Der letzte Schrei - Katharina Gerwens - E-Book
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Der letzte Schrei E-Book

Katharina Gerwens

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Zwölf Jahre lang hat so gut wie niemand sie gesehen und so gut wie keiner hatte überhaupt von ihr gewusst. Die wenigen, die mit ihr zu tun hatten, vermieden es konsequent, über sie zu sprechen. Aber nun, da Roswitha Hirschfeld verschwunden ist, ist die Frau des Schrotthändlers das Thema in Viechtach. Wurde sie, die noch nie das Haus verlassen hat, entführt? Kriminalhauptkommissarin Franziska Hausmann übernimmt den Fall. Das Rennen gegen die Zeit beginnt, und Franziska begreift bald: Es geht nicht nur um ein Leben, es geht um das Schicksal vieler.

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ISBN 978-3-492-99015-8© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.deDatenkonvertierung: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

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Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Epilog

Danksagung

1. Kapitel

Zu zweit hatten sie die ganze Nacht Straßen und Rastplätze kontrolliert, aber nicht ein einziger Grenzgänger oder gar Drogenschmuggler war ihnen ins Netz gegangen.

Nun saßen Benedikt Simbacher und Max Deffner, ebenso müde wie ihre Hunde, in der Polizeiinspektion Viechtach und warteten auf ihre Kolleginnen und den nächsten Schichtwechsel.

Benedikt Simbacher überlegte, ob er noch eine Kanne Kaffee kochen sollte. Die Damen der Frühschicht würden sich bestimmt freuen. Eigentlich aber war er hundemüde und freute sich auf sein Bett. Wenn er jetzt noch einen Kaffee trank, würde er sich den halben Vormittag unruhig hin- und herwälzen. Und er schaffte es beim besten Willen nicht, einen zu kochen, ohne selbst davon zu trinken.

Nachtschichten konnte er nicht leiden, denn sie stellten sein Leben auf den Kopf. Ginge es nach ihm, so müsste gesetzlich festgelegt werden, dass die Nacht ausschließlich zum Schlafen da war. Das müsste dann allerdings für jeden gelten oder zumindest für alle Kriminellen, die besonders gern im Dunkeln ihr Unwesen trieben, wie beispielsweise Menschen- und Drogenschmuggler.

Benedikt strich seinem Hund über den Kopf. »Gell, Burschi, bist aa miad?«, murmelte er und gähnte herzhaft. »Mir san ja nimmer die Jüngsten, aber bald gehn mir in Pension. Vasprocha!«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Hätte das nicht noch zehn Minuten warten können? Dann wären Sandra Falk und Lydia Hobmaier da und könnten gleich übernehmen.

»Polizeiinspektion Viechtach«, meldete er sich. »Polizeihauptmeister Simbacher am Apparat.«

»Hier ist Gottfried Hirschfeld. Meine Frau ist weg.«

Benedikt gähnte. Am liebsten hätte er gesagt, so etwas kommt halt vor. Auch seine Frau war eines Tages weg gewesen. Ohne Vorankündigung und ohne warnende Vorzeichen. Auf dem Küchentisch hatte ein Zettel gelegen mit den drei Worten: »Ich bin ausgezogen.« Ganz kurz hatte er mit einem Anflug von Vorfreude gedacht, sie liege nackt im Bett und alles sei wieder so wie in den Flitterwochen.

Doch im Schlafzimmer musste er feststellen, dass die Schränke mehr oder weniger leer waren. Sie hatte alles, was ihr gehörte, mitgenommen. Damals hatte er noch nicht gewusst, wohin sie mit ihren Kleidern, Schuhen, Mänteln, ihrem Laptop und ihren Kochbüchern gezogen war. Mittlerweile wusste er es, und er wusste auch, wer der neue Mann an ihrer Seite war, aber das machte die Sache nicht einfacher.

»Seit wann ist Ihre Frau denn weg?«, erkundigte sich Benedikt und bemühte sich um eine hochdeutsche Aussprache. Insgeheim war er froh, dass er für seinen Teil die Kränkung des Verlassenwerdens so gut wie überwunden hatte. Es hatte lang genug gedauert. Dieser Hirschfeld tat ihm leid.

»Ich habe es gerade erst bemerkt«, erwiderte der Mann am anderen Ende der Leitung.

Benedikt wusste, wer Gottfried Hirschfeld war und wo er wohnte. Doch seit wann hatte der eine Frau? Man hatte ihn immer nur allein gesehen, und er machte ständig einen zugleich gehetzten und besorgten Eindruck. Ein eigenartiger Mann.

Seit er hier lebte, hatte er nie Kontakt gesucht. In keinem Verein war er Mitglied, und er kam auch nicht zu einem der abendlichen Stammtische in den Viechtacher Gasthäusern. Auch bei den Schafkopfturnieren ließ er sich nicht blicken. Möglicherweise konnte er nicht einmal Kartenspielen. Auch solche Leute sollte es ja geben.

Von Zeit zu Zeit hatte Benedikt abends einen silbergrauen Mercedes mit der Aufschrift »Pflege vor Ort« vor Hirschfelds Haus stehen sehen und sich gedacht, dass der Hirschfeld vielleicht mit einer der Pflegekräfte mehr als bekannt war. Er hätte es ihm gegönnt.

Auf der Polizeiinspektion Viechtach war man sich darüber einig, dass Gottfried Hirschfeld ein komischer Kauz war, der eigentlich gar nicht in diese Gegend passte. Er war Inhaber der Hirschfeld GbR und handelte mit Gebrauchtwaren. Das meiste davon stapelte sich auf seinem Hof oder war im Vorgarten seines Anwesens ausgestellt, angefangen bei alten Gartenmöbeln über ausgemusterte städtische Straßenlaternen bis hin zu museumsreifen Landmaschinen. Ein Freiluftschaufenster bei Wind und Wetter.

Seine Kunden kamen von weit her, und vieles verschickte er per Post oder Spedition. Benedikt und Max hatten den Eindruck, als würde sich wesentlich mehr bei ihm ansammeln als wieder verschwinden. Und ihre Kollegin Lydia befürchtete sogar, irgendwann werde ganz Viechtach zugemüllt sein. Und das, obwohl es schon seit Jahren die Mülltrennung gab.

Manchmal beschwerten sich die Nachbarn über den Herrscher der Schrotthalde. Und zwar immer die mit den besonders ordentlichen Gärten, deren Garagen so blitzblank geputzt waren, dass man dort vom Boden hätte essen können, wenn man wollte. Aber wer machte das schon? Diese Ordnungsfanatiker jammerten über das Chaos auf dem Hirschfeld’schen Grundstück, als wäre das Durcheinander ein gefährliches Tier, das sich klammheimlich auch in ihren Häusern einnisten, Nachwuchs gebären und Konfusionen hervorrufen könnte.

Polizeihauptmeister Simbacher hatte die Strategie, gerade solchen Leuten zu versichern, dass ihr Grundstück neben einem derartigen Tohuwabohu umso klarer und strukturierter wirkte. Geradezu vorbildhaft und zur Nachahmung anregend. Bisher war er gut damit gefahren. Als Vorbild sah sich schließlich jeder gern.

Jetzt sah Benedikt Simbacher auf seine Armbanduhr. In fünf Minuten würden Lydia und Sandra kommen. Dann könnte er diesen Fall an sie weitergeben und sich endlich in sein Bett verkriechen.

»Meine Kolleginnen werden sich glei drum kümmern«, versicherte er dem verlassenen Ehemann. »Vielleicht ist Ihre Frau bloß kurz wos einkafa ganga.« Im selben Augenblick schämte er sich. Was für ein absurder Einwand. Er wusste doch genau, dass die Läden hier in Viechtach erst um acht Uhr öffneten.

»Das wäre wirklich besonders schön«, sagte Gottfried Hirschfeld leise, »aber meine Frau hat eine Parese.« Dann schwieg er vielsagend.

Der Polizeihauptmeister hatte dieses Wort noch nie zuvor gehört. Sollte er so tun, als wüsste er Bescheid? Während er noch darüber nachdachte, klärte Gottfried Hirschfeld ihn auf: »Roswitha ist seit ihrem Unfall vor zwölf Jahren von der Hüfte abwärts und linksseitig gelähmt. Nur ihre rechte Körperhälfte kann sie noch ein klein wenig bewegen. Wie soll sie da weggehen können? Ihr Zimmer liegt im ersten Stock. Um das Haus zu verlassen, müsste sie in der Lage sein, selbstständig aus ihrem Bett herauszukommen, den Rollstuhl nach unten zu verfrachten und dabei auch noch ohne Hilfe die Treppe hinabzusteigen. Das alles ist unmöglich. Sie kann sich an manchen Tagen kaum aufrichten. Wie soll sie da von sich aus verschwinden? Ich verstehe es nicht. Ich kann es einfach nicht begreifen.«

»I aa ned«, gab Benedikt ihm recht und merkte, wie unangenehm ihm das war. Zu seinem Bild von einem Polizisten gehörte, dass der immer eine Lösung parat haben sollte – und wenn schon keine Lösung, dann zumindest beruhigende Worte. Doch im Augenblick fiel ihm nichts ein außer: »Mia kemma sofort.« Dafür aber legte er so viel Zuversicht in diese drei Worte, als verspräche er damit, auch die Frau heimzubringen. Kopfschüttelnd über seinen völlig unangebrachten Optimismus legte er auf und begegnete dem vorwurfsvollen Blick seines Hundes.

»Mir warten auf d’ Sandra und d’ Lydia, dann schaun mir uns des amoi kurz an, und danach wird g’schlafen«, versprach er seinem Burschi. Der Rüde gähnte.

Oje, ein Pflegefall. Jetzt wusste er wenigstens, warum die »Pflege vor Ort« vor Hirschfelds Tür gestanden hatte. So klärte sich alles auf. Schade. Er hätte dem einsamen Händler dort am nordwestlichen Stadtrand von Viechtach eine nette Krankenschwester als Freundin gewünscht. Eine, die nach Penatencreme und Kölnisch Wasser duftete, die Kamillentee und Pfefferminztee kochte und die ihm niemals widersprach.

Jetzt suchte er den Blick seines jüngeren Kollegen Max. »Stell dir vor, dem Hirschfeld sei Frau ist weg. Und des, obwohl sie fast ganz gelähmt is.«

Polizeimeister Max Deffner tippte sich an die Stirn: »So ein Schmarrn. Das geht doch gar nicht. Wie soll denn so eine abhauen?«

»Das hod der Hirschfeld aa g’sagt. Host g’wusst, dass der verheiratet is? I hob bis heut g’moant, dass der da ganz alloan lebt.«

Max schüttelte den Kopf. »Nein, der muss die ja quasi vor der Welt versteckt haben.« Er strich seiner Boxerhündin Cora über die sorgenzerfurchte Stirn und raunte ihr ins Ohr: »Aber wer weiß, ob die Frau überhaupt existiert?«

»Wos soll denn des jetzt? Wie kimmst jetzt da drauf?«, entgegnete Benedikt. Dabei verspürte auch er einen leisen Zweifel. Denn tatsächlich war Gottfried Hirschfeld eigentümlich gelassen gewesen, als er die Vermisstenmeldung aufgegeben hatte. Möglicherweise, und das hielt Benedikt ihm zugute, stand er ja auch noch unter Schock. Seine gelähmte Frau war verschwunden. So was konnte einem wirklich zu denken geben. Das war ja fast so, als sei ihm die Frau aus dem Haus gestohlen worden.

»I find des unheimlich«, stellte er klar, stand steifbeinig auf und befüllte den Wasserkocher. »Jetzt mach i uns erst amoi an Kaffee.«

Während er Kaffeepulver in den Filter schüttete, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, und er wandte sich an den Kollegen. »Woaßt, ich hob da öfters an Wag’n g’sehn vom Pflegedienst. Die müssten die Frau ja kenna. Roswitha hoaßt s’, hod er g’sagt.«

»Die Lydia soll erst mal im Melderegister nachschauen, ob die überhaupt bei dem gemeldet ist. Das gibt’s doch nicht, dass wir über zehn Jahre nichts von der gewusst haben! So was passiert doch nur in der Großstadt, und da auch bloß in irgendwelchen Hochhäusern, wo die Leute hinter verschlossenen Türen sterben, und keiner merkt’s.« Max zweifelte offensichtlich immer noch an der Existenz von Roswitha Hirschfeld. »Und was heißt das schon, dass der Pflegedienst dort gewesen ist? Der kann ja auch beim Schrotthändler gewesen sein, um sich irgendein altes Zeug zu kaufen.«

»Du kannst längstens sechs Johr nix von der g’wusst ham, länger bist doch no gor ned bei uns«, widersprach Benedikt, der schon fast vierzig Dienstjahre auf dem Buckel hatte. »Aber stimmt scho. Soll d’ Lydia erst amoi im Meldeamt recherchiern. Dann is sie wenigstens sinnvoll beschäftigt. Und danach schaun mir weita.«

»Ob’s ihm peinlich ist, dass die krank ist?« Max kratzte sich seinen Dreitagebart. Die Geschichte schien ihn doch nicht ganz kaltzulassen. »Der is ja so gut wie nie in der Stadt gewesen, immer nur auf seinem Schrottplatz oder in der Lagerhalle. Der is nicht mal essen gegangen und hat mit niemandem geredet.«

»Vermutlich hod er sei Frau ned so lang alloan lassen woll’n«, gab Benedikt zu bedenken und spürte, dass er so etwas wie Hochachtung für den Hirschfeld empfand. Er bezweifelte, dass er selbst sich so für seine Frau aufgeopfert hätte, wenn die ihn nicht verlassen hätte. »Woaßt, i find ihn ganz in Ordnung. Er hod mir scho öfter schöne oide Sach b’sorgt, die es eigentlich gar nimmer geb’n hod. Manchmal hob i des Gefühl g’habt, der is zu fein für uns, obwoi es bei dem aufm Hof ausschaut, dass es der Sau graust. Die von der Tankstelle ham mir amoi g’sagt, dass er der Oanzige is, der jeden Donnerstag dort die ZEIT kauft. Deshalb ham die immer zwoa Exemplare da rumlieg’n. Oans für eahn und oans für Durchreisende, die zufällig vorbeikemma. Der is g’wiss a ganz armes Schwein g’wesn mit diesem Pflegefall dahoam.« Er seufzte.

Max nickte nachdenklich. »Ob er die Zeitung dann eine Woche lang seiner Frau vorgelesen hat? So viele Seiten?«

Darüber hatte Benedikt noch gar nicht nachgedacht. Wenn die so krank war, konnte sie ja vielleicht nicht einmal Buch- oder gar Zeitungsseiten umblättern. Wie entsetzlich!

»Wos is des wohl für a Unfall g’wesn? Und warum ham mir nie was davon g’hört? Ned amoi d’ Sandra hod je davon g’sprochn.«

»Das muss woanders passiert sei«, meinte Max. »Und erst danach ist der mit der kranken Frau hergezogen und bastelt seitdem an seinem Saustall rum.«

»Mit seina unsichtbarer Frau.« Benedikt sah den Kollegen an und schenkte sich einen großen Becher Kaffee ein. »Magst aa oanen?«

Max schüttelte den Kopf. »Ich mag lieber ins Bett. Und überhaupt find ich, das ist ein Fall für die Sandra und die Lydia. Eine Weibersache halt, ist ja auch eine verschwundene Frau. Also eindeutig was für die Tagschicht.« Er sah auf die Uhr. »Wo bleiben die denn heute? Es ist schon nach sieben.«

Bevor er sich weiter echauffieren konnte, wedelte das Boxerweibchen aufgeregt mit dem Schwanz und schien sogar die sorgenvolle Stirn zu glätten. Kriminaloberkommissarin Falk betrat die Dienststelle. »Was für ein Empfang, ein glücklicher Hund und frischer Kaffee.« Sie nickte den beiden dankbar zu und sah sich um: »Wo ist Lydia?«

»Die kimmt g’wiss aa glei.«

»Wie war die Nacht? Alles im grünen Bereich?« Sandra hängte ihre Jacke an die Garderobe, kam zurück und streifte dabei wie zufällig Benedikts Schulter. Diese kleine Geste war von ihrer einstigen Affäre übrig geblieben, und sie hatten sie sich so bewahrt, wie andere ein Bild ihres vergangenen Glücks auf dem Schreibtisch stehen haben mochten oder versteckt in ihrer Brieftasche mit sich herumtrugen.

»Die Nacht ist ruhig gewesen«, antwortete Max an Benedikts Stelle. »Keine Auffälligkeiten – weder Trunkenheit am Steuer noch Schmuggel. Und auch auf den Rastplätzen war nix los. In der Früh ist es saukalt, November halt. Heuer fällt gewiss schon vor Weihnachten der erste Schnee.« Er sah besorgt in den Himmel.

Benedikt nickte bestätigend und wandte sich an Sandra: »Aber jetzt gibt’s a Problem. Seit ungefähr …« – er sah auf die Uhr – »… seit genau fuchzehn Minuten.«

Sandra goss Milch in ihren Kaffee und schob die Brille, die auf ihre Nasenspitze gerutscht war, rabiat nach oben. »Und was für eins?«

»Es is grad a Vermisstenmeldung eiganga. Frau Roswitha Hirschfeld is verschwunden.«

»Die Frau vom Schrotthändler? Ich wusste gar nicht, dass der verheiratet ist! Also für Ordnung hat die dann ja wohl nicht gesorgt!« Die Kommissarin blieb gelassen. »Da haken wir frühestens in achtundvierzig Stunden nach. Also übermorgen.«

»Das seh ich anders«, widersprach Max Deffner seiner Vorgesetzten.

Die hob die Augenbrauen. »Und wieso?«

»Die Frau Hirschfeld hätte überhaupt keine Ordnung halten können.«

»Und wieso nicht?«

»Weil die so was Ähnliches wie eine Lähmung hat«, fuhr Max Deffner fort.

»Trotzdem, achtundvierzig Stunden sind einzuhalten, bevor wir mit der Vermisstensuche beginnen! Vorschrift ist Vorschrift.« Sie betrachtete versonnen die beiden Polizeihunde. »Es sei denn, ihr wollt jetzt gleich mit euren Hunden losziehen. Die sehen aber müde aus, oder?«

»Hör amoi, Sandra«, mischte sich jetzt Benedikt ein. »Des is wirklich a komische G’schicht. Die Frau hod a Parese, des hod der Hirschfeld erzählt. Des is so wos wie a Querschnittslähmung. Sie is aber ausm ersten Stock und aus ihr’m Bett verschwunden. Des hod die ned aus eigener Kraft kenna. I moan, unter den Umständen gelten andre Regeln.«

Sie sah ihn an und schluckte. »Ich fass es nicht! Da hat also mitten in diesem Chaos eine gelähmte Frau gelebt? Um Himmels willen!«

»Ja.« Benedikt nickte. »Woaßt, eigentlich wollt i hoam und mi hi’legn, aber i hob dem Hirschfeld vorhin am Telefon scho versprochn, dass mir glei kemma. I würd di aa begleiten, wennst hifährst. Is dir des scho amoi passiert, dass a g’lähmter Mensch einfach verschwindt?«

»Noch nie!«, gestand Sandra Falk. »Unter diesen Umständen fahren wir natürlich hin.«

Benedikt stellte fest, dass seine Vorgesetzte reichlich blass um die Nase war. Er kannte Sandra. Die Sache ging ihr näher, als sie zugeben wollte.

»Dann werde ich hier derweil auf die Lydia warten müssen.« Max Deffner reckte sich demonstrativ. »Hoffentlich kommt sie bald.« Seine Hündin Cora riss das Maul auf, gähnte und winselte leise. »Die will auch heim, genau wie ich.«

Benedikt nickte ihm zu. Er verspürte einen Anflug von Neid. Auf den Max warteten ein warmes Bett und eine Freundin, die sich auf ihn freute. Ob die Hündin Cora wohl auch in diesem Bett schlafen durfte? Na ja, der Max war erst seit einem halben Jahr mit seiner Sabine zusammen. Da war noch alles frisch. Das würde sich schon noch legen. Wenn er eines gelernt hatte, dann das. Alles ging vorüber. Schönes und auch nicht so Schönes.

Mit Polizeimeister Max Deffner und dessen Hündin Cora kamen Benedikt Simbacher und sein Burschi gut klar, schwierig war nur die Zusammenarbeit mit der Neuen, Lydia Hobmaier. Die hatte sich nach achtzehn Monaten Bereitschaftspolizei in Sulzbach-Rosenberg zur Kripo nach Viechtach versetzen lassen, was ein gewisser Aufstieg war. Außerdem waren die Mietpreise hier besonders günstig. So zahlte sie für ihre Zweizimmerwohnung mit Terrasse in der Innenstadt gerade mal vierhundert Euro.

Anfangs hatten sie die Schichtdienste paarweise gemacht. Immer ein Mann und eine Frau. Doch das war für alle Beteiligten kein gutes Teamwork gewesen. Max wollte sich von Sandra nichts sagen lassen, und Lydia widersprach Benedikt, wo und wann immer sie konnte. Benedikt empfand die Polizeihauptmeisterin Lydia Hobmaier als zu jung, zu ehrgeizig und zu humorlos. Damit war sie quasi das genaue Gegenteil von Sandra Falk, die mit ihren fünfundfünfzig Jahren schon viel gesehen hatte und den Dingen zunächst einmal gelassen entgegentrat.

Momentan sah sie jedoch sehr besorgt aus, und bevor sie gingen, wandte sie sich noch mal an Max: »Was der Benedikt meint, ist schon ganz richtig. Erinnere Lydia bitte an das Melderegister – ich will wissen, ob in dem Haus der Hirschfeld GbR dort hinten am Bahnlager tatsächlich zwei Leute gemeldet sind.«

»Klar, für eine GbR braucht’s doch mindestens zwei. Einer allein ist doch bloß eine Ich-AG«, wusste Deffner.

Sandra schüttelte im Hinausgehen den Kopf. »Dieses Gscheidhaferl … Das müssen doch nicht gleich zwei sein, die auch im gleichen Haus wohnen und im gleichen Bett schlafen – oder?«

Beim Stichwort Bett rieb Benedikt sich die Augen. Müde trottete der Hund hinter ihnen her, erklomm umständlich den Kofferraum des Kombis und legte augenblicklich den Kopf auf beide Pfoten. Er war halt auch nicht mehr der Jüngste.

»Nun ziehen wir mal wieder als altbewährtes Team los.« Sandra ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Das hat doch auch was. Kennst du den Hirschfeld eigentlich näher? Was ist das für ein Mensch? Erzähl!«

»I hob scho vui bei dem ’kauft«, berichtete Benedikt. »A Wasserpump’n für mein’ Garten zum Beispiel. Es is a recht oides Stück g’wesn, und er hod sie professionell und guad restauriert. I glaub, er is a guader Handwerker, und er ko ois irgendwie auftreiben. Wie a Zauberer.«

»Du und dein Garten!« Sandra schüttelte den Kopf. »Aber irgendwas braucht der Mensch ja wohl als Hobby.«

Benedikt betrachtete sie von der Seite. Ihr grau meliertes Haar trug sie lässig zu einem lockeren Dutt hochgesteckt, ihre Nase war lang und schmal, und ihr Mund wirkte immer leicht spöttisch.

Zu gerne hätte er geantwortet, was er immer wieder mal dachte: Mir hätten unser gegenseitiges Hobby werden kenna. Aber das Thema war durch. Sie waren sich zu früh und in einer Situation nähergekommen, die eher aus Verzweiflung denn aus Zuneigung geboren war. Ihm war gerade die Ehefrau abhandengekommen, und sie hatte sich zur selben Zeit aus Gründen der Vernunft von einem verheirateten Freund getrennt. Dieser Manfred nämlich war Vater von Zwillingen geworden und schob in jenen Wochen voller Stolz einen Doppelkinderwagen durch die Stadt, neben sich die strahlende Frau und Mutter. Sandra hatte ihm auf den Kopf zugesagt, dass er sich jetzt ja wohl nicht mehr für sie entscheiden werde – und er hatte ihr recht gegeben, dabei von sich und seinem Vaterglück, von Verantwortung und Vorbild und Erziehung gesprochen. Kein einziges Mal jedoch hatte er einfließen lassen, dass er Sandra vermissen werde.

Wenn man es genau betrachtete, hatten Sandra und Benedikt sich in jener Phase der Kränkungen mehr aneinander festgehalten, als dass sie sich gegenseitig hätten Halt geben können. Und mit exakt diesen Worten hatte Sandra das Ganze dann auch ein halbes Jahr später pragmatisch beendet. Es waren trotz allem sechs gute Monate gewesen, voller Vertrauen und Verlässlichkeit, auch wenn Sandra in ihrem Abschlussgespräch darüber klagte, weder Schmetterlinge im Bauch noch Herzklopfen verspürt zu haben.

Gerade jetzt, da wieder einmal der Winter bevorstand, fragte Benedikt sich, ob sie sich ihre Beziehung vielleicht hätten erarbeiten können. Er hätte sich dieser Aufgabe gern gestellt.

»Die Bäume in mei’m Garten schlog’n Wurzeln und lauf’n ned weg«, sagte er trotzig und bog in den Hof des Bahnlagers ein.

Das Grundstück der Hirschfeld GbR lag an einem stillgelegten Gleisarm der Deutschen Bundesbahn. Auf den Schienen standen halb entladene Güterwagen. Benedikt hatte sich noch nie viele Gedanken gemacht, wie all die Waren auf den Hof des Händlers kamen – jetzt wurde es ihm klar: mit dem Zug. Was für ein genialer Standort!

Der Hausherr dieses praktischen Standortes kam voller Ungeduld auf den Polizeiwagen zugelaufen. Er trug einen grauen Anzug und ein mittelblaues Hemd in derselben Farbe wie seine Augen. Sandra fragte sich, ob er heute in der Früh vor seinem Schrank gestanden und sich genau für dieses Oberhemd entschieden hatte. Erwartete er vielleicht einen Kunden? Standen wichtige Verhandlungen an? Warum sonst war er so elegant? Elegant, aber auch ungewöhnlich blass.

»Ich fass es nicht!«, rief er statt einer Begrüßung und stürzte auf die beiden Beamten zu. »Wie kann denn so was überhaupt passieren? Wer tut denn so was? Gut, dass Sie da sind. Machen Sie was! Bitte! So schnell wie möglich!«

Sandra blieb sachlich. »Haben Sie ein Foto von Ihrer Frau?«

»Ja klar, kommen Sie.« Ohne sich nach ihnen umzusehen, ging er ins Haus. Die Kommissarin und der Polizeihauptmeister folgten ihm, während der Hund im Kofferraum des Polizeiwagens müde den Kopf hob und dann weiterschlief.

Das Innere des Hauses war ungewöhnlich aufgeräumt, ein auffallendes Kontrastprogramm zu dem Durcheinander auf dem Hof. Direkt hinter der Eingangstür führte eine Treppe in den ersten Stock.

»Hier unten sind nur mein Büro und die Lagerräume«, erklärte Gottfried Hirschfeld und ging ihnen voraus. »Unsere Wohnräume und Roswithas Zimmer befinden sich im ersten Stock. Sie wollte das so, sie wollte mehr Himmel sehen. Und schon deswegen verstehe ich das alles nicht.«

»Wann genau haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?« Sandra zückte ihren Block.

»Um Mitternacht«, antwortete er, öffnete eine Tür und wies auf ein leeres Bett. »Da habe ich sie noch einmal umgebettet und Puls und Blutdruck gemessen. Alles war wie immer. Anschließend bin ich selbst schlafen gegangen.« Seine Stimme kippte.

»Sie schlof’n ned im gleichen Zimmer als wie Ihre Frau?« Benedikt wunderte sich.

»Nein.«

Hirschfeld reichte ihnen schweigend ein Foto seiner Frau, dann umrundete er das Bett, an dessen Fußende ein großer, leerer Vogelkäfig stand. Rechts am Kopfende war ein Infusionsständer mit Tropfvorrichtung platziert, und an einem elektronischen Gerät blinkten einige Lämpchen geheimnisvoll.

»Warten Sie, ich stelle es eben ab.« Er beugte sich vor, und noch während Benedikt dachte, dass ihn das Ganze an ein Raumschiff erinnerte, erloschen die freundlich strahlenden Lichtlein und gaben dem Raum seine traurige Leere zurück.

»Ihre Frau ist also gelähmt?« Sandra sah Hirschfeld an, als könne sie es nicht glauben.

Der nickte. »Linksseitig und von der Hüfte abwärts. Seit fast zwölf Jahren.«

»Niemand hier in Viechtach hat das gewusst.«

»Wir haben kein Geheimnis daraus gemacht. Alle Pflegerinnen und Pfleger kommen aus der unmittelbaren Umgebung. Ich habe ihnen nicht verboten, darüber zu sprechen.«

»Über wos?« Benedikt verstand nicht genau, was Gottfried Hirschfeld damit sagen wollte.

»Über Roswitha und ihren Zustand.«

»Und warum hat es niemand getan?« Jetzt war es Sandra, die nachfragte. In ihrem Frauenkreis waren einige Schwestern vom Pflegedienst, und zwei davon hatten in den letzten Jahren den Schrotthändler als potenziellen Liebhaber in Betracht gezogen. Soweit sie sich erinnerte, war aber nichts daraus geworden.

»Ärztliche Schweigepflicht?« Der Mann im grauen Anzug hob die Schultern. »Was weiß ich. Vielleicht wollten sie meine Roswitha ja auch so schnell wie möglich wieder vergessen. Wie heißt es so schön: Aus den Augen, aus dem Sinn.«

Benedikt fragte sich, wie Gottfried Hirschfeld wohl ausgesehen haben mochte, als er noch jung war. Ein attraktiver Mann mit rötlichem Haar und leuchtend blauen Augen. Jetzt war sein Haar grau und kurz geschoren, einzig der Schnäuzer schimmerte rötlich. Die Spitzen von Mittel- und Zeigefinger waren nikotingelb, ebenso die Zähne. Vermutlich hatte er nicht im Zimmer seiner Frau geschlafen, weil er die halbe Nacht entweder rauchte oder hustete. Auch jetzt wurde er von einem Hustenanfall geschüttelt.

»Was meinen Sie damit, man wollte sie so schnell wie möglich vergessen?« Sandra sah angestrengt auf ihren Block und fragte sich, wie alt der verwaiste Ehemann sein mochte. Ende fünfzig, Anfang sechzig? Irgendwie erinnerte er sie an den Vater der Zwillinge, und ihr Herz wurde schwer.

»Sie hat es niemandem leicht gemacht − weder den anderen noch sich selbst.« Hirschfeld seufzte, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche und spielte mit dem Feuerzeug.

»Ham S’ im Zimmer Ihrer Frau aa g’raucht?« Es ging ihn nichts an, aber Benedikt fragte trotzdem.

»Nein, nie. Mein Reich ist dort drüben.« Er wies auf eine verschlossene Tür am Ende eines dunklen Ganges. »Und sie bestand darauf, dass ich die Tür schloss, bevor ich mir eine anzündete.«

»Darf ich mal in Ihr Zimmer reinschauen?«, erkundigte sich Sandra.

»Bitte. Aber dort werden Sie sie auch nicht finden. Ich hab schon überall gesucht. Was tut man nicht alles in seiner Panik. Seit heute verstehe ich, dass Leute über so etwas verrückt werden können.«

Benedikt folgte seiner Vorgesetzten. Sandra Falk öffnete die verschlossene Tür, hinter der sich Gottfried Hirschfelds Schlafzimmer befand. In seinem Chaos erinnerte es an das Durcheinander auf dem Schrottplatz, und es roch unangenehm nach kaltem Rauch. Wie in einem Abstellraum sah es darin aus, auf Regalen lagen stählerne Ersatzteile, Schrauben, Winkelhaken – als würde auch dessen Besitzer sich nächtens hier zwischenlagern. Keine Nachttischlampe, keine Bücher oder Zeitschriften neben dem ungemachten Bett, dafür überall bis zum Rand gefüllte Aschenbecher und ein mit Kleidung gefüllter Schrank, dessen Türen und Schubladen offen standen. Kein Ort zum Ausruhen, kein Raum, in dem man sich wohlfühlen konnte. Am Fußende des Bettes stand ein Rollstuhl.

Die Kommissarin suchte Hirschfelds Blick und fragte: »Warum steht der hier oben?«

»Unten ist kein Platz. Und wenn Roswitha wirklich mal an die Luft wollte, bin ich halt zweimal gelaufen. Einmal für den Stuhl und einmal mit ihr auf meinen Armen. Kam eh immer seltener vor, sie wollte nicht mehr.«

»War sie nicht zu schwer für Sie?«, fragte Sandra, als sie wieder im Krankenzimmer seiner Frau standen.

Auf dem Foto, das er ihnen gegeben hatte, war eine stämmige blonde Frau zu sehen, die missmutig in die Kamera blickte.

»Alles eine Sache der Übung. Sie wiegt jetzt nur noch vierzig Kilo.«

»Meinen mir dieselbe Frau?« Benedikt hielt das Foto hoch. »I glaub’s ned.«

»Das Bild wurde vor dem Unfall aufgenommen. Jetzt sieht sie anders aus.« Hirschfeld sah zu Boden. »Schmaler und weniger fröhlich, fast vierzig Kilo weniger.«

Benedikt betrachtete erneut das Porträt. Unter fröhlich stellte er sich etwas anderes vor.

»Sie wollte ein Zimmer hier oben, denn sie sieht so gern den Vogelschwärmen zu. Wenn Roswitha etwas wollte, dann hat sie es auch gekriegt.« Er klang verbittert. »Ich habe extra die Fenster vergrößern lassen und Vorrichtungen für Vogelfutter gebaut.«

Erst jetzt fiel den beiden das große kunststoffverstärkte Sprossenfenster auf, das sich bei Bedarf wie eine Flügeltür öffnen ließ. Hirschfeld bemerkte ihren Blick. »Sie wollte auch keine Gardinen.« In den Ästen der Rotbuche hingen Futterhäuschen unterschiedlicher Stabilität und Größe, Stationen für heimische Vögel. Gottfried klatschte in die Hände, und ein Schwarm von Tauben, Amseln und Meisen flatterte auf. »Sie findet das interessanter, als fernzusehen«, erklärte er und fügte fast ein wenig stolz hinzu: »Neulich kam sogar ein Grünspecht!«

Benedikt hätte ihm in diesem Augenblick gern eine Hand auf die Schulter gelegt. Eine männliche Geste des Trostes.

Gottfried Hirschfeld schloss das Fenster und drehte sich um.

»Ich brauche noch einige Daten zu Ihrer Frau«, erklärte Sandra. »Geburtsdatum, Mädchenname, Hochzeitsdatum, Zeitpunkt des Unfalls.«

Mit leiser Stimme lieferte er ihr die gewünschten Informationen.

»Was hat sie vor dem Unfall gemacht? Hatte sie einen Beruf?« Sandra blieb sachlich.

»Sie war Sportlehrerin. Mit Leib und Seele. Sie war sozusagen der personifizierte Sport.« Er seufzte.

»Haben Sie Kinder?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf.

»Hat Ihre Frau irgendetwas angedeutet? War sie anders in letzter Zeit? Verzeihen Sie, aber wir müssen das alles fragen.«

»Nein, sie war wie immer. Was hätte sie denn andeuten sollen? Dass sie dieses Leben nicht mehr will? Glauben Sie mir, ich tue alles, um es ihr so angenehm wie möglich zu gestalten. Aber gesund machen kann ich sie natürlich nicht. Sie kann mich schon allein physisch nicht verlassen.«

Benedikt wusste genau, dass Sandra in solchen Fällen gern sagte, es gebe auch eine innere Trennung, so wie es in Betrieben innere Kündigungen gab. Zum Glück verzichtete sie auf diesen Satz. Stattdessen hielt sie fest: »Ihre Frau wollte also kaum noch in den Rollstuhl, aber was ist das da am Fenster? Ist das ein Laufband?«

»Das ist ein Gehroboter. Beim Training muss Roswitha ein sogenanntes Exoskelett tragen und kann dann das Laufband benutzen. Das macht sie auch ziemlich regelmäßig. Was meinen Sie, was so ein Ding kostet!« Er klang zum ersten Mal ein wenig vorwurfsvoll. »Sie hat gedacht, sie kommt damit wieder ganz auf die Füße – nein, sie hat es nicht nur gedacht, es war ihr Ehrgeiz. Aber der Roboter hat sie nur stabilisiert. Wenn sie mal wieder einen ihrer Wutanfälle bekommt, will sie ihn verkaufen.«

Davon lebt er ja, vom An- und Verkauf, dachte Benedikt und schwieg.

»Mit der rechten Hand kann sie noch ein bisschen was machen«, fuhr Gottfried Hirschfeld fort und zeigte auf eine kompliziert wirkende Apparatur an der rechten Bettseite. »Die habe ich für sie gebastelt.« Er hörte sich ein bisschen stolz an. »Das ist vermutlich einzigartig. Von hier aus kann sie alles steuern und auch telefonieren, und das da ist ein Knopf, mit dem sie mich immer und überall erreicht. Selbst wenn ich in der Stadt bin.«

»Okay, dann überprüfen wir als Erstes die letzten Telefonverbindungen.« Sandra schrieb die Nummer des Anschlusses auf und simste sie an Lydia mit dem Vermerk: »Bitte Verbindungsnachweise checken.« Sie war ungeheuer effizient. Im Gegensatz zu Benedikt, der einfach nur dastand und die Situation auf sich wirken ließ. Ihm war ganz mulmig vor Müdigkeit, und gleichzeitig verspürte er eine kribbelnde Nervosität. Am liebsten wäre er vor die Tür gerannt und hätte bis zur Erschöpfung Holz gehackt. Das half immer.

»Ich habe rund um die Uhr Pflege für sie organisiert. Nur nachts sind wir allein.« Gottfried Hirschfeld klang erschöpft. »Die Krankenschwester, die heute Morgen kam, habe ich dann wieder weggeschickt.«

»Wer ist denn zuletzt bei ihr gewesen?«

Routiniert betete Hirschfeld mehrere Nachnamen herunter. »Ich weiß nicht, wer vom mobilen Pflegedienst es war. Ich kann aber nachschauen. Die müssen sich ja in ein Buch eintragen und genau dokumentieren, was sie mit welchem Zeitaufwand gemacht haben. Haare kämmen, Nägel schneiden, waschen, anziehen, Brote schmieren und in Häppchen schneiden. Gespräche inbegriffen. Das Aufschreiben kostet mehr Zeit als die eigentliche Pflege. Aber was soll man machen?« Er tippte sich an die Stirn, trat hinter den Mauervorsprung und griff nach einer dicken Kladde. »Pflegebericht« stand auf dem Deckblatt.

»Kann ich die mitnehmen?« Sandra hatte sie sich schon unter den Arm geklemmt.

Hirschfeld nickte.

Sandra reichte die Kladde an Benedikt weiter. »Hol doch mal den Hund.«

»Den Burschi, warum jetzt des?«

»Hast du etwa noch einen anderen?« So ungeduldig hatte sie ihn noch nie angefahren. Sie bemerkte sein Zusammenzucken und fügte versöhnlich hinzu: »Er soll mal am Bettzeug riechen. Vielleicht nimmt er Witterung auf. Und leg den Bericht bitte auch gleich in den Wagen.«

Der Hund schnüffelte halbherzig, kroch müde unter Schränke und Kommoden, wischte sich bäuchlings unters Bett hindurch und brachte unterhalb der Heizungsrohre Staubmäuse ans Licht.

»Entschuldigung«, bemerkte Hirschfeld verlegen. »Das hat die Putzfrau wohl übersehen.«

»Such, Burschi, such!« Benedikt fasste dem schwarz gelockten Bouvierrüden unters Kinn und hielt ihm ein seidenes Damenunterhemd vor die Nase, das Gottfried Hirschfeld aus dem Bad geholt hatte. »Das ist von ihr.«

Burschi wurde wacher und nahm Witterung auf. Er lief aber nicht die Treppe hinunter, sondern ins Bad, das zum Wohntrakt des Hausherrn gehörte. Hier befand sich auch der gut gefüllte Wäschekorb. Aufgeregt blieb das Tier davor stehen und gab kurz Laut.

»So kemma mir ned weiter.« Benedikt nahm den Hund am Halsband und führte ihn zur Treppe. »Such!« Der Hund sah zu ihm auf und gähnte.

Währenddessen überprüfte Sandra die Fenster des Krankenzimmers. »Hätte man Ihre Frau mithilfe eines Krans und einer Trage nach draußen schaffen können?«

Gottfried Hirschfeld schüttelte entgeistert den Kopf. »Das hätte ich doch gehört. Ich habe einen leichten Schlaf. Wer würde denn so was machen – und wozu?«

Sandra hob die Schultern. »Ich weiß es auch nicht.«

»Was machen wir denn nun? Roswitha braucht ihre Medikamente, sie muss regelmäßig massiert werden, weil es sonst eine Embolie geben könnte, und die Kompressionsstrümpfe … Was soll ich denn nur tun?« Hilflos und mit hängenden Armen stand er da.

Auch Benedikt war ins Krankenzimmer zurückgekehrt, sein Hund wartete im oberen Flur. »Hod sich denn wer bei Eahna g’meldt?«, fragte er. »Werden S’ erpresst? Ist womöglich scho a Lösegeldforderung einganga?« Während er sich selbst zuhörte, fühlte er sich wie ein Ermittler aus den sonntagabendlichen Tatorten, der in gekonnter Manier seine Fragen herunterspulte. Irgendwie fremd und aufgesetzt.

»Nein, natürlich nicht, das hätte ich Ihnen doch als Erstes gesagt! Ich meine, was geschieht denn jetzt konkret? Die Zeit läuft uns davon. Es geht um Leben und Tod!«

»Wir werden uns als Erstes mit den Kollegen vom Präsidium in Straubing kurzschließen«, versprach Sandra und bemühte sich darum, in ihrer Stimme Zuversicht mitschwingen zu lassen, doch es gelang ihr nicht so ganz. »Und dann melden wir uns bei Ihnen.«

»Ich kenne einen Staatsanwalt in Passau«, sagte Gottfried Hirschfeld schnell. »Den rufe ich an. Der hat vor Kurzem bei mir einen Heuwender gekauft. Er hat gesagt, wenn mal irgendwas ist …«

»Für Viechtach ist aber das Präsidium in Straubing zuständig«, belehrte Sandra ihn.

»Das ist mir wurscht. Wenn man jemanden kennt, kommt man immer schneller voran als normal.«

»Heuwender?« Sandra schüttelte den Kopf, als sie wieder zu zweit im Auto saßen und zur Polizeiinspektion in der Mönchshofstraße zurückfuhren.

»Wozu um Himmels willen braucht denn ein Staatsanwalt einen Heuwender? Etwa, um seine Akten zu bewegen?«

Benedikt hob die Schultern. »Wos woaß denn i? Setz mi bitt’ schön dahoam ab, i muass jetzt schlaf’n, vorher kann i ned logisch denken.«

Sandra zog die Stirn kraus. »Das ist ein Notfall, und wir brauchen jeden Mann. Bitte, lass mich nicht allein mit der naseweisen Lydia. Ich brauch dich!«

»Nur zwoa, drei Stund’n. I stell mir an Wecker. Gegen Mittag bin i wieder do.«

Etwa zur gleichen Zeit an diesem Mittwoch im November setzte Benno Holdenrieder seine Frau Marie vorsichtig in den Rollstuhl und redete mit beruhigender Stimme auf sie ein. »Lass es langsam angehen, es wird schon alles. Die Zeit ist dein Freund. Das sagen die Ärzte. Wir brauchen Geduld.«

Dabei war es vor allem sie, die Geduld brauchte.

Marie schwieg. Im Krankenhaus hatte man ihr vor dem Eingriff die Haare geschoren. Als heller Flaum wuchsen sie nach und bedeckten einen viel zu groß wirkenden Kopf. Ihre Augen waren von tiefen Schatten umgeben.

Man hatte ihnen gesagt, dass es kein Tumor gewesen sei, der dort als Raumforderung in Maries Kopf gehockt hatte. Nur eine Zyste. Und die sei nun weg. »Das Ding«, wie Marie es nannte. »Das dumme Ding.« Es war zwar weg, aber noch nicht aus ihrem Leben verschwunden. Sein langer Schatten bestimmte ihren Alltag und machte sich in jedem Winkel des Hauses breit. An manchen Tagen versuchte sie, es zu verscheuchen. Es gelang ihr nicht immer.

Dazu kam die Hilflosigkeit ihres Mannes: »Liebes, du kommst wieder auf die Beine!« Das versprach er ihr jeden Morgen – mantragleich. Marie ahnte, dass er es sich selbst versprach und mit aller Kraft daran glauben wollte. Anders war für sie und ihn keine Zukunft möglich. Ihre fragile Konstruktion des Zusammenlebens war darauf angewiesen, dass jeder vom anderen unabhängig war und nach seinem eigenen Rhythmus leben konnte. Mit einem Partner im Rollstuhl ging das nicht, und vor allem das Leben in Lieblmühle, ihrem Sommerhaus, würde dann der Vergangenheit angehören. Das konnte sie weder sich noch ihm zumuten. Marie wusste, dass sie irgendwann mit ihm darüber reden musste. Aber noch war es zu früh.

Jetzt schob Benno sie durch die barrierefreien Räume der Passauer Villa vom Schlafzimmer durchs Wohnzimmer in die Küche. Sie griff in die Seitentasche ihres Gefährts und setzte sich eine jener Mützen auf, die sie sich vor der Operation gestrickt hatte. Aus bunter Wolle und in fröhlichen Farben. Es mussten Dutzende sein, die jetzt überall herumlagen. Marie wechselte sie wie ihre Stimmungen. Nun stülpte sie sich eine rot-gelb gestreifte über den immer noch fast kahlen Kopf und murmelte: »Meine Güte, was ist bloß aus uns geworden!«

Er schob sie an den Tisch und fragte: »Kannst du deinen Kaffeebecher selber halten?«

Sie nickte und griff danach. »Es geht voran, jeden Tag ein bisschen. Siehst du doch!«, sagte sie. Es sollte betont munter klingen, aber sie glaubte selbst nicht daran.

»Liebes, die OP ist grad mal drei Wochen her, und die Ärzte meinen, dass es ein halbes Jahr dauern kann, bis du wieder ganz fit bist. Wir verbringen den Winter in der Stadt und ziehen im Frühling zurück nach Lieblmühle. Im Frühling läufst du dann schon wieder auf eigenen Beinen.«

Sie nickte und fuhr sich mit der linken Hand unter die Wollmütze. »Dann werden meine Haare etwa sechs Zentimeter lang sein. Glaub nur nicht, dass ich eitel bin – aber wie sonst sollte man die Gelegenheiten beim Schopfe packen, wenn man keinen Schopf mehr hat?«

Er bestrich ihr ein Toastbrot mit Streichwurst. »Du ahnst ja gar nicht, wie froh ich darüber bin, dass dir dieses Haus gefällt!«, sagte er. »Es ist unsere Winterresidenz.«

Sie nickte und log: »Wir sind wie die Könige aus früheren Zeiten mit Winter- und Sommerpalästen, allerdings noch ohne Personal.«

Die Tatsache, dass er dieses Haus ohne Rücksprache mit ihr gekauft und eingerichtet hatte, verletzte sie immer noch ein wenig. Sie fühlte sich wie in einem Ausstellungsstück von Schöner Wohnen, nicht aber wie in ihrem eigenen Zuhause. Was hatte er sich nur dabei gedacht, Küche und Bad mit rotem Granit auszulegen? Jeder wusste, dass Rot aggressiv machte.

»Was hast du heute vor?«, fragte sie ihn.

Er machte eine Handbewegung Richtung Wohnzimmer und zu seinem Schreibtisch, der direkt vor der Glasfront stand, hinter der sich ein Stück Brachland ausbreitete. Wenigstens durfte Marie Pläne für den Garten machen. Sie zeichnete sie während des Tages und verwarf sie allabendlich wieder. Was konnte man auf einem Grund von nicht einmal vierzig Quadratmetern schon groß als Landschaft planen? Gerade mal ein paar Sträucher und Blumenrabatten – bloß keinen Baum, und wenn, dann höchstens Zwergbirken.

»Ich werde ein paar Akten durcharbeiten. Und ein bisschen telefonieren«, sagte Benno. »Und du?«

»Ich denke über stufenartig angelegte Hochbeete nach. Und zwischendurch werde ich schlafen.« Sie gähnte. »Ich bin so unendlich müde. Am Nachmittag kommt die Physiotherapeutin, und dann werde ich an der Stange üben müssen.« Sie bemerkte seinen skeptischen Blick. »Ja, ich halte durch, versprochen! Aber eine Balletttänzerin werde ich nicht!«

Anfangs hatte sie sich geweigert, irgendwas für sich selbst zu tun oder sich auch nur anzustrengen. Benno hatte einmal gemeint, sie verhalte sich unvernünftig und wie ein störrisches Kind. »Was soll ich in meinem Alter noch mal laufen lernen? Das lohnt sich doch nicht mehr!«, hatte sie gesagt, dabei war sie gerade mal sechzig.

Maries Physiotherapeutin, die für alles eine Erklärung hatte und deren unerschütterliche Zuversicht bisweilen äußerst anstrengend war, erklärte der Kranken, dass diese Haltung mit einer postoperativen Depression einherging und dass sie Geduld haben müsse.

Benno Holdenrieder war bis dahin nicht klar gewesen, wie sehr er Marie liebte und wie wichtig sie für ihn war. Es gab keinen anderen Menschen auf der Welt, mit dem er sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte.

»Wir haben noch mindestens dreißig wunderbare Sommer in Lieblmühle vor uns. Wir werden Traktoren reparieren, Enten züchten und unseren Garten und das Haus genießen«, versprach er. »Bitte werde gesund! Und wenn es nur meinetwegen ist.«

Vielleicht war es ein Test gewesen, als sie ihm vor einigen Tagen aus ihrem Rollstuhl heraus zu bedenken gab: »Es gibt genug Frauen in meinem Alter, die sich auf dich einlassen würden. Tausch mich einfach aus. Andere Männer machen das ja auch. So etwas liest man in den Wartezimmern der Arztpraxen. Jung gegen Alt – nie andersherum. Schau dir mal Christian an. Der jagt ständig in fremden Revieren. Das hat Franziska mir gestanden. Und er selbst hat mir mal weinselig was von einer Angelika gebeichtet. Auch jünger, logisch!«

Er war wütend geworden. »Vergleich mich bitte nicht mit Franziskas Mann! Ich will nur dich. Meine Marie. Ich habe nicht vierzig Jahre lang nach dir gesucht, um dich nach ein paar Jahren wieder aufzugeben oder gar auszutauschen. Ja, spinnst du? Du wirst sofort gesund! Auf der Stelle!« Es klang wie eine Verfügung, eine richterliche Entscheidung. Ein Befehl, dem nichts entgegenzusetzen war.

»Jawohl, Herr Staatsanwalt!«

Seitdem gab sie sich Mühe, möglicherweise nur seinetwegen – aber es würde ihnen beiden helfen, davon war Benno überzeugt.

Nun nahm sie ihm das Toastbrot aus der Hand. »So, und ab morgen schmiere ich mir auch meine Stullen wieder selbst. Nur dass du es weißt!«

Er spürte am Vibrieren seiner Kaffeetasse, dass ein Anruf einging. Marie zuliebe hatte er den lauten Klingelton abgestellt und legte das Handy seitdem immer in die Nähe von Tassen oder Tellern, sodass es verheißungsvoll zu klirren begann, wenn jemand etwas von ihm wollte.

»Stört es dich, wenn ich rangehe?«, fragte er.

Marie schüttelte vorsichtig den Kopf. »Nein, red nur. Ich ess derweil. Kümmere dich um deine Kundschaft.«

Langsam, so dachte er, fand sie nun doch zu ihrer alten Form zurück. Diese Krankheit hatte sie und ihn auf eine harte Probe gestellt, aber sie beide hatten sie bestanden, und darauf sollten sie stolz sein.

»Gottfried Hirschfeld«, meldete sich der Anrufer. »Ich habe Ihnen vor Kurzem einen Heuwender verkauft. Aber darum geht es heute nicht.«

Der Anrufer schien zu weinen, was Benno wiederum verwirrte.

»Ich habe Angst, und ich weiß nicht, ob ich mich auf die hiesige Polizei verlassen kann«, fuhr Hirschfeld fort. »Sie müssen mir helfen! Sie sind doch Staatsanwalt, oder nicht?«

»Was ist passiert?«

Benedikt Simbacher lag in seinem Bett und fragte sich, wie es sein mochte, nur noch die rechte obere Körperhälfte bewegen zu können. Er versuchte, es sich vorzustellen, und kam dabei auf eigenartige Gedanken, beispielsweise wozu man beide Hände brauchte. Zum Schneiden eines Brotes, um sich die Schnürsenkel zuzubinden, um ein Bett zu beziehen, um den Hundenapf zu füllen, um sich die Finger- und Zehennägel zu schneiden, um ein Steak zu essen, ja, selbst zum Telefonieren und um dem Hund die Leine anzulegen. Burschi lag derweil am Fußende seines Bettes und schnarchte. Selbst zum Knopfannähen braucht man zwei Hände, dachte Benedikt, nieste und setzte sich auf. So ging es nicht weiter. Er wusste, dass er nicht einschlafen würde. Da konnte er auch gleich wieder losziehen.

Entschlossen duschte er erst heiß und dann kalt, machte sich einen Espresso und stieg wieder in seine Uniform. Ihm war klar, dass sie diese Roswitha so schnell wie möglich finden mussten. Schlafen konnte er danach, und zwar in Ruhe. Vielleicht sogar einmal zehn Stunden am Stück.

Sein Hund Burschi schüttelte sich und machte so gar keine Anstalten, das Bett oder gar das Haus zu verlassen. Benedikt versprach ihm, dass er sich später unter dem Schreibtisch in der Inspektion weiter ausruhen dürfe. Unwillig trottete der schwarze Bouvier nun hinter ihm her.

Benedikt hatte sich für diesen Rinderhütehund entschieden, nicht weil er selbst ein Rindvieh war, wie Lydia Hobmaier einmal spöttisch verkündet hatte, sondern weil Burschi zu einer vom Untergang bedrohten Rasse gehörte. Benedikt hatte nun mal ein Faible für Randgruppen, vor allem, wenn sie dem Untergang geweiht waren.

Außerdem zählten Mitglieder dieser Züchtung zu den anerkannten Diensthunden, und sein Burschi war als Deckrüde gemeldet und wurde auch gelegentlich zu diesem Zweck in fremde Zwinger eingeladen. So hatte wenigstens einer von ihnen ab und zu mal Sex.

Als Welpe hatte Burschi eher einem schwarzen Pudel geglichen, nun tapste er gelassen und wie ein müder Tanzbär hinter seinem Herrchen her. Er war ein stiller Hund, einer, der sich nur zur Not meldete, ganz im Gegensatz zu Max Deffners Boxerweibchen Cora, das voller Aufmerksamkeit seinen Rudelführer im Blick behielt und dazu neigte, dessen Befinden mit Knurren und Bellen zu kommentieren oder gar in ein herzzerreißendes Jaulen zu übersetzen.

In der Inspektion baute Benedikt seinem Hund einen Liegeplatz unter dem Schreibtisch und wandte sich dann an Sandra Falk.

»Wos sog’n denn die Kollegen in Straubing zu der G’schicht?«

»Die denken an eine Entführung und gehen davon aus, dass sicher bald eine Lösegeldforderung eingehen wird.«

Benedikt nickte nachdenklich. »Wie schätzt du den Hirschfeld ei? Wenn die Entführer dem sogn: Koa Polizei? Wird der uns trotzdem informiern? Was moanst du?«

Sandra hob die Schultern. »Ich kenne den nicht. Keine Ahnung, wie der reagiert. Ich schätze ihn eher als eigenbrötlerisch ein oder als jemanden, der gelernt hat, dass er alles alleine schaffen kann. Hat er ja wohl auch in den vergangenen Jahren.«

»Wenn er des selber glaubn tät, hätt er uns ned informiert.« Benedikt sah sich um. »Wannst mi frogst, der woaß ned weiter, also miassn mir dem helfen.«

Polizeihauptmeisterin Lydia Hobmaier hockte an ihrem Schreibtisch und steckte sich gerade das Haar mithilfe eines Bleistifts hoch. Sie wirkte gestresst und überfordert – also wie immer.

Benedikt suchte ihren Blick.

»Weißt du«, jammerte sie ihn wie auf Knopfdruck an. »Ich war noch nicht mal richtig angekommen, da hat der Max mir schon tausend Aufgaben aufs Auge gedrückt. Und dann ist er gegangen. Mit seiner Cora. Faule Hunde, alle beide!« Sie setzte eine beleidigte Miene auf. »Wenn ein Tag schon so beginnt!«

»Jetz is aber amoi guad!« Benedikt wurde ungewöhnlich laut. »Der Max und i, mir warn die ganze Nacht unterwegs. Derweil du g’schlafa host.«

»Ach, und woher willst du das wissen? Hast du etwa an meinem Bett gesessen?«

Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Erstaunt sah er sie an und überlegte flüchtig, was so eine wie Lydia in ihrer Zweizimmerwohnung denn sonst getan haben könnte – mitten in der Nacht. Lesen, Computerspiele, oder gab es gar einen Freund? Nein, Letzteres hätte er gewusst. In Viechtach machte fast alles sofort die Runde, und die Informationen aus sämtlichen Runden landeten erst bei der Kriminalhauptkommissarin Sandra Falk und anschließend meistens bei ihm.

Andererseits: Nicht einmal Sandra hatte gewusst, dass Gottfried Hirschfeld gemeinsam mit seiner Frau in dem Haus am Bahnlager lebte. Dann erfuhr sie wohl doch nicht alles. Darauf war also auch kein Verlass.

Benedikt fixierte Lydia streng. »Host denn scho wos rausg’fundn?«

Sie stellte sich unwissend und hob die Augenbrauen. »Wegen was?«

»Wegen den Hirschfelds.«

»Ach so, ja, die sind beide hier gemeldet.« Sie machte eine Kunstpause und legte nach: »Ich kenne übrigens jemanden beim Finanzamt.«

»Ja, und?« Jetzt war es Sandra, die seufzte. »Was hat denn das mit unserem Fall zu tun?«

»Nichts.« Lydia klang schnippisch und hielt erwartungsvoll inne.

Benedikt seufzte. »Des sogst doch ned oafach so. Wos hod des mit unserm Fall zum doa?« Er fragte sich, ob Lydia einen Freund beim Finanzamt in Zwiesel haben konnte, der ihr allabendlich den Bleistift aus dem hochgesteckten Haar zog und damit Herzchen auf die Rückseite von Steuerbescheiden malte.

Sie triumphierte: »Wir bekommen gleich den jüngsten Einkommensteuerbescheid der beiden zugemailt.«

»Wozu des?«

»Wetten, der Hirschfeld ist insgeheim so richtig vermögend? Der sitzt auf seinem Schrottplatz, macht auf harmlos und wickelt dabei klammheimlich und von allen unbemerkt seine Geldwäsche ab.«

Benedikts Verdacht bezüglich Lydias Liebhaber aus dem Finanzamt erhärtete sich. Im gleichen Maße wuchs aber auch sein Staunen angesichts ihrer Naivität.

Sandra bedachte die junge Kollegin mit Kopfschütteln. »Du liest offensichtlich zu viele Schundromane.«

»Wenigstens lese ich.«

»Ach, und was mache ich gerade?« Sandra hob die Kladde mit den handgeschriebenen Einträgen des Pflegedienstes hoch.

»Du ermittelst.«

Benedikt wäre am liebsten wieder gegangen. Warum nur hatte ihnen das Schicksal eine solche Zicke wie Lydia Hobmaier in die Inspektion gesetzt? Wer von ihnen hatte da nicht aufgepasst? Die einzige Hoffnung bestand möglicherweise darin, dass die sich bald von ihrem Finanzbeamten heiraten lassen und dann viele Kinder bekommen würde. Er wandte sich erneut an Sandra: »Ham die Kollegen in Straubing aa wos Konkretes vorg’schlogn?«

Sie nickte. »Und zwar das Gleiche, was ich auch schon gemeint habe. Wir werden mit den Pflegerinnen und Pflegern sprechen. Vor allem müssen wir herausfinden, wie selbstständig Roswitha Hirschfeld tatsächlich ist, was sie machen kann und wie lange sie unter diesen Umständen durchhalten wird.«

»Die ist garantiert zäh wie ein Turnschuh«, bemerkte Lydia aus der Ecke ihres Schreibtisches. »Die war doch früher Sportlehrerin.«

»Ach was, hat sie dich auch unterrichtet? Kennst du sie daher?«

»Schmarrn, die ist doch schon seit zwölf Jahren weg von der Schule. Die liegt übrigens in Freising. Und so alt bin ich nun auch nicht!« Lydia klang beleidigt.