«

Ich fragte ihn: »Wie viele Menschen leben im Carter County?«

»Ungefähr zwölfhundert«, sagte er. Das waren viele, fand ich, für drei einsatzfähige Cops. Hochgerechnet entsprach das dem Versuch, in New York City mit einem halbierten NYPD für Recht und Ordnung zu sorgen. Ich fragte ihn: »Mit Fort Kelham?«

»Nein, die zählen extra«, erklärte er. »Und sie haben ihre eigene Polizei.«

Ich sagte: »Trotzdem sind Sie und Ihre Kollegen bestimmt sehr beschäftigt. Ich meine, zwölfhundert Einwohner auf dreizehnhundert Quadratkilometern.«